Gebaute Umwelt als Lebenswelt Sabine Ammon, Christoph Baumberger, Christine Neubert und Constanze A. Petrow (Hg.) Forum Architekturwissenschaft Band 2 Universitätsverlag der TU Berlin ARCHITEKTUR IM GEBRAUCH Gebaute Umwelt als Lebenswelt Sabine Ammon, Christoph Baumberger, Christine Neubert und Constanze A. Petrow (Hg.) Die Schriftenreihe Forum Architekturwissenschaft wird heraus- gegeben vom Netzwerk Architekturwissenschaft, vertreten durch Sabine Ammon, Eva Maria Froschauer, Julia Gill und Christiane Salge. Der Tagungsband versammelt Beiträge des 2. Forums Architektur- wissenschaft zum Thema Architektur im Gebrauch, das vom 25. bis 27. November 2015 im Schader-Forum in Darmstadt statt- fand. Die Beiträge nähern sich dem Thema grundlegend in zwei Perspektiven. Zum einen interessiert die lebensweltli- che Verankerung von Architektur: die Gebrauchserfahrungen und die vielfältigen Weisen, in denen das Gebaute im Alltag jedes Menschen in Erscheinung tritt. Zum anderen werden die Vorstellungen vom Gebrauch in Prozessen des Planens und Bauens untersucht. Dabei treten unweigerlich auch Spannungsverhältnisse auf – zwischen Planerinnen und Nutzern, aber auch zwischen unterschiedlichen Gebrauchsweisen. Sowohl in theoretischen Auseinandersetzungen zu einem Begriff von Gebrauch in der Architektur als auch in empirischen Studien zu einzelnen Bauten und Bautypen, zeitgeschichtlichen Gebrauchsphänomenen und Situationen des Alltags wird dem auf den Grund gegangen. Forum Architekturwissenschaft, Band 2 ARCHITEKTUR IM GEBRAUCH Gebaute Umwelt als Lebenswelt Sabine Ammon, Christoph Baumberger, Christine Neubert und Constanze A. Petrow (Hg.) Universitätsverlag der TU Berlin INHALT 5 SEITE 9 → Vorwort SEITE 12 KERSTIN RENZ → Lest mehr Hausordnungen! Gebrauchsmuster und Gebrauchsdeterminanten in der Architektur SEITE 28 CHRISTINE NEUBERT → Empirie des Gebrauchs. Zur Praxis architekto- nischer Erfahrung in einem Kunstmuseum SEITE 48 KARSTEN BERR → Zur architektonischen Differenz von Herstellung und Gebrauch SEITE 72 KIRSTEN WAGNER → Ornamente des Gebrauchs. Aneignungsformen von Architektur und ihre Aufzeichnung 6 ARCHITEKTUR IM GEBRAUCH SEITE 104 RALF LIPTAU UND MORITZ SCHUMM → Aufführung (in) der Architektur. Kinobauten im Gebrauch SEITE 122 MARTIN DOLL → Architekturwahrnehmung im Gebrauch. Haptische Rezeption, Propriozeption und ‚beiläufiges Bemerken‘ SEITE 138 DENNIS GSCHAIDER → Bauen für die Forschung der Zukunft. Zum Diskurs um die Gestaltung von Forschungseinrichtungen in der chemisch-pharma- zeutischen Industrie (1950 bis 1980) SEITE 152 SEBASTIAN KURTENBACH → Alltagsort Großsiedlung. Zusammenhang von ‚physical‘ und ‚social disorder‘ am Beispiel Köln-Chorweiler INHALT 7 SEITE 172 STEPHANIE KERNICH → Die affektiven Deutungsstrategien von Architektur-Laien SEITE 192 IRENE BREUER → Der Leib als Umschlagstelle zwischen dem ästhetischen und dem technischen Gebrauch der Architektur SEITE 214 CONSTANZE A. PETROW → Vom Entwurfsversprechen zum städtischen Freiraum als Alltagsort. Konzept für eine empirische Wirkungs- forschung in der Landschaftsarchitektur SEITE 232 ANDREA BENZE UND ANUSCHKA KUTZ → Raumproduktion im Alter. Senioren, ihre Vorstellungs- welten und die Stadt 8 ARCHITEKTUR IM GEBRAUCH SEITE 256 ARNE DREISSIGACKER UND GINA R. WOLLINGER → Die Verletzung der ‚dritten Haut‘. Architektur und Kriminalität am Beispiel des Wohnungseinbruchs SEITE 268 ALEXANDER HENNING SMOLIAN → Über den Gebrauch von Sakralarchitektur in einer besonderen historischen Situation. Kirchen und die politische Wende 1989 SEITE 290 KATJA FRIEDRICH → Vom Gebrauch ausgehen. Selbstbestimmte Raum- aneignung ermöglichen SEITE 314 SABINE AMMON → Hat das Gebaute eine Moral? SEITE 330 → Autorinnen und Autoren VORWORT 9 Vorwort Eine Frau tritt aus der Bahnhofshalle und überquert den Bahnhofsvorplatz, um kurz darauf in die Tram zu steigen. Sie fährt zu dem Gebäude, im dem sie arbeitet, und geht direkt zu einer Sitzung im Konferenzraum in der zweiten Etage. Später fährt sie mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss, um ihre Mittagspause drau- ßen zu verbringen. Sie läuft durch die Innenstadt und wieder zurück ins Büro, in das nun die Sonne scheint. Jalousien runter, Licht an. Dieser Ausschnitt aus einem prototypischen Arbeitsalltag illustriert zwei zentrale Aspekte des Themas Architektur im Gebrauch: die Allgegenwärtigkeit und zugleich Beiläufigkeit des Gebauten als Teil eines unhinterfragten, selbstverständ- lichen In-der-Welt-Seins. Signifikant prägt es die lebenswelt- lichen Praktiken. Vorstellungen von jenen Praktiken nehmen wiederum Einfluss auf die Gestaltung der gebauten Umwelt. Die Gebrauchserfahrung von Architektur ist ein entscheidender Baustein kultureller und sozialer Identität. Zugleich konstituiert sie, was wir unter Architektur verstehen. Weit gefasst ist hier der Begriff Architektur: Er schließt den Städtebau, den Hochbau und die Landschaftsarchitektur ein. Der Tagungsband versammelt Beiträge des 2. Forums Archi- tekturwissenschaft, das im November 2015 in Darmstadt stattfand und in Kooperation mit der Schader-Stiftung und der TU Darmstadt ausgerichtet wurde. Dem Themenfeld Architektur im Gebrauch nähern sich Autorinnen und Autoren aus Soziologie, Architektur und Landschaftsarchitektur, Geschichte und Kunstgeschichte, Philosophie sowie Theater-, Film- und Kulturwissenschaften sowohl in theoretischen Auseinandersetzungen als auch in quan- titativen und qualitativen empirischen Untersuchungen. Architektur im Gebrauch wird dabei in zwei grundlegenden Perspektiven diskutiert. Zum einen interessiert uns die lebens- weltliche Verankerung des Gebauten. Jeder (ge)braucht Archi- 10 ARCHITEKTUR IM GEBRAUCH tektur – ein Büroangestellter ebenso wie eine Architektin. Die Grenze zwischen Nutzer und Expertin verschwimmt. In die- ser Perspektive ist Architektur das Gebaute im weitesten Sinn, „architecture with a lower-case a“ 1 oder auch – nach der Körperhülle und der Kleidung – die „dritte Haut“ des Menschen. 2 Es geht um die vielfältigen Weisen, wie das Gebaute in der Lebenswelt jedes Einzelnen in Erscheinung tritt. Wann wird es bedeutsam und inwiefern? Welchen Anteil hat die architektoni- sche Umgebung an der Spezifizität des (Alltags-)Lebens und wie lässt sich dies wissenschaftlich beschreiben und analysieren? Können konkrete Praktiken des Gebrauchs von Architektur beob- achtet werden? Die lebensweltliche Verankerung des Gebauten zeigt sich aber nicht nur im alltäglichen Umgang mit diesem, sondern auch retrospektiv in möglichen Gebrauchsgeschichten einzelner Objekte und Gebäude- oder Raumtypen. Neu- oder Uminterpretationen baulicher Strukturen durch den Gebrauch stellen das Verhältnis zwischen Planenden und Nutzenden in- frage. Auch in einer historisierenden Perspektive geht es darum, Gebautes und dessen Gebrauch zu deuten und zu verstehen. Wie hat sich der Gebrauch in die baulichen Artefakte einge- schrieben – und wie die Artefakte in den Gebrauch? Welche Machtverhältnisse manifestieren sich im Gebauten und in wel- cher Weise beeinflusst dies den Alltagsgebrauch? In einer zweiten Perspektive interessieren uns die Ideen vom Gebrauch in der Planung und Produktion des Gebauten. Welche Vorstellungen leiten Planer vom Alltag der Bewohnerinnen eines Gebäudes oder von den Ansprüchen der Nutzer eines städti- schen Freiraums? Spielen diesbezügliche Überlegungen beim Entwerfen überhaupt eine tragende Rolle? In dieser Perspektive ist das Gebaute „architecture with a capital A“.3 Es geht um die gezielte Planung und Gestaltung gebauter Umgebungen. Damit rückt auch das Spannungsverhältnis zwischen der ers- ten und zweiten Betrachtungsweise in den Blick. Steht das Planungshandeln womöglich im Konflikt zu einem reibungslo- sen und somit auch unauffälligen Architekturgebrauch oder zu einer alltagstauglichen Freiraumgestaltung? Welche Verfahren VORWORT 11 gibt es, um den Gebrauchswert des Gebauten zu evaluieren? Wie lässt sich die Verantwortung der Planenden fassen, die sich aus der Gebrauchsgebundenheit von Architektur ergibt? Welche ethischen Implikationen hat die Wirkung des Gebauten für das Leben der Menschen? Allen Beiträgen gemeinsam ist die Neugier für den Gebrauchsaspekt der Architektur, der im Alltag jedes Menschen wirkmächtig ist, jedoch in den Fachdebatten sowie im Her- stellungsprozess von Architektur noch nicht ausreichend reflek- tiert scheint. Auch für die Architekturwissenschaft stellt er ein Terrain dar, auf dem es noch viel zu erkunden gibt. Wir danken der Schader-Stiftung für die Ausrichtung des 2. Forums Architekturwissenschaft in Darmstadt und der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik für die finanzielle Unter- stützung bei der Durchführung. Berlin im Juli 2017 Sabine Ammon, Christoph Baumberger, Christine Neubert und Constanze A. Petrow 1 Dell Upton: Architecture in Everyday Life. 3 Upton 2002 (Anm. 1). In: New Literary History, Bd. 33, Nr. 4, Herbst 2002, S. 707–772. 2 Joachim Fischer: Zur Doppelpotenz der Architektursoziologie: Was bringt die Soziologie der Architektur – Was bringt die Architektur der Soziologie? In: Joachim Fischer, Heike Delitz (Hg.): Die Architektur der Gesellschaft. Theori- en für die Architektursoziologie. Bielefeld 2009, S. 385–414. 12 KERSTIN RENZ KERSTIN RENZ Lest mehr Hausordnungen! Gebrauchsmuster und Gebrauchsdeterminanten in der Architektur Am Beispiel eines Internatsgebäudes aus den 1960er Jahren dokumentiert der Beitrag das Verhältnis von Gebrauchsmustern und Gebrauchsdeterminanten in der Architektur. Das Internat in Schwäbisch Gmünd ist in seiner Zeit ein bildungspoliti- sches Vorzeigeprojekt. Die Erwartung der Initiatoren aus Politik und Pädagogik an die Architektur der Schule als Lernort der Demokratie wird durch eine diktatorische Hausordnung konter- kariert. Insbesondere bei öffentlichen Bauten beeinflussen der- artige Reglements das Nutzungsverhalten und die Wahrnehmung von Architektur. „Lest mehr Hausordnungen“ ist ein Plädoyer für stärkere Berücksichtigung von Gebrauchsmustern und Gebrauchsdeterminanten in der Architekturwissenschaft. Ein gewöhnlicher Tag in einer Internatsschule im Jahr 1966. Eine Schülerin im Teenageralter wacht mit drei anderen Mädchen im Schlafraum ihrer Schülerwohnung auf. Auf eine merkwürdige Weise ist ihr die Schule noch immer fremd: mehrere Schüler tei- len sich eine Wohnung, die man Maisonette nennt, ungewohnte Materialien überall, die Wohnhäuser und die Schule stehen als Beton-Kuben auf einem weitläufigen Campus. Ein schnelles Frühstück unterm Kruzifix in der gegenüberliegenden Mensa, dann überquert sie zusammen mit den anderen den großen Platz vor dem Klassengebäude, das sich als breiter Beton-Glasriegel quer in den Hang schiebt. Ein aufdringlicher Geruch nach Heizöl steigt ihr in die Nase, besonders im Sommer kann man die flüssige Tonnage riechen, die in riesigen unterirdischen Tanks unter dem Platz lagert. Die meiste Zeit im Jahr muss das Schulhaus beheizt LEST MEHR HAUSORDNUNGEN! 13 Abb. 1: Luftbild Staatliches Aufbaugymnasium Schwäbisch Gmünd, um 1965. Privatbesitz werden, viel Glas gibt es hier und es wird viel von Transparenz gesprochen. Der Zugang zum Schulgebäude ist nicht mehr als ein Einschnitt in einer dicken Glaswand, leicht zu öffnen, der Edelstahlgriff scharf, geschliffen, kalt. Jetzt geht es quer durch das von vielen Stimmen widerhallende Foyer und dann die glatt polierten Steinstufen hinauf. Oben sind die Klassenzimmer, auf- gereiht wie Büros in einem Verwaltungsgebäude. Am Arbeitsplatz dann der Blick auf die alte Stadt im Tal und das Gefühl, hier oben als Internatsschülerin Teil von etwas Neuem zu sein (Abb. 1). Architektur für eine neue Bildungspolitik Dieser fiktive Text zur ‚promenade architecturale‘ einer Schülerin rekonstruiert eine Alltagsnutzung, in die ganz bewusst Subjektivismen und Sensualismen eingebaut sind. In diesem Beitrag geht es darum, den Gebrauch von Architektur in den Kontext von Gebrauchsdeterminanten und Nutzungsrealitäten zu setzen. Untersuchungsobjekt ist das Staatliche Aufbau- gymnasium Schwäbisch Gmünd. Bauherr dieser 1965 eröff- neten Schulanlage ist das Land Baden-Württemberg, der 14 KERSTIN RENZ planende und ausführende Architekt ist nach einem beschränk- ten Wettbewerb Hans Auras, ein Absolvent der Stuttgarter Technischen Hochschule.1 Schwäbisch Gmünd ist eine wohlha- bende Kreisstadt im Ostalbkreis mit einer langen Tradition als Bildungsstandort. Das Grundstück des staatlichen Gymnasiums liegt an der östlichen Peripherie der Altstadt, bebaut wurde hier ein ehemaliger Weidehang. Der Gebäudekomplex besteht mit- samt seinen Grünflächen nahezu unverändert bis heute, nur die Nutzung hat sich geändert.2 Die Schulform „Aufbaugymnasium“ ist eine Besonderheit. Derartige Schulen – es gibt sie zum Teil heute noch – werden als Internate im ländlichen Raum in staat- licher oder kirchlicher Trägerschaft betrieben. Im Sprachduktus der Bildungspolitik zu Beginn der 1960er Jahre geht es in einem Aufbaugymnasium darum, „Begabungsreserven“ zu erschlie- ßen.3 Nach der Vorstellung insbesondere der CDU-geführten Länder soll diese Schulform im ländlichen Raum für mehr sozi- ale Bildungsgerechtigkeit sorgen. Ziel ist es, auch hier die Anzahl der Abiturienten zu erhöhen und so mehr junge Leute für den Lehrerberuf zu gewinnen. Unterdessen ist die Bildungsdebatte in der Republik in vollem Gang. Ein allgemeiner Akademikermangel und schlecht ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer sind das Reizthema dieser Zeit; die Diskussion gipfelt in Georg Pichts Brandschrift Die deutsche Bildungskatastrophe, die die prekäre bildungspolitische Lage der Bundesrepublik beschreibt.4 Mitten im Kalten Krieg, der auch ein Wettbewerb darum ist, welches 1 Hans Auras (1929–2016), 1948–1951 Aus- Aufbaugymnasium (Hg.): Staatliches Auf- bildung als Maurer und Polier, 1951–1955 baugymnasium Schwäbisch Gmünd. Fest- Studium der Architektur an der TH Stuttgart, schrift zur Einweihung, Juni 1965. Schwäbisch 1955–1958 Assistent an der TH Stuttgart, Gmünd 1965, S. 5. Lehrstuhl Statik sowie Lehrstuhl Innenraum und Entwerfen, 1958 Bürogründung in Stuttgart; 4 Georg Picht (1913–1982) verfasst die Schrift 1972–1991 Professur für Baukonstruktion an der zunächst für die theologische Zeitschrift Christ Hochschule für Technik Stuttgart. und Welt 1964; das kurz darauf erschienene Buch war bald vergriffen (1. Aufl. 1964, 2. Aufl. 2 2016 befindet sich hier eine Fortbildungs- 1965). Picht selbst ist der Landerziehungs- akademie der staatlichen Obersten Finanzver- heim-Bewegung eng verbunden und selbst waltung, Teile des Komplexes stehen leer. Internatsleiter. Vgl. Georg Picht: Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumenta- 3 So der Rektor der Pädagogischen Hoch- tion. Olten, Freiburg im Breisgau 1964. schule Schwäbisch Gmünd, Adalbert Neuburger, in seinem Vorwort in: Staatliches LEST MEHR HAUSORDNUNGEN! 15 System den besser ausgebildeten Nachwuchs hervorbringt, wer- den diese staatlichen Internate als Symbolschulen einer neuen Bildungspolitik inszeniert.5 Insbesondere in Baden-Württemberg machen sich die CDU-geführten Landesregierungen unter Gebhard Müller und Kurt Georg Kiesinger für diese Schulform stark. Es kommt zum Ausbau an zahlreichen Standorten und mit Schwäbisch Gmünd zum größten Neubauvorhaben für diese Schulform im gesamten Bundesgebiet. Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger – später Kanzler von 1966 bis 1969 – ist selbst ehemaliger Schüler einer solchen Aufbauschule und fördert das Modell nach Kräften. Das Schulbauprojekt in Schwäbisch Gmünd ist Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre ein Politikum. Entsprechend ist der Architekturwettbewerb prominent besetzt. Der Jury gehören an: Horst Linde, Leiter der Hochbauabteilung im Finanzministerium, der international tätige Rolf Gutbrod, der BDA-Vertreter und Publizist Alois Giefer und der Hamburger Baudirektor Paul Seitz, der für seinen wegweisenden Schulbau bekannt ist. Gebaut wird die Internatsschule für 200 bis 300 Jungen und Mädchen – gemes- sen an den heutigen Belegungszahlen von allgemeinbildenden Gymnasien ist das ein elitärer Kreis. Das Luftbild von 1965 zeigt die äußerst großzügige und weitläufige Schulanlage, die der Idee der gegliederten Campus-Schule und damit einem im Schul-, vor allem aber auch im Hochschulbau der 1950er und 1960er Jahre verbreiteten Idealmodell entspricht, das aus dem angloamerika- nischen Raum übernommen wird. Zur Gesamtanlage gehören die drei Hauptgebäude Klassenbau, Multifunktions-Hallenbau und Mensa auf dem höchsten Punkt des Geländes, unterhalb liegen die Wohnblocks der Internatsschülerinnen. Die Gesamtanlage ist in ihrer Größe und ihrem baulichen Aufwand ein hervorragendes 5 Ihre Idee ist keineswegs neu: Staatliche ‚Zuchtanstalten’ für den Lehrernachwuchs gibt es in Deutschland schon in der Kaiserzeit, in der Weimarer Republik und in der NS-Zeit. Aus den 1930er Jahren kommt auch der Begriff der Aufbauschule. Neu ist ihre Umdeutung als Vor- zeigeschule einer demokratischen Bildungs- landschaft. 16 KERSTIN RENZ Beispiel für die Opulenz der Planung und das Budget der öffent- lichen Bildungshaushalte in den frühen 1960er Jahren. Keine fünf Jahre später wäre eine derartige Schulanalage nicht mehr zur Ausführung gekommen, ab Mitte der 1960er Jahre greifen die Schulbau-Normen, die dem individuellen Entwurf ein Ende bereiten. Der Lageplan (Abb. 2) verdeutlicht das Bemühen des Architekten, einen lockeren Verbund der Schulfunktionen zu schaffen und zu- gleich gemeinschaftliche Räume herzustellen. Das Schulgelände ist von öffentlichen Wegen durchzogen, im Zentrum – erreichbar Abb. 2: Lageplan des Schulbezirks. Quelle: BOUW 36 (1969), S. 1394 LEST MEHR HAUSORDNUNGEN! 17 Abb. 3: Klassengebäude mit Schulvorplatz, um 1965. Privatbesitz über Rampen und Treppen – befindet sich ein zentraler Platz. Die Außenflächen und die Architektur sind als Einheit aufge- fasst, bruchlos geht der Vorplatz in das Foyer des Klassenbaus über. Auffällig ist die grafische und geometrische Gestaltung der Freibereiche und der Grünflächen, die ebenfalls in der Hand des Architekten liegt. Harte Kanten und kristalline Formen stemmen sich gegen die Topografie, die Hauptbauten werden mit einigem Aufwand entgegen der Hangkante in den Berg geschoben und aufgeständert. Deutlich ist der Bereich der Schule vom Bereich der Wohnhäuser getrennt, und zusammen bilden sie eine gegliederte und aufgelo- ckerte Schulstadt. Hans Auras berichtet, dass er die Offenheit und Differenziertheit der Anlage als modernen städtischen Gegenort zur Altstadt bauen wollte. Die ursprünglich geplanten achtge- schossigen Wohntürme werden ihm noch vor der Realisierung ausgeredet, im Ergebnis entstehen nahezu kubische Wohnwürfel. Das Hauptgebäude mit den Klassenräumen und der Verwaltung ist ein monumentaler Geschossbau mit einem rundum verglasten Foyer mit jeweils 16 Quadratmeter (!) großen Dickglasscheiben 18 KERSTIN RENZ (Abb. 3). Ein Wechsel im konstruktiven System sorgt dafür, dass das Gebäude trotz seiner massiven Bauausführung wie schwe- bend wirkt. Die beiden Klassengeschosse zeigen eine gleichmä- ßige Rasterung der Fassade. Die Schule zeigt eine Entwicklungsstufe im Schulbau, die typisch für die 1960er Jahre ist: Vom Nachkriegs-Ideal der geglieder- ten Pavillonschule hat man sich wieder verabschiedet und setzt nun vermehrt auf den ökonomischen Kompaktbau. Das Pavillonmodell geht auf die Wohnnutzung über. Schule im Gebrauch Die Gebrauchserfahrung von Architektur beginnt für fast alle Kinder und Jugendlichen im Kontext von Bildungsbauten, hier erleben sie die intensivste, weil repetitive Begegnung mit Architektur außerhalb der heimischen Wohnung. Schulhaus und städtebaulicher Kontext der Schule greifen dabei ineinander. Das Nutzen, Benutzen und Abnutzen von Architektur wird in Schulen zur ritualisierten Erfahrung. Geruch und Akustik, das Verhältnis von Licht und Raum, von Raumgrößen und Verkehrsflächen wirken unmittelbar und zumeist unbeeinflussbar auf die Nutzer ein. Aber auch der „Gebrauch der Architektur“ ist etwas, was die Schülerinnen hier erstmals aktiv und zumeist kollektiv erfahren. Gegensätze von Verbot und Überschreitung, bewahrende Pflege und die Lust an der Zerstörung – das alles wird im täglichen Ablauf zum Ritual. Die Reflexion darüber fällt zumeist aus, die (durchaus erwünschte) Gewohnheit in den Gebrauchsabläufen nivelliert die Wahrnehmung. Schulen sind reglementierte Räume. Rektorenzimmer, Toilette, Raucherecke wecken das Bewusstsein für den öffentlichen, den semi-öffentlichen und den verbotenen Ort, die Hierarchie der Räume ist intensiv erfahrbar. Passivität und Aktivität im Gebrauch von Architektur, Ignoranz und Interesse sind in der Schule zu verortende „erlernte“ Verhaltensweisen in der Begegnung mit dem Raum. Das Aufbaugymnasium Schwäbisch Gmünd ist eine Schule, die entlang ihrer pädagogischen Richtlinien und ihrer orts- und schul- typenspezifischen Funktion neu und dezidiert „modern“ geplant LEST MEHR HAUSORDNUNGEN! 19 wurde. Die Architektur gibt infolgedessen einen vorwegnehmen- den Gebrauch vor, ihre Beschreibung entlang der Baupläne, der Baufotografie und der Ortsbegehung ist zugleich die Analyse einer Gebrauchsordnung: Zum Unterricht steigen die Schüler den Campus hinauf. Über verschiedene Wege, Rampen und Treppen betreten sie den Schulplatz. Die Platzgestaltung lenkt die Bewegung auf den Eingang hin. In dieser Aufwärtsbewegung und der anschließenden abgestuften Annäherung an das Schulgebäude ist eine deutliche Hierarchisierung erfahrbar. Ganz offensichtlich geht es nicht um Aufenthaltsqualität, sondern um die Symbolik von Sammlung, Empfang und Vorbereitung. Der zentrale Schulplatz bedeckt nicht nur die Heizanlage der Schule, sondern auch den größten Atomkeller des Kreises; ABC-Alarm- Übungen sind Teil der Schulrealität der 1960er Jahre. Noch ist die Ölkrise in weiter Ferne, der Kalte Krieg aber auf einem Höhepunkt. Im Foyer der Schule findet man sich in einer offenen lichten Halle wieder, die Haupttreppe zu den Klassenzimmer- Geschossen ist ans Licht gerückt und durch ein Beton-Wandrelief besonders betont. Wie schon auf dem Vorplatz gibt es hier keine Sitzgelegenheiten, die auf Glanz gearbeiteten Steintreppen laden nirgends zum Verweilen ein. Hochwertige Steine, Glas und eloxiertes Aluminium signalisieren, dass Geld bei dieser Schulplanung keine Rolle gespielt hat. Dieser Eindruck wiederholt sich auch beim Musikpavillon und der Multifunktionshalle. Nahezu alle Einrichtungsgegenstände – von den Leuchten bis hin zur Konzertorgel – sind vom Architekten entworfen und als Einzelanfertigung ausgeführt worden. Ein poly- gonaler Musikpavillon wird für Unterricht und Konzerte genutzt, hier befindet sich das Instrumentenmagazin, ein Flügel und eine hochmoderne Lautsprecheranlage, in der Konzertmitschnitte in höchster Audio-Qualität abgespielt werden können. Hinter der Bühne lassen sich die Fenster beiseiteschieben, sodass bei Konzerten die Zuhörer auch im Freiluftauditorium Platz nehmen können. Die Turnhalle ist zugleich Festsaal, hier finden Konzerte statt, die fester Bestandteil im Schwäbisch Gmünder Kulturleben sind. Verstärker und Akustiksegel an der Decke verbessern die Tonqualität, auf der Sonderanfertigung der Zwölfton-Orgel könnte 20 KERSTIN RENZ auch Stockhausen gespielt werden. Unterhalb des Festsaales schließt sich die Schwimmhalle für den Unterrichtsbetrieb an. Die Wohnblocks sind als Doppelblocks zusammengefasst und im Keller miteinander verbunden, denn hier befinden sich die Schüler-Luftschutzräume (Abb. 4). Die Proportionierung der Häuser ist aus dem Quadrat entwickelt – sowohl an der Fassade als auch im Grundriss. Die Materialien der Fassade sind scha- lungsrauher Beton und Redwood-Hölzer in Kombination mit schwarzen Aluminiumfenstern. Deutlich sind diese in formaler Reduktion und Materialität vom Brutalismus der frühen 1960er Jahre beeinflusst. Jedes Haus ist als Maisonette organisiert, die Schüler sollen als Gruppen von zwölf Personen in einer Wohnung leben. Jede Maisonette hat ein Gemeinschaftsbad, eine Teeküche, einen Aufenthaltsbereich, einen Gruppenschlafraum und einen Musik-Übungsraum mit Konzertflügel. Die Wohnsituation lässt kaum Privatsphäre zu. Schule als Initiationsort für junge Demokraten? Zwei große Themen bestimmen die Planung: die Gesamtanlage als Abbild einer demokratisch verfassten Polis mit dem Schulplatz als zentraler Agora und die Selbstverwaltung der Schülergruppen in den Wohnhäusern. Mit der Betonung dieser beiden Aspekte gewinnt der Architekt – selbst ein Absolvent eines Landschul-Internats6 – den Wettbewerb zum Bau der Schule. In der Eröffnungsrede stilisiert der Schulleiter 1965 die Internatsschule zum Initiationsort für junge Demokraten und betont die Einheit von Bildung und Erziehung. Letztere sei hier im Internat, fern der Elternhäuser möglich. Deutlich for- muliert der Pädagoge, dass die Schüler in dieser Architektur nicht nur Bildung, sondern auch staatsbürgerliche Erziehung zu erwarten haben: „Es sollen wir-verbundene Persönlichkeiten 6 Hans Auras ist ehemaliger Schüler und Absolvent des Elite-Internats Schloss Salem. LEST MEHR HAUSORDNUNGEN! 21 Abb. 4: Wohnhäuser des Internats, um 1965. Privatbesitz 22 KERSTIN RENZ sein, die wir erziehen und bilden. Nur sie vermögen in dem Massenzeitalter gewachsene Persönlichkeiten zu werden und die Personalisierung der Masse vorwärts zu treiben. […] Es sind nun gerade die Heimschulen, welche dieses Erziehungsprinzip am reinsten verwirklichen können“.7 Architektur und städte- bauliche Situation der Schule sollen dieses Erziehungsziel ver- stärken. In seiner Eröffnungsrede geht der Schulleiter auf die Architektur ein, die in Teilen der Bevölkerung Irritationen ausge- löst hatte und berichtet von einer typischen Frage: „Warum habt Ihr denn diese Einzelhäuser gebaut? Sie erschweren doch nur die Aufsicht! Wäre es nicht zweckmäßiger und billiger gewesen, einen geschlossenen Komplex hinzustellen? Ich zeigte dann in der Regel auf die Bismarck- und die Hardtkaserne da drüben und sagte: ‚Halten Sie es für richtig, wenn 13–19jährige in solch einem Ungetüm, in einem Labyrinth von ineinander- und aufein- andergeschachtelten Zimmern mit kalten, hallenden Gängen die bildungsfähigsten Jahre ihres Lebens verbringen?‘ Dann begriff auch der Laie, warum man diese aufgelockerten Bauformen in Gottes freie und natürlich gewachsene Landschaft gestellt hat. […] Die Auflockerung in eine Reihe von Wohnheimen steht des- halb bewusst der Gefahr der Vermassung gegenüber“.8 Pädagogische Architektur zu etablieren - dieser Anspruch ist bei der Internatsschule weit über den Klassenraum und das Schulgebäude hinausgewachsen. Schule ist Stadt, ja sogar: Schule ist Staat, lautet jetzt das Motto, und der Staat Baden- Württemberg tritt als Förderer dieser Idee auf. Größtmögliche Freiheit, größtmögliche Flexibilität, größtmögliche Förderung der Selbstständigkeit – so lautet das offizielle Programm der Schule, die ganz selbstverständlich davon ausgeht, auch Erziehungsinstitution zu sein. Die Architektur ist als Teil eines Initiationsritus angelegt, der die Jugendlichen zu mündigen Bürgern eines demokratisch verfass- ten Staates machen soll. Dass diese Form des Bauens bekannte 7 Paul Steck: Die Sinngebung des Schul- 8 Schülerzeitung der eulenspiegel 27 staates. In: Staatliches Aufbaugymnasium 1965 (Dezember 1966). (Anm. 3), S. 33–39, hier S. 34. LEST MEHR HAUSORDNUNGEN! 23 Abb. 5: Architekturfotografie- und Poesie. Schülerarbeit von 1966, veröffentlicht in der Schüler- zeitung eulenspiegel, Januar 1966 24 KERSTIN RENZ Gebrauchsmuster und Sehgewohnheiten von Architektur auf den Kopf stellt, ist unbenommen. Häuser ohne (Sattel-) Dach, Glaswände, für die ein Innen und Außen nicht mehr exis- tiert und ungekannte, roh belassene Materialien bieten eine Kontrasterfahrung, die vom Architekten auch beabsichtigt ist. Vereinzelte Reaktionen der Schüler auf die Architektur sind doku- mentiert, die Schülerzeitung des Staatlichen Aufbaugymnasiums Schwäbisch Gmünd, der eulenspiegel, ist hier eine von der Schulleitung zwar zensierte9, aber dennoch aussagekräftige Quelle. Offensichtlich wird der Brutalismus der Architektur von einzelnen Schülern durchaus als Ausdrucksform einer Aufbruchsstimmung begriffen. Schule und Wohngebäude wer- den als Architektur und nicht nur als Funktionsbauten wahr- genommen. Ein Schüler dokumentiert die Gebäude mit einer Fotostrecke und stellt Bezüge zu zeitgenössischer konkreter Poesie her10 (Abb. 5). Diese Korrelation macht Sinn: die Sprache wird Gegenstand des Gedichts, die Architektur Gegenstand der Betrachtung, beides wird der „Nutzung“ enthoben. Hausordnungen – Gebrauchsanweisungen für Architektur Alle Freiheit der Perspektive und der Deutung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Nutzung der Schulgebäude strengen Regeln unterworfen ist und insbesondere im Schulbau zwischen offiziellem und inoffiziellem Gebrauch zu unterschei- den ist. Den Alltag der Nutzerinnen bestimmt die Hausordnung, die als Gebrauchsanweisung für die Architektur gelesen werden muss und die keinesfalls mit der Aktualität der Architektur Schritt hält. Die gültige Hausordnung für die Schule stammt aus dem Jahr 1957 und regelt die Nutzung der Gebäude minutiös11 (Abb. 6). Die detaillierten Überwachungsmechanismen insbesondere der 9 Die Zensur der Schülerzeitung durch die 11 „Hausordnung“ und „Verfassung des Staat- Schulleitung/Redaktion ist Thema mehrerer lichen Aufbaugymnasiums mit Heim“. URL: Ausgaben der 1960er Jahre. http://www.abg-gd.de/SZ/Main (22. August 2016). 10 eulenspiegel 26 (Januar 1966), S. 30–33. LEST MEHR HAUSORDNUNGEN! 25 Abb. 6: Die Aufgaben der Warte. Ausschnitt aus der Verfassung des Staatlichen Aufbaugymna- siums Schwäbisch Gmünd 1957 Wohnbauten, die damit in Kraft gesetzt werden, führen die Lesart der Schulanlage als demokratische Polis ad absurdum: Der eng strukturierte Tagesplan beginnt morgens um 6.30 Uhr und endet um 22.00 Uhr; er regelt die zu betretenden Räume ebenso wie die darin einzuhaltenden Verhaltensweisen. Nach Schulschluss sollen sich die Schüler in den Bereich der Wohnblocks zurück- ziehen, der Schulplatz, das Schulgebäude selbst und der Musikpavillon sind Tabubereiche und werden nur zu besonderen 26 KERSTIN RENZ Anlässen genutzt. Ebenfalls tabu dürfte der Bereich rund um das elegante Doppelwohnhaus gewesen sein, das für den Rektor im zweiten Bauabschnitt entsteht. Die Schulleitung versäumt nicht, für die Nutzung der Freiräume ebenfalls genaue Regelungen zu erlassen. Diese können nur in engen Zeitfenstern für sogenannte Spaziergänge aufgesucht werden. Entsprechend dokumentieren die Schülerzeitungen der Jahrgänge ab 1966 ein zähes Ringen der Schüler um mehr Freiheit und selbstbestimmte Nutzung von Schule und Schulgelände. Bizarre Formen nimmt insbesondere die sogenannte Selbst- verwaltung der Schülerschaft an. Weil in den einzelnen Wohn- blocks keine Lehrerwohnungen vorgesehen sind, installiert die Schulleitung ein perfides System von Überwachung und Strafe durch sogenannte „Warte“, ein Amt, für das sich die Schüler frei- willig melden sollen. Jedem Wohnblock wird ein Wart zugeteilt, der auf die Hausordnung zu achten hat und Verfehlungen an die Schulleitung meldet. Die determinierende „Gebrauchsanweisung“ der Hausordnung konterkariert die offene und als ausgesprochen demokratisch inszenierte Schularchitektur. Die Reaktion dar- auf ist ein Vermeidungsverhalten der Schülerinnen und Schüler in der Freizeit. Statt der erhofften Gemeinschaftsbildung durch Architektur weichen einzelne Schüler und Schülergruppen in die Anonymität der Stadt aus. Das Pavillonsystem erweist sich in der Tat als der individualistische Bautyp und bestätigt die Vorbehalte, die man in den 1950er Jahren gegenüber seiner Anwendung für weiterführende Schulen hat. Die moderne Internatsschule in der schwäbischen Provinz, von der db im September-Heft 1966 sehr positiv besprochen,12 und von der belgisch-niederländischen BOUW 13 noch 1969 als Beispiel für moderne Bildungs- und Baupolitik in der Bundesrepublik gelobt, stellt sich in einem anderen Licht dar, sobald man eine Gebrauchsanalyse der Schule vornimmt. Zur Ikonographie einer Architektur gehört die Rekonstruktion der Nutzung, darüber 12 [N.N.]: Staatliches Aufbaugymnasium mit 13 [N.N.]: Gymnasium met Internaat in Schwä- Internat, Schwäbisch Gmünd. In: db Deutsche bisch Gmünd Württemberg. In: Bouw Centraal Bauzeitung 9 (1966), S. 738–741. Weekblad voor het Bouwwezen in Nederland en Belgie 36 (1969), S. 1394–1399. LEST MEHR HAUSORDNUNGEN! 27 besteht in der Architekturwissenschaft kein Zweifel. Dass diese Nutzung in den Abgleich mit der Nutzungsordnung zu stel- len ist, illustriert das beschriebene Beispiel. Die Schulanlage zeigt zudem, dass der Gebrauch von Architektur immer ein situatives Moment ist, es gibt einen Routine- und einen Ausnahmegebrauch. Insbesondere bei Gebäuden mit multi- funktioneller Nutzung und heterogener Nutzerschaft, bei dem es auch zu Nach- und Zwischennutzungen kommt, können die Gebrauchsmuster erheblich differieren: die Schülerin aus dem Wohnblock erlebt das Foyer des Klassenbaus völlig anders als der festlich gestimmte Bürger, der hier ein Konzert besucht. Architektur im Gebrauch setzt in allen Bereichen des Bauwesens, insbesondere aber bei öffentlichen Bauten Reglements ins Werk, die in der Architekturwissenschaft bislang kaum Beachtung finden. Die Hausordnung ist die wohl naheliegendste Form der Reglementierung des Gebrauchs und eine primäre Quelle mit einer jahrhundertealten Geschichte, die es zu entdecken gilt. Sie entlarvt die Kluft zwischen Gebrauchsanspruch, Architektursymbolik und Gebrauchsrealität. Eindrücklich tritt dies bei den moralisch hochaufgeladenen Schularchitekturen der 1950er und 1960er Jahre zutage, die im Ausland als das Bauen des besseren Deutschland rezipiert wurden.14 14 So bei Alfred Roth für den westdeutschen Schulbau der frühen 1950er Jahre. Vgl. Alfred Roth: Hinweise auf die Tendenzen im Schul- bau in Westdeutschland. In: WERK 3 (1952), S. 69–72. So bei Wolfgang Pehnt, dessen Buch als 3. Band der Reihe Neue Deutsche Archi- tektur auch in den USA erschien: Wolfgang Pehnt: German Architecture 1960–1970. New York 1970. 28 CHRISTINE NEUBERT CHRISTINE NEUBERT Empirie des Gebrauchs Zur Praxis architektonischer Erfahrung in einem Kunstmuseum Architektur im Gebrauch wird in diesem Beitrag anhand der Arbeitspraktiken des Besucherservices in einem Kunstmuseum empirisch aufgeschlossen. Im Forschungsstil der Ethnografie werden alltagsweltliche Erfahrungen mit Architektur entdeckt und in drei Hinsichten – Areal, Kooperation, Diskurs – systematisiert. Dabei ist die Reflexion der Methode und des damit verbundenen Erkenntnisinteresses an Architektur von zentraler Bedeutung. Der Fokus auf Praktiken hat zur Folge, dass weder das gebaute Objekt noch das menschliche Subjekt zur alleinigen Bedingung architek- tonischer Erfahrungen erklärt werden, sondern die Verschränkung von Architektur und Mensch in der Praxis. Sukzessive erschließt sich so, wie vielschichtig Arbeitsalltag in der gebauten Umgebung verankert ist. Der Gebrauch von Architektur 1 ist vielfältiger als es die für die Architekturtheorie und -praxis zentralen Konzepte „Funktion“ und „Funktionalität“ beschreiben. Dies ist zunächst einmal eine Behauptung, wenn auch eine unmittelbar eingängige. Die Rede vom Gebrauchen, welches in den Erfahrungszusammenhang der Alltagswelt 2 gestellt ist, kann sich anders als „Funktion“ 1 Wahlweise wird in diesem Beitrag auch Bezeichnung „Alltagswelt“ das Konzept der von dem Architektonischen oder der gebauten Lebens- welt, basierend auf der Philosophie Umgebung gesprochen. Es wird ein weiter Edmund Husserls und sozialphänomenologisch Architekturbegriff vertreten, der professionelles zugespitzt durch Alfred Schütz, noch deutlicher wie unprofessionelles Gestalten der Umgebung auf soziologisch operationalisierbare (im Sinne einschließt. von empirisch zu erforschende) Bereiche des Alltags abstellen; vgl. Peter L. Berger, Thomas 2 Alltagswelt verstanden als Konkretisierung Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion von Lebenswelt. Insbesondere Peter L. Berger der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissensso- und Thomas Luckmann wollen mit der ziologie. Frankfurt a. M. 2004, S. 21. EMPIRIE DES GEBRAUCHS 29 und „Funktionalität“3 auf nahezu jede Situation des alltäglichen Lebens beziehen, in der wir es mit Architektur zu tun haben. Sie bleibt somit universell, aber auch unspezifisch. Dieser Beitrag hat das Ziel, empirisch zu bestimmen, was der alltägliche Gebrauch von Architektur meint und inwiefern die- ser über den zweckmäßigen Einsatz architektonischer Elemente – einer Treppe, eines Fensters, einer Tür – hinausgeht. Dazu wird davon ausgegangen, dass der alltägliche Gebrauch von Architektur auf alltagsweltlichen Erfahrungen mit Architektur basiert.4 Letztere werden in einem ethnografischen Zugang zum Gegenstand der Analyse. Die Frage also nach der Praxis architektonischer Erfahrung – nach dem Wie der Erfahrungen mit Architektur im Alltag – stellt sich als eine grundlegende, um Architektur im Gebrauch zu verstehen. Zunächst nehme ich hierfür begriffliche und methodologische Weichenstellungen vor. Es wird geklärt, unter welchen Voraus- setzungen im Kontext der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik von Erfahrungen gesprochen wird und wie diese zu erforschen sind. Anschließend schlage ich anhand empirischer Daten, die ich im Rahmen meiner Dissertation erhoben habe, vor, wie diese in Bezug auf Erfahrungen mit der gebauten Umgebung systema- tisiert werden können. Die herausgearbeiteten Aspekte – Areal, Kooperation, Diskurs – legen meinen empirisch fundierten Ord- nungsvorschlag alltagsweltlicher Architekturerfahrung dar und werden in diesem Beitrag nah am Beispiel der Arbeit in einem Kunstmuseum diskutiert. 3 Funktion und Funktionalität sind in ihren 4 Gleichwohl basiert Gebrauch nicht nur auf Bezugshorizonten klar in der architektonischen Erfahrung, auch im Machen von Erfahrung Praxis verwurzelt. Architektinnen, Bauherren, wird Architektur gebraucht und im Gebrauchen Nutzerinnen, Fachplaner – sie alle beziehen können neue Erfahrungen gemacht werden. Zu sich auf Funktionen von Architektur. Gleicher- einem solchen Verständnis und engen Zusam- maßen sind diese Gegenstand ihrer Kommuni- menhang von Gebrauch und Erfahrung siehe kation. auch den Beitrag von Kirsten Wagner in diesem Band. 30 CHRISTINE NEUBERT Ethnografische Architekturforschung im Zeichen der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik Für die qualitativ-empirische Soziologie konstituieren sich ihre Gegenstände in den sinnhaften Bezügen und Zuschreibungen der Praxis. Es gibt keine Dinge oder Gegenstände an sich; sie sind immer schon in einen Bedeutungszusammenhang der Praxis gestellt. Mit Praxis ist die Gesamtheit des tätigen Lebenszusammenhangs gemeint, der in Form einzelner (sozi- aler) Praktiken zum Gegenstand einer qualitativ-empirischen und insbesondere einer ethnografischen Sozialforschung wird.5 Für das Interesse an der Rolle von Architektur im Alltag bedeu- tet das, dass nicht etwa ausgehend von dem Gebauten auf Praxis geschaut und analysiert wird, wie dieses Gebaute auf die menschlichen Akteure – ihre Vorstellungen, Motivationen und Emotionen, ihr Verhalten und ihre Handlungen sowie ihre Beziehungen zu anderen menschlichen und nicht-menschli- chen Akteuren – (ein)wirkt, sondern dass Architektur allein durch das Nadelöhr der Praxis und ihre je spezifischen Erfahrungs- und Sinnbildungsprozesse erforscht werden kann. Was uns Architektur ist und bedeutet, lässt sich folglich nur anhand von Erfahrungen mit Dingen, deren Qualitäten man dann (gewisser- maßen nachträglich) als architektonische beschreibt, rekonst- ruieren. Trotz dieser möglicherweise etwas verkopft klingenden Voraussetzung sozialwissenschaftlicher Erkenntnis wird mit einem „gesunden Menschenverstand“ von einem „Realismus der Bezugsgegenstände“ 6 von Erfahrung ausgegangen. Allerdings mit dem zentralen Hinweis, dass die Idee, die wir uns mit- tels unseres Sinnes- und Wahrnehmungsapparats von realen Bezugsgegenständen machen, nicht ein für alle Mal festgeschrie- ben ist. Unter diesen Voraussetzungen lässt sich mutmaßen: 5 Zu den methodologischen Implikationen 6 Markus Holzinger: Welcher Realismus? der Ethnografie siehe z.B. Georg Breidenstein, Welcher Sozialkonstruktivismus? Ein Kom- Stefan Hirschauer, Herbert Kalthoff u.a.: Ethno- mentar zu Georg Kneers Verteidigung des grafie. Die Praxis der Feldforschung. Konstanz, Sozialkonstruktivismus und zu Bruno Latours München 2013. Akteur-Netzwerk-Theorie. In: Zeitschrift für Soziologie 38, 6 (2009), S. 521–534, hier S. 527. EMPIRIE DES GEBRAUCHS 31 Was wir heute gesellschaftlich unter Architektur verstehen und als ihre Eigenschaften bezeichnen, entspricht gewisserma- ßen den in der Dauer der Zeit wiederkehrenden Qualitäten von Erfahrungen aufgrund unserer Lebenspraxis.7 Wer vermag schon sicher zu wissen, welche Erfahrungen wir morgen machen? Die Frage nach der Architektur der Zukunft kann somit vor allem als eine Frage nach dem zukünftigen Menschen und seinen Praktiken (inklusive Werten, Vorstellungen, Ideen, Affekten und so weiter) verstanden werden. Im Weiteren beschäftigt sich dieser Beitrag jedoch nicht mit makrosoziologischen Gesellschaftsdiagnosen, sondern mit der Kleinteiligkeit mikrosoziologisch aufzuschlüsselnder Situationen des Alltags und speziell des Arbeitsalltags,8 in denen – so be- haupte ich – eine Reihe architektonischer Erfahrungen gemacht werden. Bevor am empirischen Beispiel erläutert wird, wie diese aus der Darstellung und Beschreibung von Arbeit, ihren Aufgaben und Abläufen zu entwickeln sind – wann also die Rede von einer architektonischen Erfahrung im Alltag berech- tigt ist und in welchen Hinsichten sie sich zeigt –, sind folgende (1) erkenntnistheoretische, (2) methodologische und (3) metho- dische Bemerkungen zur weiteren Begründung und Einordnung der Untersuchungsanlage zentral: (1) Erfahrungen werden im Kontext von Praktiken gemacht. Im Zuge eines anthropologisch-pragmatistisch 9 fundierten Begriffs von Erfahrung 10 wird diese als das vorläufige Resultat eines pro- zesshaften und tätigen Umgangs mit der Wirklichkeit verstanden. Dieser tätige Umgang findet nicht zwischen zwei voneinander iso- lierten, abgeschlossen Entitäten statt – der Mensch auf der einen, 7 Vgl. John Dewey: Erfahrung und Natur. 10 Ich berufe mich dazu u.a. auf folgende Frankfurt a. M. 1995, S. 31. Autoren und Texte: Dewey 1995 (Anm. 7); Arnold Gehlen: Vom Wesen der Erfahrung. 8 Das Feld der Arbeit stellt sich als ein Bereich In: Ders.: Philosophische Anthropologie und von Alltag und Alltagsleben dar. Ein anderer Handlungslehre, hg. v. Karl-Siegbert Rehberg. könnte das Wohnen oder die Freizeit sein. Frankfurt a. M. 1983; George Herbert Mead: Das physi-sche Ding. In: Ders.: Gesammelte 9 Bezieht sich auf den amerikanischen Prag- Aufsätze, Bd. 2, hg. v. Hans Joas, Frankfurt matismus. a. M. 1987, S. 225–243. 32 CHRISTINE NEUBERT die Architektur auf der anderen Seite –, sondern das verbindende und Erfahrung bedingende Moment sind soziale Praktiken.11 Erst innerhalb eines praktikabhängigen Bedeutungszusammenhangs werden Erfahrungen erkennbar und können interpretativ bear- beitet werden. Sie sind Teil von Praktiken und spiegeln in ihren jeweiligen Erschließungs- und Bezugshorizonten Ordnungen dieser Praktiken wider. (2) Gegenstand der hermeneutischen Analyse sind Erfahrungen, die sprachlich und nicht-sprachlich zum Ausdruck kommen. Mit John Dewey wird davon ausgegangen, dass wir es in der Analyse stets mit schon reflexiven Erfahrungen zu tun haben. Nur diese können überhaupt ausdrücklich werden, denn zu der unmittelbaren Ebene von Erfahrung lässt sich nicht vordringen. Erst in dem Modus reflexiven Erfahrens konstituieren sich qua Bedeutungszuweisungen Objekte des Erfahrens, die wiederum auf ein erfahrendes Subjekt verweisen. Zudem ist Reflexion hier nicht auf Bewusstsein oder eine bewusste Form von Reflexion beschränkt, sondern umfasst jede leibliche Form der Urteilsfindung12 über eine Wahrnehmung. Arnold Gehlen stellt in dem Zusammenhang fest, dass „nichts […] sicherer [sei], als daß es ein Gedächtnis unseres Leibes gibt, der seine Erfahrungen macht und nichts vergißt“.13 Objekte des Erfahrens können also sowohl nicht-versprachlicht, zum Beispiel in körperlichen Bewegungen oder Stimmungen, als auch sprachlich angezeigt 11 Praktiken gehen nicht in dem Tun eines 12 Vgl. Robert C. Solomon: Emotionen, einzigen Menschen auf, sondern haben lose Gedanken und Gefühle. Emotionen als Betei- Enden in unterschiedlichen Entitäten sozialer ligung an der Welt. In: Sabine A. Döring (Hg.): Wirklichkeit. Nicht-menschliche Dinge haben Philosophie der Gefühle. Frankfurt a. M. 2009, an ihrer Beschreibbarkeit ebenso Anteil wie S. 148–168. Solomon verwendet einen sehr Affekte und Gefühle, Normen, Werte, Regeln. weit gefassten Begriff von Urteil, der nichts mit Auf ein tiefergehendes Verständnis von Prakti- einem rationalen Entschluss zu tun hat. Bezo- ken und eines praxeologischen Analyseansat- gen auf emotionssoziologische Fragen denkt er zes kann an dieser Stelle nicht eingegangen Kognition und Emotionen eng zusammen und werden. Vgl. hierzu u.a. Andreas Reckwitz: zieht zwischen beiden keine derartig scharfe Grundelemente einer Theorie sozialer Prakti- Trennlinie, wie es sich beispielsweise in den ken: Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Handlungstypen nach Max Weber nieder- Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282–301. schlägt. 13 Gehlen 1983 (Anm. 10), S. 8. EMPIRIE DES GEBRAUCHS 33 werden. Das „entlastende“,14 das heißt symbolische Wahrnehmen trägt dazu bei, dass Erfahrungen nicht mehr auf den empfind- samen Körper zurückgeführt werden, der irgendwann einen Eindruck hatte, mit dem er umgehen musste. Es kommt statt- dessen zur verkürzten, nämlich versprachlichten Darstellung von Erfahrungen, „die Dinge scheinen einseitig, optisch oder gar begrifflich allein genügend erkennbar“.15 (3) Das Auswertungsverfahren der sozialwissenschaftlichen (auch wissenssoziologischen) Hermeneutik trägt dazu bei, in der sprach- symbolischen Benennung der Dinge den Sinnzusammenhang kör- per-leiblicher Erfahrungen zu erkennen. Das sozialwissenschaftliche Auslegen der empirischen Daten, der Vorgang der Interpretation also, muss dafür zu einem gewissen Grad methodisiert werden. Eines dieser Mittel des Methodisierens ist das schriftliche Protokoll. Nur durch den Protokollcharakter der Daten kann die intersubjektive Nachvollziehbarkeit (Objektivität) qualitativer Sozialforschung gewährleistet werden. Nicht die empirische Wirklichkeit an sich ist Gegenstand der methodi- sierten Auswertung, auch nicht ihre Beobachtung, sondern nur das durch die Forscherin erstellte Protokoll dieser Beobachtung der empirischen Wirklichkeit, das zu verschiedenen Zeitpunkten von verschiedenen Personen eingesehen werden kann.16 Bei der Interpretation eines solchen Protokolls geht es darum, den sozi- alen Sinn, den die Teilnehmerinnen in den Gesprächen und der Forscher als Beobachtender produzieren, zu rekonstruieren und dieses Mal explizit, für andere nachvollziehbar, deutend zu verste- hen. Dazu wird (bestenfalls in einer Interpretationsgruppe)17 das sprachliche Dokument in einzelne Sinneinheiten zerlegt, Stück für Stück werden sequentiell Absätze, einzelne Sätze oder auch nur Wortgruppen gelesen und in ihrem sprachlichen Ausdruck 14 Ebd., S. 14. 17 Eine ausführliche Darlegung dieser Praxis der Gruppeninterpretation findet sich bei Jo 15 Ebd. Reichertz: Gemeinsam interpretieren. Die 16 Vgl. Ulrich Oevermann: Objektivität des Gruppeninterpretation als kommunikativer Protokolls und Subjektivität als Forschungsge- Prozess. Wiesbaden 2013. genstand. In: ZBBS 5 (2004), S. 311–336, hier S. 312–315. 34 CHRISTINE NEUBERT hinterfragt. Dieses Vorgehen beschreibt ein weiteres Mittel des Methodisierens. Der immanente Sinngehalt (der Erfahrungen), der in der Wahl der Worte, in dem Wie des Sprechens und Schreibens liegt, wird mühevoll nach außen gekehrt und somit die oben ange- sprochene Verkürzung der Erfahrungsketten offen gelegt. Anlage der empirischen Studie In der Studie, aus der die folgenden Daten entnommen sind, untersuchte ich im Zeitraum von eineinhalb Jahren verglei- chend fünf Arbeitsfelder beziehungsweise den Arbeitsalltag ihrer Teilnehmerinnen: Bibliothekare in einer wissenschaftli- chen Bibliothek, Laboranten in einem biochemischen Labor, Kunstschaffende in ihren Ateliers, Werker im Industriebetrieb und Museumsaufsichten und -pädagoginnen in einem Kunstmuseum. Ziel war es nicht, die innere Logik und Struktur jeder einzelnen Arbeitswelt im Kontrast zu den anderen herauszuarbeiten, son- dern durch den Vergleich die wesentlichen Charakteristika von Architekturerfahrung im Alltag zu erkennen. In einer ethnogra- fischen Forschungshaltung unternahm ich jeweils verschieden intensive Feldaufenthalte (mal besuchte ich den Arbeitsort über einen längeren Zeitraum mehrmals, mal war ich zwei Wochen durchweg im Betrieb) und führte teilnehmende Beobachtungen, informelle Arbeitsplatzgespräche sowie gezielte Interviews18 mit den Arbeitenden durch. Gefragt wurde dabei nach den Arbeitsaufgaben und dem Tagesablauf, nicht nach der gebau- ten Arbeitsumgebung. Über diesen Umweg im Erzählstimulus gelang es, sich beiläufig und dem alltagsweltlichen Horizont der Arbeitenden angepasst dem eigentlichen Gegenstand des Interesses zu nähern. So gab es kein bauliches Gegenüber, das die Teilnehmenden dokumentieren oder fotografieren,19 18 Vgl. Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff 2013 19 Wie es hingegen Methoden wie das (Anm. 5), S. 80–85. bewegte Interview oder die Fotostory, das Anfertigen von Mental Maps (beispielsweise des alltäglichen Wegenetzes), das Malen von Collagen oder das Drehen von Homevideos etc. verlangen oder zumindest nahelegen. EMPIRIE DES GEBRAUCHS 35 sondern ihre gewohnten Arbeitspraktiken, die sie beschrei- ben sollten. In den Gesprächen entfalteten die Teilnehmenden auf diese Weise ihre je praktikbezogene Einschätzung von der Thematisierungswürdigkeit des Erkenntnisgegenstands, also von der Rolle der gebauten Umgebung bei der Arbeit. Wie tun sie das genau? Der Suchbegriff der Widerständigkeitserfahrung Im Forschungsprozess entwickle und verwende ich den Begriff der Widerständigkeitserfahrung als heuristisches Mittel, um die empirischen Daten aufzuschließen.20 Die Beschreibungen der Arbeitspraktiken werden daraufhin verglichen, inwiefern die archi- tektonische Umgebung als widerständig erfahren wird. Dabei wird insbesondere mit Wilhelm Kamlah ein weiter Begriff von Widerständigkeit in Anschlag gebracht: Mitgedacht sind sowohl „angenehme wie unangenehme“, „beglückende und bedrückende“21 Unterschiedsbekundungen. Auf diese Weise wird ein Spektrum architektonischer Erfahrung erfasst, das von der vordergründigen Bemerkung einer architektonischen Qualität im Zusammenhang mit der Herstellung und Störung praktischer Ordnungen bis hin zur hintergründigen Setzung dieser Ordnungen im gewohnten Tun und Sagen reicht. Dieselbe Widerständigkeitserfahrung kann zudem von mehreren Personen beschrieben werden, die in den gleichen oder einen ähnlichen pragmatischen Bedeutungszusammenhang eingebunden sind. Innerhalb der Studie werden dadurch unter- schiedliche Widerständigkeiten des Gebauten im Alltag identifi- ziert. Konkret werden diese nun am Beispiel der Mitarbeitenden in einem Kunstmuseum vorgestellt. 20 Die theoretische Fundierung des Begriffs 21 Vgl. Wilhelm Kamlah: Philosophische Anth- insbesondere mit Rekurs auf George H. Mead ropologie. Sprachliche Grundlegung und Ethik. und Wilhelm Kamlah kann an dieser Stelle nur Mannheim, Wien, Zürich 1973. Seinen Begriff benannt und nicht ausgeführt werden. Dazu des „Widerfahrnis“ umschreibt er ebenso als verweise ich auf meine im Januar 2017 der TU Erfahrung von Widerstand, die auf die Bedürf- Dresden eingereichte Dissertation „Begegnung tigkeit von Menschen verweist. mit dem Gewohnten. Eine empirisch-qualitative Studie zur Struktur und Praxis architektoni- scher Erfahrung“. 36 CHRISTINE NEUBERT Arbeitsalltag im Kunstmuseum Bei dem Erhebungsort handelt es sich – das als Randnotiz – um ein sogenanntes ‚landmark building‘ eines sogenannten Stararchitekten.22 Besucher kommen regelmäßig aufgrund der Architektur in die Stadt und in das Museum. Inwiefern aber erfah- ren die Mitarbeiterinnen der Museumsaufsicht ihr Museum im Alltag? Areal: Gewohnte Bewegungen und Stimmungen der Museumsaufsicht Der Mitarbeiter Heiko äußert sich über seinen Arbeitstag zu Beginn unseres Gesprächs: „Ja (.) ja gut ähm (.) Tagesgeschäft. Beziehungsweise erstmal grund- sätzlich worum es geht. also das ganze heißt Besucherservice und das ist schon mal nen Unterschied zu anderen Museen die ja häu- fig eine Aufsicht haben und Aufsicht ist eben nur nen Teil unserer Tätigkeit. Das heißt klar, wir sind in erster Linie dafür da, damit den Werken nichts passiert damit die keiner anfasst beschädigt oder ähnliches, (.) ähm das ist natürlich die Hauptaufgabe aber, es geht eben darüber hinaus. Besucherservice deshalb, weil wir nicht einfach stumpf in der Ecke stehen, nur beobachten und den Leuten auf die Finger schauen, sondern wir sind da wir sind prä- sent und wir sind vor allem so da dass die Besucher uns jederzeit ansprechen können.“ (Heiko) Der Begriff „Besucherservice“ wird von Heiko zur Abgrenzung gegenüber einer sonst üblichen Bezeichnung des Aufgaben- bereichs als „Aufsicht“ eingeführt. Wie sich herausstellt, hängt daran ein ganzes Weltbild seiner beruflichen Tätigkeit im Museum, die er dementsprechend eher als aktive Dienstleistung am Kunden denn als passiven Dienst an einer Institution ansieht. 22 Aus forschungsethischen Gründen werden Orte und Menschen anonymisiert. EMPIRIE DES GEBRAUCHS 37 Entscheidend ist nun, wie er die Einführung des neuen Begriffs in seinem Tätigkeitszusammenhang begründet. Während er das Aufsehen nüchtern und zweckmäßig als Aufpassen auf etwas darstellt, sieht er im aufmerksamen „da“ Sein – gesteigert als „präsent“ Sein – einen Mehrwert und den Inbegriff des Services am Besucher. Dieses spezielle „da“ Sein richtet sich in seiner Präsenz an den Besucher („und wir sind vor allem so da dass [...]“). Im weiteren Verlauf seiner Rede benennt er zwei zentrale Modi dieses „präsent“ Seins am Arbeitsort: „entweder steht man irgendwo und behält alles son bisschen im Auge (.) oder man bewegt sich halt durch die Galerien, schaut, dass alles gut läuft, ähm zeigt Präsenz; versucht aber natürlich auch möglichst unaufdringlich zu sein“ (Heiko) Stehen und Gehen beziehungsweise sich Bewegen werden hier als zwei arbeitsbedingte Tätigkeiten beschrieben. Damit eng verbunden ist das Schauen und Präsenz zeigen. Heiko knüpft das „irgendwo Stehen“ an ein „im Auge behalten“, wäh- rend er das „sich Bewegen“ mit dem „Schauen“ und „Präsenz zeigen“ in Verbindung bringt. Er macht so auf den grundlegen- den organischen Zusammenhang zwischen der Positionierung, Ausrichtung und Orientierung des Körpers und der Reichweite und Leistungsfähigkeit der visuellen Wahrnehmung durch das Auge als Sinnesorgan aufmerksam. Bei einer festen Position des menschlichen Körpers an einer Stelle ist die Reichweite des Blickes beschränkt. Man kann etwas nur so lange visu- ell wahrnehmen, so lange es sich im Wahrnehmungs- oder Blickfeld befindet – dementsprechend behält man etwas im Blick. Anders ist es beim Bewegen. Mit jedem Schritt verän- dert sich das Blickfeld, der Wahrnehmungsraum wird variabel. In diesem Modus kann man schauen und somit aktiver steuern, welcher Bereich gerade im Blick sein soll, freilich ohne schon einen Zwischenfall (wenn etwa ein Besucher zu nah an ein 38 CHRISTINE NEUBERT Ausstellungsobjekt herantritt oder es gar berührt) zu sehen.23 Dieses Schauen hat keine bestimmte Richtung, und gerade darin ist es an die körperliche Bewegungsänderung geknüpft. Es kann viele verschiedene Richtungen in kurzen Zeitabständen nachein- ander haben, es kann abwechselnd hin und her oder auf und ab geschaut werden. Genau diese Variabilität der Blickbeziehungen der Museumsaufsichten ist es dann auch, die Heiko zufolge die Spezifik des Präsenzzeigens ausmacht. Präsent sein bedeu- tet potenziell immer und überall da zu sein, unerwartet aufzu- tauchen. Besucher können damit rechnen, dass sie in ihrem Verhalten im Museum beobachtet werden, es ist zu erwar- ten, dass ich als Besucherin an der einen oder anderen Stelle auf eine Mitarbeiterin der Aufsicht treffe. Dass im Zuge dieser Bewegungsabläufe immer auch Stimmungen produziert werden, die sich im Alltag wiederholen und festigen, stellt das folgende Zitat heraus. Hierbei projiziert Heiko den soeben herausgearbei- teten Unterschied zwischen zwei Bewegungen auf verschiedene Stimmungen bei der Arbeit, die er im Museum verortet: „oben in der Ausstellung bist die ist sehr klein die ist sehr über- sichtlich und meistens sind da oben (.) ja Ausstellungen mit Bildern Fotos ähnlichen Geschichten auf die du nicht groß nen Auge haben musst. das heißt, du bewegst dich auch nicht unbe- dingt viel. Weil meistens reicht ein Schritt in den Raum rein, du guckst einmal und hast alles im Blick, und ähm (.) das ist zwar manchmal ganz schön bisschen entspannend, aber (.) wir ste- hen den ganzen Tag hier. und man braucht’s zwischendurch Bewegung man braucht nen bisschen Input deswegen ist es so 23 Zur Unterscheidung zwischen Schauen und Sehen siehe Achim Hahn: Architekturtheorie. Wohnen, Entwerfen, Bauen. Konstanz 2008, S. 110–120. In Theorien der Gestaltwahrneh- mung wird das Schauen als eher ungerichtete und unwissende Praktik im Sinne eines Umher- schauens begriffen, während das Sehen eine gewisse Gerichtetheit und ein bestimmtes Wis- sen der visuellen Wahrnehmung voraussetzt, um etwas Bestimmtes sehen und in seiner Ganzheit oder Gestalt erkennen zu können. EMPIRIE DES GEBRAUCHS 39 dass wir (.) in der Regel eben nicht den kompletten Tag immer ein und denselben oben stehen haben von uns, sondern dass wir zwi- schendurch wechseln damit man sich nen bisschen die Beine ver- treten kann damit man nen bisschen anderen Input bekommt, aus keinem andern Grund. weil sonst ist es wirklich es kann furcht- bar langweilig sein, einschläfernd sein wenn man die ganze Zeit nur oben ist. in der kleinen Ausstellung. Und deswegen (.) gucken wir (.) manchmal ist das aber auch so dass einer von uns sagt ich bin heut einfach nicht so (.) ja kommunikativ oder wie auch immer man hat mal nen guten Tag mal nen schlechten Tag ich geh heute mal freiwillig nach oben. (.) ist auch okay.“ (Heiko) Unter den Mitarbeiterinnen besteht offensichtlich ein Wissen dar- über, dass beide Galerien unterschiedliche Aufsichtspraktiken verlangen (bewegungsarm: „du guckst einmal…“ vs. bewe- gungsreich: „Beine vertreten“) und diese auf Dauer verschie- dene Stimmungen produzieren. Wenig körperliche Bewegung in der oberen Galerie bedeutet zugleich wenig „Input“, wenig Abwechslung im Wahrnehmungsraum, dadurch Eintönigkeit und Monotonie des gesamten Tätigkeitsverlaufs, die sich letzt- lich in einem bestimmten Gemütszustand („einschläfernd“) und Stimmungslage („langweilig“) niederschlagen. Umgekehrt lässt sich unter Berücksichtigung dieser Stimmungen die Diensteinteilung gezielt organisieren. Denn kommt jemand schon in entsprechender Laune zur Arbeit, setze er sich freiwillig nach oben, in der Erwartungshaltung, dass ihm dort auch keine auf- geweckte oder aufgeregte Stimmung durch abwechslungsreiche Bewegungsabläufe abverlangt werde. Die architektonische Erfahrung liegt hier in der Darstellung gewohnter, körper-leiblicher Zustände, die sich in Bewe- gungsabläufen und Stimmungen ausdrücken. Darin treten bestimmte Entfaltungspotenziale des Aufsehens hervor, die jeweils in der oberen und unteren Ausstellungsebene veror- tet sind. Diese erfahrene Verortung der Entfaltungspotenziale beim Aufsehen begreife ich als Areal der Museumsaufsicht. 40 CHRISTINE NEUBERT Areale sind weder etwas ‚bloß Psychisches‘24 noch etwas bloß Physisches. Sie sind an einzelne Praktiken gebunden, wer- den durch sie hervorgebracht und können nur daran gekoppelt in gebauten Umgebungen erfahren und geteilt werden. Heikos Ausführung zur Diensteinteilung verdeutlicht das: Nicht nur er erfährt die Arbeit in den Galerien so, seinen Kollegen geht es ähnlich. Die obere Galerie wird als Areal der bewegungsar- men Aufsichtspraktik erfahren, die untere als Areal der bewe- gungsreichen. Die alltagsweltliche Erfahrung der gebauten Arbeitsumgebung äußert sich hier in der Beschreibung eines gewohnten „Entfaltungsspielraums“,25 in dem die spezifischen Praktiken des Aufsehens selbstvergessen umgesetzt werden können. Kooperation: Architektonische Qualitäten des Aufsehens Nicht dass Arbeitsalltag verortet ist, sondern wie er in seiner je spezifischen (praktischen) Ordnung verortet ist, wird in der zweiten Hinsicht architektonischer Erfahrung im Denkbild der Kooperation zum Thema: „und ja auf auf Geräusche reagieren wir ja auch enorm. also rich- tig. (.) sobald irgendwie was ist, dann okay, da könnte was sein, nach ner Zeit lernst du auch das Geräusch dann zuzuordnen, zu welchem Kunstwerk das passen könnte, oder ob es nur ne Bank ist, oder ein Hocker, der irgendwie auf den Boden gestellt wird oder so also es ist auch schon (.) entwickelt man halt so die die Sinne werden dann ausgeprägter“ (Inga) Die Mitarbeiterin des Besucherservice thematisiert die akusti- sche Wahrnehmung im Museum. Dabei unterscheidet sie aus- stellungsabhängige und ausstellungsunabhängige Geräusche. Mit jeder Ausstellung ändern sich zwar die Kunstwerke, an 24 Vgl. Otto Friedrich Bollnow: Mensch und 25 Ebd., S. 89. Raum. Stuttgart 1963, hier S. 22, in Bezug auf seinen Begriff des gelebten Raums. EMPIRIE DES GEBRAUCHS 41 die Besucher stoßen könnten, der Boden oder die Wände des Museums produzieren jedoch wiederkehrend (so ist zu ver- muten) nahezu die gleichen Laute. Es wird deutlich, dass die Mitarbeitenden des Besucherservices einer akustischen Ordnung des zu beaufsichtigenden Museumsbereichs bedürfen, und dies umso mehr, je schlechter sich der Überblick visuell herstellen lässt. Letzteres kann mir zum Zeitpunkt meines Aufenthalts im Museum nur berichtet werden. Inga erwähnt im Gespräch, dass es mitunter „sehr unübersichtliche Ausstellungen“ gäbe. Als ich nachfrage, was das genau heißen würde, antwortet sie: „Hm also die letzte Ausstellung war so ne Architekturausstellung, da warn halt sehr viele Stellwände. in dem einen Ausstellungsraum aufgebaut. also das heißt wenn du (.) reinschaust, hast du keine Übersicht. Weil das auch alles zu- zugestellt wird du kannst halt nicht den Raum so überschauen. Also wir haben’s dann auch immer so gemacht wir überlegen uns dann irgendwie so Techniken dann sind wir halt so in die Hocke gegangen, weil das ja auf so Stelzen war, und dann hast du geguckt, wo Menschen stehen, und dann bist du dann halt mal da hin gegangen und hast da geschaut.“ (Inga) Sei es kuratorische Absicht oder nicht: Architektonische Erfahrungen werden mit dieser „Architekturausstellung“ selbst zum Thema gemacht.26 Unzählige Stellwände erschweren dem Aufsichtspersonal die „Übersicht“ auf Besucher und Kunstwerke. Um dennoch die visuelle Ordnung des Aufsehens herzustellen, verständigen sich die Mitarbeiter über eine Änderung ihrer übli- chen Aufsichtspraktik und erschließen sich die „Technik“ des Bückens. Indem hier Sichtbeziehungen als verhindert beschrie- ben werden, wird einerseits auf eine innerhalb der Praktik gebrauchte visuelle Ordnung verwiesen, und andererseits darin die Ausstellungsarchitektur erfahren. Ebenso verhält es sich mit dem Akustischen. Die Aufsichtspraktik verlangt es, das Museum 26 In dem Fall handelt es sich um Stellwände als Architekturen in der Museums-Architektur. 42 CHRISTINE NEUBERT (akustisch) zu differenzieren und es in einzelnen Bestandteilen – dem Boden, der Bank, an anderer Stelle auch den Wänden, dem Dach – zu erschließen. Insgesamt stellt sich nicht der gewohnte körper-leibliche Entfaltungsspielraum der Aufsichtspraktik dar, sondern die Störung eben dieses Raums durch die akustische oder visuelle Widerständigkeitserfahrung bei der Arbeit. Als spezifisch archi- tektonische Qualitäten des Aufsehens vergegenständlichen diese die Arbeitsumgebung in einzelnen baulichen Elementen und zeigen gleichsam deren Anteil an der Herstellung der Ordnung des Aufsehens auf. Das Erkennen und Zuordnen der Geräusche sowie die direkte Herstellung einer Sichtbeziehung sind wesentlich, um effektiv arbeiten zu können.27 Die gebaute Umgebung lässt sich diesbezüglich als (mal mehr, mal weniger) kooperativ bezeichnen. Diskurs: Kommunikation über ästhetische Erfahrungen des Museums Die dritte Hinsicht alltagsweltlicher Architekturerfahrung wird im Sprechen über den Arbeitsplatz als gebaute Umgebung entdeckt. Die bisher erläuterten Hinsichten architektonischer Erfahrung bilden dafür gewissermaßen die Grundlage, denn es geht darum, die diskursive Struktur der Kommunikation über architektonische Erfahrungen herauszustellen. Aus diskursanalytischer Sicht zeichnet sich Wirklichkeit durch eine wiederkehrende und über längere Zeit stabile und dadurch Wirkungsmacht erlangende Ordnung von (sprachlichen) Aus- sagen aus. Bezogen auf mein Thema handelt es sich um 27 Ausführlich habe ich das in meiner Disser- tation entfaltet. Über die zwei bisher genannten architektonischen Erfahrungsqualitäten – Akustisches und Sichtbeziehungen – wurden außerdem das Luftmäßige und Lichtmäßige, Temperatur, Wege sowie physische Begren- zungen empirisch herausgestellt. Gleichwohl wird damit kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. EMPIRIE DES GEBRAUCHS 43 sich wiederholende Aussagen in den Gesprächen an einem Arbeitsort, die die gebaute Umgebung „explizit repräsentie- ren“ und in ein bestimmtes „Bild“ setzen.28 Solche explizit kom- munizierten architektonischen Erfahrungen entsprechen eher gezielten Wahrnehmungsurteilen und werden daher als ästhe- tische Erfahrungen verstanden. Mit Martin Seel gesprochen „geht es der ästhetischen Erfahrung um ein Verweilen in einer Wahrnehmung und bei einem Objekt dieser Wahrnehmung“.29 Sie sei zunächst einmal nichts anderes als sinnliche Wahrnehmung, die den Wahrnehmenden jedoch in besonderer Weise bewegt und das Wahrgenommene (in dem Fall die gebaute Umgebung) explizit zum Gegenstand seiner Aufmerksamkeit werden lässt. Wenn ihr auch im Vollzug ein Moment der Selbstbezüglichkeit und Selbstzweckmäßigkeit anhaftet, entspringt auch ästhetische Erfahrung einem pragmatischen Bedeutungszusammenhang und ist somit ebenso Folge einer Widerständigkeitserfahrung innerhalb dieses Zusammenhangs.30 Die Besonderheit bei dem von mir untersuchten Museum besteht darin, dass der (in allen Arbeitsfeldern identifizierte) Diskurs über architektonische Erfahrung allseits präsent ist. Sowohl von der Besucheröffentlichkeit als auch von den Mitarbeiterinnen wird das Gebaute explizit als ein ästheti- sches Wahrnehmungserlebnis behandelt. Noch bevor man das Museum betritt, eilt diesem (inszeniert durch eine entspre- chende Presse- und Öffentlichkeitsarbeit) der Ruf voraus, dass einem hier eindrückliche Erlebnisse bevorstehen und es zahlrei- che Möglichkeiten gibt, in denen der Besucher sein „leibliches Sensorium ausdrücklich tätig sein lassen“31 kann. Noch bevor mein eigentlicher Feldaufenthalt begann, sah ich mich daher 28 Andreas Reckwitz: Praktiken und Diskurse. 30 Näheres dazu u.a. bei Christa Kamleithner: Eine sozialtheoretische und methodologi- Atmosphäre und Gebrauch. Zu zwei Grundbe- sche Relation. In: Kalthoff, Herbert u.a. (Hg.): griffen der Architekturästhetik. In: Wolkenku- Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer ckucksheim: Das Konkrete und die Architektur Forschung. Frankfurt a. M. 2008, S. 188–209, 14 (2009). URL: http://www.cloud-cuckoo.net/ hier S. 204. journal1996-2013/inhalt/de/heft/ausgaben/109/ Kamleithner/kamleithner.php (23. Januar 2017). 29 Martin Seel: Ethisch-ästhetische Studien. 31 Seel 1996 (Anm. 29), S. 52. Frankfurt a. M. 1996, S. 50–51. 44 CHRISTINE NEUBERT mit Behauptungen über architektonische Erfahrungen in Gestalt ästhetischer Wahrnehmungserlebnisse konfrontiert, wie die fol- gende Notiz aus dem Feldtagebuch zeigt: Als ich vor einem größeren Kunstwerk stehe, kommt ein Mitarbeiter der Museumsaufsicht auf mich zu und spricht mich an. Wir kom- men ins Gespräch, er fragt mich sogleich, wie ich das Gebäude finde. Nachdem ich bemerke, dass es bis zu einer gewissen Höhe recht normal wirkt, sagt er, dass das manchmal so scheine, aber nicht so sei. Es sei immer wieder eine Herausforderung die Bilder zu hängen, Lampen zu montieren etc. Das mache die Arbeit hier aber auch so besonders und herausfordernd. Explizit wird hier vom Gefallen des Gebäudes geredet. Weder wurde eine solche Frage an den anderen Arbeitsorten derar- tig unvermittelt und direkt in einem ersten Kontakt an mich als Fremde herangetragen noch stellte sie sich überhaupt. Der Fortgang des Gesprächs zeugt jedoch von keinerlei Irritation. Sofort scheine ich zu wissen, worauf sein Interesse abzielt und äußere mich selbstverständlich zur Wirkung des Gebäudes auf mich. Anscheinend beziehe ich mich dabei auf die gewölb- ten Wände, die mir in einem Museum zumindest bemerkens- wert scheinen, schließlich müssen Bilder daran hängen. Aus Sicht des Mitarbeiters trifft diese Bemerkung wiederum den Kern der Arbeit beim Ausstellungsumbau: Selbst während der stressigen und anstrengenden Umbauphase würde sich die Widerständigkeitserfahrung im Umgang mit dem Gebäude und seinen schrägen Wänden als „besonderes“ Erlebnis äußern, das als „herausfordernd“ gewertet wird. Obwohl dies nachvollziehbar ist, verweist die sprachliche Einbettung dieser Erfahrung im Erstkontakt mit der Forscherin auf sich aufdrängende Erfahrungen im Museum. Diese dis- kursive Vorverankerung architektonischer Erfahrungen im Sinne (dominanter) ästhetischer Wahrnehmungen führt dazu, dass die gesamte Tätigkeit, die berufliche Stellung und Ein- stellung aufgewertet wird. Die Symbolizität des Museums als „außergewöhnliches Bauwerk“ strahlt auf ihn als Angestellten EMPIRIE DES GEBRAUCHS 45 ab. So entgegnet er im Interview auf meine Nachfrage, ob nicht ein Prozess der Identifikation mit der Arbeit und dem Arbeitsplatz auch „in jedem anderen Haus“ einsetzen würde: „dadurch dass es eben eine außergewöhnliche Architektur ist hat man auch automatisch dieses Gefühl dass (.) man selber Teil von etwas Außergewöhnlichem ist, etwas was nicht alltäglich ist.“ (Heiko) Heiko zufolge gibt die (ästhetische Erfahrung der) Architektur den Anstoß dazu, sich über das gewöhnliche und „alltägliche“ Maß hinaus zu seiner Tätigkeit in Beziehung zu setzen und dies auch entsprechend zu reflektieren. Obwohl er an anderer Stelle schildert, dass dieser Vorgang der Identifikation für ihn schwer sprachlich auszudrücken ist, entspricht die Art, wie er über die wechselseitige Verschränkung von architektonischer Erfahrung und Selbstwirksamkeitserfahrung bei der Arbeit spricht, nicht einer spontanen Bewusstwerdung dieses Zusammenhangs. Ebenso wenig entspricht es der architektonischen Erfahrung, wie sie in den anderen beiden Hinsichten (Areal und Kooperation) dargestellt wurde. Vielmehr scheint sich diese Haltung zur Dominanz ästhetischer Wahrnehmungen im Museum unter den Mitarbeiterinnen des Besucherservice durchgesetzt zu haben. Sie gipfelt in der gemeinsamen Erzählung „Wir sind speziell“: „warum wir auch immer sagen die Leute die hier arbeiten, wir sind, wir sind speziell. (.) ja? //ja// oder auch ähm dass es uns relativ einfach fällt uns mit dem Haus an sich zu identifizieren.“ (Heiko) Im Zuge der praktischen Ordnung des Aufsehens wurde nicht das gesamte Haus als widerständig erfahren, sondern spezi- fische Qualitäten wie etwa das Akustische. Die hier geäußerte Identifikation „mit dem Haus an sich“ bezieht sich hingegen auf die Erfahrung der gebauten Umgebung als ästhetische Form und Gestalt, die diskursiv strukturiert ist. Dass die Arbeitenden schon „immer sagen“, sie seien „speziell“ oder ihr Alltag sei außerge- wöhnlich, weil die Architektur außergewöhnlich sei, entspricht 46 CHRISTINE NEUBERT einem dominanten Muster beim Sprechen über die Arbeit in die- sem Museum. Jeder zukünftige Mitarbeiter wird das durch den Austausch mit den Kolleginnen bald selbst reproduzieren und damit zum Akteur des Diskurses über die gebaute Umgebung als ästhetisches Objekt. Zusammenfassung Am Beispiel der Arbeit in einem Kunstmuseum wurde der Vorschlag zur Systematisierung alltagsweltlicher Architektur- erfahrung (in aller Kürze) veranschaulicht. Es wurde ein spezifi- sches Kontinuum alltäglicher Architekturerfahrung skizziert. Die Relevanz und Aktivität des Architektonischen im Arbeitsalltag der Museumsaufsichten stellt sich im Wechsel zwischen der Herstellung gewohnter Bewegungen und Stimmungen (Areal), der Herstellung akustischer und visueller Ordnungen des Aufsehens (Kooperation) sowie der Herstellung geteilter Redeweisen über das Museum als Arbeitsort (Diskurs) dar. Es muss kaum erwähnt werden, dass sich die Erfahrungen, die hier analytisch aufgefächert werden, im Alltag überlagern, nebeneinander und gleichzeitig bestehen. Das Museum ist dem Besucherservice Alltagsort: der Ort routinierter Bewegungen und Stimmungen, in dessen Modus beispielsweise die Verhandlung der ästhetischen Erfahrung seiner Gestalt kaum Gewicht hat. Ebenso ist es Arbeitsort: der Ort, an dem die praktische Ordnung des Aufsehens auf akustische und visuelle Widerständigkeiten des Gebauten verweist, die in den gewohnten Bewegungen und Stimmungen bereits bearbeitet sind. Im diskursanalytischen Zugriff auf architektonische Erfahrung interessieren schließlich nicht die pragmatischen Orientierungen, sondern es wird eine neue, diskursive Ordnung intersubjektiv geteilter, ästhetischer Erfahrung hergestellt. In allen drei Hinsichten wird der spezifische Anteil der gebauten Umgebung an der Herstellung und Störung von Alltag und sei- nen Praktiken aufgezeigt. Die in der Soziologie vielbesprochene Aktivität der Architektur wird hier über Erfahrungen in Praktiken erklärt und empirisch fundiert entwickelt. Allein darüber, so wird EMPIRIE DES GEBRAUCHS 47 argumentiert, kann auf die ordnende und nicht-ordnende, auf die stabilisierende und destabilisierende Wirkung des Gebauten geschlossen werden. Anschließend an diese Aufschichtung all- tagsweltlicher Erfahrung mit Architektur lässt sich der alltägliche Gebrauch von Architektur in seiner phänomenologischen Breite neu denken. 48 KARSTEN BERR KARSTEN BERR Zur architektonischen Differenz von Herstellung und Gebrauch Der Beitrag erarbeitet eine handlungstheoretische Grundlage für die Differenz von Herstellung und Gebrauch und spezifiziert diese Differenz für die Architektur und Landschaftsarchitektur als archi- tektonische Disziplinen im weiten Sinne. Es wird gezeigt, dass und wie Bauen und Wohnen, Herstellung und Gebrauch, herstel- lungs- und gemeinschaftsbezogenes Handeln unterschieden und zugleich wechselseitig aufeinander verwiesen sind. Am Beispiel der Landschaftsarchitektur wird demonstriert, welche Folgen einseitige Übergewichtungen des Herstellungs- oder Gebrauchs- Aspektes für Praxis und Theorie der Landschaftsarchitektur haben können. Es ist die These der folgenden Ausführungen, dass die Unterscheidung von Herstellung und Gebrauch auch als archi- tektonische Differenz beschrieben werden kann, die sowohl einen Unterschied markiert als auch auf ein aufeinander ver- wiesenes Zusammengehören des Unterschiedenen verweist. Diese These bedarf einer kurzen Erläuterung. „Differenz“ wird gegen ein landläufiges Verständnis nicht nur zur Benennung einer Unterschiedenheit zweier Bestimmungen verwendet, sondern auch zur Betonung des Umstandes, dass diese bei- den Bestimmungen in ihrer Differenz zugleich wechselsei- tig aufeinander bezogen und voneinander abhängig sind. Wir sprechen zudem von einer architektonischen Differenz, insofern „architektonisch“ im Sinne eines differenzierenden Inbegriffs zu verstehen ist, der die unspezifische Differenz von Herstellung und Gebrauch für die Disziplinen Architektur und ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON 49 HERSTELLUNG UND GEBRAUCH Landschaftsarchitektur spezifiziert. Stützen ließe sich diese These mit dem sachverwandten Vorschlag von Martin Heidegger, Bauen und Wohnen – also analog die Herstellung und den Gebrauch von Bauten – als zusammengehörig zu bestimmen. Bauen und Wohnen sind für Heidegger nicht „zwei getrennte Tätigkeiten“, die bloß instrumentell verknüpft werden können,1 sondern sie gehören als zwei Aspekte eines Baugeschehens wie zwei Seiten einer Medaille zusammen. Im Rahmen etymo- logischer Wortgebrauchsrekonstruktionen gewinnt Heidegger den Worten „Bauen“ und „Wohnen“ allerdings Bedeutungen ab, die vom üblichen Sprachgebrauch abweichen. Kern dieser Neubestimmung ist die Behauptung, dass die beiden Wörter letzt- lich wortgeschichtlich dasselbe bedeuten, nämlich einen bleiben- den Aufenthalt in der Welt zu finden. Dem hat jedes Bauen wie Wohnen Rechnung zu tragen. Diesem durchaus anschlussfähi- gen Vorschlag steht allerdings ein gravierendes Problem gegen- über: die sogenannte „Kehre“ von einer existenzialen Vollzugs- beziehungsweise Daseinsanalyse in Sein und Zeit zu einer etymologisch hergeleiteten und sich in einer „eigentümlichen Begriffsmythologie“2 einrichtenden Seinsphilosophie in seinen späteren Texten, zu denen auch Bauen Wohnen Denken gehört. Bekanntlich marginalisiert Heidegger in dieser Seinsphilosophie handlungstheoretische Bestimmungen zugunsten eines seins- geschichtlichen Geschehens, das die Differenz von Bauen und Wohnen gar nicht mehr als die Differenz von autonomen „Tätigkeiten“3 zu fassen vermag. Autonome Tätigkeiten verlan- gen einen Handlungsbegriff, der das Handeln des Menschen in dessen Verfügungsmacht belässt, nicht aber einem unverfügba- ren Seins-Geschick überantwortet. Der Verweis auf ein jeweils 1 Martin Heidegger: Bauen Wohnen Denken. 2 Wilhelm Kamlah: Ein offener Brief [an In: Ders.: Vorträge und Aufsätze. Stuttgart 1994, Martin Heidegger] (1954). In: Ders.: Von S. 139–156, hier S. 140. der Sprache zur Vernunft. Philosophie und Wissenschaft in der neuzeitlichen Profanität. Mannheim, Wien, Zürich 1975, S. 113–122, hier S. 119. 3 Ebd. 50 KARSTEN BERR schicksalhaftes „Ge-stell“4 und „Geviert“5 einer Wirklichkeit, in die man sich nur noch „hörig“ fügen können soll, um auf den „Anspruch“ oder die „Stimme des Seins“ zu „hören“,6 auf diese zu achten“ und sich einem „besinnlichen Denken“ als Bereich des die „Subjektivität verlassenden Denkens“7 gelassen zuzuwenden,8 ist keine problemlösende Antwort.9 Ohne eine handlungstheore- tische Grundlage, die dem Menschen die Verfügungsmacht über seine Tätigkeiten und Handlungsorientierungen belässt, hängt die Diskussion um Bauen und Wohnen oder die um Herstellung und Gebrauch gleichsam freischwebend in der Luft. Im Folgenden wird daher im Gang durch das Dickicht vielfältiger Beziehungen und gegenseitiger Abhängigkeiten von Architektinnen und Architekten (insbesondere der Landschaftsarchitektur) sowie Nutzerinnen und Bewohnern ein differenziertes Bild der Komplexität, Verantwortung und erforderlichen Könnerschaft aus dem Bereich der (Landschafts-)Architektur gegeben. Dieser Durchgang ist als „praxisstabilisierende“ Reflexion zu ver- stehen.10 Architektinnen und Landschaftsarchitekten stehen im Spannungsfeld von Herstellung und Gebrauch unter gro- ßem Erwartungs- und Verantwortungsdruck. Die hierfür nötige Könnerschaft kann daher nicht genug gewürdigt und unterstützt werden. Im Rahmen dieser praxisstabilisierenden Reflexion werden zuerst die handlungstheoretischen Grundlagen der Differenz von Herstellung und Gebrauch im Anschluss an die philosophischen Positionen Aristoteles‘ und Wilhelm Kamlahs 4 Martin Heidegger: Die Frage nach der 9 Vgl. Christoph Hubig: Die Kunst des Mög- Technik. In: Ders.: Vorträge und Aufsätze. lichen I. Technikphilosophie als Reflexion der Stuttgart 1994, S. 9–40, hier S. 23. Medialität. Bielefeld 2006, S. 99–106. 5 Heidegger 1994 (Anm. 1), S. 144. 10 Jürgen Mittelstraß zufolge besteht die Aufgabe der Theorie seit ihren Anfängen in der 6 Martin Heidegger: Identität und Differenz. griechischen Antike darin, aus der und für die Pfullingen 1990, S. 21. Praxis „praxisstabilisierendes Wissen“ bereit- zustellen. Vgl. Jürgen Mittelstraß: [Artikel] The- 7 Martin Heidegger: Platons Lehre von der oria. In: Ders. (Hg.): Enzyklopädie Philosophie Wahrheit. Mit einem Brief über den „Humanis- und Wissenschaftstheorie. Bd. 4. Darmstadt mus“. Bern 1975, S. 72. 2004, S. 259 f., hier S. 259. 8 Martin Heidegger: Gelassenheit. Pfullingen 1959. ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON 51 HERSTELLUNG UND GEBRAUCH rekonstruiert, um daran anschließend die architektonische Differenz von Herstellung und Gebrauch sowie – am Leitfaden der Unterscheidung der beiden Handlungsaspekte „prâxis“ und „poíêsis“ – die Binnendifferenzierung dieser Differenz zu entfal- ten. Welche Folgen es für Theorie wie Praxis haben kann, wenn diese Handlungsaspekte in Herstellung oder Gebrauch verein- seitigt oder übergewichtet werden, zeigen die Beispiele in den anschließenden Abschnitten. Handlungstheoretische Grundlagen im Anschluss an Aristoteles Für eine differenzierte handlungstheoretische Grundlage, die mit der Differenz von Herstellung und Gebrauch in einen Zusammenhang gebracht werden kann, bietet sich die Handlungstheorie von Aristoteles an. Aristoteles hat den Handlungsbegriff in bis heute Maßstäbe setzender Weise bestimmt und differenziert.11 Menschliche Handlungen, so Aristoteles, können grundsätzlich durch zwei unterschiedli- che Aspekte gekennzeichnet werden, und zwar durch die von ‚poíêsis‘ (Herstellen, Hervorbringen, gr. ‚poieîn‘, lat. ‚facere‘) und ‚prâxis‘ (Handeln, Vollziehen, gr. ‚prâttein‘, lat. ‚agere‘). Aristoteles differenziert demnach Handlungen nach zwei ver- schiedenen Beschreibungsweisen: Handlungen als Herstellen (poíêsis) und Handlungen als Handeln (prâxis): „Denn weder ist Handeln Hervorbringen, noch ein Hervorbringen Handeln“.12 Der Inhalt und die Form dieser Unterscheidung sind im Folgenden näher zu betrachten. Die poíêsis (Herstellen, Hervorbringen) wird dadurch gekenn- zeichnet, dass der Zweck der Handlung dieser Handlung äußerlich ist, da deren Ziel herstellbare und dieser herstellenden Tätigkeit 11 Vgl. im Überblick: Armin Wildfeuer: [Art.] 12 Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Grie- Praxis. In: Neues Handbuch philosophischer chisch-deutsch. Übersetzt von Olaf Gigon, neu Grundbegriffe, Bd. 2 (Gerechtigkeit-Praxis). hg. von Rainer Nickel. Düsseldorf, Zürich 2001, Hg. von Hermann Krings, Petra Kolmer, Armin VI, 4. Wildfeuer u.a. Freiburg im Breisgau 2011, S. 1774–1804. 52 KARSTEN BERR externe Werke sind, die vom Menschen geplant (zum Beispiel durch eine Architektin oder einen Architekten) oder modelliert, gebaut, gestaltet (zum Beispiel durch eine Handwerkerin oder einen Handwerker) werden müssen (zum Beispiel: Häuser). Das Herstellen bedarf, sofern das Produkt kunst- oder fachge- recht hergestellt werden soll, einer angemessenen Tüchtigkeit (Trefflichkeit, gr. ‚áretê‘), nämlich eines ‚praktischen Könnens‘ (‚téchnê‘),13 das heißt eines in der Herstellungspraxis bewähr- ten regelgeleiteten Fachwissens und -könnens. Das praktische Können kann zwar nicht vollständig, aber immerhin überhaupt auf situationsüberschreitende Regeln gebracht werden, die sich für einen aktualisierenden Nachvollzug explizieren lassen. Die hergestellten Produkte der poíêsis müssen freilich nicht gegen- ständlich-materieller Natur sein (Bauwerke, Möbel, Bücher), sie können auch immaterieller Art sein (etwa ein Theater- oder Musikstück, ein wissenschaftlicher Vortrag auf dem „Forum Architekturwissenschaft“). Von der poíêsis wird die prâxis unterschieden. Eine Handlung als prâxis lässt sich so bestimmen, dass diese ihren Zweck in sich selbst enthält. Eine solche Handlung, die um ihrer selbst willen vollzogen wird, ist gleichsam selbst das Werk dieser Handlung. Da es hier demnach um den Vollzugsaspekt und nicht um den Herstellungsaspekt einer Handlung geht, ist nicht technischer Sach-Verstand gefragt, sondern erforderlich sind ‚Klugheit‘ beziehungsweise ‚sittliche Einsicht‘ (phrónêsis) als ange- messene Tüchtigkeit für den Bereich zwischenmenschlichen Handelns (prâxis).14 Diese phrónêsis kann nicht téchnê sein und darf mit dieser auch nicht verwechselt werden, weil „Handeln und Hervorbringen verschiedene Gattungen sind“.15 Handeln (prâxis) und phrónêsis zielen nach Aristoteles stets auf die indivi- duelle ‚eudaimonía‘, das heißt auf ein gelingendes gutes Leben, das zudem immer in den Kontext einer an Werten und Gütern orientierten Handlungsgemeinschaft eingebettet ist.16 Mit der 13 Ebd. 16 Ebd. Vgl. Andreas Luckner: Klugheit. Ber- lin, New York 2005, S. 85–89; Hellmut Flashar: 14 Ebd., VI, 5. Aristoteles. Lehrer des Abendlandes. München 15 Ebd. 2013, S. 90. ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON 53 HERSTELLUNG UND GEBRAUCH Philosophin Hannah Arendt, die sich ausdrücklich auf Aristoteles beruft, steht das individuelle Handeln als prâxis gleichsam in einem „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“.17 Im Gegensatz zur téchnê lässt sich die phrónêsis überhaupt nicht auf Regeln bringen, da sie sich auf Situationen in Kontexten bezieht, in denen es um die Angemessenheit eines Handeln in genau die- ser einmaligen, durch vorab bekannte Regeln nicht eindeutig fassbaren Situation geht. „Für Angemessenheit aber gibt es keine Regel. […] Alle Praxis gehört zu diesem nicht verallgemeinerba- ren Einzelnen […]“.18 Wird dieser Unterschied zwischen der parti- ellen Regelhaftigkeit der poíêsis und dem Fehlen einer solchen bei der prâxis nicht beachtet, kann es im Übrigen zu Versuchen kom- men, der Regelhaftigkeit der poíêsis durch subjektive Setzungen sowie der fehlenden Regelmäßigkeit der prâxis durch die Suche nach vermeintlich objektiven Regel- oder Gesetzmäßigkeiten zu entkommen. Das wird sich bei der Darstellung der Aspekt- Übergewichtungen am Ende unserer Überlegungen zeigen. Entscheidend ist nun, dass die Unterscheidung von poíêsis und prâxis nicht als extensionale Unterscheidung, sondern – das hat Theodor Ebert nachweisen können – als „intensionale[-] Unterschiedenheit […] der keine extensionale Disjunktheit ent- spricht“ zu verstehen ist.19 Prâxis und poíêsis beziehen sich also nicht auf „disjunkte Tätigkeitsklassen“, sondern sie zeichnen „unterschiedliche Aspekte an Tätigkeiten“ aus.20 Es handelt sich also um „unterschiedliche Kriterien, die wir bei der Klassifizierung eines Tuns als ‚Poiesis‘ respektive ‚Praxis‘ heranziehen“.21 Mit Andreas Luckner lassen sich in diesem Sinne prâxis und poíê- sis beziehungsweise ‚praktisch‘ und ‚poietisch‘ als intensionale Bestimmungen verstehen, die dann aber „extensional auf dieselbe Handlung (als act-token) bezogen werden“ können.22 Das heißt: 17 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom täti- 20 Ebd., S. 29. gen Leben. München 1981, S. 173. 21 Ebd., S. 20. 18 Luckner 2005 (Anm. 16), S. 81. 22 Luckner 2005 (Anm. 16), S. 82. 19 Theodor Ebert: Praxis und Poiesis. Zu einer handlungstheoretischen Unterscheidung des Aristoteles. In: Zeitschrift für philosophische Forschung (1976), H. 30, S. 12–30, hier S. 21. 54 KARSTEN BERR „Man versteht eine Handlung im Sinne der poiesis, wenn man weiß, für welchen Zweck sie ein Mittel darstellt; man versteht eine Handlung im Sinne der prâxis, wenn man weiß, inwiefern sie einen Teil des Lebensvollzuges darstellt“.23 Die der poíêsis zuge- ordnete téchne betrifft somit gleichsam ihren technischen Mittel- Zweck-Zusammenhang und die der prâxis zugeordnete phrónê- sis ihren sittlich-politischen (Aus-)Handlungsaspekt in einer Handlungsgemeinschaft. Das heißt, eine Handlung oder Tätigkeit – etwa das Herstellen von Gebäuden oder deren Gebrauch – kann jeweils sowohl als poíêsis wie auch als prâxis verstanden und beschrieben werden. Was die Art des Wissens anbelangt, das mit poíêsis und prâxis verbunden ist, lässt sich mit Dirk Hartmann und Peter Janich ein technisches Herstellungs- beziehungsweise „verlaufsgesetzmäßiges Erklärungswissen“ von einem „herme- neutischen Verständniswissen“ unterscheiden.24 Handlungen und Widerfahrnisse bei Wilhelm Kamlah Nun könnte man vielleicht den Eindruck gewinnen, als ob das Handeln als poíêsis oder prâxis einen Akteur unter- stellt, dessen Zwecksetzungen lediglich die Angemessenheit der Mittel und die Legitimität der Zwecke zu berücksichti- gen hätte. Handlungsfreiheit wäre somit die Freiheit einer Handlungsspontaneität, unbelastet und ungestört von vor- hergehenden Bedingungen und der Möglichkeit nachfolgen- der Misserfolge, die diese Handlungsfreiheit jeweils beschrän- ken können. Der Philosoph Wilhelm Kamlah hat daher inner- halb des Handlungsbegriffs Handlungsspontaneität und den „Widerfahrnischarakter menschlichen Lebens“ als diese beiden Momente integriert.25 Widerfahrnisse sind einmal das, was einem, 23 Ebd. 25 Wilhelm Kamlah: Philosophische Anthropo- logie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik. 24 Dirk Hartmann, Peter Janich: Methodischer Mannheim 1973, S. 34–40, hier S. 39. Kulturalismus. In: Dies. (Hg.): Methodischer Kulturalismus. Zwischen Naturalismus und Postmoderne. Frankfurt a. M. 1996, S. 9–69, hier S. 42 f. ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON 55 HERSTELLUNG UND GEBRAUCH ohne selbst zu handeln, zustoßen kann: „Krankheit, strahlendes Wetter, Zahnschmerz, der Tod eines geliebten Menschen“.26 Dies sind gleichsam „Widerfahrnisse ohne Handeln“.27 Wichtiger ist aber, dass es „kein pures Handeln [gibt]. Auch ein so mächti- ges Handeln wie das so genannte ‚schöpferische‘ ist doch stets auf vorgegebene Bedingungen angewiesen und Störungen aus- gesetzt, so daß es mehr oder weniger oder gar nicht ‚gelingt‘. Handlungen führen zum Erfolg oder zum Mißerfolg oder auch zu unerwarteten Nebenfolgen“.28 Handlungen sind daher stets an den Widerfahrnischarakter des Lebens geknüpft, insofern „Widerfahrnis und Handlung gleichsam ineinander- greifen“.29 Ob eine Handlung gelingt (ein gepflanzter Baum wächst an) oder misslingt (der Baum geht ein) ist jeweils ein Widerfahrnis. Der Freiheitsaspekt menschlicher Handlungen (autonome Zwecksetzung) wird also in jeder Handlung immer schon durch den Widerfahrnischarakter jedweder Handlungen überhaupt eingeschränkt. Dieser Widerfahrnischarakter ist letztlich immer „bezogen auf unsere Bedürftigkeit“ und damit Endlichkeit. Ein gesetzter Zweck wird erfüllt oder verfehlt bezo- gen auf Bedürfnisse (etwa einen schönen Garten anzulegen). Das bedeutet, dass Menschen, die durch zweckgerichtetes Handeln die vorgegebene Umwelt zu einer Kulturwelt, das heißt zu einem bewohnbar gemachten Lebensraum gestalten und ein- richten müssen, zum einen stets auch die Störanfälligkeit ihrer Handlungen erfahren. Zum anderen ist jede Handlung stets auch eine Reaktion auf Vorgegebenheiten natürlicher (Geburt, Sterblichkeit, Schutzbedürftigkeit), kultureller (Institutionen menschlichen Zusammenlebens, Konventionen, Üblichkeiten, Moral) wie sozialer (Kommunikation und Interaktion) Art. Der Freiheits- als Zwecksetzungsaspekt ist stets geknüpft an den Widerfahrnisaspekt in Form des Gelingens/Misslingens und in Gestalt der Vorgegebenheiten, auf die der Handelnde reagieren muss. Handlungsspontaneität und Handlungsbegrenzung gehen also gleichsam Hand in Hand. 26 Ebd., S. 34 f. 28 Ebd. 27 Ebd., S. 35. 29 Ebd., S. 37. 56 KARSTEN BERR Noch etwas Anderes kommt hinzu: Nicht nur „verwandeln“ sich eigene Handlungen durch ihr Gelingen oder Misslingen in Widerfahrnisse für den Handelnden selbst, sondern die eigene Handlung ist Widerfahrnis für andere, wie die Handlungen des anderen Widerfahrnis für einen selbst sind.30 Das heißt dann aber auch, dass Handlungen dann, wenn sie im „Zusammenspiel von Partnern“ – für unser Thema: bei der Zusammenarbeit von Herstellenden und Nutzenden eines architektonischen oder landschaftsarchitektonischen Werks – als jeweilige „Antwort des anderen […] im Wechsel ‚aktiv‘ und ‚passiv‘“ sind, so dass „Handlungen und Rückhandlungen […] in allem menschli- chen Miteinanderleben ab[wechseln], woraufhin das ursprüng- lich gelehrte Wort ‚Reaktion‘ als Gebrauchsprädikator in die Umgangssprache eingegangen ist“.31 Eine herstellende Handlung kann demnach als aktives Tun für darauf reagierende Nutzerinnen und Nutzer und umgekehrt der Gebrauch als aktives Tun für darauf reagierende Hersteller verstanden werden. Dies lässt sich auch mit Begriffen aus der philosophischen Ästhetik und dem Streit zwischen Produktions- und Rezeptionsästhetik erläutern. Das Herstellen kann als Produktion von Werken für einen Gebrauch als Rezeption und umgekehrt der Gebrauch als Produktion von Nutzungsbedeutungen für einen diese Bedeutungen rezipierenden Produzenten verstanden werden.32 Wie schon die Unterscheidung von poíêsis und prâxis bei Aristoteles, sollten daher auch die Unterscheidungen von Handlung und Widerfahrnis sowie von Produktion und Rezeption als intensionale Aspekte-Unterscheidungen ver- standen werden. Handlungen als Herstellung und Gebrauch können und müssen stets in der Handlungsdifferenz von Handlungsspontaneität und Handlungsbegrenzung sowie von Produktion und Rezeption berücksichtigt werden. Es gilt also, ein resignatives Unfreiheitsverständnis und ein überschwängliches Freiheitsverständnis zu vermeiden. 30 Ebd. 32 Auf diese Analogie zur Produktions- und Rezeptionsästhetik kann hier aus Platzgründen 31 Ebd. leider nicht näher eingegangen werden, obwohl diese Analogie im Vortrag behandelt wurde. ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON 57 HERSTELLUNG UND GEBRAUCH Mit dem Philosophen Peter Janich ist zudem im Anschluss an Kamlah eine weitere Differenzierung zu berücksichtigen.33 Selbst dann, wenn eine Handlung gelingt (der gepflanzte Baum wächst an), ist damit noch lange nicht ein Handlungserfolg garantiert. Der Baum kann durch widrige Umstände doch noch eingehen, die Handlung erweist sich in ihren Folgen letztlich als Misserfolg. Handlungsergebnis und Handlungsfolgen (nach Kamlah „unerwartete Nebenfolgen“34) sind demnach ebenfalls zu unterscheiden.35 Die architektonische Differenz von Herstellung und Gebrauch Diese Differenzierungen des Handlungsbegriffs als Aspekte- Unterscheidungen sind für die folgenden Ausführungen deshalb von großer Bedeutung, weil damit sowohl in der Tätigkeit des Bauens und Gestaltens (Herstellung oder Produktion) als auch in der Tätigkeit der Nutzung (Gebrauch oder Rezeption) beide Aspekte gleichberechtigt berücksichtigt werden können und zur Binnendifferenzierung der architektonischen Differenz führen. Wie ist das zu verstehen? Menschen sind immer schon in eine sozial und kulturell geprägte Gemeinschaft hineingestellt, in der sie sich handelnd orientie- ren müssen, um gut leben zu können. Zu diesem guten Leben gehören Behausungen in Gestalt von Häusern und Wohnungen, aber auch Gärten und öffentliche Grünanlagen. Diese Artefakte braucht der Mensch, und er nimmt sie entsprechend wohnend und nutzend in Gebrauch. Obwohl das Herstellen (poíêsis) von Behausungen und Gärten in eine technische Mittel-Zweck- Beziehung eingespannt ist, ist es doch nicht außerhalb der Üblichkeiten einer Handlungsgemeinschaft angesiedelt, son- dern auf einen wie auch immer bestimmten Gebrauch innerhalb dieser Gemeinschaft abgezweckt: „Wer etwas herstellt, ist in 33 Peter Janich: Handwerk und Mundwerk. 34 Kamlah 1973 (Anm. 25), S. 35. Über das Herstellen von Wissen. München 35 Janich 2015 (Anm. 33), S. 64. 2015, S. 62–66. 58 KARSTEN BERR seinem Produzieren durch etwas anderes motiviert als durch den Wunsch, sein Produkt fertigzustellen; er will es gebrauchen, auf Grund seiner Herstellung Anerkennung finden oder auch seinen Lohn dafür bekommen. Sein Machen ist also unter diesem Aspekt (der letztlichen Motiviertheit durch den Wunsch nach Gebrauch etc.) immer auch eine Praxis“.36 Insbesondere antwortet die Herstellung ja auf einen Bedarf nach Artefakten, die, da sie nicht von selbst entstehen, eigens für einen Gebrauch hergestellt wer- den müssen. Das gilt selbst noch für den extremen Beispielfall von Spontanvegetationen, deren mögliche Nutzung ja von einem Gewährenlassen des Gewachsenen für einen Gebrauch abhängt. Obwohl die Herstellung eines Artefaktes von dessen Gebrauch klar zu unterscheiden ist, sind beide Handlungsformen also auch aufeinander verwiesen, insofern die Herstellung auch in einem Gebrauchs- und damit Praxiszusammenhang („Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“37) steht, der diese Herstellung mitbestimmt, so wie der Gebrauch auf die vorherige Herstellung der Gebrauchsgüter nach technischen Regeln oder ein Gewährenlassen (das auch geregelt werden muss) angewiesen ist. Nimmt man hinzu, dass der Gebrauch nicht nur auf die vorher- gehende Produktion oder das Gewährenlassen des in Gebrauch Genommenen, sondern zudem auf hinnehmende Annahme (Akzeptanz, Eingewöhnen) wie auch aktive Aneignung (Sich- Einrichten, kreative Nutzung) des Hergestellten angewiesen ist, zeigt sich der Gebrauch als sowohl rezeptiv wie auch produktiv. Das gleiche gilt für die Herstellung. Sie ist nicht nur Produktion für einen nachgelagerten Gebrauch, sondern verweist dadurch, dass sie in einem Gebrauchs- und damit Praxiszusammenhang steht und auf einen antizipierbaren Gebrauch abgezweckt ist, ebenfalls auf eine gleichberechtigte Rezeption. Architektinnen und Architekten sowie Landschaftsarchitektinnen und Land- schaftsarchitekten sowie die Nutzenden der architektoni- schen Werke sind demzufolge nicht nur als herstellende oder produzierende Wesen (‚homo faber‘), sondern auch als von anderen Mitmenschen abhängige und kooperations- und 36 Ebert 1976 (Anm. 19), S. 21. 37 Arendt 1981 (Anm. 17), S. 173. ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON 59 HERSTELLUNG UND GEBRAUCH kommunikationsbedürftige Wesen (‚zoon politikon‘) zu verste- hen. Im weiteren Gang durch das Geflecht der architektonischen Differenz werde ich mich auf Beispiele aus der Praxis und Theorie der Landschaftsarchitektur beschränken. Nähere Betrachtung der Binnendifferenzierung der architektonischen Differenz Die architektonische Differenz von Herstellung und Gebrauch weist also Binnendifferenzierungen auf, die nochmals genauer betrachtet werden sollten. Was die Herstellung betrifft, ist diese Herstellung Produktion als Setzung, Bauen und Gestaltung (poíêsis). Mit der Produktion ist eine Gestaltungsaufgabe ver- bunden, deren Lösung sich im Werk als deren Gehalt ver- dinglichen beziehungsweise ausformen können muss. Der Entwurf stellt die gestalterische Lösung dieser Aufgabe dar. Landschaftsarchitektinnen und -architekten sind insofern „Experten für Lösungen“38 beziehungsweise „Experten in der Gestaltung“.39 Die Herstellung ist aber auch Rezeption, inso- fern sie in das Bezugsgewebe menschlicher und damit auch baulicher oder gestalterischer Angelegenheiten seitens der Herstellung wie auch des antizipierten Gebrauchs hineingestellt ist (prâxis) und ihre Gestaltungsaufgabe nur in diesem Kontext verstehen und lösen kann. Keineswegs also ist Herstellung eine ‚creatio ex nihilo‘. Vielmehr bedarf es einer „Antizipation des Gebrauchs“ und einer „Repräsentation des Benutzers“.40 Die Landschaftsarchitektin ist dadurch auch gleichsam eine Expertin in der Beratung der Nutzer und Gebrauchenden. Der Gebrauch ist Produktion, insofern er als „tätiges Gebrauchen“41 eine produktive und kreative Aneignung im Gebrauch darstellt 38 Almut Jirku: Renaissance der Bürgerbeteili- 41 Wilhelm Kamlah: Probleme der Anthropolo- gung. In: Landschaftsarchitekten 4 (2005), S. 12. gie – eine Auseinandersetzung mit Arnold Geh- len. In: Ders.: Von der Sprache zur Vernunft. 39 Katharina Bredies: Gebrauch als Design. Philosophie und Wissenschaft in der neuzeitli- Über eine unterschätzte Form der Gestaltung. chen Profanität. Mannheim, Wien, Zürich 1975, Bielefeld 2014, S. 3. S. 123–151, hier S. 129. 40 Ebd. 60 KARSTEN BERR (poíêsis). In und durch aktiven oder kreativen Gebrauch oder Benutzung von landschaftsarchitektonischen Werken erge- ben sich neue Bedeutungskonstruktionen des in Gebrauch- und Nutzung-Genommenen innerhalb des Deutungssystems der Nutzenden und Gebrauchenden. Hier haben wir es mit den „Experten des Alltags“42 beziehungsweise mit den „Experten in der Anwendung“43 oder Nutzung zu tun. Der Gebrauch ist selbst- verständlich Rezeption, insofern er wie die Herstellung in das „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“, und zwar hier seitens des tatsächlich realisierbaren und realisierten Gebrauchs innerhalb eines üblichen Nutzungs- und Gebrauchskontextes hineingestellt ist (prâxis) und dieser Gebrauch auch nur in diesem Kontext möglich ist. Hier geht es um das „bedürf- tige Brauchen“,44 insofern der Mensch als endliches Wesen wohn- und gebrauchsbedürftig ist. Hier trifft man gleichsam auf Expertinnen und Experten des Brauchens im Sinne der Kenntnis eigener Bedürfnisse und Wünsche, deren Erfahrungen sich im Brauch und in Üblichkeiten des Gebrauchs niederschlagen. Das „bedürftige Brauchen“ institutionalisiert sich insofern vortheore- tisch im Brauch. Das Vergessen der architektonischen Differenz in Gewohnheiten Warum aber werden der Setzungscharakter wie die Rezept- ionsverwiesenheit der Herstellung des Gestalteten und Gebauten sowie die Aneignungsbedürftigkeit und Rezeptionsverwiesenheit des Gebrauchs in ihrer Differenz, ihrem Aufeinanderverwiesensein und in ihrer Binnendifferenzierung kaum erkannt, anerkannt und praktisch umgesetzt? Ein als Frage formuliertes grundlegendes Problem aus der Praxis der Landschaftsarchitektur mag diese 42 Jürgen Habermas: Die Moderne – ein un- 43 Bredies 2014 (Anm. 39), S. 3. vollendetes Projekt. In: Ders.: Kleine politische Schriften (I-IV). Frankfurt am Main 1981, 44 Kamlah 1975 (Anm. 41), S. 129. S. 444–465, hier S. 461. ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON 61 HERSTELLUNG UND GEBRAUCH abstrakte handlungstheoretische Gemengelage exemplarisch konkretisieren: Warum bleibt uns oftmals der „Doppelcharakter städtischer Freiräume, welche zugleich Alltagsort und land- schaftsarchitektonisches Werk“45 sind, verborgen? Hier ist ein Hinweis Heideggers aus Bauen Wohnen Denken hilf- reich, der sich mit Blick auf ein bekanntes Theorem von Edmund Husserl für unsere Zwecke gewinnbringend deuten und umsetzen lässt. Die „natürliche Einstellung“ (Husserl) unthematischen vor- wissenschaftlichen Handelns und Sich-Orientierens kann leicht den Verweisungszusammenhang von Herstellung und Gebrauch qua Gewöhnung und Gewohnheit übersehen und vergessen las- sen. Im Altgriechischen ist dieser Zusammenhang und diese Verwechslungsgefahr von Gewöhnungsprozessen und habi- tualisierten oder institutionalisierten Handlungsorientierungen schon in der Sprache auf- und sinnfällig. Hier gibt es den fei- nen Unterschied zwischen ‚êthos‘ (ἦϑος) und ‚éthos‘ (ἔϑος), was einerseits dasselbe bedeuten kann – nämlich Moral oder Sitte – andererseits etwas Verschiedenes. Êthos bedeutet „Wohnstatt, gewohnter Aufenthalt, Charakter, sittliche Gesinnung“,46 also eine von einer Handlungsgemeinschaft als verbindlich aner- kannte Moral, den sittlichen Charakter einer einzelnen Person oder das Berufs- oder Standesethos einer bestimmten Berufs- oder Standesgruppe. Éthos hingegen kann auch „Verhalten, Gewohnheit“47 oder Gewöhnung bedeuten, womit dann auch die Gefahr verbunden ist, den Gehalt dieser Gewöhnung unthema- tisch als etwas vermeintlich Selbstverständliches zu nehmen und den Gewohnheitscharakter nicht mehr zu durchschauen. Der Setzungscharakter wie die Rezeptionsverwiesenheit des Gestalteten und Gebauten und die Aneignungsbedürftigkeit wie die Rezeptionsverwiesenheit des Gebrauchs lassen sich dann nur noch qua nachgelagerter Thematisierung, das heißt 45 Constanze A. Petrow: Kritik zeitgenössi- 46 Wolfgang Kluxen: Ethik und Ethos. In: Wil- scher Landschaftsarchitektur. Städtische Frei- helm Korff, Paul Mikat (Hg.): Wolfgang Kluxen. räume im öffentlichen Diskurs. Münster, New Moral – Vernunft – Natur. Beiträge zur Ethik. York, München u.a. 2013, S. 264. Paderborn, München, Wien u.a. 1997, S. 3–16, hier S. 4. 47 Ebd. 62 KARSTEN BERR Reflexion vergegenwärtigen. Heidegger fordert daher dazu auf, dem Wohnen eigens „nachzudenken“, das heißt für ihn, das in Selbstverständlichkeiten und gewohnten Routinen erstarrte „gewöhnliche“ Wohnen und Gebrauchen sowie Bauen und Gestalten als „etwas Denkwürdiges“ zu betrachten.48 Denkwürdig sind Herstellung und Gebrauch als lebensweltliche Phänomene für uns aber gerade in ihrer Verschränktheit. Denkwürdigkeit bedeutet dann im Zusammenhang von Herstellung und Gebrauch, den Sinn des Herstellens und Gebrauchens allen Herstellungs- und Gebrauchsgewohnheiten zum Trotz stets neu zu bedenken und sich je neu zu vergegenwärtigen. Dieser Sinn ist dann je aktuell in unterschiedlichen Kontexten beim Herstellen und Gebrauchen umzusetzen. Welche Folgen ergeben sich nun, wenn das komplexe Beziehungsgeflecht von Herstellung und Gebrauch nicht beach- tet und berücksichtigt wird? Welche theoretischen wie prak- tischen Folgen zeitigen einseitige Übergewichtungen des Herstellungs- oder Gebrauchs-Aspektes und des Produktions- oder Rezeptions-Aspektes innerhalb von Herstellung und Gebrauch? Warum ist es überhaupt notwendig, solche Differenzierungen zu beachten? Führt das nicht zu einer unbot- mäßigen Belehrung, zum pauschalen und bloß negativen Kritisieren oder gar zur lästigen Moralisierung der Tätigkeiten von Praktikern, die in einem komplizierten Spannungsfeld oft widerstreitender Interessen, Gesetze und Vorschriften sowie technischer Herausforderungen stehen? Hierauf kann nur geant- wortet werden, dass „kritisieren“ wortursprünglich nichts ande- res heißt als unterscheiden, hier: Aspekte des Handelns beim Herstellen und Gebrauchen. Solche Unterscheidungen zu expli- zieren, das heißt, aus der unthematischen Inanspruchnahme oder Nichtbeachtung in vorwissenschaftlichen architektoni- schen oder landschaftsarchitektonischen Handlungskontexten in eine Thematisierung zu überführen, ist ein genuines Geschäft der Philosophie. Dieses Geschäft ist wenig spektakulär, bean- sprucht es doch im Rahmen dieser Explikation keineswegs, 48 Heidegger 1994 (Anm. 1), S. 155. ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON 63 HERSTELLUNG UND GEBRAUCH konkrete oder gar verbindliche Handlungsempfehlungen abzu- geben. Was es allerdings beansprucht, ist zu zeigen, welche Folgen sich aus der Nichtthematisierung des „Gewohnten“ und der Nichtbeachtung der Explikation des Thematisierten ergeben können. Im Folgenden werden daher einige Hinweise auf sol- che Folgen mit Blick auf landschaftsarchitektonische Beispiele gegeben. Normative Fragen hingegen wären im Rahmen einer Architektur- und Planungsethik zu stellen und gegebenenfalls zu beantworten, die hier allerdings nicht unser Thema ist.49 Übergewichtung des poíêsis-Aspektes der Herstellung Mit Blick auf den Produktions- beziehungsweise Gestaltungs- aspekt der Herstellung (poíêsis) kann es dann, wenn die Gestaltung den poíêsis-Aspekt übergewichtet und den prâxis- Aspekt vernachlässigt oder ignoriert, zu einem Gestaltungs- dogmatismus und zu unrealistischer Entwurfs- oder Planungseuphorie50 kommen. Dieser Dogmatismus ist die Kehrseite einer Gestal-tungs- und Setzungsfreiheit, die grund- sätzlich an das „Form-problem“51 aller Form- und Gestaltgebung gebunden ist. Wir müssen schon uns selbst, vor allem aber den Dingen und Gebrauchsgegenständen jedweder Art eine Form oder Gestalt geben, die nicht durch ihre Funktion oder ihren Zweck oder ihren (antizipierten oder faktischen) Gebrauch bereits in „Aussehen, Material usf.“ eindeutig festgelegt 49 Einige Beispiele für eine solche Architektur- 50 Vgl. Klaus Selle: Die letzten Mohikaner? oder Planungsethik: Martin Düchs: Architektur Eine zögerliche Polemik. In: Annette Harth, Git- für ein gutes Leben. Über Verantwortung, Moral ta Scheller (Hg.): Soziologie in der Stadt- und und Ethik des Architekten. Münster 2011; Achim Freiraumplanung: Analysen, Bedeutung und Hahn (Hg.): Ausdruck und Gebrauch. Wis- Perspektiven. Wiesbaden 2010, S. 87–95. senschaftliche Hefte für Architektur Wohnen Umwelt, 12. Heft: Positionen einer Architektur- 51 Friedrich Kambartel: Zur Philosophie und Planungsethik. Aachen 2014; Karsten Berr der Kunst. Thesen über zu einfach gedachte (Hg.): Architektur- und Planungsethik. Zugänge, begriffliche Verhältnisse. In: Franz Koppe (Hg.): Perspektiven, Standpunkte. Wiesbaden 2017. Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen. Frankfurt am Main 1991, S. 15–26, hier S. 17. 64 KARSTEN BERR sind.52 Es besteht hier demnach „ein Spielraum von Alternativen für die Form“,53 der den Gestaltenden zugleich eine „ästhetische Verantwortung“ auferlegt, die darin besteht, „das ästhetische Formproblem praktisch (folgenreich) ernst [zu] nehmen“.54 Dieses „Gestaltgebungsapriori“ verlangt daher jedem Gestalter ab, das „Formproblem wieder und wieder [zu] lösen“.55 Genau das ist ja die bereits erwähnte Aufgabe der Landschaftsarchitektinnen und -architekten als „Experten für Lösungen“ beziehungsweise „in der Gestaltung“. Da die Form oder Gestalt nicht durch Zweck, Funktion oder Gebrauch festgelegt sind, verführt die damit gege- bene Gestaltungsfreiheit und der Wunsch nach neuen oder außer- gewöhnlichen ästhetischen Lösungen aber leicht dazu, dass ent- sprechende Gestaltungslösungen den Nutzern „aufgeherrscht“56 werden. Das heißt, der „Drang nach ästhetischer Innovation [wird] deutlich vor den Gebrauchswert gestellt“.57 Dagegen ist daran zu erinnern, dass Entwürfe für gestalterische Lösungen – und das verbindet Gestaltungsaufgaben mit dem Anspruch der modernen Kunst – nur Vorschlagscharakter haben können und daher auf die Berücksichtigung der (realen oder zu antizipieren- den) Ansprüche der Nutzenden und deren Akzeptanz angewie- sen sind. Gefordert ist demnach nicht die geniale Entwerferin und der Gestalter, der den Setzungscharakter freier Gestaltung ins Willkürliche oder Dogmatische wendet und dabei den ästheti- schen Aspekt der Herstellung überbetont, sondern angesichts des Formproblems die verantwortungsbewusste Berücksichtigung des „Bezugsgewebes menschlicher Angelegenheiten“, in dem und aus dem die Nutzenden den ihnen entsprechenden Gebrauchswert sowie Nutzerin und Gestalter gemeinsam ent- sprechende ästhetische Form-Maßstäbe gewinnen und schöp- fen können sollten. Allerdings steht diese Berücksichtigung des Gebrauchswertes und möglicher ästhetischer Maßstäbe durch 52 Ebd., S. 16. 56 Wulf Tessin: Ästhetik des Angenehmen. Städtische Freiräume zwischen professioneller 53 Ebd. Ästhetik und Laiengeschmack. Wiesbaden 54 Ebd., S. 17. 2008, S. 145. 55 Achim Hahn: Architekturtheorie. Wohnen, 57 Petrow 2013 (Anm. 45), S. 266. Entwerfen, Bauen. Wien 2008, S. 242. ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON 65 HERSTELLUNG UND GEBRAUCH Landschaftsarchitektinnen und -architekten ihrerseits ebenfalls in einer ganz bestimmten Gefahr. Übergewichtung des prâxis-Aspektes der Herstellung Mit Blick auf den Rezeptions- oder Gebrauchsorientierungsaspekt der Herstellung kann es dann, wenn die Gestaltung oder Planung den prâxis-Aspekt übergewichtet und den poíêsis- als Gestaltungs-Aspekt marginalisiert, zu Gestaltungsnivellierungen kommen. Diese Gefahr der Gestaltungsnivellierung gehört eben- falls zur Kehrseite der Gestaltungsfreiheit, diesmal allerdings im Sinne eines Leidens an der Bürde dieser Freiheit, insofern mit Blick auf die Erwartungen und Ansprüche der Nutzenden der Gestaltungsspielraum die prekäre Möglichkeit des Scheiterns der Gestaltungslösung mit sich bringt. Landschaftsarchitektinnen und -architekten müssen ihre Gegenstände im Entwurf erst herstellen, da sie noch nicht existieren.58 Gleichzeitig müssen sie aber auf natürliche, kulturelle, soziale und ökonomische Vorgegebenheiten, auf Ansprüche, Erwartungen und mög- liche Umnutzungen potentieller Nutzer Rücksicht nehmen. Hier kommt demnach ganz deutlich die Störanfälligkeit des Handelns qua Widerfahrnisse zum Tragen. Als Reaktion auf diese Störanfälligkeit kann das Bestreben angesehen werden, dieser Bürde durch die wissenschaftliche Suche nach vermeint- lich objektiven Kriterien oder Gesetzmäßigkeiten der Gestaltung zu entkommen, die das Gestalten auf eine weniger prekäre und störanfällige Basis stellen sollen. In den 1970er und 1980er Jahren glaubte man beispielsweise in der Freiraumplanung, „mit sozialwissenschaftlichen Methoden die Ziele des Entwerfens objektiv beschreibbar“ machen zu können, so dass „objek- tiv richtige Entwurfsergebnisse erzielbar seien“.59 Das führte aber lediglich zu einer ortsunabhängigen Angleichung der 58 Wolfgang Schäffner: Vom Wissen zum 59 Jürgen Weidinger: Antworten auf die ver- Entwurf. Das Projekt der Forschung. In: Jürgen ordnete Verwissenschaftlichung des Entwer- Weidinger (Hg.): Entwurfsbasiert Forschen. fens. In: Ders. (Hg.): Entwurfsbasiert Forschen. Berlin 2013, S. 55–64, hier S. 56. Berlin 2013, S. 13–34, hier S. 21. 66 KARSTEN BERR Entwurfsergebnisse, ohne Rücksicht auf die lokalen sozialen und kulturellen Kontexte. Der Grund für diese Angleichung lag in der „Struktur der Befragungsverfahren“, die als standardisierte „Nutzerbefragung“ bereits „ähnliche Antworten der sogenannten Nutzer vorprogrammiert“ hatten.60 Das heißt dann aber: „An die Stelle der Spezialistenplanung sollte die Nutzerbefragung tre- ten“.61 An die Stelle der Landschaftsarchitektinnen und -archi- tekten als Spezialistinnen der Beratung in Gebrauchs- und Gestaltungsfragen tritt demnach die Suche nach objektiven Kriterien für eine an einem Gebrauch orientierte Gestaltung. So richtig es also ist, auch den prâxis- als Gebrauchs- oder Nutzungsaspekt und damit die Nutzenden als „Experten des Alltags“ oder „Experten in der Anwendung“ zu berücksichtigen, so problematisch ist es, dabei den poíêsis- als Gestaltungsaspekt und damit die Landschaftsarchitektinnen und -architekten als Experten in der Gestaltung und Beratung zu übergehen. Mit Blick auf den Aspekt der Herstellung korrespondiert somit einem möglichen Gestaltungsdogmatismus im Rahmen der Übergewichtung des Gestaltungsaspektes eine mögliche Gestaltungsnivellierung im Rahmen der Übergewichtung des Gebrauchs- oder Nutzungsaspektes. Zudem stellt sich im Gebrauchs-Zusammenhang auch die schwierige Frage, inwie- fern ein zukünftiger Gebrauch, insbesondere zukünftige kreative wie spontane Umnutzungen innerhalb dieses Zusammenhanges überhaupt antizipiert werden können. Lassen sich hier die mit Sicherheit – in Relation zu den von den Gestalterinnen und Gestaltern entworfenen „Antizipationen des Gebrauchs“ und der „Repräsentation des Benutzers“ – auftretenden „Abweichungen im Gebrauch“62 überhaupt systematisch erforschen? 60 Ebd., S. 22. 61 Wolfgang Meisenheimer: Der Rand der Kreativität. Planen und Entwerfen. Wien 2010, S. 90 (zitiert in Weidinger 2013, wie Anm. 59, S. 21). 62 Bredies 2014 (Anm. 39), S. 4. ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON 67 HERSTELLUNG UND GEBRAUCH Übergewichtung des poíêsis-Aspektes des Gebrauchs Mit Blick auf den Aneignungsaspekt des Gebrauchs kann es dann, wenn das „tätige Gebrauchen“, wenn also der kreative Gebrauch der Nutzenden als „Experten des Alltags“ oder als „Experten in der Anwendung“ übergewichtet und das Bezugsgewebe baulicher und gestalterischer Angelegenheiten sowie der Setzungscharakter des Gestaltens63 marginalisiert wird, zu einem Gebrauchsdogmatismus kommen. Dieser Dogmatismus im Gebrauch ist die Kehrseite der Freiheit im Gebrauch, die als gleichsam ‚poietisches‘ Moment innerhalb des Gebrauchs der Gestaltungsfreiheit der Herstellung entlehnt ist. Im Rahmen dieser Gebrauchsfreiheit sind „Partizipationsdebatte[n]“64 und eine „Renaissance der Bürgerbeteiligung“65 zu verorten, die das „selbstbestimmte Handeln der Bürger“66 in Rechnung stel- len wollen. Gestützt werden solche Ansätze unausdrücklich durch die Vorstellung von „Partizipation als Modus sozialer Selbstorganisation“.67 Die unausgesprochene Prämisse dieser Vorstellung ist die so genannte „Eigenkompetenzthese“, wonach „der Laie im Unterschied zum Experten über diejenigen evalua- tiv-präskriptiven Kompetenzen verfügt, die als Grundlage für ‚richtige‘ (seine Lebenswelt betreffende) Entscheidungen not- wendig sind“.68 Es ist freilich richtig: „Bürger sind Experten für Probleme vor Ort und natürlich für ihre Wünsche“.69 Als Beispiele für solche kreativen Aneignungen im Gebrauch können das ‚social gardening‘, ‚Guerilla gardening‘ und ‚green gym‘ (Fitness 63 Jirku 2005 (Anm. 38). 67 Carl Friedrich Gethmann: Partizipation als Modus sozialer Selbstorganisation? Einige 64 Annette Harth: Stadtplanung. In: Frank kritische Fragen. In: GAIA 14/1 (2005), S. 32 f. Eckardt (Hg.): Handbuch Stadtsoziologie. Wies- baden 2012, S. 337–364, hier S. 352. 68 Ebd., S. 32. 65 Jirku 2005 (Anm. 38). 69 Jirku 2005 (Anm. 38). 66 Constanze A. Petrow: Städtischer Freiraum. In: Frank Eckardt (Hg.): Handbuch Stadtsozio- logie. Wiesbaden 2012, S. 805–837, hier S. 826. 68 KARSTEN BERR beim Gärtnern) genannt werden.70 Richtig ist aber auch, dass in vielen Fällen Bürgerinnen und Bürger keineswegs ohne Weiteres die bessere Expertise für sie selbst betreffende Belange haben. Dagegen sprechen Lebenserfahrungen wie etwa die häufige Irrtumsanfälligkeit persönlicher Entscheidungen und Urteile, aber auch Theorien, die die Eigenkompetenz der Bürgerinnen und Bürger anzweifeln, wie etwa marxistische, psychoanaly- tische oder machttheoretische Konzeptionen.71 Das bedeutet allerdings mit dem Philosophen Carl Friedrich Gethmann nicht, „daß man die Eigenkompetenzthese grundsätzlich bestreiten kann oder darf […]. Vielmehr ist sie eine regulative Idee“,72 die je nach Kontext mehr oder weniger zur Geltung kommen kann. Entscheidend ist aber, dass Bürgerbeteiligungen dadurch, dass sie die Kommunikation zwischen Gestaltenden und Nutzenden verbessern können, „Bürgerwünsche und Entwurfsqualität zusammen[…]bringen“73 und dadurch die „Akzeptanz“74 anfal- lender Entscheidungen erhöhen können. Allerdings ist die Berücksichtigung solcher Bürgerwünsche ebenfalls einer spezifi- schen Gefahr ausgesetzt. Übergewichtung des prâxis-Aspektes des Gebrauchs Mit Blick auf den Rezeptions- als Bedürftigkeitsaspekt des Gebrauchs kann es dann, wenn der antizipierte Gebrauch einsei- tig am Maßstab des Nutzungs- und Gebrauchskontextes und des „bedürftigen Brauchens“ gemessen und der Aneignungsaspekt (poíêsis) marginalisiert wird, zu Bedürfnisnivellierungen kom- men. Diese Gefahr der Bedürfnisnivellierung gehört eben- falls zur Kehrseite der Gebrauchsfreiheit, nun aber im Sinne eines Leidens an der Bürde solcher Freiheit, die angesichts der Spielräume des möglichen Gebrauchs der Nutzenden stets mit 70 Vgl. hierzu Astrid Schwarz: Kulturland in 71 Vgl. Gethmann 2005 (Anm. 67), S. 32. der Stadt: städtisches Gärtnern. In: Karsten 72 Ebd. Berr, Hans Friesen (Hg.): Stadt und Land. Zwischen Status quo und utopischem Ideal. 73 Jirku 2005 (Anm. 38). Münster 2016, S. 181–196. 74 Gethmann 2005 (Anm. 67), S. 32. ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON 69 HERSTELLUNG UND GEBRAUCH der Gefahr des Scheiterns der Gestaltungslösung verbunden ist. So ist eine Reaktion auf diesen Widerfahrnischarakter gestalteri- schen Handelns das Bestreben, dieser Bürde durch die wissen- schaftliche Suche nach vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten die- ser Bedürfnisse zu entkommen. Exemplarisch kann hier erneut die sozialwissenschaftliche Freiraumplanungs-Theorie genannt werden, die der Landschaftsplaner Stefan Körner einer gründli- chen Kritik unterzogen hat.75 Den Vertreterinnen und Vertretern dieses Ansatzes ging es um die Emanzipation der Bevölkerung von der „Expertenherrschaft“ einer Planungsbürokratie sowie von einem als elitär und undemokratisch empfundenen „künst- lerischen Gestaltungsansatz“.76 Um solchem Planungs- und Gestaltungsdogmatismus zu entkommen, sollen stattdessen die „lebensweltlichen Bedürfnisse der Menschen“ erforscht und „mit dem Rekurs auf den Bedürfnisbegriff soll den Wünschen der ‚Betroffenen‘ Raum gegeben werden, weil diese ihre Lebenswelt weitgehend selbst und damit unentfremdet gestalten sol- len“.77 Körner kann zeigen, dass dieser gut begründete Ansatz seine Neutralität gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern nicht durchhalten kann, weil „verdeckt doch von sog. richtigen Bedürfnissen ausgegangen [wird], aus denen dann wieder ein Erziehungsauftrag folgt“.78 Wie schon bei der Nutzerbefragung im Hinblick auf erwünschte oder gewollte Gestaltungen, so wird auch bei der Suche nach berücksichtigungsfähigen (nach Möglichkeit anthropologisch gestützten) „Bedürfnissen“ nicht der „kulturelle[-] Kontext der Bedürfnisse“ reflektiert, sondern die Erzählungen der Befragten werden „nach einem vorab for- mulierten Auswertungsschlüssel ‚dechiffriert‘“.79 Statt zu einer Emanzipation der Bevölkerung führt dies im Resultat aber zu einem Elitarismus der Planenden. So richtig es demnach ist, auch den prâxis- als Bedürfnisaspekt zu berücksichtigen, so problema- tisch ist es, dabei den poíêsis- als Gestaltungsaspekt und damit 75 Stefan Körner: Theorie und Methodologie 76 Ebd., S. 439 f. der Landschaftsplanung, Landschaftsarchi- 77 Ebd., S. 439. tektur und Sozialwissenschaftlichen Frei- raumplanung vom Nationalsozialismus bis zur 78 Ebd., S. 440. Gegenwart. Berlin 2001, insb. S. 439–444. 79 Ebd., S. 444. 70 KARSTEN BERR die Landschaftsarchitektinnen und -architekten als Experten in der Gestaltung und Beratung zu übergehen. Letzteres war ja auch das ursprüngliche Anliegen der Freiraumplanung.80 Mit Blick auf den Aspekt des Gebrauchs korrespondiert somit dem Gebrauchsdogmatismus im Rahmen der Übergewichtung des Gestaltungsaspektes des Gebrauchs eine Bedürfnisnivellierung im Rahmen der Übergewichtung des Aspektes des Brauchens. Dieser Aspekt des Brauchens hat zudem eine weitere Konsequenz. Verfestigt sich das Bezugsgewebe menschli- cher Angelegenheiten (êthos) zu einer Gewohnheit (éthos) und damit zum undurchschauten (unthematischen) Brauch, kann es dazu kommen, dass ausschließlich und kritiklos ein übli- cher Nutzungs- und Gebrauchskontext das Handeln bestimmt. Das führt zur Erstarrung in traditionellen oder konventionellen Gebrauchs-, Wohn- oder Nutzungs-Üblichkeiten, zu Widerstand gegen Veränderungen, Neuerungen oder Abrisse, obwohl diese sinnvoll oder sogar notwendig sein können. So befürwortet bei- spielsweise auch der Geograph und Soziologe Olaf Kühne eine „stärkere Nutzerorientierung der Planung“, verweist aber zugleich darauf, dass dies „auch die Übernahme von Verantwortung für räumliche Entwicklungen von diesen Bewohnern und keine Fundamentalopposition gegen jedwede Veränderung physischer Räume [impliziert]“.81 Zusammenfassung Die architektonische Differenz von Herstellung und Gebrauch bedeutet in unserem Zusammenhang demnach Folgendes: Menschen können sich zugleich als Herstellende und Produzierende sowie als Rezipierende und Nutzende von Bauwerken und 80 Ebd., S. 439. 81 Olaf Kühne: Hybridisierungstendenzen, Raumpastiches und URFSURBs in Südkalifor- nien als Herausforderung für die Planung. In: Karsten Berr (Hg.): Architektur- und Planungs- ethik. Zugänge, Perspektiven, Standpunkte. Wiesbaden 2017, S. 15–32, hier S. 28 f. ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON 71 HERSTELLUNG UND GEBRAUCH Gestaltungen verstehen. Eine Landschaftsarchitektin zum Beispiel erfährt sich als gestaltend (herstellend) in ihrer Gestaltungs-Urheberschaft82 und Setzungskompetenz sowie als bestimmt durch Rezeptionsgewohnheiten wie Gebrauchs- erwartungen. Im Gebrauch erfährt sich ein Nutzer als bestimmt durch übliche Nutzungs- und Gebrauchskontexte sowie gegebene Bauwerke und Gestaltungen, aber auch in sei- ner Nutzungs- und Gebrauchsfreiheit, das heißt in seiner Gebrauchs-Urheberschaft. Der poíêsis-Aspekt der Herstellung ist mit Gestaltungsfreiheit verbunden, deren Schattenseite ein drohender Gestaltungsdogmatismus im Rahmen falsch verstan- dener Gestaltungsspielräume sein kann. Der prâxis-Aspekt der Herstellung ist der Gefahr ausgesetzt, die Gestaltungsfreiheit zugunsten der Suche nach Gestaltungsgesetzmäßigkeiten einer Gestaltungsnivellierung im Rahmen falsch verstande- ner Gebrauchsantizipationen aufzuopfern. Der poíêsis-As- pekt des Gebrauchs ist mit Gebrauchsfreiheit verbunden, deren Schattenseite ein drohender Gebrauchsdogmatismus im Rahmen falsch verstandener Bürgerbeteiligung sein kann. Der prâxis-Aspekt des Gebrauchs ist der Gefahr ausgesetzt, die Gebrauchsfreiheit zugunsten der Suche nach Bedürfnis- gesetzmäßigkeiten einer Bedürfnisnivellierung im Rahmen falsch verstandener Bedürfnisberücksichtigung aufzuopfern. 82 Dieser Begriff einer Gestaltungs-Urheber- schaft wie der folgende einer Gebrauchs-Ur- heberschaft sind angelehnt an den Begriff der „Handlungsurheberschaft“ von Carl Friedrich Gethmann, den dieser häufig in seinen Texten verwendet. Vgl. etwa: Carl Friedrich Gethmann: Die Erfahrung der Handlungsurheberschaft und die Erkenntnisse der Neurowissenschaften. In: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Zur Freiheit des Willens. Streitgespräch in der Wissenschaftlichen Sitzung der Versammlung der Berlin-Branden- burgischen Akademie der Wissenschaften am 27. Juni 2003. Berlin 2004, S. 45–61. 72 KIRSTEN WAGNER KIRSTEN WAGNER Ornamente des Gebrauchs Aneignungsformen von Architektur und ihre Aufzeichnung Ausgehend von Walter Benjamin, der die Rezeption von Architektur nicht nur über die visuelle Wahrnehmung, sondern auch und vor allem über den taktilen Gebrauch bestimmt hat, the- matisiert der Beitrag die Transformation von einem passivischen zu einem aktivischen Begriff des Gebrauchs von Architektur in der französischen Soziologie und Architekturtheorie der 1960er Jahre. Zentral für diese Transformation waren zwei empirische Studien zum Einfamilienhaus und zum modernen Wohnungsbau, über die das Wohnen als eine performative Praxis zu Tage trat. Die Studien hatten eine Versprachlichung und Visualisierung der entsprechenden Praktiken und ihrer Spuren zur Voraussetzung. Der Fotografie kam in diesem Zusammenhang eine besondere Funktion zu. „Die Wohnung gab ohne Zweifel Aufschluss über diese andere Wahrnehmung des architektonischen Raumes, die aus ihm nicht mehr einfach einen zeremoniellen Ort oder einen Ort des Spektakels, einen Ort außergewöhnlicher Ereignisse in einem als außergewöhnlich betrachteten Raum macht, sondern den Ort eines alltäglich Erlebten“.1 1 „Le logement a sans doute été le révélateur de cette autre perception de l’espace archi- tectural, qui n’en fait plus simplement un lieu cérémoniel ou un lieu de spectacle, un lieu d’occasions exceptionnelles dans un espace exceptionnel, regardé comme tel, mais le lieu d’un vécu quotidien.“ Daniel Pinson: Usage et architecture. Paris 1993, S. 86. ORNAMENTE DES GEBRAUCHS 73 Im Anschluss an Alois Riegl unterschied Walter Benjamin in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit eine taktile und eine optische Rezeptionshaltung.2 Während die optische, auf Fernsicht und Distanz angelegte Rezeption im weitesten Sinne den statischen, vormals in kultischem Dienst stehenden Bildmedien entspreche, seien Architektur und Film durch eine sowohl optische wie auch taktile Rezeption bestimmt. Das Verhältnis beider Sinne fällt hierbei nicht gleichberech- tigt aus. Denn der Tastsinn ist nach Benjamin der basale Sinn jeder Architekturwahrnehmung. Aufgrund der taktilen, körperli- chen Erfahrungen im gewohnten Gebrauch von Architektur, die in jede optische Betrachtung eines Gebäudes, auch in die eines habituell nicht vertrauten, mit hineinspielen, bleibt der Sehsinn der nachgeordnete Sinn. Benjamin hat diese Besonderheit der Architekturwahrnehmung wie folgt pointiert: „Bauten wer- den auf doppelte Weise rezipiert: durch Gebrauch und durch Wahrnehmung. Oder besser gesagt: taktil und optisch“;3 und das eben mit dem Hinweis versehen, dass die Rezeptionshaltung von Architektur niemals vom Gebrauch her zu trennen ist. Gebrauch meint bei Benjamin den alltäglichen und in der Regel unbewusst sich vollziehenden Umgang mit Architektur. Entsprechend wird Architektur weniger „in einem gespannten Aufmerken als in einem beiläufigen Bemerken“4 wahrgenommen. Daraus folgt, dass der gleichsam tief im Körper verankerte Gebrauch von Architektur nicht unmittelbar zugänglich ist. Das Rezipieren von und das Reagieren auf Architektur bleiben so lange unterschwel- lig, bis diese Vorgänge zum Gegenstand der Reflexion gemacht werden. Diesen Schritt vollzog Benjamin nicht, war es doch sein Anliegen, aus den veränderten Produktionsbedingungen und Reproduktionstechniken historisch sich wandelnde Modi der Wahrnehmung abzuleiten. 2 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeit- 3 Ebd., S. 465. alter seiner technischen Reproduzierbarkeit 4 Ebd., S. 466. (erste Fassung, 1935/36). In: Ders.: Gesammel- te Schriften, Bd. I.2, Frankfurt a.M. 1991, S. 431–469. 74 KIRSTEN WAGNER Die von Benjamin adressierte Architektur erscheint ebenso all- täglich wie ihr Gebrauch. Setzte er sich an anderer Stelle mit den für das 19. Jahrhundert charakteristischen Passagen, Ausstellungsarchitekturen und utopischen Siedlungsmodellen auseinander, welche sowohl in ihrer historischen Materialität wie auch als Traumbilder des Kollektivbewusstseins die Stoffsammlung des Passagenwerkes gliedern,5 so ging Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz hinsichtlich der Architektur von dem „[beständigen] Bedürfnis des Menschen nach Unterkunft“6 aus. Im Zentrum dieser anthropologischen Auffassung von Architektur stand mithin das Wohnen, das seit dem 19. Jahrhundert nicht nur zu einem praktischen, sondern auch zu einem theoreti- schen, schließlich philosophischen Problem geworden ist. Diese Fokussierung der Architektur auf das Wohnen teilte Benjamin mit einer Reihe von Vertretern des Neuen Bauens. Allen voran ist hier Le Corbusier zu nennen. Mit anti-akademi- schem Gestus führte Le Corbusier Anfang der 1920er Jahre das „untrennbare Begriffspaar: Wohnhaus-Städtebau“7 als eigent- lichen Gegenstand der Architektur ein, den er dabei zugleich der Standardisierung und industriellen Serienproduktion unter- warf. Tatsächlich war der Haus- und Wohnungsbau innerhalb der akademischen Architekturausbildung mit ihrem Schwerpunkt auf öffentlichen Bauten bis in das 20. Jahrhundert hinein kaum vorgesehen; zumindest bildete er keinen nennenswerten Gegenstand des akademischen Wettbewerbswesens. Und auch in der Architekturtheorie sucht man, abgesehen von der ,Urhütte‘ und Privathäusern in Form der ländlichen Villa oder des reprä- sentativen Stadthauses, den allgemeinen, auf alle Schichten der Gesellschaft ausgedehnten Haus- und Wohnungsbau vor der Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend vergebens. Dies 5 Vgl. hierzu Winfried Nerdinger: ,Breton 7 Vgl. hierzu retrospektiv Le Corbusier: und Le Corbusier umfassen‘. Walter Benjamin Entretien avec les étudiants des écoles und die Architektur. In: Winfried Nerdinger, d’Architecture (1943). Paris 1957, S. 145; sowie Juan Barja (Hg.): Walter Benjamin. Eine Re- in Zusammenhang mit dem Funktions- und flexion in Bildern. Ausstellungskatalog. Köln Gebrauchsbegriff in der Architektur Pinson 2011, S. 11–17. 1993 (Anm. 1). 6 Benjamin 2001 (Anm. 2), S. 465. ORNAMENTE DES GEBRAUCHS 75 änderte sich zum einen durch die Industrialisierung, in deren Folge das Arbeiterhaus in unmittelbarer Nähe zur Fabrik und der Massenwohnungsbau in den Städten auftauchten.8 Zum anderen weckten die Entdeckungsreisen und die neuen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts – Archäologie, Paläontologie, Anthropologie und Ethnologie – das Interesse der Architekten an histori- schen und außereuropäischen Wohn- und Siedlungsformen. Erste historische Abrisse des Wohnungsbaus lagen so mit den Universalgeschichten der menschlichen Behausung von Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc und Charles Garnier vor. Ihre Begründung auf der physischen Anthropologie und damit auf rassenideologischer Grundlage lässt sie gleichwohl äußerst pro- blematisch erscheinen. Mit der Differenzierung zwischen „Gebrauch und Wahrnehmung“ hinsichtlich der Architekturrezeption bewegte sich Benjamin über den ihr zugrunde liegenden Wettstreit zwischen Tast- und Sehsinn9 hinaus in der Tradition einer Aufspaltung der Architektur in einen zweckgebundenen und in einen ästhetischen Gegenstand. Gingen in Vitruvs universaler Architekturkonzeption ,venustas‘, ,firmitas‘ und ,utilitas‘ noch Hand in Hand, dann entzündeten sich in den Ästhetiken des 18. und 19. Jahrhunderts an der ,utilitas‘, das heißt den konkreten Zwecken der Architektur, die Fragen, ob die Architektur überhaupt ein Gegenstand interesselosen ästhe- tischen Wohlgefallens sein kann, ob sie entsprechend zu den schönen Künsten zu zählen ist und welchen Rang sie innerhalb dieser einnimmt.10 Diese Aufspaltung der Architektur wurde durch eine Ausdifferenzierung der Architekturausbildung vorangetrie- ben. Neben die Akademien traten Ende des 18. Jahrhunderts die technischen Hochschulen, aus denen, wie Sigfried Giedion sie genannt hat, die „Ingenieurkonstrukteure“ hervorgehen sollten.11 8 Vgl. die frühe Diskussion beider Wohn- 9 Vgl. hierzu Kirsten Wagner: Aura und formen bei Léonce Reynaud: Traité d’architec- Architektur bei Walter Benjamin, oder: Kann ture, contenant des notions générales sur les Architektur eine Aura zugesprochen werden? principes de la construction et sur l’histoire de In: kritische berichte 2 (2016), S. 7–21. l’art, deuxième partie: édifices. Paris 1858, 10 Dazu auch Pinson 1993 (Anm. 1), S. 17–40. S. 548–552. 11 Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich. Bau- en in Eisen. Bauen in Eisenbeton (1928), hg. v. Sokrates Georgiadis. Berlin 2000, S. 10. 76 KIRSTEN WAGNER In ihre fachliche Zuständigkeit wurden, wenn man so will, die ,firmitas‘ und die ,utilitas‘ gelegt, während den Architekten der Akademien vor allem der Bereich der ,venustas‘ zugestanden wurde. Welche Reintegrationsbemühungen diese Trennung nach sich zog, lässt sich an Architekturjournalen des 19. Jahrhunderts wie etwa an der von César Daly herausgegebenen Revue géné- rale de l’architecture et des travaux publics ablesen, die sich als Vermittlerin des konstruktiven Wissens der Ingenieure und des bauästhetischen Wissens der Architekten verstand.12 Zum Gebrauch von Architektur Und doch hat Benjamins Begriff des Gebrauchs wenig mit denen der ,utilitas‘, des Nutzens, des Zwecks oder der Funktion von Architektur zu tun; im Übrigen alles Begriffe, die oftmals synonym verwendet werden, jedoch, wie zuletzt Ute Poerschke detailliert dargelegt hat,13 historisch unterschiedliche Bedeutungsfelder aufweisen. Wenn Benjamin also vom Gebrauch der Architektur spricht, bezieht sich das weder auf einen mit einem Gebäude intendierten Zweck noch auf die Funktion, die ein bestimmtes Gebäudeteil in Zusammenhang mit allen anderen Gebäudeteilen erfüllt. Der Gebrauch ist bei Benjamin überhaupt nicht von der Seite der Produktion und dem in sie eingeschriebenen Programm der Zweck- oder Funktionserfüllung gedacht, sondern von der Seite der Rezeption her. Es geht Benjamin um das körperli- che Agieren in architektonischen Räumen, von deren eigener Körperlichkeit und Materialität insbesondere taktil-motorische Reize ausgehen. Der Gebrauch von Architektur verhält sich schon bei Benjamin komplementär zur Funktion und zum Zweck der Architektur. Er bezeichnet das, was Subjekte an Erfahrungen mit dem Gebauten machen. Ob diese Erfahrungen den vorge- gebenen Zwecken und Funktionen von Architektur entsprechen, spielt dabei keine Rolle. So aktivisch der Begriff des Gebrauchs 12 Vgl. exemplarisch César Daly: Introducti- 13 Ute Poerschke: Funktionen und Formen. on. In: Revue générale de l’architecture et des Architekturtheorie der Moderne. Bielefeld 2014. travaux publics 1 (1840), S. 1–7. ORNAMENTE DES GEBRAUCHS 77 auch anmutet, bei Benjamin ist er noch passivisch, um nicht zu sagen pathisch gedacht. Das Agieren in architektonischen Räumen, insbesondere in urbanen Räumen, bleibt mehr ein reflexhaftes Reagieren auf die immobilen und mobilen Körper, die dem Passanten in der modernen Stadt schockhaft ,zusto- ßen‘, als dass es eine aktive Handlung beschreibt. Offensichtlich kommt es erst in den 1960er Jahren zu einer aktivi- schen Begriffsverwendung, nach der Gebrauch eine Aneignung des Gebauten über materielle und symbolische Markierungen bedeutet. Entscheidend dafür sollten sich die an Marx’ Begriffen der Aneignung und der Entfremdung orientierten Schriften Henri Lefebvres zum alltäglichen Leben erweisen:14 In seiner Bestimmung als ,homo faber‘ eignet sich der Mensch über seine produktive Tätigkeit die Natur an und schafft sich eine dingliche Umwelt, die sich ihm in der Folge jedoch entzieht und als fremde Natur und Macht gegenübertritt. Jede Aneignung ist entsprechend Entfremdung, wie seinerseits das Entfremdete wiederanzueignen ist. Unter den Produktionsbedingungen der Industrialisierung griff die Entfremdung nach Marx auf vier Ebenen: Über die Entäußerung und Vergegenständlichung der Arbeit im herge- stellten Produkt kommt es zu einer Entfremdung ebendieses Produktes. Die Entäußerung des Arbeiters im Produktionsprozess führt hingegen zur Selbstentfremdung, und indem die Arbeit nicht mehr freie und universelle Tätigkeit ist, erfasst die Entfremdung den Menschen zudem als Gattungswesen. Schließlich benannte Marx noch eine Entfremdung des Menschen vom anderen Menschen als seinem Gegenüber.15 Ausgangspunkt Lefebvres war, dass in den hochtechnisierten, arbeitsteiligen Gesellschaften die Entfremdung alle Lebensbereiche und alle Gesellschaftsschichten erfasst. Eine Kritik an ihr hatte dort anzu- setzen, wo sich die Akte der Entfremdung vollzogen. Das war für Lefebvre nicht allein die Arbeit. Es waren auch die Familie und 14 Henri Lefebvre: Critique de la vie quotidien- 15 Vgl. hierzu Karl Marx: Ökonomisch-philo- ne (1947). Paris 1958, S. 69–109, 151–187; ders.: sophische Manuskripte (1844), kommentiert Critique de la vie quotidienne. Fondements von Michael Quante. Frankfurt a. M. 2009, d’une sociologie de la quotidienneté. Paris S. 82–98. 1961, S. 208–218. 78 KIRSTEN WAGNER die Freizeit als das scheinbar Private und Andere der alltägli- chen Arbeit, die aber allein schon deshalb in den dialektischen Zusammenhang von Aneignung und Entfremdung einbezogen blieben, weil sie als Kompensation entfremdeter Arbeit dienten, zugleich eigenen Akten der Entfremdung ausgesetzt waren: etwa durch die in ihrem Kontext erzeugten künstlichen Bedürfnisse oder die technische Dingwelt moderner Haushaltsführung. Über Lefebvres Hinwendung zum Alltagsleben mit all seinen Widersprüchen rückten bereits in den frühen Schriften die pre- kären Wohnverhältnisse weiter Teile der Bevölkerung bei gleich- zeitiger Technisierung der Haushalte und dem damit einherge- henden Bedürfnis nach Wohnkomfort oder aber die Zersiedelung historisch gewachsener Städte durch das kleinbürgerliche Einfamilienhaus in den Blick.16 Insbesondere der Begriff der Aneignung wurde in Zusammenhang mit soziologischen Studien zum Wohnen in den 1960er Jahren virulent. Lefebvre selbst bezog ihn hierbei zusehends auf den städtischen Raum. Katalysator dafür war das von Georges Gurvitch 1945 am Centre national de la recherche scientifique ein- gerichtete Centre d’études sociologiques, an dem Lefebvre von 1948 bis 1961 arbeitete.17 Aus ihm trat als eine Art Ausgründung das Institut de sociologie urbaine heraus. Letzteres wurde vom Centre de recherches d’urbanisme Anfang der 1960er Jahre mit der Untersuchung suburbaner Wohn- und Lebensformen betraut.18 Daraus ging die Epoche machende Studie L’habitat 16 Vgl. Lefebvre 1958 (Anm. 14), S. 13–16, 18 Ebd., S. 18–21. 52–53. Wenn sich auch Lefebvres erste kom- plexere Analysen des Alltagslebens, den von Georges-Henri Rivière initiierten Studien zur ländlichen Bevölkerung Frankreichs geschul- det, auf das rurale Alltagsleben mit einem regionalen Schwerpunkt auf den Pyrenäen bezogen. Vgl. hierzu im Überblick Łukasz Stanek: Henri Lefebvre on Space. Architecture, Urban research, and the Production of Theory. Minneapolis, London 2011, S. 5–17. 17 Vgl. Stanek 2011 (Anm. 16), S. 8–15. Lefeb- vre setzte am Centre d’études sociologiques zunächst seine soziologischen Studien zum ruralen Alltagsleben fort. ORNAMENTE DES GEBRAUCHS 79 pavillonnaire19 hervor, in deren Zusammenhang Lefebvre den Begriff der Aneignung zentral machte und das Wohnen als Poiesis verstand.20 Wohnen bedeutete damit ein ins Werk setzen von Architektur. Genau hier liegen auch die Wurzeln für einen aktivischen Begriff des Gebrauchs von Architektur. In diesem Sinne stellt David Pinson fest: „Die Erfassung und die Lektüre der Aneignung ist eine moderne und zeitgenössische Lektüre des Gebrauchs. Zeitgenössisch, weil sie mit sozioanthropologischen Methoden nur über einen Raum durchgeführt werden kann, der in diesem Moment als ein bewohnter Raum existiert; modern, weil sie von den Ansichten und Praktiken desjenigen ausgeht, der Gebrauch von dem Raum macht, und nicht allein von der Idee, die man sich über ihn macht“.21 Schon für Pinson vollzieht sich über das Konzept der Aneignung ein Paradigmenwechsel zwischen einem zweckorientierten Verständnis von Gebrauch, das in der Tradition der ,utilitas‘ steht und in der Moderne durch den Begriff der Funktion repräsentiert wird, und einem, das, von Pinson unter anderem auf Viollet-le- Duc zurückgeführt, den Gebrauch von den sozialen Praktiken her denkt. Um diese beiden Bedeutungsebenen von Gebrauch auch sprachlich differenzieren zu können, hat Pinson den Numerus von 19 Die Ergebnisse der Studie wurden wie folgt 20 Vgl. Henri Lefebvre: Préface. In: Henri dokumentiert: Henri Raymond, Nicole Hau- Raymond, Nicole Haumont, Marie-Geneviève mont, Marie-Geneviève Dezès u.a.: L’habitat Dezès u.a.: L’habitat pavillonnaire. Paris 2001, pavillonnaire. Paris 1966. Diese Publikation S. 7–23, hier insbes. S. 17. Den Begriff der erfuhr in den 1970er Jahren zwei Auflagen und poietischen Aneignung von Natur und gebauter wurde 2001 noch einmal neu aufgelegt. Auf Umwelt grenzt Lefebvre dabei von dem der letzterer basiert auch die vorliegende Zitation. ausbeuterischen Naturbeherrschung ab. Nicole Haumont: Les pavillonnaires. Étude psy- 21 „La saisie et la lecture de l’appropriation cho-sociologiques d’une mode d’habitat. Paris est une lecture moderne et contemporaine de 1966; Marie-Geneviève Raymond: La politique l’usage. Contemporaine parce qu’elle ne peut pavillonnaire. Paris 1966. Beide Teilstudien être conduite, avec des procédures socio-anth- wurden 2001 ebenfalls neu aufgelegt. Im ropologiques, que sur un espace qui existe en selben Jahr wurde erstmals veröffentlicht Henri ce moment comme espace habité ; moderne Raymond: Paroles d’habitants. Une méthode parce qu’elle part du point de vue et des d’analyse. Paris 2001. pratiques de celui qui fait usage de l’espace et non pas seulement de l’idée que l’on s’en fait.“ Pinson 1993 (Anm. 1), S. 155. Vgl. hierzu auch Perla Serfaty-Garzon: Appropriation. In: Marion Segaud, Jacques Brun, Jean-Claude Briant (Hg.): Dictionnaire de l’habitat et du logement. Paris 2002, S. 27–30. 80 KIRSTEN WAGNER ,usage‘ ins Feld geführt: ,Usage‘ im Singular erscheint synonym zu ,utilisation‘ und bezieht sich bei ihm auf die zweckorientierte Nutzung eines Objektes, so wie man beispielsweise ein Auto zum Fahren von A nach B, die Küche zum Kochen nutzt und Ähnliches mehr. Pinson trifft die Unterscheidung zwischen Nutzung und Gebrauch damit innerhalb des semantischen Feldes des franzö- sischen Begriffs ,usage‘. Die ,usages‘ im Plural bezeichnen dem- gegenüber Formen des aneignenden Gebrauchs. Sie haben Teil an den „us et coutumes“, den überlieferten (Ge-)Bräuchen, was darauf verweist, dass jede individuelle Aneignung in kollektive Seins-, Denk-, Handlungs- und Verhaltensweisen eingebettet ist, deren Ursprünge in der Regel nicht greifbar sind.22 Anders als die zweckorientierte Nutzung setzt der aneignende Gebrauch eines Objektes zudem einen Akteur voraus, das heißt „weder das passive Individuum, für welches man den Raum bestimmt, noch das menschliche Element, für welches das Gebäude oder der Ort eine Funktion bezeichnet, sondern ein[en] Produzent[en] wie- derholter und komplexer Handlungen, über die der Raum in eine übereinstimmende oder widersprüchliche Lage zu demjenigen versetzt wird, der ihn herstellt“.23 Auf die Architektur beziehungs- weise den Wohnungsbau bezogen bedeutet das, dass jeder Raum zwar einer zweckorientierten Nutzung(svorschrift von Seiten des Architekten oder Planers) unterliegt, diese im sozialen Gebrauch aber ständig überschritten wird durch die verschiede- nen Tätigkeiten, die in den Räumen ausgeführt werden: durch ihre Einrichtung, im Besonderen die Anordnung des Mobiliars, oder durch die angebrachten Verzierungen des Wohnraums.24 Es lässt sich hier von einer am Wohnen entwickelten Performanztheorie sprechen. 22 Diese Differenzierung ist in Pinson 1993 23 „[…] non pas l’individu passif auquel on (Anm. 1), S. 87–90, bereits angelegt, ausge- destine l’espace, ni l’élément humain auquel arbeitet wird sie jedoch erst in David Pinson: l’édifice ou le lieu désigne une fonction, mais Usages. In: Segaud, Brun, Briant 2002 (Anm. un producteur d’actes répétés et complexes qui 21), S. 410–412. mettent l’espace dans une situation d’accord ou de conflit avec celui qui le pratique.“ Pinson 1993 (Anm. 1), S. 88 f. 24 Pinson 2002 (Anm. 22), S. 410. ORNAMENTE DES GEBRAUCHS 81 An den Begriff der Aneignung im Sinne eines aktivischen Gebrauchs knüpfte sich in den 1960er Jahren zugleich ein gesellschaftsutopisches Potential. Und auch in der Folge sollte dem aneignenden Gebrauch von architektonischen und urba- nen Räumen durch Praktiken wie jene des Wohnens und des Gehens zumindest noch ein emanzipatorisches Potential gegen- über fixen Ordnungen und Strukturen zukommen, wie das Jean- François Augoyards Schrift Pas à pas und Michel de Certeaus Ausführungen über das Gehen in der Stadt verdeutlichen.25 Wohnen als Poiesis. Artikulationen und Aufzeichnungen des Gebrauchs von Architektur Als grundlegend für den Begriff eines aneignenden Gebrauchs von Architektur haben sich zwei empirische Studien zum Wohnen und Wohnungsbau erwiesen: zum einen die bereits erwähnte soziologische Studie L’habitat pavillonnaire von Henri Raymond, Nicole Haumont, Marie-Geneviève Dezès und Antoine Haumont aus den Jahren 1964 und 1965. Als Gründer des Institut de sociologie urbaine war Lefebvre in diese zwangsläufig ein- gebunden, auch wenn umstritten ist, wie weit er im Rahmen der 1961 in Straßburg angetretenen Professur für Soziologie faktisch an ihr teilhatte.26 Auffallend bleibt eine Anlehnung an struktu- ralistische und anthropologische Ansätze innerhalb der Studie, die Lefebvre aus historisch-materialistischer Sicht nicht zur Gänze teilen konnte und in seinem Vorwort zu den publizierten Untersuchungsergebnissen dann auch tatsächlich einschränkt. Zum anderen handelt es sich um die von dem Architekten Philippe 25 Jean-François Augoyard: Pas à pas. Essai 26 Vgl. Stanek 2011 (Anm. 16), S. 20. sur le cheminement quotidien en milieu urbain. Paris 1979; Michel de Certeau: Arts de faire, tome 1 : L’invention du quotidien. Paris 1980. Zu den Bezügen zwischen Lefebvre und de Certeau hinsichtlich des Alltäglichen vgl. Michel Trebitsch: Henri Lefebvre en regard de Michel de Certeau : critique de la vie quotidienne. In: Christian Delacroix, François Dosse, Patrick Garcia u.a. (Hg.): Michel de Certeau. Les che- mins d’histoire. Brüssel 2002, S. 141–157. 82 KIRSTEN WAGNER Boudon 1969 durchgeführte Studie über eine der Inkunabeln des modernen Wohnungs- und Städtebaus: die bei Bordeaux in Pessac gebauten Quartiers modernes Frugès von Le Corbusier. In der zugehörigen Publikation Pessac de Le Corbusier27 taucht Lefebvre ebenfalls mit einem Vorwort auf. Den gemeinsamen Hintergrund beider Studien bildete eine Kritik am sogenannten ,Funktionalismus‘ im Wohnungs- und Städtebau. Diese Kritik fokussierte sich seit den späten 1950er Jahren auf den Massenwohnungsbau der ,Grands Ensembles‘. Mit der Cité de la Muette in Drancy in den frühen 1930er Jahren seinen Auftakt nehmend, war der Massenwohnungsbau bereits 25 Jahre später aufgrund der sozialen Probleme in den neuen Quartieren in Verruf geraten.28 Konkreter Ausgangspunkt der soziologischen Studie zum Einfamilienhaus war eine in den 1950er Jahren sichtbar gewordene Diskrepanz zwischen der in den Nachkriegsjahren von Seiten der Architektur und des Staates verhängten Politik der Großsiedlung, das heißt kollekti- ver Wohnformen, und der weithin gelebten und vielfach erstreb- ten Praxis des Wohnens im individuellen Eigenheim.29 Daran hatten offensichtlich auch die neuen technischen Einrichtungen der Großsiedlungen, die einen höheren Hygienestandard und mehr Wohnkomfort bieten sollten, nichts ändern können. So ungeordnet es sich an den alten Stadträndern seit dem spä- ten 19. Jahrhundert auch ausgebreitet hatte und so sehr es der Selbstbauweise mit den ihr eigenen Mängeln verhaftet blieb, das kleinbürgerliche Einfamilienhaus mit Garten galt der Mehrheit der Franzosen als ideale Wohn- und Lebensform. Diese Idealisierung ließ die Autorinnen und Autoren der Studie vom Einfamilienhaus als einer Utopie sprechen; Utopie durchaus im Sinne eines ideo- logischen Überbaus, der sich negativ auf die Akzeptanz und 27 Die Studie von Philippe Boudon: Pessac 28 Vgl. hierzu im historischen Überblick und de Le Corbusier. Paris 1969, erfuhr 1977 und internationalen Vergleich Florian Urban: Tower 1985 eine Auflage bzw. Neuauflage und lag and Slab. Histories of Global Mass Housing. 1971 in deutscher Übersetzung unter dem Titel: London, New York 2012. Die Siedlung Pessac – 40 Jahre Wohnen à Le Corbusier. Sozio-architektonische Studie, als 29 An der sich zuletzt noch Niklas Maak: Bd. 28 der Reihe Bauwelt Fundamente vor. Wohnkomplex. Warum wir andere Häuser brauchen. München 2014, abgearbeitet hat. ORNAMENTE DES GEBRAUCHS 83 Durchsetzung aller anderen Wohnformen, insbesondere der kollektiven in den Großsiedlungen, auswirkte. Beabsichtigte die Studie zunächst, diese ideologischen Zusammenhänge histo- risch aufzuklären, indem sie über die empirischen Befragungen hinaus die Wohnverhältnisse und -diskurse des 19. und 20. Jahrhunderts aufarbeitete, dann zeigte die Praxis des Wohnens, dass das Einfamilienhaus jenseits aller Ideologien etwas erlaubte, das die standardisierte Wohneinheit in der Großsiedlung nicht in derselben Weise ermöglichte. Dazu zählte eine Reihe räumlicher Markierungen, welche auf dem Hintergrund zoologischer Studien als Territorialisierungs- strategien interpretiert wurden. „Der Tendenz nach wenig sozi- alisierte Manifestationen“,30 wurden sie als Triebe (,pulsions‘) verstanden, ausgeführt von einem gleichsam naturhaften Wesen Mensch, das sich dergestalt die Umwelt aneignet.31 Solche Markierungen, allen voran die Einfriedung von Räumen (,clôture‘), im weiteren Sinne auch das Schaffen von Ecken als Rückzugsorten (,familiarisation‘), überhaupt das Einrichten von Räumen durch die Anordnung von Objekten (,aménagement‘) sowie ihre Pflege, das heißt das Sauberhalten bestimmter Räume im Gegensatz zu anderen (,entretien‘), machten das ,Es‘ des Einfamilienhauses („le ,ça‘ du pavillon“) aus. Gemäß tiefen- psychologischem Modell waren hier auch Pathologien angesie- delt wie der „fétichisme du marquage“,32 ablesbar an mit Figuren und anderen Dekorationsobjekten vollgestellten Vorgärten. Auf einer zweiten Ebene, der des ,Ich‘ („le ,moi‘ du pavillon“), sollte es zu einer Projektion sozialer Beziehungen auf die räumli- chen Markierungen kommen. Das Schließen beziehungsweise 30 „[…] les manifestations de tendance peu 31 „[…] l’espace du pavillon, comme tout socialisées […]“ Raymond, Haumont, Dezès espace habitable, fait l’objet d’une appropriati- u.a. 2001 (Anm. 20), S. 57. on qui opère par marquage (clôture, entretien, familiarisation, aménagement) […]. Une chose est certain: marquer l’espace, aménager, entre- tenir, ce sont des pulsions qui ne dépendent pas exclusivement du type des rapports soci- aux déterminés par les rapports des production […].“ Ebd., S. 68, vgl. 66. 32 Ebd., S. 67. 84 KIRSTEN WAGNER Öffnen von Räumen zeigte sich darüber als Regelung sozia- ler Beziehungen zwischen einem Innen und einem Außen der Behausung. Erst auf der dritten Ebene des ,Über-Ich‘ („le ,sur- moi‘ du pavillon“) kamen Ideologien zum Tragen. Auf ihr nahm das Schließen von Räumen die Bedeutung einer Sicherung und Verteidigung des Privateigentums an. Erklärtes Ziel der Studie war es, den Zusammenhang zwischen den räumlich-materiellen und den symbolischen Ordnungen des Einfamilienhauses darzulegen.33 Zu diesem Zweck analy- sierte die Forschergruppe im Rahmen ungelenkter Interviews die Sprechakte der Bewohner nicht nur von Einfamilienhäusern, sondern auch von Wohnblöcken. Weniger über die Dinge als über die Wörter sollte das Wohnen als eine gleichermaßen räum- liche und symbolische Praxis erfasst werden. Dem Einfluss des Strukturalismus war es geschuldet, dass beide Ordnungen auf Oppositionen wie geschlossen/offen, vorne/hinten, sauber/ schmutzig, voll/leer, privat/öffentlich enggeführt wurden.34 Vor dem strukturalistischen und semiologischen Hintergrund der 1950er und frühen 1960er Jahre konnte sich das Wohnen kaum anders als eine Art ,Sprache‘ des Raumes vollziehen, gleichzeitig artikulierte es sich in der gesprochenen Sprache der Bewohner: „Die Fasson zu wohnen, die Art und Weise oder die Modalitäten zu wohnen, drücken sich in der Sprache aus“.35 Der Zugang zum Gebrauch von Architektur verlief damit wesentlich über die Analyse von Aussagen über das Wohnen. Diese sprach- oder zei- chenorientierte Perspektive auf die Praktiken des Raumes lässt sich parallel von Roland Barthes über Jean-François Augoyard 33 Dass materielle Räume eigene Symboliken 35 „[L]a façon d’habiter, le mode ou les entfalten, hatte in einer für die soziologische modalités de l’habiter s’expriment dans le Studie richtungsweisenden Manier Gaston langage.“ Lefebvre 2001 (Anm. 20), S. 10. Dass Bachelard mit seiner Poétique de l’espace, die Sprechakte genauso ephemer sind wie 1957, demonstriert. Bachelards phänome- die räumlichen Praktiken des Wohnens selbst nologischer Zugriff auf das Haus blieb den und ihre Aufzeichnung bzw. Transkription die Autorinnen und Autoren der Studie jedoch Performanz des gesprochenen Wortes einbüßt, zu unsystematisch, Abhilfe schaffte hier die vergleichbar der Certeau’schen Karte, die als strukturale Anthropologie. statisches Nebeneinander von Raumpunkten alle Spuren der Bewegung aus sich getilgt hat, 34 Vgl. hierzu Raymond 2001 (Anm. 19), wurde hierbei als Problem benannt. Vgl. ebd., S. 31–37. S. 11. ORNAMENTE DES GEBRAUCHS 85 bis hin zu Michel de Certeau verfolgen. Wird noch einmal der Standpunkt Benjamins eingenommen, nach dem sich der Gebrauch von Architektur taktil und unbewusst vollzieht, dann können die empirischen Studien zum Wohnen aus den 1960er Jahren auch als der Versuch gelesen werden, den Gebrauch von Architektur allererst Zeichen werden zu lassen, um ihn zu einem Gegenstand einer wesentlich auf Zeichen beruhenden Reflexion machen zu können. Unterstrich Lefebvre im Vorwort der Studie zum Einfamilienhaus, dass das Wohnen eine anthropologische Tatsache ist,36 wollte er die Untersuchung desselben gleichwohl nicht der Anthropologie überlassen. Nicht die Konstanten und Invarianten des Menschen als natürliches Gattungswesen konnten sein Ausgangspunkt sein, sondern der Mensch als ein soziales, in historischen Produktionsverhältnissen stehendes Wesen, dessen Behausung sich mit jenen ändert: „Die Wohnung hat sich mit der Gesellschaft gewandelt, mit den Produktionsweisen, selbst wenn bestimmte Züge (die Einfriedung eines Raumes zum Beispiel) eine relative Beständigkeit bewahren“.37 Die grundlegenden Triebe räumlicher Markierung blieben damit für Lefebvre kulturellen Kodes unterge- ordnet. Er beschrieb sie als „elementare Triebe, quasi-biologisch, obgleich einem kulturellen System unterworfen“, die sich ihrerseits mit den ebenfalls kulturell determinierten „Quasi-Konstanten“ des Alters und des Geschlechts verbanden.38 Unabhängig von diesen graduellen, wenn auch ideologisch durchaus relevan- ten Unterschieden wurden die Ergebnisse der Befragungen von dem Leiter des Institut de sociologie urbaine und dem Team der Studie dahingehend interpretiert, dass das Einfamilienhaus ent- schieden mehr Optionen für die Aneignung des Raumes und auch der Zeit bereithielt als die auf Mindestmaße berechnete und 36 Es machte sich hier die Lektüre Heideggers 38 „[…] pulsions élémentaires, quasi-bio- und Bachelards geltend. logiques bien que soumises à un système culturel.“ Ebd., S. 18. 37 „L’habitation a changé avec la société, avec le mode de production, même si certains traits (la clôture d’un espace, par exemple) conser- vent une constance relative.“ Lefebvre 2001 (Anm. 20), S. 9. 86 KIRSTEN WAGNER in ihrer Anordnung festgelegte Mieteinheit in den Wohnblöcken. Unter den Formen räumlicher Aneignung nahm insbesondere der ,aménagement‘ eine zentrale Rolle ein: mit seinen Möglichkeiten des Um- und Anbaus, den vergleichsweise frei einzurichtenden Räumen, den Dach- und Kellerräumen, Rumpelkammern und Abseiten bot das Einfamilienhaus dem ,habitant-bricoleur‘ eine Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten, die sich den unterschied- lichen Bedürfnissen verschiedener Lebensphasen anpassen konnten. Im Massenwohnungsbau war all das nicht vorgesehen. Seine Wohneinheiten konnten wohl genutzt, nicht aber angeeig- net werden. Auf der Ebene des ,aménagement‘ wurde die Kritik am Funktionalismus in der Architektur konkret. Die empirische Studie zum Einfamilienhaus führte zu dem para- doxen Schluss, dass das gegenüber dem Neuen Bauen in Form der kollektiven Großsiedlung scheinbar antimoderne, zudem kleinbürgerliche Einfamilienhaus neu betrachtet werden musste, zumal es offenbar wie kaum eine andere Wohnform eine auf aneignendem Gebrauch basierende Praxis des Wohnens zuließ. Lefebvre bekannte, dass die Studie das Einfamilienhaus reha- bilitiert habe, dass diese Rehabilitation jedoch nicht ohne eine kritische Reflexion seiner Ideologien auskomme. Was wollen die Menschen als soziale Wesen, fragte Lefebvre: „Sie wollen einen flexibel anzueignenden Raum, und das sowohl im Maßstab des privaten Lebens wie auch in dem des öffentlichen Lebens, des städtischen Ballungsraumes und des Landschaftsraumes“.39 Unter den Anforderungen moderner Technik und urbaner Großräume war ein Konzept des Wohnens zu entwickeln, das eine Aneignung und damit einen qualitativen Raum und eine qualitative Zeit ermöglichte, oder kurz: „Das Einfamilienhaus in der kollektiven Einheit, der anzueignende Raum mit den prakti- schen Vorteilen des organisierten sozialen Lebens […]“.40 Das Projekt einer Synthese zwischen dem Individuellen und dem 39 „Ils veulent un espace souple appropriable, 40 „Le pavillon dans l’ensemble collectif, aussi bien à l’échelle de la vie privée qu’à celle l’espace appropriable avec les avantages pra- de la vie publique, de l’agglomération et du tiques de la vie sociale organisée […].“ Ebd. paysage.“ Ebd., S. 22. ORNAMENTE DES GEBRAUCHS 87 Kollektiven sah Lefebvre im Werk Le Corbusiers vorweggenom- men,41 auch dies ein Paradoxon der Diskussion um den Gebrauch von Architektur, die in den 1960er Jahren mit Le Corbusier gegen Le Corbusier argumentierte. Spuren des Gebrauchs im Bild. Die Evidenz der Fotografie An ebendieser Stelle setzte die fünf Jahre später von Philippe Boudon über Pessac durchgeführte Studie ein. Sie basierte ebenfalls auf Befragungen der Bewohner, zog darüber hinaus die Fotografie zur Dokumentation der durch den alltäglichen Gebrauch veränderten Wohnhäuser heran. Der Einsatz der Fotografie war schon im Rahmen der soziologischen Studie zum Einfamilienhaus in Erwägung gezogen „und bedingt realisiert“ worden. Das fotografische Bild sollte die Dinge des Wohnens, im Speziellen die ,Verzierungselemente‘ („éléments de l’or- nementation“), als eine Ausdrucksform des Gebrauchs von Architektur ,zum Sprechen bringen‘.42 Ein methodischer Einsatz der Fotografie wurde dann jedoch nicht nur aus Kosten- und Zeitgründen aufgegeben. Die scheinbar willkürliche Anbringung von Zierwerk in und an den Häusern, bis in die Gärten hinein, entzog sich der systematischen Erfassung. Anders in der Studie 41 Es könnten Lefebvre hier die 1922 von Le Willy Boesiger, Oscar Stonorov, neu aufgelegt. Corbusier projektierten Immeubles-Villas vor Zürich 1937, S. 41. Philippe Boudon wertete die Augen gestanden haben, die Le Corbusier wie Immeubles-Villas in diesem Sinne später als folgt beschrieben hat: „Les ,Immeubles-Villas‘ „formule architecturale – et verbale – qui énon- proposent une formule neuve d’habitation ce parfaitement cette opposition individuel/ de grande ville. Chaque appartement est, en collectif qui fut au centre de ses préoccupations réalité, une petite maison avec jardin, située jusqu’à la solution des unités d’habitation.“ In à n’importe quelle hauteur au-dessus d’une den Quartiers modernes Frugès sah er zugleich chaussée. […] la densité des quartiers d’habita- eine Probe auf das Konzept der Immeubles-Vil- tion demeure la même qu’aujourd’hui, mais les las gegeben. Vgl. Boudon 1969 (Anm. 27), S. maisons montent plus haut, sur des perspec- 37. Ein einzelnes Gebäude vergleichbaren tives considérablement élargies. La crise de la Typs (Immeuble à alvéoles) hatten Le Corbusier domesticité est un évènement social inévitable und Pierre Jeanneret bezeichnenderweise als qui réclame l’organisation des services com- Eingangssituation in die Siedlung geplant. Es muns. Les ,Immeubles-Villas‘, par les moyens wurde jedoch nicht realisiert. coopératifs de ravitaillement, proposent la solution même des Halles Centrales de grande 42 Vgl. Raymond 2001 (Anm. 19), S. 10. ville.“ Le Corbusier, Pierre Jeanneret: Œuvre complète de 1910–1929 (1929), hg. v. 88 KIRSTEN WAGNER von Boudon: Dort entfalteten die Fotografien der Wohnhäuser der Quartiers modernes Frugès eine eigene Evidenz und Rhetorik. Dies wird nur auf der Grundlage von Baugeschichte und histori- schem Bildmaterial der Siedlung deutlich. Als Bauherr der Siedlung von Pessac trat Henri Frugès auf, Sohn eines Zuckerfabrikanten, der auf Le Corbusier über des- sen Schriften zum industriellen Wohnungsbau in der Zeitschrift L’Esprit Nouveau aufmerksam geworden war.43 Nach einer ers- ten Beauftragung Le Corbusiers und Pierre Jeannerets mit dem Bau von zehn Wohnhäusern in Lège bei Arcachon, um Arbeiter räumlich an eine Fabrik zur Herstellung von Verpackungen für die Zuckerproduktion zu binden, plante Frugès den Bau einer wei- teren Wohnsiedlung. Dazu wählte er eine Wiese in Pessac bei Bordeaux. Von den ursprünglich geplanten 130 bis 150 Häusern inklusive Geschäften konnten 51 Wohnhäuser realisiert werden.44 Beabsichtigte Le Corbusier gemäß seinen bereits zu Beginn der 1920er Jahre entwickelten Maximen des Wohnungs- und Städtebaus den Bau von mehrgeschossigen ,Wohnmaschinen‘ in Pessac, dann war es offensichtlich Frugès, der das Projekt auf Ein- bis Dreifamilienhäuser beschränkte. Auf Frugès geht nach eigener Darstellung auch der farbige Anstrich der von Le Corbusier ursprünglich roh belassenen Häuser zurück. Frugès stellte die Farbgebung als Surrogat für das Fehlen jedweden Ornaments und Dekors an den Fassaden heraus, erkannte er doch hierin etwas, das dem tradierten Bild des Hauses und des 43 Die Zeitschrift L’Esprit Nouveau wurde 44 Zur Baugeschichte der Quartiers modernes von Paul Dermée, Amédée Ozenfant und Frugès vgl. Boudon 1969 (Anm. 27); Brian Bra- Charles-Édouard Jeanneret (alias Le Corbusier) ce Taylor: Le Corbusier et Pessac 1914–1928, herausgegeben. Die erste Nummer erschien im 2 Bde., hg. v. der Fondation Le Corbusier Oktober 1920. Die Artikel über die Architektur in Kooperation mit der Universität Harvard. in den Ausgaben des Esprit Nouveau wurden Bourges 1972; Marylène Ferrand, Jean-Pierre wesentlich von Le Corbusier verfasst. Feugas, Bernard Le Roy u. a.: Le Corbusier: Les Quartiers modernes Frugès. Basel u. Paris 1998. ORNAMENTE DES GEBRAUCHS 89 Wohnens so deutlich widersprach, dass er die Nutzung und Verwertung der Häuser gefährdet sah.45 Le Corbusier hat die Farbgestaltung der Wohnsiedlung hingegen stets mit den Raum bildenden und transformierenden Eigenschaften der Farbe begründet: Die in Blau und Grün gehaltenen Außenwände dien- ten der optischen Erweiterung des Raumes, indem sie die Wand zur Umgebung und zum Himmel hin auflösten, die in Rotbraun ausgeführten Wände betonten kontrastierend dazu deren physi- sche Präsenz. Neben der ungewohnten Architektur ließen jedoch vor allem der erst zwei Jahre nach Fertigstellung der Siedlung erfolgte Anschluss an die öffentliche Wasserversorgung sowie sicher auch der Preis der Häuser – Unwägbarkeiten in den Produktionsabläufen und der Baustellenleitung hatten die Kosten, die auf Seiten der seri- ellen Fertigung eingespart werden sollten, am Ende in die Höhe getrieben46 –, die Käufer ausbleiben. Erst das Gesetz Loucheur zur staatlich gestützten Baufinanzierung aus dem Jahr 1928 trug dazu bei, dass sich Bewohner für die Häuser fanden. Angesichts dieser Umstände sprach Le Corbusier im Œuvre complète mit Bezug auf Pessac von einer „in die Annalen der Idee einzuord- nenden schmerzhaften, harten Lektion“ und davon, wie dieses Lehrstück zeige, „dass die neuen Initiativen gegen die öffentliche Meinungsfront anrennen und dass die Meinung Krieg gegen die Ideen führt“47. 45 Vgl. Frugès zit. n. Boudon 1969 (Anm. 27), 46 Vgl. hierzu Taylor 1972 (Anm. 44), S. 40. S. 9–10. Diese retrospektive Selbsteinschät- 47 „[…] une leçon douloureuse, sévère, à clas- zung von Frugès übersieht, dass die Polychro- ser dans les annales de l’,Idée‘ et montrant que mie Thema bereits der niederländischen Archi- les initiatives nouvelles heurtent l’opinion de tektur der frühen 1920er Jahre gewesen ist, es front et que l’opinion fait la guerre aux idées.“ also Le Corbusier geläufige Vorbilder gegeben Le Corbusier u. Jeanneret 1937 (Anm. 41), S. 78. hat, dass sich Le Corbusier bereits eigene Grundlagen farbiger Flächen- und Formgestal- tung im Rahmen der puristischen Malerei und der Innenraumgestaltung erarbeitet hatte sowie schließlich Le Corbusiers Interesse an physio- logischen Farblehren, die auch in den Esprit Nouveau aufgenommen worden sind. Vgl. hier- zu ausführlich Jan de Heer: The Architectonic Colour. Polychromy in the Purist architecture of Le Corbusier. Rotterdam 2009. 90 KIRSTEN WAGNER Abb. 1: Auftakt der Fotostrecke zu den Quartiers modernes Frugès im Œuvre complète, Poly- chromie der Außenwände, Pessac 1925. Quelle: Le Corbusier, Pierre Jeanneret: Œuvre complète de 1910–1929 (1929), hg. v. Willy Boesiger, Oscar Stonorov, neu aufgelegt. Zürich 1937, S. 79 Dem korrespondiert im Œuvre complète eine eigentüm- lich ikonoklastische Fotografie als Auftakt der fotografischen Dokumentation der Siedlung durch Le Corbusier (Abb. 1). Eine die gesamte Recto-Seite einnehmende Schwarzweißfotografie gibt im architektonisch gerahmten Ausschnitt den Blick auf eine der farbigen, im Bild anthrazit erscheinenden Wandflächen der gegeneinander versetzten Häuser (,Maisons en quinconce‘) frei. Weiße Wandflächen gehen in der bearbeiteten Fotografie fast nahtlos in ein monochromes Himmelsgrau über, sodass sich die Architekturfotografie einer geometrischen Flächenkomposition und abstrakten Malerei annähert48 – wären da nicht ein Spaten 48 Barbara Mazza hat an dieser Fotogra- Le Corbusiers hingewiesen. Auf den ikonoklas- fie ebenfalls die bildnerische Wirkung einer tischen Gestus dieser Fotografie ist sie jedoch abstrakten plastischen Komposition hervorge- nicht eingegangen. Barbara Mazza: Le Corbu- hoben, zugleich auf die Nähe zu den Komposi- sier e la fotografia. La verité blanche. Florenz tionsschemata der puristischen Malerei 2002, S. 117–118. ORNAMENTE DES GEBRAUCHS 91 und ein Erdhaufen im Bildmittelgrund als indexikalische Zeichen für eine konkrete Baupraxis. Die den Blick des Betrachters ver- weigernde Geste der Fotografie liegt darin, dass hier über die architektonische Rahmung ein Bildraum auf ostentative Weise erst geschaffen wird, um sich durch die zentrale Wandfläche im Bildmittelgrund sofort wieder zu entziehen. Alle Häuser der Quartiers modernes Frugès basierten auf einem Standardmodul von 5 x 5 Metern, das der Serienbauweise mit armiertem Beton und der industriellen Fensterproduktion geschuldet war. Die Kuben, die sich aus dem Modul ergaben, setzte Le Corbusier zu verschiedenen Wohnhaustypen zusam- men, hier am Haus in Z-Form nachzuvollziehen (Abb. 2). Als Reminiszenz an die ursprünglich geplanten Wolkenkratzer nannte sich der höchste, zwei Wohneinheiten umfassende Typ ,gratte-ciel‘. Innerhalb der städtebaulichen Anlage waren die jeweiligen Haustypen zu Einheiten zusammengefasst, indem sie entweder über Arkaden oder durch Versatz geschlossene Reihen entlang der Straßenzüge bildeten und sich auf den Abb. 2: Kombination der standardisierten Raum- und Fensterelemente zum ,Maison de type Zig-Zag‘. Quelle: Le Corbusier, Pierre Jeanneret: Œuvre complète de 1910–1929 (1929), hg. v. Willy Boesiger u. Oscar Stonorov, neu aufgelegt. Zürich 1937, S. 69 92 KIRSTEN WAGNER Abb. 3: Bebauungsplan der Quartiers modernes Frugès, 1925. Quelle: Philippe Boudon: Pessac de Le Corbusier. Paris 1969, Bildapparat bebauten Parzellen direkt gegenüber lagen, wie aus dem folgen- den Bebauungsplan hervorgeht (Abb. 3). Alle Haustypen wie- sen über das zugrunde liegende Standardmodul hinaus weitere Gemeinsamkeiten auf, die als charakteristisch für Le Corbusiers Architektur angesehen werden können. Er hatte sie über eine ORNAMENTE DES GEBRAUCHS 93 Reihe an Entwürfen, unter anderem den Maisons Dom-ino und Monol sowie dem Maison Citrohan, entwickelt: grundsätzlich die Serienbauweise anhand von Standardelementen, darüber hinaus die an modernen Transportmitteln orientierten Fensterbänder, die Aufständerung, sodass sich eine Verkehrsfläche unterhalb des ersten Geschosses bildete, Flachdach und Dachterrasse, keine räumliche Trennung zwischen reinen Verkehrs- und Wohnflächen innerhalb der Wohnung. Genau diese Elemente der Architektur waren es dann auch, die den weitreichendsten Eingriffen durch die Bewohner unterliegen sollten. Was im Einzelnen an den Wohnhäusern von Pessac verän- dert wurde, geht besonders aus den Fotostrecken hervor, die Boudon als eigenständigen Bildapparat an das Ende sei- ner Studie gestellt hat (Abb. 4). Die Fotografien auf der ersten Doppelseite beziehen sich noch auf die Wohnhäuser in Lège. Historische Aufnahmen zeigen mehr oder minder den jeweili- gen ,Urzustand‘ der Häuser, ihnen unmittelbar zugeordnet sind aktuelle Aufnahmen der Gebäude. Wie zu erkennen, ist an die Stelle des Flachdachs ein Satteldach getreten, Dachterrassen sind überbaut, die Fensterbänder erscheinen verkleinert, alle- samt Maßnahmen, über die die Häuser zugleich an den regiona- len Hausbau angepasst wurden. Auf demselben Kontrast beruht auch die fotografische Dokumentation über die Wohnsiedlung in Pessac (Abb. 5). Nach einer ersten Übersicht über die verschie- denen Haustypen in Form aktueller Straßenansichten folgen auch hier Gegenüberstellungen von Gebäudeaufnahmen aus den späten 1920er und späten 1960er Jahren. Unterbrochen wer- den sie von einem Beispiel des regionalen Hausbaus in Gestalt der ,échoppe bordelaise‘, welche durch Anbauten gekenn- zeichnet ist und damit einen notorischen Hang der Bewohner zum ,aménagement‘ verriet – etwas, das sich auf die Quartiers modernes Frugès übertrug. Nicht immer wurde für die visuelle Dokumentation der Standpunkt der historischen Aufnahmen mit ihrem gleichermaßen monumentalisierenden und dynamisie- renden Blickwinkel auf die Architektur eingenommen. Frontale Ansichten der veränderten Fassaden bis hin zu Bildmontagen, die am Beispiel der ,Maisons en quinconce‘ den Rückbau der 94 KIRSTEN WAGNER Abb. 4: Veränderungen an den Wohnhäusern in Lège. Quelle: Philippe Boudon: Pessac de Le Corbusier. Paris 1969, Bildapparat ORNAMENTE DES GEBRAUCHS 95 Fensterbänder ,in Serie‘ zeigen, Aufsichten auf die überbauten Dächer und Dachterrassen sowie Detailaufnahmen der an den Häusern und in den Gärten vorgenommenen Eingriffe dominie- ren den Bildapparat. Für das historische Bildmaterial griffen Boudon und sein Team wesentlich auf die Fotografien zu Pessac von Sigfried Giedion zurück, die dieser in seinen Büchern Bauen in Frankreich, Befreites Wohnen und Raum, Zeit, Architektur veröffentlicht hatte.49 Eine weitere Bildquelle war Le Corbusiers und Jeannerets Œuvre complète. Darin fanden sich ebenfalls Aufnahmen von Giedion50 sowie mindestens eine Aufnahme Werner Hegemanns,51 die dieser 1925 bei einem Besuch Pessacs angefertigt hatte. Hinzu kam ein historisches Pressefoto aus der Tageszeitung La Petite Gironde.52 Die visuelle Rhetorik und Kontextualisierung der historischen Aufnahmen entging Boudon, wie er den ers- ten Kritiken über Pessac in der Tages- und Fachpresse über- haupt unterstellte, sich in ihrer Argumentation kaum zu unter- scheiden und wesentlich Le Corbusier das Wort zu reden. Das lässt sich nur begrenzt aufrechterhalten. Paulette Bernège bei- spielsweise betonte in der von ihr herausgegebenen haushalt- sökonomischen Zeitschrift Mon Chez Moi die Rationalität der Planung und das tayloristische Prinzip der Serienproduktion.53 Aus der Perspektive einer effizienten Haushaltsführung würdigte Bernège an der ,machine à habiter‘ zudem den Wohnkomfort 49 Dies betrifft in Boudon 1969 (Anm. 27) die 51 Die Autorenschaft Hegemanns der Foto- Abb. 15 und 49. grafie auf Seite 82 (rechts unten) des Œuvre complète ist verbürgt durch den Bildnachweis 50 Es handelt sich hierbei um die Fotogra- in Steen Eiler Rasmussen: Le Corbusier. Die fien mit den Legenden „Les petites maisons kommende Baukunst? In: Wasmuths Monats- (façades peintes)“ und „La terrasse couverte au hefte für Baukunst 9 (1926), S. 378–393, hier rez-de-chaussée“ auf den Seiten 81 und 85 des S. 393. Œuvre complète. Beide liegen heute im gta-Ar- chiv der ETH Zürich. In Boudon 1969 (Anm. 27) 52 Nicht alle Quellen der historischen Aufnah- ist davon jedoch keine aufgenommen. men Pessacs sind dabei in Boudon 1969 (Anm. 27) nachgewiesen. 53 Paulette Bernège: La machine à habiter. In: Mon Chez Moi. La revue d’organisation ménagère, 15.11.1926, S. 239–243. Diesen Artikel zog Boudon als eine zentrale historische Quelle heran. 96 KIRSTEN WAGNER Abb. 5: Veränderungen an den Wohnhäusern in Pessac am Beispiel des Haustyps ,Maison en quinconce‘. Quelle: Philippe Boudon: Pessac de Le Corbusier. Paris 1969, Bildapparat und die Hygienestandards. Dem Hygienediskurs konform hob sie auf das einfallende Sonnenlicht und die Durchdringung der Baukörper mit Luft ab. Diese Argumentation wurde in dem Artikel durch Fotografien unterstützt, die Pessac als eine in die Natur eingebettete Siedlung, als Gartenstadt, zeigen: Einem gerahm- ten Blick über die Dachterrassenlandschaft der Siedlung54 folgen unter anderem zwei Aufnahmen, bei denen die ,Maisons à arcades‘ und mehrere Häuser des Typs ,gratte-ciel‘ hinter und zwischen Büschen und Bäumen im Bildvordergrund auftauchen (Abb. 6). 54 Im Artikel der Mon Chez Moi wurde hier eine Fotografie verwendet, an der Le Corbusier und Jeanneret im Œuvre complète, S. 85, die Polychromie diskutieren sollten. Die hier aus dem Artikel aufgenommene Abbildung, die Pessac als eine ,Gartenstadt‘ zeigt (vgl. Abb. 6), geht auf eine Fotografie Sigfried Giedions zurück (vorgehalten im gta Archiv der ETH Zürich). Sie wurde auch für eine Bildpostkarte zu den Quartiers modernes Frugès verwendet, vgl. Mazza 2002 (Anm. 48), Bildapparat. ORNAMENTE DES GEBRAUCHS 97 Giedions eigene Besprechung der Wohnsiedlung in Bauen in Frankreich drehte sich hingegen um konstruktive und for- malästhetische Aspekte. Fragen zum Wohnen, und das heißt zur Funktion und zum Gebrauch der Typenhäuser, reduzierte Giedion auf die Notwendigkeit, den industriellen Wohnungsbau zu einem zentralen Gegenstand der Architektur zu machen. Die im Vordergrund stehende Affinität zum Kubismus beziehungs- weise Purismus hinsichtlich sich durchdringender Flächen und Abb. 6: Die Quartiers modernes Frugès als Gartenstadt in der Zeitschrift Mon Chez Moi, Foto- grafie Sigfried Giedion. Quelle: Paulette Bernège: La machine à habiter. In: Mon Chez Moi. La revue d’organisation ménagère, 15.11.1926, S. 239–243, hier S. 243 98 KIRSTEN WAGNER Abb. 7: Puristische Flächen- und Raumkompositionen im Bildvergleich nach Sigfried Giedion. Quelle: Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich. Bauen in Eisen. Bauen in Eisenbeton (1928), hg. v. Sokrates Georgiadis. Berlin 2000, S. 86 u. 87 Volumina visualisierte Giedion durch die Gegenüberstellung eines puristischen Gemäldes von Le Corbusier und einer Hinteransicht der ,Maisons en quinconce‘ (Abb. 7). Der vor- und zurückspringenden Fassade der Häuserzeile mit ihren hellen und dunklen Außenwänden und ihren Fensteröffnungen entspre- chen in der Schwarzweißabbildung des Gemäldes alternieren- de Flächen unterschiedlicher Helligkeit. Der Bildvergleich zielte auf Giedions Argument, dass Le Corbusiers Architektur weder Raum noch Plastik sei, sondern topologisches Beziehungs- gefüge von innen und außen. Andere Fotografien Giedions betreiben über Untersichten, diagonale Bildfluchten oder angeschnittene Bildformate in den Publikationen zugleich eine Monumentalisierung und gewisse Dynamisierung der einzelnen Gebäude, ohne dass sie schon dem Neuen Sehen ORNAMENTE DES GEBRAUCHS 99 entsprechen 55 (Abb. 8). Es greift hier, was im selben Maße für Le Corbusiers eigenen Umgang mit der Fotografie fest- gestellt worden ist: die Publikation seiner Bauten über eine genau kalkulierte Auswahl von Ansichten und damit in gewisser Hinsicht die Schaffung von ,Ikonen‘ der Architektur mittels der Fotografie.56 Dass Giedion Ende der 1920er Jahre auch anderes an den Wohnhäusern in Pessac sah und dokumentierte, zeigen einige Aufnahmen aus seiner Fotosammlung,57 die er nicht in seine Schriften aufnahm. Auf ihnen wurden bereits eine erste Verwilderung der Dachterrassen und Fassadenschäden durch die ohne Dachüberstände und äußere Fensterlaibungen zu Kuben gefügten Außenwände sichtbar, beides übrigens Punkte, die in den Interviews von Boudons Studie immer wieder zur Sprache kamen. Ein weiterer wichtiger Artikel des Architekten Steen Eiler Rasmussen über Pessac in Wasmuths Monatsheften für Bau- kunst versuchte zum einen, das Neue an der Architektur von Le Corbusier, nämlich die Überwindung von Masse und Raum zugunsten von Linie und Fläche, wahrnehmungsästhetisch her- zuleiten. Auch hier kam der Gegenüberstellung eines puristischen Gemäldes (von Amédée Ozenfant) und einer Innenansicht von Le Corbusiers Villa La Roche in Auteuil, Paris, die Funktion eines visuellen Beweises zu. Zum anderen imaginierte Rasmussen die Wohnsiedlung zu einem Zeitpunkt im Gebrauch, als sie noch nicht bewohnt war: „Man denke sich die ganze Siedlung bewohnt, die flachen Dächer von dem lebendigen Pflanzenwuchs der hän- genden Gärten überwuchert, in den überschatteten Küchenhöfen wehen die bunten, trocknenden Wäschestücke im Winde, wäh- rend Kinder spielend hin und her laufen.“ Um dem die Frage anzu- schließen: „Ist dies nun die kommende Baukunst?“58 Tatsächlich 55 Zur Fotografie bei Giedion vgl. Werner solo 6 vengono pubblicate 4 o più volte, di Oechslin, Gregor Harbusch (Hg.): Sigfried queste 6 solo una, che é una fotografia realiz- Giedion und die Fotografie. Bildinszenierungen zata da Sigfried Giedion, viene pubblicata più der Moderne. Zürich 2010. di 5 volte.“ Giovanni Fanelli: Introduzione. In: Mazza 2002 (Anm. 48), S. 9–17, hier S. 16. 56 Folgende Zahlen in Bezug auf Le Corbusiers Fotosammlung zu Pessac sind 57 Vorgehalten im gta Archiv der ETH Zürich. aufschlussreich: „Del quartiere residenziale a Pessac, invece, su 150 fotografie realizzate, 58 Rasmussen 1926 (Anm. 51), S. 386. 100 KIRSTEN WAGNER entschied sich für Rasmussen der Wert der neuen Baukunst weniger an der visuellen Wirkung des Gebauten, sondern an sei- nem Zweck und seinem Gebrauch. Und hier fiel die Antwort in Bezug auf die Quartiers modernes Frugès vorläufig negativ aus. Die Zweckmäßigkeit stellte Rasmussen allein schon deshalb in Frage, weil die Außenwände der Wohnhäuser kaum dämmten und, erschwerender noch, die Baukosten trotz aller Einsparungen am Ornament das Budget derjenigen überstiegen, für die sie gebaut worden waren. Stand schon dies einer zweckorientier- ten Nutzung der Häuser entgegen, dann erkannte Rasmussen in der fehlenden Berücksichtigung der Wohnbedürfnisse und des Geschmacks der zukünftigen Bewohner ein noch größeres Hindernis: Schlicht „unbrauchbar“ nannte er die Wohnsiedlung im Hinblick auf die „Arbeiterbevölkerung“.59 Was Le Corbusier auf Seiten von Zweck und Gebrauch einbüßte, sprach ihm Rasmussen hingegen auf ästhetisch-poetischer Seite zu. ,Firmitas‘ und ,utilitas‘ vernachlässigend hatte Le Corbusier für Rasmussen in Pessac auch ohne Ornament der ,venustas‘ gehul- digt, er hatte Architektur als Kunst betrieben. Boudon sah über diese unterschiedlichen Kontexte des histo- rischen Bildmaterials hinweg. Unabhängig von der visuellen Argumentation, die die Fotografien in den Kritiken der 1920er Jahre jeweils übernahmen, nutzte er sie als neutrale historische Bildquellen, die einen Urzustand der Wohnsiedlung wiederge- ben sollten. Eine objektive Betrachtung dieses Urzustandes hat es jedoch nie gegeben, schon in die historischen Ansichten der Wohnbauten haben sich bestimmte Denk- und Sehweisen eingeschrieben. Hätte Boudon allein die nicht veröffentlichten Fotografien Giedions von Pessac den aktuellen Aufnahmen der Studie gegenübergestellt, der Kontrast wäre geringer ausgefallen. So aber wird dem Betrachter ein von allen Spuren der Herstellung, der Witterung und des ersten Gebrauchs weitgehend befreites, zudem monumentalisiertes und dynamisiertes Bild der Quartiers modernes Frugès vermittelt, das zu den vielgestaltigen und klein- teiligen Änderungen an und in den Häusern in einen scharfen 59 Ebd., S. 392. ORNAMENTE DES GEBRAUCHS 101 Abb. 8: Monumentalisierung durch Untersicht am Beispiel des Haustyps „Maison à arcades‘, Fotografie Sigfried Giedion. Quelle: Le Corbusier, Pierre Jeanneret: Œuvre complète de 1910–1929 (1929), hg. v. Willy Boesiger, Oscar Stonorov, neu aufgelegt. Zürich 1937, S. 85 Widerspruch tritt. Eben darüber entfaltet Boudons Bildapparat aber seine eigene Argumentationskraft. Die Gegenüberstellung der beiden Bildkorpora zeigt nicht nur ein zeitliches Vorher und Nachher, sie kontrastiert auch einen abstrakten Planungswillen und die konkrete Lebenswirklichkeit, das eine ideale Modell und die Vielzahl seiner möglichen Realisationen. 102 KIRSTEN WAGNER Mehr noch als die Sprache evidentialisierten die Fotografien in Boudons Studie den Gebrauch von Architektur, indem sie ihn unmittelbar sichtbar machten. Die Fotografien leisteten das nicht, weil sie den Gebrauch im Vollzug zeigten, was das statische Bild der Fotografie schlechterdings nicht kann, son- dern weil sie ebenjene Spuren abbildeten, die der Gebrauch am materiellen Baukörper hinterlassen hatte: eine Art sponta- nes Ornament. Ohne diese Formen der Aufzeichnung wäre der Gebrauch womöglich dort geblieben, wo Benjamin ihn vermu- tet hatte: im taktilen Verkehr mit den Dingen, über den sich die tastende Hand und der sich bewegende Körper in der Regel nur dann Rechenschaft ablegen, wenn sie Widrigkeiten erfahren. Der Körper des Architekten Und was heißt das für Pessac? Bezeugten all die Veränderungen an den Wohnhäusern der Siedlung das Scheitern von Le Corbusier? Ja und nein. Die An- und Umbauten hatten seinen rationalen Plan, sein ideales Modell des Wohnhauses subver- siv unterlaufen. Gleichzeitig hatten die auf der Grundlage die- ses Planes errichteten Wohnhäuser mit ihren vergleichsweise freien Grundrissen und offenen Räumen wie Dachterrasse, Terrasse und Freifläche durch Aufständerung im Erdgeschoss den Bewohnern eine Vielzahl an Möglichkeiten eröffnet, die Häuser nach ihren Bedürfnissen umzugestalten. Sie hatten also im besten Sinne des Wortes dem ,aménagement‘ gedient. Die Differenz zwischen Plan und Ausführung, Denken und Tun wurde auf diesem Hintergrund in den Körper des Architekten selbst hineinverlegt. Oder wie Lefebvre über das Verhältnis von bewusster Planung und unbewusstem, sich verselbständigem Tun bei Le Corbusier schrieb: „[…] der Architekt-Urbanist [Le Corbusier] wollte das durch die technische Vernunft bestimmte Funktionale und entwarf einen vorausberechneten, geometri- schen Raum, gebildet aus Kuben und Kanten, aus Hohlräumen und Körpern, aus homogenen Volumina. [...] Was machte Le Corbusier in Wirklichkeit? Vielleicht weil er Genie hatte, vielleicht weil die begabtesten Menschen niemals genau nur das machen, ORNAMENTE DES GEBRAUCHS 103 was sie machen wollten [...], stellte er einen relativ formbaren, veränderbaren Raum her“.60 Er hatte einen Raum entworfen, dem sich die Bewohner nicht passiv einfügten, sondern den sie aktiv bewohnten. 60 „[…] l’architecte-urbaniste [Le Corbusier] voulut du fonctionnel déterminé par les raisons techniques, et conçut un espace prévu, géo- métrique, composé de cubes et d’arêtes, de vides et de pleins, de volumes homogènes. [...] Que fit en réalité Le Corbusier? Peut-être parce qu’il avait du génie, peut-être parce que jamais les hommes les plus doués ne font exactement ce qu’ils avaient voulu [...], il produisit un espace relativement plastique, modifiable.“ Henri Lefebvre: Préface. In: Boudon 1969 (Anm. 27), S. 9 f., hier S. 9. 104 RALF LIPTAU UND MORITZ SCHUMM RALF LIPTAU UND MORITZ SCHUMM Aufführung (in) der Architektur Kinobauten im Gebrauch Der Begriff ‚Kino‘ benennt einen Ort, an dem zwei Erfahrungs- räume aufeinandertreffen: Der imaginäre Bildraum des Films und der konkrete architektonische Bau. Die Autoren schlagen eine Brücke zwischen Filmwissenschaft und Architekturgeschichte und analysieren gemeinsam den Erlebnisort Kino anhand eines konkreten historischen Fallbeispiels. Kino als Film und Gebäude Was meint man eigentlich, wenn man von ‚Kino‘ spricht, wenn man sagt: „Ich gehe ins Kino“? Zunächst einmal impliziert der Begriff die Ankündigung einer kinematografischen Erfahrung: Man wird sich einen Film ansehen. Zugleich bedeutet es aber auch, dies nicht in den eigenen vier Wänden zu tun, sondern vor die Haustür zu treten, einen urbanen Raum zu durchqueren und ein spezifisches Gebäude oder einen bestimmten Gebäude- Typus aufzusuchen. Im Allgemeinen bedeutet ‚ins Kino gehen‘ letztlich, zwei Erfahrungsräume miteinander in Kontakt zu brin- gen: zum einen den filmischen Illusionsraum, dem man sich als Zuschauerin oder Zuschauer im Kinosaal aussetzt, zum anderen den konkreten architektonischen Raum, den man als Besucherin oder Besucher durchschreitet und der einen auch während der Vorführung umgibt. In seiner Alltagsverwendung steht der Begriff ‚Kino‘ – so unsere These – für ein gemeinsames Erleben archi- tektonischer und filmischer Elemente: Für die Besucherinnen und Besucher des Kinos wird die Erfahrung des Gebäudes auch durch das darin situierte kinematografische Erleben strukturiert. AUFFÜHRUNG (IN) DER ARCHR 105 Und für die Zuschauer arbeitet die sie umgebende, gebaute Umwelt an der Bedeutung des filmischen Sehens und Hörens mit.1 Im Gegensatz zu diesen Alltagserfahrungen ist der wissenschaft- liche Umgang mit diesem Phänomen durch eine klar geregelte Auftrennung des Untersuchungsfeldes gekennzeichnet. Die Zuständigkeiten und Kompetenzen sind hierbei verteilt auf die jeweiligen Disziplinen, vor allem auf diejenigen der Film- und der Architekturwissenschaft. Für Forschende der Filmwissenschaft liegt der Fokus auf dem Leinwandgeschehen und dessen audio-visueller Verlaufsform. Das Gebäude des Kinos wird dabei zu einer abstrakten Grundlage des Filmsehens: sich weniger um die Spezifik des einzelnen Baus bemühend, versteht sich das Kino als der klassische Ort der Filmsichtung und zeichnet sich vor allem durch seine Funktion als Vorführraum aus. Dieser stellt sich ganz in den Dienst des Films, indem er die Wahrnehmung und Aufmerksamkeit der Zuschauer möglichst von deren je eigener körperlicher Verortung ablöst und sie gänzlich auf die Bewegungsbilder des Films fokussiert. Im Kinosaal ist es dun- kel, und genau das erlaubt es dem Film, das Gesichtsfeld und die Wahrnehmung des Publikums für sich zu vereinnahmen und sei- nen kinematografischen Illusionsraum möglichst unbeeinflusst zu realisieren. Die Bedeutung der architektonischen Rahmung liegt damit vor allem in ihrer allgemeinen Zurückgenommenheit. Aus der Perspektive der Architekturwissenschaft hingegen ist das Kino zunächst ein Gebäude. Eine klassische archi- tekturhistorische Analyse würde einen konkreten Bau in die 1 Eine Feststellung, die für die Filmwissen- schaft gegenwärtig eine besondere Relevanz beansprucht, da der Kinobesuch mittlerweile eine Möglichkeit unter anderen darstellt, sich einen Film anzusehen. Hierdurch gewinnt nicht nur die dispositive Macht der kinematogra- phischen Apparatur neue Virulenz, sondern es stellt sich auch die Frage, was es bedeutet, einen Film für das Kino zu inszenieren bzw. im Kino zu sehen. Vgl. hierzu bspw. Francesco Casetti: The Lumière Galaxy. 7 Key Words for the Cinema to Come. New York 2015; Barbara Klinger: Beyond the Multiplex. Cinema, New Technologies, and the Home. Berkeley, Los Angeles, London 2006. 106 RALF LIPTAU UND MORITZ SCHUMM entsprechende Geschichte und Tradition der Bauaufgabe ein- ordnen, ihn mit anderen Werken aus dem Œuvre der Architektin vergleichen, charakteristische Merkmale des Bautypus beschrei- ben und eventuell den städtebaulichen und sozialen Kontext der Entstehungszeit rekonstruieren. Das Kinogebäude erfüllt in dieser Perspektivierung zwar eine funktionale Bestimmung, indem es den Raum für Filmvorführungen bietet. Dennoch ist es hier der Film, der nur als eine abstrakte Grundlage in den Blick gerät. Er liefert den Grund für das Bauvorhaben und dessen Realisierung, wäh- rend eine architekturwissenschaftliche Untersuchung anschlie- ßend im Regelfall die bauliche Gestalt in das Zentrum rückt. Die US-amerikanische Architektin Maggie Valentine hat Mitte der 1990er Jahre eine ähnliche Leerstelle zwischen beiden Disziplinen und derem jeweiligen Blick auf das Kino benannt: Architekturhistoriker hätten die Kinoarchitektur entweder gar nicht beachtet oder nur als Abkömmling eines theater- architektonischen Stil- und Formenrepertoires ohne spezifi- sche Erfahrungswerte beschrieben. Filmhistorikerinnen hin- gegen hätten sich bis dato tendenziell auf die Entwicklung der Filmproduktion und -rezeption konzentriert und die Vorführsituation nur auf generalisierende Weise thematisiert.2 Die Benennung dieses Desiderats deutet einerseits auf ein anzu- strebendes Verständnis von Architektur hin, das diese nicht nur in ihrer manifesten Konstanz anvisiert, sondern gerade im Kino eine durch den konkreten Film mitgetragene, erfahrungsspezifi- sche Heterotopie erkennen will.3 Und umgekehrt wird auch für die Analyse des Films nach einer Perspektive gefragt, in der das Gebäude für die Filmwahrnehmung bedeutsam wird. 2 Vgl. Maggie Valentine: The show starts on an sich unvereinbar sind. So läßt das Theater the sidewalk. New Haven, London 1994, S. 2 f. auf dem Viereck der Bühne eine ganze Reihe von einander fremden Orten aufeinander folgen; 3 Gerade für Michel Foucault stellen das Kino so ist das Kino ein merkwürdiger viereckiger und das Theater in dieser Hinsicht paradigma- Saal, in dessen Hintergrund man einen zwei- tische Heterotopien her, die sich nicht auf eine dimensionalen Schirm einen dreidimensionalen einmalige Bestimmung verlassen können, son- Raum sich projizieren sieht“ (Michel Foucault: dern gerade in der Vielgestaltigkeit ihrer Erfahr- Andere Räume. In: Karlheinz Barck, Peter Gen- barkeit bedeutsam sind: „Die Heterotopie ver- te, Heide Paris u.a. (Hg.): Aisthesis. Wahrneh- mag an einem einzigen Ort mehrere Räume, mung heute oder Perspektiven einer anderen mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die Ästhetik. Leipzig 1998, S. 34–46, hier S. 42). AUFFÜHRUNG (IN) DER ARCHR 107 Nach einer de jure vollzogenen Auftrennung entlang unterschied- licher Disziplinen gilt unser Interesse einem Ansatz, mit dem beide Seiten als eine sich gegenseitig Bedeutung verleihende Einheit gedacht werden können. Eine Einheit, die de facto und für die Kinobesucherinnen immer schon gegeben ist. Denn in ihrer Wahrnehmung betreten und durchqueren sie beim Kinobesuch nicht nur das Gebäude auf dem Weg zum Sitzplatz und von dort aus wieder zurück auf die Straße. Sondern sie erleben und ‚durchqueren‘ eben auch die filmische Verlaufsform. Beide, so unser analytischer Ausgangspunkt, sind nicht einfach bezie- hungslos hintereinander geschaltet. Film und Bau spannen viel- mehr ein gemeinsames Beziehungsnetzwerk auf, das sich als ein gemeinsamer Erfahrungsraum und eine aneinander geschulte Erscheinungsweise beschreiben lassen kann. Um dies im Folgenden nachzuvollziehen, richten wir den Blick auf ein historisches Ereignis. Es handelt sich hierbei um eine Situation, in der sich ein konkreter Kinobau und ein ebenso konkreter Film auf anschauliche Weise zu einer gemeinsamen Gestalt für das Publikum verbinden. Das Los Angeles Theatre, das nach Plänen des Architekten Charles S. Lee zu Beginn der 1930er Jahre errichtet wurde, ist mit der Uraufführung von Charlie Caplins City Lights eröffnet worden. Eine doppelte Premiere also, die ihren Sinn weniger in isolierten Einzelanalysen offenbart, als vielmehr in einem gemeinsam konstituierten Bedeutungsgefüge. Ein typischer Movie Palace? Beim Los Angeles Theatre (Abb. 14) handelt es sich um einen der so genannten Movie Palaces. Es ist somit der Vertreter eines Bautypus, der seit Mitte der 1910er bis in die frühen 1930er Jahre in den USA entstand und dessen „peak years“5 in den 1920er Jahren lagen. Seine film- und architekturgeschichtliche Bedeutung wird in der Regel an dem Umstand festgemacht, es hierbei mit einer 4 Die Autoren danken dem Graduiertenkolleg 5 Charlotte Herzog: The Movie Palace and „Das Wissen der Künste“ an der Universität der the theatrical Sources of its architectural Style. Künste Berlin für die Finanzierung der Bildrech- In: Cinema Journal 20, 2 (1981), S. 15–37, hier te zu den Abbildungen 1, 2 und 5. S. 15. 108 RALF LIPTAU UND MORITZ SCHUMM der ersten Formen genuiner Kinoarchitektur zu tun zu haben. Bis zu diesem Zeitpunkt fanden Filmvorführungen zunächst als Jahrmarktattraktionen in entsprechend improvisierten Buden und später in umgebauten Ladenlokalen oder Theatern statt.6 Die Movie Palaces in den USA waren hingegen die ersten Bauten, die speziell für kinematografische Aufführungen errichtet wurden. Und zum ersten Mal wurden professionelle Architekten engagiert, um sie zu planen. Parallel dazu emanzipierte sich der Film suk- zessive von seiner Eingliederung in ein weitreichendes Programm aus Varieté, Schauspiel und Gesang. Eine Besonderheit des Los Angeles Theatres liegt darin, dass es 1930/31 für einen privaten Bauherrn, H. L. Gumbiner, errichtet wurde. Das rund 2.000 Plätze fassende Kino war damit eines der wenigen, das zu dieser Zeit nicht von einer großen Film-Produktionsfirma, sondern von einem eigenständigen Investor erbaut wurde. Bei der noch heute weitgehend erhaltenen Außenansicht des Los Angeles Theatres fällt zunächst der Anspruch auf städtebauli- che Dominanz auf: Der im Wesentlichen zweigeschossige, breit gelagerte Bau erhebt sich in seiner Mitte durch eine turmartige Erhöhung, die das Kinogebäude innerhalb der Fassadenfront hervorhebt und betont. Um die großflächigen Fenster im ersten Obergeschoss herum, vor allem aber auf der Fassadenfläche des Turms, wird bereits für die Außensicht beinahe alles aufgeführt, was die Architekturgeschichte an Würdeformeln aufzubieten hat: Die beim Los Angeles Theatre insgesamt im Renaissancestil fran- zösischen Vorbilds gehaltene Fassade ist unter anderem geprägt durch korinthische Säulen in monumentaler Ordnung, eine sym- metrisch im Zentrum angelegte apsidiale Einnischung und einen 6 Zu den historischen Vorläufern der Movie Palaces siehe ausführlich: Gregory A. Waller (Hg.): Moviegoing in America. Oxford 2002; aber auch: Herzog 1981 (Anm. 5), S. 18–32; mit Blick auf die deutsche Kinogeschichte siehe auch: Arne Sildatke: Vom Rummelplatz in die Innenstadt. Zur Formation einer Kunstform am Beispiel der Filmpaläste der 1920er Jahre. In: kunsttexte.de 1 (2010). URL: http://edoc. hu-berlin.de/kunsttexte/2010-1/sildatke-arne-3/ PDF/sildatke.pdf (4. Mai 2016). AUFFÜHRUNG (IN) DER ARCHR 109 Abb. 1: Das Los Angeles Theatre, nach Plänen von Charles S. Lee in den Jahren 1930/31 errich- tet. Bauzeitliche Außenaufnahme. Quelle: Theatre Historical Society of America, Elmhurst, Illinois plastisch durchgestalteten, reich geschmückten Giebelbereich. Darunter erstreckte sich das – heute stark umgestaltete – eben- falls reich verzierte und weit über den Gehweg auskragende Vordach, das vor allem durch seine starke Illuminierung in Beziehung zum Außenbau stand. Zahlreiche Glühbirnen erhell- ten die Markise, und durch einen leuchtenden Schriftzug wurde die Fassade auf eine damals neuartige Weise akzentuiert. Das ‚Licht-Spiel-Haus‘ strahlte selbstbewusst in den Stadtraum und unterstrich hierdurch seinen Anspruch als Symbol und Ausdruck einer modernen Lebenswelt, die der Movie Palace maßgeblich durch das noch junge Medium Film repräsentierte. Diese Inszenierung, die eine historisierende Zitatevielfalt mit moderner Beleuchtungstechnik zusammenführt, findet ihre Fortsetzung in der Gestaltung der Innenräume und vor allem des Foyerbereichs (Abb. 2). Von seinem Planer wurde er 110 RALF LIPTAU UND MORITZ SCHUMM Abb. 2: Die repräsentative Geste der Fassade wird im Foyer des Los Angeles Theatres fortge- führt. Bauzeitliche Innenaufnahme. Quelle: Theatre Historical Society of America, Elmhurst, Illinois AUFFÜHRUNG (IN) DER ARCHR 111 explizit in Anlehnung an den Spiegelsaal von Versailles kon- zipiert.7 Zahlreiche Lüster und Lichtquellen sowie ein kristal- lin leuchtender Springbrunnen überführen die ebenso prunk- volle wie eklektizistische Phantasmagorie der Fassade in den Innenraum. Die Kronleuchter illuminieren einen Saal, der sich in den verspiegelten Wandelementen noch virtuell multipliziert und erweitert. Unterhalb des Foyers schließt sich ein weiterer, groß angelegter Saal an, der als holzvertäfelte Lounge zum Aufenthalt diente, während die Besucher auf ihre Filmvorführung warteten. Über ein gläsernes Prisma in der Decke dieses Raumes konnten sie die zu diesem Zeitpunkt schon laufende Vorführung – ohne Ton – im Sinne einer ‚Sneak Preview‘ bereits sehen. Neben diesem zentralen Lounge-Bereich im Untergeschoss verzweigt sich der Bau in eine Vielzahl von Funktionsräumen, die ebenfalls zum Verweilen einluden: Ein Raucherzimmer, ein Spielzimmer für Kinder und ein Musikraum zählen hierzu ebenso wie ein Restaurant und luxuriös ausgestattete Toilettenbereiche. In ihrem Übersichtsband über American Theatres of today unter- streichen Randolph Williams Sexton und Benjamin Franklin Betts aus zeitgenössischer Perspektive die Bedeutung solcher Räumlichkeiten: „Consideration must be given in laying out the plan to the location of rest and smoking rooms. In the larger thea- tres these rooms are of such importance and so elaborately desi- gned and furnished that they give more the air of a club or hotel than of a theatre“.8 Der Beschreibung des Kinos als Gebäude lassen sich ent- sprechende funktionale Qualitäten und Bedeutungshorizonte zuordnen, wie sie sich in gängigen architekturhistorischen Analysen zu den Movie Palaces im Allgemeinen und dem Los Angeles Theatre als einem ihrer Vertreter finden lassen. Die wesentliche Bestimmung der Fassadengestaltung wird von der Architekturhistorikerin Charlotte Herzog pointiert zusammen- gefasst: „All the iconographic features of the exteriour of the movie palace were designed to make the front of the theater a 7 Vgl. Valentine 1994 (Anm. 2), S. 62. 8 R. W. Sexton, B. F. Betts: American Theat- res of Today, Bd. 1. New York 1927, S. 5. 112 RALF LIPTAU UND MORITZ SCHUMM ‚show window’ that invited the customer to attend the perfor- mance“.9 Der Kinoarchitekt E. C. A. Bullock sah die Aufgabe der Kinofassade ganz ähnlich, indem er schrieb: „It must actually be a magnet to draw the people on foot and in vehicles towards its doors“.10 Das prägnanteste Bild hierfür bietet für Valantine die Überlagerung von Innen- und Außenraum, welche das Vordach für die Passanten auf der Straße inszeniert: „Customers may have thought they were only seeing a movie, bur for Lee, the show literally started on the sidewalk; the terrazzo, box office, and mar- quee were previews of the luxury and escape awaiting those who purchased a ticket“.11 Diese Vereinnahmung des städtischen Außenraums – die Ausgestaltung eines „exteriour pocket of space“12 – und die damit anvisierte ‚Sogwirkung‘ wurden auch durch die Illuminierung als besonderes Attraktionselement befördert. In Beziehung zu den historischen Anleihen des Baus steht die Beleuchtung aber auch für das zeitgenössische Bestreben, das Kino für sein Publikum zu nobilitieren. Zunächst vor allem auf dem Jahrmarkt und Rummelplatz zu finden, galt das Kino in seiner Anfangszeit als eine niedrige Unterhaltungsform, die sich erst ihren Rang unter den Künsten erstreiten musste. Die besondere Betonung der Beleuchtung, die das Kino bei Nacht als eine reine Lichtarchitektur im Straßenbild erscheinen ließ, spielte hierbei dann nicht nur mit der Modernität des Films als einem Lichtspiel.13 Sie war zugleich Teil einer übergeordneten Konzeption von Zeichenhaftigkeit im Stadtraum, für die die Kinoarchitektur sich am Formenrepertoire klassischer und kanonischer Architektur bediente. Das Licht als Metapher schrieb das noch junge Medium Film hierdurch in eine Traditionslinie gesellschaftlich legitimierter und angesehener Kunstproduktion ein. Zu dieser Strategie zählte auch die Anlehnung des Baus an europäische Theaterarchitektur, die allein schon durch seine Benennung deutlich wird. So behielt der Innenraum des 9 Herzog 1981 (Anm. 5), S. 16. 11 Valentine 1994 (Anm. 2), S. 60. 10 E. C. A. Bullock: Theater Entrances and 12 Herzog 1981 (Anm. 5), S. 16. Lobbies. In: Architectural Forum XLII, 6 (1925), S. 369–372, hier S. 369. AUFFÜHRUNG (IN) DER ARCHR 113 Kinosaales nicht nur eine Sitzstruktur bei, die Parkett und Balkon unterscheidet. Die Leinwand war darüber hinaus mit einem präch- tig bestickten Theatervorhang und einem Rahmen ausgestattet, der die Filmvorführung an den Blick in eine Guckkastenbühne erinnern ließ. Die besondere Betonung des unteren Foyers im Los Angeles Theatre übernahm zudem wesentliche Aspekte der Pariser Opera Garnier und ihres weitläufigen Foyerbereichs. Ein weiterer Aspekt, der in Bezug auf die Architektur und ihren Gebrauch als Kino häufig Erwähnung findet, führt das bisher Gesagte schließlich zu dem Gesamtbild einer Raumerfahrung zusammen, in der nicht nur Innen und Außen, sondern ebenso Fiktion und Realität in ein ambivalentes Verhältnis miteinan- der treten: Das Kino wird als Überführung von der lebensweltli- chen Realität der Städte und ihres Alltags hin zu den Fantasie- und Illusionswelten des Films verstanden, die bereits auf dem Trottoir ihren Anfang nimmt und sich bis zum Moment des Vorführungsbeginns durchhält. So beschreibt Valentine die Wirkung der Spiegel im Foyer: „These surroundings thrust the ticket holders into the role of actors, causing them to pose and primp before the mirrors“.14 Und Bullock ergänzt: „In reality the lobby must be a place of real interest, a place where the waiting throng may be transformed from the usual pushing, complaining mob into a throng of joyous and contended people“.15 Eine spezielle Raumerfahrung Werbewirksame Inszenierung, Nobilitierung eines neuen Mediums und die Etablierung einer Architektur gewordenen fil- mischen Traumwelt sind die häufigsten Zuschreibungen, die sich um die Analyse der Movie Palaces und deren allgemeine Bedeutung ranken. Der von uns angestrebte, konkrete Blick auf das Erleben der Zuschauenden – und die Bezugnahme auf die damit verbundene Filmvorführung – kann dem gegenüber noch 13 Vgl. zu dieser Argumentation z. B. Sildatke 14 Valentine 1994 (Anm. 2), S. 62. 2010 (Anm. 6). 15 Bullock 1925 (Anm. 10), S. 372. 114 RALF LIPTAU UND MORITZ SCHUMM eine weitere Facette vor Augen führen. Wir werfen deshalb im Folgenden nicht nur den Blick auf das konkrete Gebäude, son- dern vielmehr auf eine historische Situation, in der die Architektur durch die Aufführung eines spezifischen Filmes ihre Gestalt erfuhr. Wir verstehen die Filmvorführung im Kino damit nicht als eine immer in gleicher Weise wiederholbare, also reproduzierbare Darbietungsform. Vielmehr geht es uns darum, das Filmerlebnis als ein einmaliges zu verstehen, das an einen bestimmten Ort und ein konkretes Datum gebunden ist. Bei unserem Fallbeispiel handelt es sich um das bereits genannte Ereignis einer doppelten ‚Uraufführung‘, die am 31. Januar 1931 in Los Angeles einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat: Denn an diesem Tag feierte nicht nur das Los Angeles Theatre seine Premiere und öffnete zum ersten Mal seine Pforten. Dieser feierliche Anlass wurde darüber hinaus mit der Weltpremiere von Charlie Chaplins City Lights begangen. Das damit gegebene Aufeinandertreffen von diesem Film und diesem Gebäude wirft ein spezifisches Licht auf den damit verbundenen Erfahrungsraum dieses Kinos. Losgelöst von seiner konkreten Aufführung im Los Angeles Theatre steht bei einer Betrachtung von City Lights zumeist Charlie Chaplin im Mittelpunkt, der hier sowohl als Regisseur, Produzent, Hauptdarsteller und – erstmals – Komponist agierte. Produktionsästhetische Ansätze betonen dabei insbesondere die verwickelte Entstehungsgeschichte des Filmes. Und gerade am Beispiel von City Lights stehen auch immer der besondere Regie-Stil und das herausragende mimische Talent Chaplins im Vordergrund. So kommt eine Analyse, wie sie beispielsweise Charles Maland liefert, nicht umhin, die Besprechung der letzten Einstellungen mit „The Heartbreaking Ending“16 zu überschrei- ben. Und in Bezug auf einen anderen Film Chaplins, aber durch- aus die Emotionalität von City Lights treffend, schreibt Bertolt Brecht: „Aber er ist das Erschütterndste, was es gibt, es ist eine 14 Valentine 1994 (Anm. 2), S. 62. 16 Vgl. Hierzu die Analyse zu dieser Sequenz in Charles Maland: City Lights. London 2007, 15 Bullock 1925 (Anm. 10), S. 372. S. 93–103. AUFFÜHRUNG (IN) DER ARCHR 115 ganz reine Kunst. Die Kinder und die Erwachsenen lachen über den Unglücklichen, er weiß es: Dieses fortwährende Gelächter im Zuschauerraum gehört zu dem Film, der todernst ist und von erschreckender Sachlichkeit und Trauer“.17 Hierbei, wie im gesamten Film und durch das Œuvre Chaplins, steht die Figur des Tramps im Mittelpunkt, die auch für Brecht das Komische mit einem tragischen Naturalismus verbindet, indem es die Slapstickeinlagen dieser Figur sind, die zugleich belustigen und den metaphorischen Rahmen für eine Gesellschaftskritik abge- ben sollen. Auch dem Publikum des Los Angeles Theatres von 1931 trat diese Figur als Hauptfigur und Fokus der filmischen Bewegungsbilder vor Augen. Die Zuschauenden verfolgten Chaplin bei seinen komischen Verstrickungen mit den Handlungsräumen, durch die das Narrativ ihn – von Szene zu Szene und von Situation zu Situation – stolpern lässt. Im Falle von City Lights bedeutet dies ein beständiges Changieren zwischen extremer Armut und extre- mem Reichtum als zwei Welten, zwischen denen der Tramp hin- und herwechselt. So ist er zu Beginn noch ein heruntergekom- mener Störenfried, der die Einweihung einer Statue durch seine bloße Anwesenheit bereits wieder zu einer Entweihung werden lässt. Indem er aber einen ebenso reichen wie volltrunkenen Lebemann vor dem Selbstmord bewahrt, wendet sich das Blatt für ihn: Überschwänglicher Dank, neue Kleidung, Geld und ein Auto zu seiner Verfügung bieten ihm die Möglichkeit, sein Ziel zu verfolgen, ein Blumenmädchen von ihrer Armut und Blindheit zu befreien. Zumindest bis der Millionär wieder nüchtern ist und seine Erinnerung an den Tramp verloren hat. Erst der nächste Rausch bringt dann ein Wiedererkennen mit sich, bis der nächste Morgen kommt. Dieses Oszillieren des Protagonisten zwischen den Welten wird vor allem über die Ausgestaltung des Bildraums verdeutlicht. Fast komplett im Studio und auf dem Werkgelände von Chaplins 17 Vgl. Bertolt Brecht: Tagebuch. 29. Oktober 1921. In: Dorotheee Kimmich (Hg.): Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne. Frankfurt a. M. 2003, S. 43–44, hier S. 43 f. 116 RALF LIPTAU UND MORITZ SCHUMM Abb. 3: Die Tramp-Figur und der Bildraum der Straße. Still aus City Lights (Charles Chaplin, USA 1931) Produktionsfirma entstanden, offerieren die Außenaufnahmen dennoch das Bild einer gegenwärtigen Stadt, deren Straßen das Zuhause des Tramps sind. Eine Ausnahme bieten die kurzen Phasen des Wohlstands (Abb. 3). Sie führen ihn auch häufiger in Innenräume, und hierbei vor allem in das palastartige Zuhause des Millionärs, dessen Wohnbereich nicht nur luxuriös ausgestat- tet ist, sondern in seiner Einrichtung wie eine Fortführung des Los Angeles Theatres mit kinematografischen Mitteln wirkt: Säulen und hohe Fenster betonen die Vertikalität des Raumes, während die Tramp-Figur in den Polstern der Sofas versinkt. Die Vorhänge im Hintergrund, die kaskadenförmig aufgehängt sind, strukturie- ren und beschließen den Bildraum. Und sie tun dies auch an den Seitenrändern der Leinwand, indem es dort die Theatervorhänge des Kinosaals selbst sind, die sich um das Bewegungsbild des Filmes legen (Abb. 4 und 5). Es sind diese Momente, in denen die Begegnung aus Bau und Film eine besonders prägnante Erfahrbarkeit für das AUFFÜHRUNG (IN) DER ARCHR 117 Abb. 4: Von der Straße in den Innenraum: Der ‚Tramp‘ in mondänem Umfeld . Still aus City Lights (Charles Chaplin, USA 1931) zeitgenössische Publikum offeriert. Denn sie bietet das Potenzial einer Einfaltung des Vorführsaales in die Leinwand oder umge- kehrt: der Verlängerung des filmischen Handlungs- in den tat- sächlichen Publikumsraum. In beiden Richtungen etabliert sich hierdurch eine Verbindung zwischen der kinematografi- schen Illusion und der konkreten Architektur, in der man als Zuschauer Platz genommen hat. Mehr noch: Angeleitet durch diese Überschneidung der fiktiven und realen Räume findet eine doppelte kinematografische Erzählung zu ihrem Ausdruck. Der Moment der Durchlässigkeit deutet auf einen Rezeptionsmodus, der die Verlaufsform der Bewegungsbilder auf der Leinwand in Korrespondenz mit der Bewegung der Zuschauerinnen bis vor die Leinwand nachvollziehen lässt: Die filmische Bewegung von der Straße in die schlossartige Villa reflektiert den Gang durch die Straßen von Los Angeles und in das mondäne Los Angeles Theatre, um sie als den Wechsel zwischen Armut und Reichtum zu inszenieren. Getragen wird dieser Eindruck von 118 RALF LIPTAU UND MORITZ SCHUMM Abb. 5: Die opulente Gestaltung des Kinosaals kommt stellenweise mit der Bildwelt von City Lights zur Deckung. Bauzeitliche Innenaufnahme. Quelle: Theatre Historical Society of America, Elmhurst, Illinois einer historischen Gegenwart. Schließlich war es die Zeit der Great Depression nach dem Black Thursday von 1929, deren Auswirkungen die 1930er Jahre beherrschten und ein städtisches Umfeld bildeten, das durch wachsende Armut und eine zuvor nicht dagewesene Arbeitslosigkeit gekennzeichnet war. Damit verstärkte sich der Effekt, den Sexton und Betts schon 1927 beschrieben hatten: „An unusual condition has […] been brought about. The masses, revelling in luxury and costly beauty, go to the theatre, partly, at least, to be thrilled by the gorgeousness of their surroundings which they cannot afford in their home life“.18 Das Los Angeles Theatre verschrieb sich in seiner Verbindung aus Film und Architektur also nicht nur dem Vorsatz, dem Film als Medium Anerkennung zu verschaffen. Vielmehr kam der Architektur die Rolle zu, den Film auf der Ebene der Wahrnehmungsangebote zu begleiten. Dabei beschränkte sich das Gebaute aber eben nicht darauf, mit seinen Mitteln ledig- lich eine Fiktionalisierung anzubieten, die einem allgemeinen AUFFÜHRUNG (IN) DER ARCHR 119 Illusionsraum des Films entspräche. Mit der Aufführung von Chaplins Film nahm die architektonische Phantasmagorie viel- mehr ganz konkrete Züge an: Der Film strahlte über seine Grenzen hinaus, der Bau strahlte in die Leinwand hinein. Soziale Differenzen fanden in dieser kinematografischen Gestalt aus Bau und Film zu einer Inszenierung, die sie nur einen Steinwurf von- einander entfernt und überwindbar erscheinen ließen. In diesem Sinne formulierte Charles Lee selbst: „The idea behind the big movie palaces was that people could go in for only twenty-five cents and feel like royalty. They could sit on velvet seats under crystal chandeliers, in an atmosphere that was much grander and more lavish than anything else they knew“.19 Fazit Film und Architektur stehen für zwei unterschiedene Weisen der Wahrnehmung, die ihren Niederschlag für die Wissenschaft in zwei distinkten Disziplinen finden. Dennoch weisen sie auch starke Beziehungen zueinander auf. Die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch spricht in diesem Sinne von einem erfahrungs- spezifischen Reflexionsverhältnis, in dem beide Phänomene ihre Vorzeichen füreinander verkehren: Während die Wahrnehmung des Baus „jenseits seiner funktional geplanten Gebrauchsformen“ die Körperbewegung des Betrachters vor- aussetzt, verfahre der Film „auf den ersten Blick genau umge- kehrt […]. [N]ur rudimentäre Bewegungen der Augen und soma- tische Innervationen des Körpers verweisen auf die motorische Kopplung des Gesichtssinns. Dafür bewegt sich die Kamera, verschieben sich die Bild- und Blickachsen auf der Leinwand in unserer Wahrnehmung umso mehr“.20 Das Kino kann in diesem Sinne als konkrete Ausformulierung dieser Beziehung verstanden werden, indem beide Seiten in engen Kontakt miteinander gesetzt werden, sich überschneiden und gegenseitig interpretieren. Denn ‚ins Kino gehen‘ bedeutet 18 Sexton, Betts 1927 (Anm. 8), S. 14. 19 Zitiert nach: Karen June Safer: The Func- tions of Decoration in American Movie Palace. In: Marquee 14, 2 (1982), S. 3–9, hier S. 6. 120 RALF LIPTAU UND MORITZ SCHUMM eben auch immer, sich auf diese doppelte kinematografische Erfahrung einzulassen – einen Kinofilm in einem Kinogebäude zu sehen. Was im Allgemeinen als Diskursivierung des Kinobesuchs verstanden werden kann, gewinnt seinen besonderen Ausdruck in Momenten, in denen die beiden Raumwahrnehmungen zu einer exponierten Einheit finden. Die Premiere von Chaplins City Lights im Los Angeles Theatre bringt dies exemplarisch auf den Punkt, wenn die filmische Narrationsbewegung und ihre Bildräume sich in den Bewegungsabläufen der Zuschauerinnen und der sie anleitenden mise en scène des Kinogebäudes reflektieren. Man hat es schließlich mit einem Erleben zu tun, das sich kaum wiederholen lässt, sondern im Hier und Jetzt sei- ner Wahrnehmbarkeit aufgeht. Die Reproduzierbarkeit und Wiederholbarkeit des Films sowie die Festigkeit der auf Dauer ausgelegten Bauten begegnen hierin einer Perspektive, die sie zusammen unter dem Aspekt ihrer Aufführung und instantanen Erfahrbarkeit anspricht. Das mag Strukturierungen andeuten, die ebenso ephemer wie kontingent wirken gegenüber einer objekti- vierbaren und allgemeingültigen Verortung. Zugleich deuten sich jedoch auch Horizonte an, in denen Film und Gebäude mehr sind als ihre signifikanten Manifestationen. Sie sind durch die Augen der Zuschauer und Besucherinnen auch immer eine gemeinsame Erscheinungsweise, die einen ganz eigenen Sinn produziert und auf diese Weise wahrgenommen wird. 20 Gertrud Koch: Einleitung. In: Dies.: Umwid- mungen. Architektonische und kinematographi- sche Räume. Berlin 2005, S. 7–20, hier S. 10 f. AUFFÜHRUNG (IN) DER ARCHR 122 MARTIN DOLL MARTIN DOLL Architekturwahrnehmung im Gebrauch Haptische Rezeption, Propriozeption und ‚beiläufiges Bemerken‘ Walter Benjamin spricht in seinem Kunstwerk-Aufsatz von der Architekturwahrnehmung „durch Gebrauch“ und „Gewohnheit“. Diese Rezeptionsformen werden mit Überlegungen des Philosophen Brian Massumi in eine produktive Verbindung gebracht, um die nicht-visuellen, haptischen beziehungsweise propriozeptiven Dimensionen der Architekturwahrnehmung genauer zu analysieren. Dies wird konzeptuell an Benjamins Überlegungen zur Architekturrezeption „in einem beiläufi- gen Bemerken“ gekoppelt, um zu zeigen, dass es insbeson- dere in Plansequenzen in Spielfilmen ins Werk gesetzt wird. Abschließend wird gefragt, ob sich daraus Erkenntnisse für den Gestaltungsprozess von Architektur gewinnen lassen oder warum nicht. Der Beitrag soll sich unter dem Stichwort ‚Architekturrezeption im Gebrauch‘ besonderen Formen der Wahrnehmung von Gebäuden widmen, insbesondere, wie man sich darin ori- entiert und wie man sie in Bewegung erfährt.1 Dafür werden Walter Benjamins Überlegungen zur ‚taktischen Rezeption‘ mit Gedanken des kanadischen Philosophen Brian Massumi 1 Bei diesem Text handelt es sich um eine veränderte wie auch deutlich gekürzte Fassung eines bereits publizierten Artikels mit einem Fo- kus auf dem Moment der Zerstreuung: Martin Doll: Architektur und Zerstreuung. ‚Gebrauch‘, ‚Gewohnheit‘ und ‚beiläufiges Bemerken‘. In: figurationen 16 (2015), H. 2, S. 25–44. ARCHITEKTURWAHRNEHMUNG IM GEBRAUCH 123 zur körperlichen Wahrnehmung in ein produktives Verhältnis gebracht. Der Weg wird von der haptischen zur propriozepti- ven Rezeption und von dort über das beiläufige Bemerken zur ungerührten Rezeption führen, um schließlich zu fragen, in wel- chem Verhältnis Architektur und Spielfilm gedacht werden kön- nen. Dies soll am Ende auf den Vorschlag hinauslaufen, dass die medienkulturwissenschaftliche Architekturbetrachtung selbst zerstreut vorzugehen hat, um das Ephemere ihres Gegenstands nicht zu verfehlen. Rezeption in der Zerstreuung Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz ist berühmt geworden für die Formel von der „Rezeption in der Zerstreuung“,2 vor allem im Zusammenhang mit der Schockwirkung durch die auf den Zuschauer geschossartig zustoßenden Bilder von Filmen als solchen. Der Aufsatz ist hier von besonderem Interesse, weil Benjamin in dessen dritter Fassung das erste Mal überhaupt von der „Rezeption in der Zerstreuung“ in Verbindung mit der Architektur spricht: „Bauten werden auf doppelte Art rezipiert: durch Gebrauch und durch Wahrnehmung. Oder besser gesagt: taktisch und optisch. Es gibt von solcher Rezeption keinen Begriff, wenn man sie sich nach Art der gesammelten vorstellt, wie sie z. B. Reisenden vor berühmten Bauten geläufig ist. Es besteht näm- lich auf der taktischen Seite keinerlei Gegenstück zu dem, was auf der optischen die Kontemplation ist. Die taktische Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit. Der Architektur gegenüber bestimmt diese letztere weitgehend sogar die optische Rezeption. Auch sie findet von Hause aus viel weniger in einem gespannten Aufmerken als in einem beiläufigen Bemerken statt“.3 2 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeit- 3 Ebd. alter seiner technischen Reproduzierbarkeit [Dritte Fassung]. In: Ders.: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Christoph Gödde, Henri Lonitz. Bd. 16. Hg. v. Burkhardt Lindner. Berlin 2013, S. 96–141, hier S. 137. 124 MARTIN DOLL Bemerkenswert sind an diesen Betrachtungen gleich mehrere von Benjamin an Zerstreuung geknüpfte Wahrnehmungserfahrungen, und zwar, gerafft formuliert, die Rezeption „durch Gebrauch“, „taktisch und optisch“, „auf dem Weg der […] Gewohnheit“ und „in einem beiläufigen Bemerken“. Denn diese Überlegungen ste- hen ganz im Gegensatz zur geläufigen beziehungsweise häufig geforderten Auseinandersetzung mit Architektur, sei es vonsei- ten der beteiligten Personen in der Architektur, Bauherrenschaft oder Wissenschaft. Darin kommt nämlich der genauesten Beachtung beziehungsweise Beurteilung von Details einerseits und der formalen Gesamtgestaltung andererseits (vor allem des Gebäudeäußeren) höchste Priorität zu. Das zeigt sich allein schon daran, wie Gebäude meistens visuell repräsentiert wer- den: nämlich als totale Außenansicht. Was wäre aber, wenn sowohl die visuelle Akribie als auch die Fokussierung auf das Außen genau ihr Ziel verfehlte, weil Architektur – wie Benjamin doppeldeutig hervorhebt – „von Hause aus“ eben gerade beiläufig, das heißt nebenbei und unwillkürlich und zudem meist in ihrem Inneren, beim Gebrauch wahrgenom- men wird? Und was gibt diese Beiläufigkeit genauer zu denken? Wie führt diese Haltung ferner die Aufmerksamkeit weg von buchstäblich spektakulären Bauten und ihren invariablen forma- len Qualitäten? Um dies im Einzelnen zu erarbeiten, lassen sich die soeben bei Benjamin hervorgehobenen Wahrnehmungsmomente in eine Vielzahl von Bedeutungen auflösen, in deren Gravitationsfeldern, wie eingangs angedeutet, auch neuere Wahrnehmungskonzepte eingebracht werden können. Haptische Rezeption Zunächst macht Benjamin auf der Ebene der taktischen Rezeption gegenüber der kontemplativen Betrachtung eine qua- litative Verschiebung geltend. Es kommt im Falle der Architektur nicht darauf an, ein Antonym zu finden, der Kontemplation (bei der konzentrierten Betrachtung eines Gemäldes) etwas gegen- überzustellen, sondern mit der taktischen Rezeption eine völlig ARCHITEKTURWAHRNEHMUNG IM GEBRAUCH 125 neue Wahrnehmungslogik evoziert zu sehen, nämlich die der Gewohnheit und des Gebrauchs. Wichtig erscheint hier, weni- ger von einem selbstbestimmten, mit sich selbst identischen Subjekt aus zu denken, das heißt nicht von einer intentional eingenommenen Haltung, die Zerstreuung sucht, auszugehen. Vielmehr geht es um die Relationen, die sich durch Bauten und deren Gebrauch ergeben; genaugenommen um die Intrarelation beider Momente, um eine, mit Benjamin gesprochen, „an der Architektur gebildete Rezeption“.4 Es handelt sich, wenn man so will, um das Zusammenspiel aus leibrelativem Raum und raum- relativem Leib, fokussiert auf die historischen „Veränderungen der Wahrnehmung“.5 Doch wie lässt sich das „taktisch“ fassen? Der Begriff ist schon an zahlreichen Stellen erörtert und interpretiert wor- den.6 Schlüssig scheint es, ihn im Rückgriff auf eine Quelle Benjamins, Alois Riegls Die spätrömische Kunstindustrie, als haptische Wahrnehmung zu begreifen.7 Dies hat eine Vielzahl an Konsequenzen, wie man in Anlehnung an den Germanisten Paul North rekapitulieren kann: Denn in seiner haptischen Dimension wird die Wahrnehmung der Architektur buchstäblich zu einem Begreifen in Bewegung, oder vielmehr zu einer Wahrnehmung, die „nicht fixiert werden“ kann.8 Anders gesagt, die haptische Wahrnehmung darf nicht still gestellt werden: Man kann etwas nur ertasten, wenn man in Bewegung bleibt. Sobald man sein Abtasten unterbricht, verliert man die genaue Sinnempfindung des Objekts zugunsten des reinen Gefühls eines Kontakts. Mehr 4 Ebd. 7 Alois Riegl: Die spätrömische Kunstindus- trie nach den Funden in Österreich-Ungarn. 5 Ebd., S. 102. Wien 1901. Bei Riegl, der im Unterschied zu 6 Vgl. eine Übersicht dazu und auch zu den Benjamin nicht wahrnehmungs-, sondern Konjekturen hin zum ‚Taktilen‘ in der Benja- kunstgeschichtlich argumentiert, dient der min-Edition von Rolf Tiedemann und Hermann Begriff ‚taktisch‘ allerdings dazu, wie Wilke Schweppenhäuser: Tobias Wilke: Medien der (2010, Anm. 6, S. 205) zusammenfast, eine Unmittelbarkeit. Dingkonzepte und Wahrneh- Darstellungsweise bestimmter Kunstwerke zu mungstechniken 1918–1939. München 2010, bezeichnen, bei der haptische und materielle S. 189–219. Qualitäten visuell widergegeben sind. Benjamin ist es aber v.a. um ein tatsächliches Berühren zu tun, um den direkten Kontakt mit der Archi- tektur. 8 Benjamin 2013 (Anm. 2), S. 136. 126 MARTIN DOLL noch: „[T]ouch […] either loses by becoming accustomed to its object or else it continues to perceive it by passing by and failing to keep track“.9 Es handelt sich also um Erfahrungen, die jeweils nur um den Preis eines Verlusts zu haben sind. Um dies noch etwas zuzuspitzen und der Benjaminschen radika- len Privilegierung einer taktischen beziehungsweise haptischen gegenüber einer optischen Rezeption Rechnung zu tragen, erscheint es sinnvoll, mit ihm und über ihn hinaus eine weitere haptische Dimension hinzuzunehmen,10 und zwar in Verbindung mit seinen Begriffen der Gewöhnung und des Gebrauchs die sogenannte Propriozeption, wie sie von Brian Massumi theore- tisch gefasst wurde.11 Propriozeption Interessanterweise verweist Massumi in einer Fußnote selbst auf die Nähe seiner Überlegungen zu Benjamins Einsichten.12 Seine Thesen leitet er mit einer konkreten Erfahrung räumlicher Konfusion ein: Vor einigen Jahren sei ihm an einem bestimmten Zeitpunkt bewusst geworden, dass er von einem von ihm tem- porär bezogenen Büro des Canadian Centre for Architecture einen Blick nicht nach Norden, sondern nach Osten gehabt habe, obwohl er die entsprechende Straße beiläufig immer in der Nordansicht wahrgenommen, ‚gesehen‘ habe. Dies erklärt er damit, dass es neben der visuellen eine implizite und nur schwer explizit zu machende Ortskenntnis geben müsse – ein Wissen, das in seinem Fall, auch wenn es falsch war, mit der visuellen Wahrnehmung interferierte. Diese implizite Ortskenntnis fasst er dezidiert als nicht-visuelle beziehungsweise 9 Paul North: The Problem of Distraction. 11 Ich danke Julia Bee für viele wichtige Hin- Stanford 2012, S. 163. weise auf die Bezüge Brian Massumis auf die Architektur. 10 Im Grunde wäre es denkbar, den Fundus an vernachlässigten Sinneswahrnehmungen im 12 Brian Massumi: Parables for the Virtual. Zusammenhang mit der Architektur auszu- Movement, Affect, Sensation. Durham, London weiten, z. B. auch auf auditive, olfaktorische 2002, S. 289. Fernsinne oder auf einen weiteren Nahsinn, wie den Hautsinn, der Kälte und Wärme oder zum Beispiel einen Luftzug bemerkt. ARCHITEKTURWAHRNEHMUNG IM GEBRAUCH 127 körperliche Erinnerung und bringt sie mit der Propriozeption (Tiefenwahrnehmung) in Verbindung.13 Um eine Definition anzufüh- ren: „Propriozeption ist die Wahrnehmung der Position des eigenen Körpers bzw. der Lage/Stellung einzelner Körperteile zueinander“.14 Die habitualisierte Form räumlicher Bezugnahme – wir merken uns unsere Wege eher in aufeinander bezogenen Schritten als in abs- trakt messbaren Metern – lässt für Massumi geradezu die visuelle Orientierung in den Hintergrund treten. Besonders wichtig ist ihm, dass die Elemente der Propriozeption immer relational bestimmt sind, nämlich als von der Summe der Propriozeptoren differentiell wahrgenommenes Sich-Drehen und Abbiegen.15 Es ist darüber hinaus ein radikal nichtbegriffliches, leibliches Wahrnehmen und Orientieren, das wiederum kognitiv mit der visuellen und gestalt(wieder)erkennenden Wahrnehmung ver- knüpft wird. Es gilt, diese Verknüpfung nicht zu vergessen, damit man mit der Überbetonung der Propriozeption, die zur Haptik gehört, um mit dem Philosophen Jacques Derrida zu sprechen, nicht in eine ‚haptozentristische Metaphysik‘ abdriftet:16 Mit die- ser begrifflichen Wendung warnt Derrida vor der Annahme, dass durch Haptik ein unvermittelterer Weltzugang möglich wäre als per optischer Rezeption (die auf ein durch die Kognition vermit- teltes Erfassen zurückgeführt wird). Jegliche Wahrnehmung ist aber, so schon Benjamin, selbst als Medium zu begreifen. Denn wenn er prononciert vom „Medium der Wahrnehmung“ spricht,17 versteht er sie, wie Georg Christoph Tholen treffend formu- liert, als „nicht durch ihre natürliche Gegebenheit hinreichend bestimmt“, sondern „immer schon vom Künstlichen affiziert“.18 Für Massumi treffen bei der Raumwahrnehmung Vektorraum (Propriozeption) und messbarer, visualisierbarer euklidischer 13 Ebd., S. 178 f. 17 Benjamin 2013 (Anm. 2), S. 102. 14 Clemens Kirschbaum: Biopsychologie von 18 Georg Christoph Tholen: Medienwissen- A bis Z. Heidelberg 2008, S. 229. schaft als Kulturwissenschaft. Zur Genese und Geltung eines transdisziplinären Paradigmas. 15 Vgl. Massumi 2002 (Anm. 12), S. 183. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 132 (2003), S. 35–48, hier S. 46. 16 Jacques Derrida: Berühren, Jean-Luc Nan- cy. Übers. v. Hans-Dieter Gondek, Berlin 2007, S. 156, 202. 128 MARTIN DOLL Raum aufeinander; auf eine Weise nämlich, die ähnlich zur bereits weiter vorn mit Benjamin entwickelten tastenden Wahrnehmung in Bewegung gedacht werden kann: So wie das Gefühl für die besonderen Qualitäten eines Gegenstand verschwindet, wenn wir das Abtasten unterbrechen, können wir eine akkurat messbare beziehungsweise eine visuell bestimmbare Position im Raum nur dann erlangen, wenn wir die Bewegung unterbrechen, um innezu- halten und nachzudenken. Damit kommt es aber zur Deprivation unserer propriozeptiven Wahrnehmung, wie Massumi schreibt: „Cognitive mapping takes over where orientation stops“.19 Der Orientierungsprozess verliere dadurch nämlich seine spezifische Charakteristik, werde ‚euklidisiert‘. Und umgekehrt: Um unsere propriozeptive Wahrnehmung wieder zu erlangen, müssen wir mit- unter die visuelle in den Hintergrund treten lassen, einen Fixpunkt aufgeben und uns in Bewegung setzen (als Beispiel dient Massumi, dass Menschen, die sich verlaufen haben, sich normalerweise von ihrem Blickgegenstand, etwa einem Gebäude, abwenden, wenn nicht sogar ihren Blick unbestimmt suchend gen Himmel rich- ten).20 Wieder geht es also um ein Wahrnehmen, das nur um den Preis eines Verlustes zu haben ist. Dennoch lässt sich im Wechselspiel aus visueller Fixierung und pro- priozeptiver Orientierung in gewisser Hinsicht der (nicht-visuellen) Perzeption im Kontext des (zumindest gewohnheitsmäßigen, das heißt wiederholten) ‚Gebrauchs‘ von Bauten eine gerne unterschätzte besondere Relevanz zusprechen. Um hier noch ein Beispiel anzufüh- ren: In unserer eigenen Wohnung wissen wir propriozeptiv auch bei Nacht, wo die Lichtschalter zu betätigen sind. Umgekehrt führt die- ses fehlende implizite Wissen zum Beispiel im dunklen Hotelzimmer oder in einer fremden Wohnung – Räumen, die wir uns noch nicht angeeignet haben – zum umherirrenden Tasten.21 19 Massumi 2002 (Anm. 12), S. 180; vgl. a. 21 Vgl. Richard Charles Strong: Habit, Dist- S. 183. raction, Absorption. Reconsidering Walter Ben- jamin and the Relation of Architecture to Film. 20 Ebd., S. 182. In: Nadir Lahiji (Hg.): The Missed Encounter of Radical Philosophy with Architecture. London 2014, S. 163–181, hier S. 169. ARCHITEKTURWAHRNEHMUNG IM GEBRAUCH 129 Beiläufiges Bemerken und optische Rezeption Bislang war mit Massumi von der Signifikanz der leiblich-nicht- begrifflichen Wahrnehmung die Rede (und der Gefahr, in eine Haptometaphysik abzudriften). Mit der nichtbegrifflichen Wahrnehmung wird die visuelle Wahrnehmung jedoch auch bei Benjamin nicht ganz obsolet; er spricht nicht umsonst von „tak- tisch und optisch“ und davon, dass die Gewohnheit selbst die optische Rezeption bestimme.22 In diesem Sinne könnte man im Zusammenhang mit der Architektur neben der fixierenden, inne- haltenden visuellen Wahrnehmung, in Benjamins Worten „einem gespannten Aufmerken“,23 wie sie Massumi der propriozeptiven zur Seite stellt, noch eine dritte Form der Rezeption ins Spiel brin- gen – eine, die beiden sowohl entgegengesetzt ist als auch an ihnen Teil hat. Denn es handelt sich Benjamin zufolge einerseits um eine optische Rezeption, andererseits aber um ein dem fixieren- den Blick, der Kontemplation entgegengesetztes, am Haptischen geschultes Sehen in Bewegung, um ein „beiläufiges Bemerken“, ein Bemerken im Zerstreuten, das heißt ebenfalls in einem nicht begrifflich erfassenden, gedankenlosen Vorübergehen.24 Den Großteil baulicher Anordnungen nehmen wir nämlich mit einem peripheren, unscharfen Blick, en passant, wahr, mit einem Blick wiederum, der – wie man wahrnehmungspsychologisch erforscht hat – vor allem Bewegungen registriert. Er ist keineswegs als Unaufmerksamkeit, sondern, um wieder einen Begriff Benjamins aufzugreifen, durchaus mit „Geistesgegenwart“ zusammen zu denken:25 „To be on the watch“, gibt die Philosophin Elie During zu bedenken, „is to pay lateral attention to what is happening on the side of a main activity – in the fringes“.26 Daran anschließend lässt sich die methodische Frage stellen, wie der optischen Rezeption von den Rändern her genauer gefolgt werden kann. 22 Benjamin 2013 (Anm. 2), S. 137; Hervorhe- 26 Elie During: Loose Coexistence: Techno- bung durch den Autor. logies of Attention in the Post-Metropolis. In: Deborah Hauptmann, Warren Neidich (Hg.): 23 Ebd. Cognitive Architecture. From Biopolitics to Noopolitics. Architecture & Mind in the Age of 24 Ebd. Communication and Information. Rotterdam 2010, S. 267–283, hier S. 277. 2 5 Benjamin 2013 (Anm. 2), S. 136. 130 MARTIN DOLL Ungerührte Rezeption Eine gestrichene Stelle aus dem Manuskript der ersten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes ist in diesem Zusammenhang erhel- lend: Dort betont Benjamin, dass ein Zeitgenosse einen romani- schen Dom im Vergleich zum heutigen Kunstfreund eher unge- rührt rezipiert habe: „Ungefähr wie für den heutigen Menschen das Betreten einer Garage“.27 Entscheidend sei (und hier findet sich ein weiterer Gegenbegriff zum „gesammelten“, „gespannten Aufmerken“),28 das „interesselose [entspannte] Betreten“.29 Mehr noch: Dieser Fokus auf die Interesselosigkeit ist für Benjamin selbst in die zeitspezifische Ästhetik des Gebäudes eingegan- gen. Daraus schließt er auf eine Art Imperativ, insofern sich bei einem gelungenen Gebäude die Gewöhnung daran und dessen repräsentative Erscheinung immer wechselseitig zu durchdrin- gen hätten. Dadurch also, dass einem solchermaßen konzipier- ten Gebäude immer auch die Aufgabe zukommt, dem zeitgenös- sischen Lebensgefühl Ausdruck zu verleihen, erhält es seinen besonderen „Stil“.30 27 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeit- 30 Ebd. An dieser Betonung der bewegten alter seiner technischen Reproduzierbarkeit Erfahrung sind wie auch schon am Begriff der [Erste Fassung]. In: Ders.: Werke und Nachlaß. „Durchdringung“ deutlich Einflüsse Sigfried Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Christoph Giedions erkennbar, dessen Buch Bauen in Gödde, Henri Lonitz. Bd. 16: Das Kunstwerk Frankreich Benjamin nachweislich rezipiert, im Zeitalter seiner technischen Reproduzier- nämlich im Passagenwerk ausführlich exzer- barkeit. Hg. v. Burkhardt Lindner. Berlin 2013, piert und kommentiert hat. Mit „Durchdringung“ S. 7–46, hier S. 32. Es ist zu vermuten, dass bezeichnet Giedion im genannten Buch ein Benjamin diese Streichung vorgenommen hat, ganzes Spektrum an architektonisch inein- weil dadurch die kollektive Rezeption zu sehr andergreifenden Momenten, z. B. neben dem aus dem Blick geraten war. Innen und Außen auch auf einer übergeordne- ten Ebene den gebauten Raum und die soziale 28 Benjamin 2013 (Anm. 2), S. 137. Wirklichkeit. An die Stelle der Objekthaftigkeit der Architektur habe der Fokus auf räumliche 29 Ebd., S. 33. Das Zitat umfasst die Strei- Relationen zu treten, die nur in Bewegung er- chungen und Annotationen des Manuskripts. fahren werden könnten – womit die Architektur insgesamt auf das Transitorische der Moderne Bezug zu nehmen habe (Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich, Bauen in Eisen, Bauen in Eisenbeton. Leipzig 21928, S. 107; vgl. a. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Bd. 5. Frankfurt am Main 1991). ARCHITEKTURWAHRNEHMUNG IM GEBRAUCH 131 Wieder begegnet Benjamin in diesem Zusammenhang auch der Gefahr, dies zu sehr auf ein intentionales Subjekt zu bezie- hen, mit einer dezidierten Externalisierung beziehungsweise Desubjektivierung, wenn nicht sogar Dehumanisierung der Wahrnehmung. Denn die Entspanntheit im menschlichen Gebrauch vergleicht er interessanterweise mit der Ungerührtheit „ein[es] Gefährt[s], das in seine Garage gefahren wird“.31 Hervorzuheben an diesen Stellen ist, dass Benjamin diese „ent- menschte[n]“32 Rezeptionserfahrungen mit Aspekten der Mobilität verknüpft: Wenn er das Betreten mit einem Gefahrenwerden gleichsetzt, geht es hier also dezidiert um eine unwillkürliche Erfahrung in Bewegung. Man könnte nun meinen, damit würde der periphere Blick beim ruhigen Aufenthalt in einem Gebäude zweitrangig. Aber selbst auf diesen Einwand scheint Benjamin zu reagieren, und zwar erneut im Bildfeld der Garage. Er erklärt das Zusammenspiel aus taktischer Rezeption und Zerstreuung mit einer anderen Beiläufigkeit, nämlich mit der Konzentration auf etwas ande- res: „Der Automobilist, der mit seinen Gedanken ‚ganz woan- ders‘, zum Beispiel bei seinem schadhaften Motor ist, wird sich an die moderne Form der Garage besser gewöhnen als der Kunsthistoriker Stilkritiker, der sich vor ihr aufbaute , um ihren Stil zu ergründen“.33 Ausgehend von den Benjaminschen Überlegungen zum „beiläu- figen Bemerken“ und zur „ungerührten Rezeption“ von Bauten ließe sich in einem weiteren Schritt die Frage aufwerfen, wie man diese Wahrnehmungsformen in medialen Repräsentationen von Architektur in besonderer Weise evozieren beziehungsweise bewahren könnte. 31 Benjamin 2013 (Anm. 2), S. 33. 32 Walter Benjamin: Erfahrung und Armut. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Bd. 2. Frankfurt am Main 1991, S. 212–219, hier S. 216. 33 Ebd. 132 MARTIN DOLL Architektur in Bewegung: Spielfilm Hier geht es also eher um die pragmatische Frage, wie zeitbasierte Bilder die Art und Weise alltäglicher Architekturaneignung wahr- nehmbar machen können – und dies stimmiger als maßstabs- getreue Modelle aus Kapa Platten oder spektakuläre Drohnen- Fotos. Es soll hier darüber hinaus die These aufgestellt werden, dass es weniger genau die Blicke lenkende Dokumentarfilme oder Computer Aided Design-Animationen, sondern eher Spielfilme leisten können, ein beiläufiges Bemerken, wie es typisch für den Architekturgebrauch ist, buchstäblich in Szene zu setzen. Exemplarisch lassen sich dafür Plansequenzen aus der Filmgeschichte anführen. Sie eignen sich besonders für die Architekturdarstellung, weil – mit Eric Rohmer gesprochen – der ‚Architekturraum‘, in dem sich die Kamera bewegt, im ‚Filmraum‘ weniger geformt erscheint, als wenn er durch Montage synthe- tisiert wäre und Letzterer damit eine größere Kongruenz zum ‚Architekturraum‘ aufweist.34 Als besonderes Beispiel kann man Gus van Sants Elephant (2003) ansehen. Denn in dem Film erfährt man mehr vom gewohnheitsmäßigen Aufenthalt in einer durchschnittlichen amerikanischen High School, als es jeder Dokumentarfilm bewerkstelligen könnte, weil der Film die verschiedenen Kommunikationsmöglichkeiten innerhalb des Gebäudes über mehrere konsequent an einzelne Protagonisten gekoppelte Plansequenzen erschließt. Die Architekturwahrnehmung in Form eines beiläufigen Bemerkens wird dabei zum einen über die langen Kamerafahrten, zum anderen über die je nach Beleuchtungssituation zum Teil sehr geringen und selektiven Schärfentiefen, häufig verbunden mit der Fokussierung auf 34 Eric Rohmer: Murnaus Faustfilm. Analyse die der räumlichen und zeitlichen Einheit des und szenisches Protokoll. München, Wien 1980, Bildes abzugewinnen sind“, zum Beispiel weil S. 10 u. passim. Frz. Original: L’Organisation de die Aufmerksamkeit nicht im selben Maße ge- l’espace dans le „Faust“ de Murnau. Paris 1977. steuert werde (André Bazin: Was ist Film? Hg. Der Filmkritiker André Bazin betont interessan- v. Robert Fischer. Übers. v. Robert Fischer und terweise im Zusammenhang mit seiner Absage Anna Düpee. Berlin 2009, S. 102 f.). an die Montage die „besonderen Effekte“ […], ARCHITEKTURWAHRNEHMUNG IM GEBRAUCH 133 Abb. 1–8: Gus van Sant, Elephant, USA 2003, Film-Stills 134 MARTIN DOLL Abb. 9–12: Brian de Palma, Carlito’s Way, USA 1993, Film-Stills ARCHITEKTURWAHRNEHMUNG IM GEBRAUCH 135 eine einzelne Person induziert. Obwohl die in der Filmerzählung rekonstruierten Ereignisse gleichzeitig stattfinden, werden sie auf der Darstellungsebene nacheinander angeordnet. Durch die verschiedenen Sequenzen, die vornehmlich aus langen Gängen spezifischer Schülerinnen und Schüler durch das Gebäude bestehen – lernt man so nach und nach nicht nur die Relationen der Figuren untereinander immer genauer kennen, sondern (im wahrsten Sinne des Wortes) im Hintergrund auch die Anlage des Gebäudes beziehungsweise die einzelnen Räumlichkeiten, die Raumbeziehungen und die dadurch entstehenden oder ver- hinderten kommunikativen Treffpunkte (Abb. 1–8). Ebenfalls als Plansequenz gestaltet ist der in der New Yorker ‚Grand Central Station‘ spielende Showdown von Carlito‘s Way (1993), einem Film von Brian de Palma. Auch darin werden den Zuschauerinnen und Zuschauern unwillkürlich die baulichen Gegebenheiten des Bahnhofs durch die vom Protagonisten (gespielt von Al Pacino) auf der Flucht genutzten zahlreichen Durchsichten, Kommunikationswege und Verstecke vergegen- wärtigt (Abb. 9–12). An diese gelungenen Beispiele anknüpfend, ließe sich abschlie- ßend die Frage stellen, ob daraus auch eine Praxisperspektive für das Entwerfen von Architektur zum Beispiel bei der Modellerstellung im Computer-Aided-Design abzuleiten ist. Denn auch während den diversen Planungs- und Präsentationsphasen von Gebäuden spielen dynamische Ansichten 35 sowie soge- nannte zeitbasierte Medien mittlerweile eine immer größere Rolle. Für Brian Massumi sind selbst die computergestützten topolo- gischen Designtechniken, so eine entscheidende Pointe seines Texts, zu wenig abstrakt, um den beschriebenen ineinander 35 Albena Yaneva thematisiert dies zum Bei- die zukünftigen Gebäude, mittels Fingerkame- spiel im Zusammenhang mit den produktiven ra oder Relatoskop betrachtet, immer wieder Sprüngen zwischen verschiedenen Modellmaß- erneut aktualisiert in den Modi „bekannt“ und stäben von klein zu groß und wieder zurück. „nicht so bekannt“ zur Anschauung zu bringen Wie sie zeigt, geht es dabei nicht darum, in der (Albena Yaneva: Scaling Up and Down: Ext- Planung immer genauer zu werden, sondern raction Trials in Architectural Design. In: Social zwischen den Modellen hin und her zu wech- Studies of Science 35.6 (2005), S. 867–894). seln und diese jeweils zu nutzen, um 136 MARTIN DOLL gefalteten konkreten Wahrnehmungseindrücken gerecht zu werden.36 Wie ist es indes darum bestellt, wenn man sich etwas bescheidener, nur auf die visuelle Wahrnehmung konzentriert? Fazit Das Fazit dazu fällt eher ernüchternd aus: Der Versuch nämlich, die an den Spielfilmen markierten Momente des „beiläufigen Bemerkens“ und der „ungerührten Rezeption“ für den reflektier- ten Umgang mit Modellbildungen im Designprozess fruchtbar zu machen, muss scheitern, und zwar gerade am reflektieren Umgang. Denn man begegnet dabei unweigerlich einem Paradox: In dem Moment, in dem man sich auf die Ränder des Sehfelds konzentriert, um sie in ihrer Relevanz beim Architekturgebrauch nicht außer Acht zu lassen, verliert man automatisch die grundle- gende Beiläufigkeit dieses Bemerkens. Bleibt man bei einer bei- läufigen Betrachtung (vorausgesetzt, eine solche Haltung lässt sich überhaupt intentional einnehmen), so gewinnt man daraus gerade aufgrund ihrer Beiläufigkeit keine brauchbaren Einsichten für die konkrete und überlegte Architekturgestaltung. Es scheint somit so, als ließen sich diejenigen Aspekte, die insbesondere die Architekturwahrnehmung auszeichnen, nicht vorab simu- lieren. Vielleicht erklärt sich dadurch unter anderem, dass sich manche Gebäude trotz zahlreicher Planungsphasen und Modellbildungen erst nach ihrer Realisierung als gelungen oder aber als Bausünden erweisen. Denn das gesamte Potenzial an späteren Relationenbildungen bei der Wahrnehmung im konkre- ten Gebrauch (oder etwas salopper formuliert: der Wohlfühlfaktor) entzieht sich – trotz zahlreicher Versuche, dies vorab genau zu planen – der genauen Vorhersehbarkeit. Architekten wie beispielsweise Peter Zumthor reflektieren den Stellenwert von – wenn man so will – weichen Kategorien, wie den „Zusammenklang der Materialien“, die „Dinge um mich herum“, „Gelassenheit und Verführung“ der Nutzerinnen und Nutzer, „das 36 Vgl. Massumi 2002 (Anm. 12), S. 178, 183. ARCHITEKTURWAHRNEHMUNG IM GEBRAUCH 137 Licht auf den Dingen“ und „Stimmigkeit“ –  „wenn alles seine Erklärung findet im Gebrauch“. Obwohl er alles mehr oder weni- ger als Denk- und Arbeitsansätze seines Büros bezeichnet, bleibt er jedoch sehr vorsichtig, ob sie in ausreichendem Maße „objek- tivierbar“ sind.37 Man könnte dies „objektivierbar“ auch in „opera- tionalisierbar“ übersetzen. Das heißt, obwohl die Aspekte in ihrer Relevanz bekannt sind, lässt sich daraus kein Gestaltungsprinzip ableiten. Zudem unterliegen selbst die geplanten Momente beim Bau eines Gebäudes einer Unzahl an zufälligen Faktoren und nicht vorhersehbaren Transformationen. Es sind gerade diese kontingenten Effekte, die – wenn sie auch immer nur nachträglich beschrieben werden können – insbesondere für eine medien- kulturwissenschaftliche Perspektive auf die Architektur relevant sind. Um hier am Ende noch einmal die Ausgangshypothese zu wiederholen: Ein solch medienkulturwissenschaftlicher Ansatz ist dabei ebenfalls mit der genannten Paradoxie konfrontiert; er hat also selbst zerstreut, das heißt „in einem beiläufigen Bemerken“ vorzugehen, um das Ephemere seines Gegenstands nicht zu verfehlen. 37 Peter Zumthor: Atmosphären. Architektoni- sche Umgebungen. Die Dinge um mich herum. Detmold 2004, S. 23, 35, 41, 57, 62, 67. 138 DENNIS GSCHAIDER DENNIS GSCHAIDER Bauen für die Forschung der Zukunft Zum Diskurs um die Gestaltung von Forschungseinrichtungen in der chemisch- pharmazeutischen Industrie (1950 bis 1980) Der Beitrag befasst sich aus einer historischen Perspektive mit der Frage, wie Unternehmen Wissenschaft im Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Freiheit organisiert haben. Im Mittelpunkt stehen dabei die architektonischen Konfigurationen der Forschungseinrichtungen, mit denen die Unternehmen der Problematik begegnet sind, Forschung für das Unternehmen planbar zu gestalten. Dabei zeigt sich im Untersuchungszeitraum zwischen 1950 und 1980 ein Wandel von technischen zu kommuni- kativen Aspekten des Forschungsprozesses, die als ausschlagge- bend für einen langfristigen Erfolg der Forschung eingestuft wur- den und sich in der Gestaltung der Laboratorien abzeichneten. Im Oktober 2015 eröffnete der Technologiekonzern Bosch einen zentralen Forschungscampus in Renningen bei Stuttgart. Die Einrichtung steht exemplarisch für eine Vielzahl gegenwärtiger wissenschaftlicher Einrichtungen, die nach dem Vorbild ameri- kanischer Campus-Universitäten und Standorten der High-Tech- Industrie gestaltet wurden, die als besonders förderlich für das Zustandekommen von Kreativität und Innovationen gelten.1 1 Charlotte Klonk: Introduction. In: Ders. (Hg.): New Laboratories. Historical and Critical Perspec- tives on Contemporary Developments. Berlin, Boston 2016, S. 1–20, hier S. 17; Tina Groll: Expe- rimentieren in der Lounge. Zeit Online 13. Oktober 2015. URL: http://www.zeit.de/karriere/2015-10/ bosch-forschungscampus-bueros (10. Mai 2016). BAUEN FÜR DIE FORSCHUNG DER ZUKUNFT 139 Architektur wird hierbei als ein Werkzeug unternehmerischer Zukunftsplanung eingesetzt, um mit der Problematik der Kontrolle umzugehen, der forschende Unternehmen ausgesetzt sind. Einerseits sind sie darauf angewiesen, die Kreativität der Forschung aufrechtzuerhalten, anderseits müssen sie sie aber auch angesichts der Risiken hoher Kosten und Ungewissheit der Ergebnisse auf ein für die wirtschaftlichen Interessen des Unternehmens nützliches Maß beschränken.2 Diese Ambivalenz von Kontrolle und Freiheit, die als charakteristisch für den Umgang mit der kontingenten Ressource ‚Kreativität‘ einzustufen ist, prägte die Gestaltung industrieller Forschungseinrichtungen seit Ende des 19. Jahrhunderts. Um eine produktive Forschung zu gewährleisten, orientierte sich die Wissenschaft an zeitgenös- sischen, gesellschaftlichen Formen der Organisation von Arbeit, die sich auch in der Architektur der Forschungseinrichtungen wiederspiegelte.3 So verknüpften die ersten Laboratorien der chemischen Industrie die differenzierte und kooperative Forschungspraxis aus Justus von Liebigs Unterrichtslabor mit den mechanisierten und produktiven Arbeitsabläufen der Fabrik, um einen Ort zu schaffen, der Kontrolle und Steuerung ermög- lichte, aber auch ein vertrautes wissenschaftlich freiheitliches Terrain für die Forschenden darstellte.4 Mit ihnen sollte die Kontingenz der Wissenschaft auf einen für das Unternehmen produktiven und steuerbaren Bereich beschränkt werden. Die Vorstellung einer ‚Erfindungsfabrik‘ war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wirkmächtig. Vor dem Hintergrund 2 Peter Weingart: Wissenschaftssoziologie. 4 Georg Meyer-Thurow: The Industriali- Bielefeld 2003, S. 106. zation of Invention: A Case Study from the German Chemical Industry. In: Isis 73 (1982), 3 Peter Galison, Lorraine Daston: Wissen- S. 363–381. Zu Liebigs Labor siehe Frederic L. schaftliche Koordination als Ethos und Epis- Holmes: The Complementarity of Teaching and temologie. In: Helmar Schramm, Ludger Research in Liebig`s Laboratory. In: Osiris 5 Schwarte, Jan Lazardzig (Hg.): Instrumente in (1989), S. 121–164. Kunst und Wissenschaft: zur Architektonik kul- tureller Grenzen im 17. Jahrhundert, S. 319–361, hier S. 320 f.; William J. Rankin: Laboratory modules and the subjectivity of the knowledge worker. In: Kenny Cupers (Hg.): Use Matters: An Alternative History of Architecture. Milton Park und New York 2013, S. 51–65, hier S. 62. 140 DENNIS GSCHAIDER einer sich formierenden Wissensgesellschaft, die ihre Zukunft durch einen planbaren wissenschaftlichen Fortschritt bestimmt sah und von einer Machbarkeitseuphorie geprägt war,5 setzte ab den 1950er Jahren ein Wandel im Diskurs um die Gestaltung industrieller Forschungseinrichtungen ein, denen, wie der Architekt Walter Henn vermutete, in der Zukunft eine wichtige Bedeutung zuteil kommen würde.6 Im Gegensatz zu früheren Planungen wurde explizit der Zeithorizont der Einrichtungen thematisiert. Beiträge in Fachzeitschriften der 1960er Jahre ver- traten mit Titeln wie Bauen für die Forschung von morgen die Überzeugung, auch zukünftige Bedürfnisse der Wissenschaft zu antizipieren und den Fortschritt durch die Architektur mitzuge- stalten.7 Doch wie Stuart Leslie am Beispiel US-amerikanischer Einrichtungen gezeigt hat, erwies sich die Zukunft als ambiva- lent: Während einige Einrichtungen sich langfristig bewähr- ten und die in sie gesetzten Erwartungen erfüllten, scheiterten andere an den sich wandelnden Anforderungen und der Dynamik wissenschaftlicher Entwicklungen, die in der Planung nicht vor- hergesehen wurden, so dass vielmehr von einem „Building for an uncertain future“ zu sprechen ist.8 Der Beitrag fragt am Beispiel der Bayer AG danach, mit welchen Vorstellungen von Architektur zwischen 1950 und 1980 einer unsicheren Zukunft begegnet wurde. Hierbei steht die mate- rielle Gestaltung der Forschungseinrichtungen im Mittelpunkt der Untersuchung, die nach praxistheoretischen Ansätzen als Artefakte einen wichtiger Bestandteil sozialer Praktiken 5 Margit Szöllösi-Janze: Wissensgesellschaft 6 Walter Henn: Gemeinsamkeiten und Unter- – ein neues Konzept zur Erschließung der schiede des amerikanischen und europäischen deutsch-deutschen Zeitgeschichte? In: Hans Industriebaus, S. 28 f. Vortrag gehalten am Günter Hockerts (Hg.): Koordinaten deutscher 23.11.1962 in Essen. In: Nachlass Walter Henn Geschichte in der Epoche des Ost-West-Kon- Mscr.Dresd.App.2842, 200. flikts. München 2004, S. 277–305, hier: S. 284 f.; Dirk van Laak: Technokratie im Europa des 7 Lange, Horst: Bauen für die Forschung von 20. Jahrhunderts – eine einflussreiche „Hinter- morgen. In: Bauen + Wohnen = Construction grundideologie“. In: Lutz Raphael (Hg.): The- + habitation = Building + home: internationale orien und Experimente der Moderne. Europas Zeitschrift 22 (1968), S. 242–243. Gesellschaften im 20. Jahrhundert. Köln 2012, S. 101–128. 8 Leslie, Stuart W.: Laboratory architecture: Building for an uncertain future. In: Physics Today 4 (2010), S. 40–45. BAUEN FÜR DIE FORSCHUNG DER ZUKUNFT 141 bilden und ihren Gebrauch präfigurieren.9 Im Fokus steht daher der Diskurs über den Designprozess der Einrichtungen, dessen Erschließung darüber Auskunft geben kann, welche Erfahrungs- und Erwartungsgrundlage seitens der Akteure in eine materielle Form übersetzt werden, und damit, wie materi- elle Raumkonfigurationen und Wissenschaft als Praktik in der Vorstellung der Akteure miteinander verknüpft wurden.10 Gewährung von Zweckmäßigkeit: Labornormung in den 1950er Jahren Obgleich der Bau von Forschungseinrichtungen im Zuge des wirtschaftlichen Wachstums und des Wissenschaftsbooms nach dem Zweiten Weltkrieg Konjunktur erfuhr, setzte ein Diskurs um deren Gestaltung zeitlich verzögert ein. Erst Ende der 1950er Jahre erschienen dezidierte deutschsprachige Werke zur Einrichtung von Laboratorien, die sich auf anglo-amerikani- sche Literatur stützten.11 In der chemischen Industrie entstanden innerhalb der Unternehmen Arbeitskreise, die Wissen bezüg- lich der Planung und Gestaltung von Laboratorien zusammen- trugen.12 Auch bei den Farbenfabriken Bayer konstituierte sich 1954 eine Gruppe auf Grundlage des Wunsches „Richtlinien, die aus der Praxis heraus geschaffen wurden und eine Gewähr für Zweckmäßigkeit bieten“, die überwiegend aus Mitgliedern der 9 Andreas Reckwitz: Grundelemente einer 11 Fritz Lassen: Laboratorien: Planung, Bau, Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoreti- Einrichtung, Darmstadt 1957; Werner Schr- sche Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie amm: Chemische und biologische Laboratori- 32 (2003), S. 282–301, hier S. 284 f., 290 f. en: Planung, Bau und Einrichtung, Weinheim 1957. 10 Theodore Schatzki: Materiality and Social Life. In: Nature and Culture 5 (2010), S. 123–149; 12 Berichte über die Reise am 15.11.1956 Heinrich Hartmann: Zwischen Projektionsfläche nach Ludwigshafen, 16.11.1956 nach Hoechst, und Handlungsraum. Raumvorstellungen bei 20.11.1956 nach Hüls betreffend Informationen Bayer und PCAC, 1890 bis 1914. In: Zeitschrift über die Organisation des Bauwesens in der für Unternehmensgeschichte 52 (2007), S. chemischen Großindustrie. In: Bayer Corporate 85–101, hier S. 85 f. Thomas Gieryn: What Archives 59/237 (folgend als BAL abgekürzt). buildings do. In: Theory and Society 31 (2002), S. 35–74, hier S. 41 f. Leif Jerram: Space: A useless category for historical analysis? In: History and Theory 52 (2013), S. 400–419, hier S. 417–419. 142 DENNIS GSCHAIDER Forschungs- und Ingenieurabteilung bestand.13 Sie wertete dazu vorhandenes, auf Erfahrung basiertes Raumwissen bei Bayer aus, um daraus Werknormen abzuleiten und damit für zukünftige Bauprojekte verbindliche Richtlinien aufzustellen, die technisch, wirtschaftlich als auch wissenschaftlich effiziente Laboratorien gewährleisten sollten. Dazu erfolgte eine Vermessung wis- senschaftlicher Praxis und ihrer Bedürfnisse, vergleichbar mit der Grundrissforschung der modernen Architektur in den 1920er Jahren, die eine Vermessung des Menschen und seiner Wohn- vorgänge durchführte, um Wohngrundrisse nach rationalen und ökonomischen Gesichtspunkten zu optimieren.14 So wurden im Vorfeld der Planung wissenschaftlicher Einrichtungen Muster- labore eingerichtet, in denen Laborausstattung und Arbeits- abläufe hinsichtlich einer möglichst effizienten Konfiguration des Raumes gemeinsam durch das wissenschaftliche und tech- nische Personal erprobt wurden.15 Die Ergebnisse wurden systematisiert und in Gestalt von Normblättern festgehalten, die neben der Abbildung der Grundrisse der Laborarbeitsplätze auch Maße und schriftliche Erläuterungen mit Vor- und Nachteilen der einzelnen Beispiele beinhalteten. Mit der Beschränkung auf den Laborarbeitsplatz orientierte man sich an US-amerikanischen Methoden der Planung, die Forschungsgebäude in einzelne, nach Funktion dif- ferenzierte Module aufteilten, die nach Bedarf zu einem Gebäude kombiniert werden konnten und als erweiterungsfähig galten.16 Die Gestaltung eines Moduls wurde dabei vom Platzbedarf der Forschenden, der Arbeitsabläufe, der benötigten Geräte und Einrichtungen bestimmt.17 Von zentraler Bedeutung in der Arbeitsgruppe war die Verknüpfung von Labormodulen und 13 Mitteilung an die Abteilungsvorstände und 16 Rankin 2013 (Anm. 3), S. 54 f. Betriebsleiter betreffend Gründung einer Labor- arbeitsgruppe vom 17.7.1954. In: BAL 433/10. 17 Bruno Krekler, Sabina Peters: Laboratorien für Forschung, Anwendungstechnik und Über- 14 David Kuchenbuch: Geordnete Gemein- wachung, München 1977, S. 11. Rankin 2013 schaft. Architekten als Sozialingenieure – (Anm. 3), S. 62. Maurice Holland, Dexter North: Deutschland und Schweden im 20. Jahrhun- Research in America and Europe. In: Clifford dert. Bielefeld 2010. Cook Furnas (Hg.): Research in Industry: its Organization and Management. New York 1948, 15 Rankin 2013 (Anm. 3), S. 56 f. S. 499–527, hier S. 354. BAUEN FÜR DIE FORSCHUNG DER ZUKUNFT 143 Forschungsabläufen, die in einem tayloristischen Verständnis auf Bewegungsabläufe reduziert wurden und abhängig waren von der materiellen Ausstattung des Labors und deren räumli- cher Positionierung. So sollte bereits in der Planung uneffekti- ves Verhalten durch die in den Abbildungen enthaltenen impli- ziten Ordnungen der Benutzung vermieden werden.18 Räume, die fließende, ineinander übergehende Bewegungsabläufe sug- gerieren galten als besonders effizient, analog zur Organisation der Hausarbeit in den 1920er Jahren.19 Als unproduktiv galten dagegen Raumordnungen, die unübersichtlich waren, abrupte Bewegungswechsel hervorriefen und wenig Arbeitsfläche auf- wiesen, was zudem die Sicherheit im Labor gefährdete.20 Zum Zeitpunkt der Diskussionen um die Labornormen deutete sich allerdings ein Wandel der Forschungsprozesse an, der durch die zunehmende Nutzung physikalischer Instrumente zu for- malisierten und technisierten Arbeitsabläufen führen würde, die andere Infrastrukturen erforderten als das klassische che- mische Laboratorium.21 Es bestand die Prognose, „dass das chemische Laboratorium in seiner Arbeitsweise und seinem Aufbau eine Entwicklung durchmache, wie sie seiner Zeit der ‚Comptoir‘ erlebte und die zur modernen Verwaltung führte“.22 Im Gegensatz zu universitären Einrichtungen waren industrielle Forschungseinrichtungen wesentlich stärker von technologischen Fortschritten betroffen, da sie aufgrund der Wettbewerbsfähigkeit 18 Doris Kolesch: Kartographie der Emoti- 20 Richtlinien für Laboreinrichtungen. In: BAL onen. In: Helmar Schramm, Jan Lazardzig, 103/17.5.4. Ludger Schwarte (Hg.): Kunstkammer, Labora- torium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 21 Peter J.T. Morris (Hg.): From Classical to 17. Jahrhundert. Berlin 2003, S. 161–175, hier: Modern Chemistry: The Instrumental Revoluti- S. 173 f. on. London 2002. 19 Thomas Etzemüller: Strukturierter Raum – 22 Karl-Friedrich Klees: Der Arbeitstisch integrierte Gemeinschaft. Auf den Spuren des im chemischen Laboratorium. In: Chemi- social engineering im Europa des 20. Jahrhun- ker-Zeitung 79 (1955), S. 303. Zur Entwicklung derts. In: Lutz Raphael, Theorien und Experi- des angesprochenen Büros siehe Christine mente der Moderne, Köln 2012, S. 129–154, hier Schnaithmann: Das Schreibtischproblem. S. 137 f. Amerikanische Büroorganisation um 1920. In: Lars Bluna, Karsten Uhl (Hg.): Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert. Bielefeld 2012, S. 323–357. 144 DENNIS GSCHAIDER Anschluss an den technologischen Fortschritt halten muss- ten.23 Dementsprechend sollte auch das Labormodul durch Reserveflächen, flexible Nutzungsmöglichkeiten und vorsorg- lich überdimensionierte Energieversorgung auf zukünftige Anforderungen vorbereitet werden.24 Jedoch erwiesen sich in der Praxis chemische Laborräume häufig als inkompatibel, da sie auf die Bedürfnisse der Forschenden ausgerichtet waren, während die physikalischen Instrumente auf eine spezifische Infrastruktur angewiesen waren, so dass separate Räume und Gebäude dafür eingerichtet wurden.25 Mit dem Ziel, auf Effizienz und Wirtschaftlichkeit opti- mierte Laboratorien zu gestalten, lassen sich die Normungsbestrebungen mit Ideen der modernen Architektur vergleichen, durch ‚social engineering‘ Lebenswelten nach rati- onalen und ökonomischen Gesichtspunkten zu organisieren und dabei Räume als Mittel der Disziplinierung einzusetzen.26 Allerdings war dies für wissenschaftliche Tätigkeiten nur einge- schränkt möglich, da die Erfassung geistiger, kreativer Arbeit als problematisch galt, da sie nicht quantifizierbar war.27 In dem im Oktober 1955 erstmals herausgebenden Normenkatalog fand sie daher nur Berücksichtigung in Gestalt der Schreibzimmer, die außerhalb der Laboratorien liegen sollten, ansonsten aber nicht weiter thematisiert wurden.28 Ebenso konnte, im Gegensatz zur Frankfurter Küche, kein eindeutiges Handlungsmodell im Sinne eines ‚Normallabors‘ erarbeitet werden, sondern ange- sichts unterschiedlicher Forschungsschwerpunkte und Praktiken firmierte unter einer Werksnorm eine Auswahl möglicher Ausführungsbeispiele, die eine flexible Planung ermöglichten, die Kontingenz der Planung also auf eine Bandbreite bewährter 23 Peter J.T. Morris: The Matter Factory. A 27 Steven Shapin: Scientific Life: A Moral His- History of the Chemistry Laboratory. London tory of a Late Modern Vocation. Chicago 2008, 2015, S. 267–268. S. 154 f. 24 Normung von Laboreinrichtungen. 30. 28 Normung von Laboreinrichtungen. 14. Besprechung vom 19.7.1957. In: BAL 433/10. Besprechung am 18.3.1955 in Leverkusen. In: 25 Morris 2015 (Anm. 23), S. 291–292. BAL 433/10. 26 Etzemüller 2012 (Anm. 19), S. 134 f., S. 149 f. BAUEN FÜR DIE FORSCHUNG DER ZUKUNFT 145 Lösungen beschränkte.29 Der architektonischen Gestaltung und Funktionalität wurde ein großer Einfluss auf die Produktivität der Forschenden zugeschreiben, wie ein Bildband, den Bayer 1953 anlässlich der Eröffnung des Neubaus des „Wissenschaftlichen Hauptlaboratoriums“ veröffentlichte, verdeutlicht: „Der for- schende Chemiker, der einen großen Teil seines Lebens in den Räumen verbringt, darf erwarten, dass für beste Lüftung, Beleuchtung und akustische Entstörung gesorgt ist. Auch soll die harmonische Gestaltung des Laborraumes unter Fernhaltung aller ablenkenden Eindrücke […] seine Aufmerksamkeit unge- teilt dem experimentellen Aufbau erhalten. Daher war man auf höchstmögliche Ästhetik, soweit sich diese mit den technischen Bedürfnissen vereinbaren lässt, bedacht, um die Lebensfreude des Chemikers und seiner Mitarbeiter bei der Arbeit zu erhö- hen“.30 Ähnlich wie Bruno Taut in den 1920er Jahren die Wohnung als Lebenswelt der Frau durch die Einheit von Funktionalität und Ästhetik neugestaltete, um sie körperlich zu entlasten und ihre Kreativität zu fördern,31 sollten auch Forschende als Bewohnende des Laboratoriums in ihrer Leistungsfähigkeit durch einen funkti- onal-ästhetischen Raum unterstützt werden. Kommunikation und Flexibilität: Forschungszentren in den 1960er und 1970er Jahren Während bei Bayer eine Normung hinsichtlich der Laboratorien scheiterte, setzten andere Unternehmen wie die Farbwerke Hoechst sie konsequenter um. Das Unternehmen errichtete ab 1960 ein Forschungszentrum südlich des Mains gegenüber dem 29 Normung von Laboreinrichtungen. 15. 31 Tanja Poppelreuter: Das Neue Bauen für Besprechung am 18.5.1955. In: BAL 433/10. den Neuen Menschen: Zur Wandlung und Normung von Laboreinrichtungen. 14. Bespre- Wirkung des Menschenbildes in der Architektur chung am 18.3.1955 in Leverkusen. In: BAL der 1920er Jahre in Deutschland. Hildesheim 430/10. Rankin 2013 (Anm. 3), S. 63. 2007. 30 Literarisch-wissenschaftliche Abteilung Le- verkusen-Bayerwerk: Das neue Wissenschaftli- che Hauptlaboratorium. Leverkusen 1957, S. 9. 146 DENNIS GSCHAIDER alten Werksgelände, das aus identischen und flexibel nutzbaren Laboratorien bestand.32 Es stellt auch eine Zäsur in der Gestaltung industrieller Forschungseinrichtungen in Deutschland dar, indem der Fokus von einzelnen Gebäuden und -teilen hin zu städtebau- lichen Konzeptionen rückte und auch den Raum zwischen und um die Laboratorien als elementaren Bestandteil der Gestaltung einbezog.33 Die isolierte Lage abseits von Produktionsanlagen und Städten und die Kombination von Landschaft, Lage und Architektur galt dabei als förderlich für Kreativität, da sie eine Konzentration auf die Forschung forciere.34 Diese Ansicht kor- respondierte mit der zeitgenössischen Innovationsforschung, die in den 1960er Jahren zunehmend qualitative Aspekte für die Entstehung von Innovationen als ausschlaggebend betrach- tete, zu denen Architektur, Kommunikation und Personal der Forschungseinrichtungen zählten.35 Damit gewannen Aspekte in der Planung an Bedeutung, die zum Teil nur schwer quantifi- zierbar waren, was in der Industrie, die ihre Forschungsplanung an der Maxime der Wirtschaftlichkeit ausrichtete, problema- tisch und umstritten war. Walter Henn, Architekt des Höchster Forschungszentrums, plädierte dafür, nicht an der Gestaltung zu sparen: „Aber vielleicht könnte man – ich sage vielleicht, weil ich den Beweis nicht antreten kann, ich halte aber diese Vorstellung nicht für utopisch, die Effizienz des Personals dadurch stei- gern, indem man für sie bessere, schönere, funktionsgerechtere Laboratorien baut, die aber mehr Geld kosten“.36 32 Farbwerke Hoechst AG (Hg.): Hoechst baut 35 Susanne Mutert: Großforschung zwischen neue Forschungsstätten. In: Hoechst heute 4 staatlicher Politik und Anwendungsinteresse (1960), S.14–21, hier S. 20. der Industrie. Frankfurt am Main 2000, S. 34 f. 33 Morris 2015 (Anm. 23), S. 312. 36 Walter Henn: Forschungsbauten der chemischen Industrie – ihre Investitions- und 34 Peter von Brentano, Karl-Achim Czemper, Folgekosten. Braunschweig, o.D. In: Nachlass Bruno Fritsch u. a.: E.I. du Pont de Nemours & Walter Henn Mscr.Dresd.App.2842, 280, Co., Inc (du Pont). In: Helmut Krauch, Werner S. 20–22. Kunz, Horst Rittel (Hg.): Forschungsplanung. Eine Studie über Ziele und Strukturen ameri- kanischer Forschungsinstitute. München 1966, S. 256–265, hier S. 264; Oswald W. Grube: The birth of the modern research building in the USA. In: Hardo Braun, Dieter Grömling (Hg.): Research and Technology Buildings: A Design Manual. Basel, Berlin, Boston 2005, S. 21–26. BAUEN FÜR DIE FORSCHUNG DER ZUKUNFT 147 Angesichts der räumlich prekären Lage der pharmazeuti- schen Forschungseinrichtungen in Wuppertal formierten sich auch bei Bayer zu Beginn der 1960er Jahre Bestrebungen, ein Forschungszentrum im Norden der Stadt auf der grünen Wiese einzurichten und die bislang im Werk dezentralisierten Einrichtungen räumlich zusammenzufassen. Die Entscheidung war umstritten: Es bestanden Überlegungen, die als positiv befundenen Verflechtungen im Werk aufrechtzuerhalten, was aber angesichts mangelnder Reserveflächen und Einwände der Nutzerinnen und Nutzer verworfen wurde. So verwies Richard Wegler, Leiter der Forschung in Elberfeld, auf die Lärm- und Schmutzproblematik im Werk und plädierte dafür, bewährte Vorstellungen wissenschaftlicher Forschung zu überwinden und offen gegenüber zukünftigen Entwicklungen zu sein.37 Argumentativ wurde das Forschungszentrum mit drei zentra- len Punkten begründet: Erstens verwiesen die Verantwortlichen wiederholt auf die architektonische Konzeption amerikani- scher Vorbilder, die als richtungsweisend eingestuft wurden, ohne aber deren konkrete Vorteile zu benennen.38 Zweitens ermöglichte die Ansiedlung auf der grünen Wiese aufgrund der Verfügbarkeit von Reserveflächen einen Planungszeitraum, der mehrere Jahrzehnte umfasste und somit Zukunftssicherheit und Wirtschaftlichkeit versprach.39 Drittens betonten die Planenden die Vorteile der räumlichen Nähe der Einrichtungen zuein- ander, was zu einer Intensivierung der Kommunikation und 37 Aktennotiz von Richard Wegler vom 20.5.1960 betreffend Neubauplan für die chemi- schen und medizinischen Laboratorien. In: BAL 367/556; Schreiben von Richard Wegler an Kurt Hansen vom 9.3.1960, S. 3. In: BAL 367/556. 38 Planung für Neubau Pharmaforschung, o.J., S. 5. In: BAL 367/556; Schreiben von Richard Wegler an Kurt Hansen vom 23.12.1959, S. 3–4. In: BAL 367/556. 39 Wegler an Hansen, 9.3.1960, S. 3. 148 DENNIS GSCHAIDER Zusammenarbeit zwischen den Forschungsbereichen führen sollte, die sich vorteilhaft auf die Forschung im Sinne einer inter- disziplinären Zusammenarbeit auswirken würde.40 Hierbei spielte der „systematische, provozierte Zufall“ eine wichtige Rolle als Ressource neuer Ideen,41 der, wie der Wissenschaftshistoriker Peter Galison gezeigt hat, durch die Bereitstellung informeller Kommunikationsräume, sogenannter ‚trading zones‘ auch über räumliche Maßnahmen gefördert werden kann.42 Über die rela- tionale Nähe hinaus wurde der Zusammenhang von Raum und Kommunikation in der Planung allerdings nicht weiter in materi- eller Form konkretisiert. Der erste Entwurf eines Großbaus,43 der alle Einrichtungen vereinigte, wurde zugunsten einer rasterför- migen Anordnung einzelner Baukörper fallen gelassen, die an ein Werksgelände erinnerte und sich angesichts konstruktiver Aspekte als flexibler und damit wirtschaftlicher erwies. So konnte die Planung und deren Umsetzung mehrfach abgeändert wer- den. Hinsichtlich der ästhetischen Gestaltung und technischen Infrastruktur des Zentrums kam es wiederholt zu Konflikten zwi- schen den Akteuren, wobei sich vor allem die Nutzerperspektive als nicht ausreichend berücksichtigt empfand und die Befürchtung bestand, dass die Gestaltung der Arbeitsplätze aufgrund bau- technischer und wirtschaftlicher Erwägungen erfolge.44 Der Anspruch, eine sichere und kontrollierbare Laborumwelt als auch ein ruhiges Umfeld zu schaffen, kollidierte mit infrastrukturellen Erfordernissen und beeinträchtigte die Arbeit der Forschende.45 Es zeigt sich dabei, dass Gebäude über eine ‚interpretative 40 Aktennotiz Wegler 20.5.1960. In: BAL 43 Aktennotiz von Dr. Gönnert, Dr. Haberland, 367/556; Mitteilung vom 22.8.1960 von Richard Dr. Schraufstätter vom 1.12.1959 betreffend Wegler an Dr. Schraufstätter betreffend Vorteile Neubauplanung für die medizinischen und che- eines gemeinsamen Forschungszentrums für mischen Laboratorien. In: BAL 367/556; Wegler Biologie-Medizin-Chemie. In: BAL 367/556. an Hansen, 23.12.1959. 41 Bayer AG (Hg.): Halbzeit beim Bau des 44 Schreiben von Richard Wegler an Kurt Han- Pharmaforschungszentrums In: Unser Werk sen vom 23.11.1960. In: BAL 367/556. Schrei- Nr.1–2 (1968), S. 2–8, hier S. 7. ben von Richard Wegler an Architekt Remy vom 11.5.1960 und vom 17.11.1961. In: BAL 367/556. 42 Peter Galison: Image and Logic: A Material Culture of Microphysics. Chicago 1997, S. 781 f. 45 Aktennotiz Therese Knott betreffend vom 20.9.1971. In: BAL 372/99. BAUEN FÜR DIE FORSCHUNG DER ZUKUNFT 149 flexibility‘ verfügen, die Spielräume der Nutzung offenlassen und Irritationen hervorrufen können, also Unsicherheiten aufweisen, die von der Planung nur schwer zu erfassen und einzuschränken sind.46 Mit der Planung des Pflanzenschutzzentrums in Monheim Ende der 1970er Jahre wurde die Förderung der Kommunikation neben der Flexibilität der Einrichtungen zum zentralen architek- tonischen Gestaltungsmotiv erhoben. Im Vorfeld durchgeführte Interaktionsstudien, also Prognosen des zukünftigen Gebrauchs, bildeten die Grundlage für die Anordnung der Gebäude zueinan- der als auch der Einrichtungen innerhalb.47 Neben empirischen Grundlagen bezogen sich die Planenden auch auf kybernetische Modelle und zeitgenössische soziologische Arbeiten, um die Planung und ihre intendierte Wirkung theoretisch zu fundieren. So beruhte die kreisförmige Anordnung der Gebäude auf der Figur des Funktionskreises.48 Sie weist aber auch Ähnlichkeit auf mit der zeitgleich veröffentlichten Arbeit des Soziologen Thomas Allen, der sich mit der Förderung von Kommunikation innerhalb von Forschungseinrichtungen auseinandersetzte und sie in Abhängigkeit von der architektonischen Gestaltung der Räume sah.49 Für die einzelnen Laboratorien war eine umfas- sende Flexibilität durch vollständig austauschbare Einrichtungen vorgesehen, die eine einfache Anpassung an sich wandelnde Arbeitsbedingungen und Arbeitsmethoden gewährleisten soll- ten.50 Zur städtebaulichen Umsetzung des Konzeptes lud Bayer sieben Architekturbüros zu einem Wettbewerb ein, den 46 Sophie Forgan: ‚But Indifferently Lod- 48 Pflanzenschutz-Zentrum Monheim. ged …‘: Perception and Place in Building for Ergebnis der Architekten-Gutachten, Okto- Science in Victorian London. In: Crosbie Smith, ber-November 1978. In: BAL 451/70. Zum Jon Agar: Making Space for Science. Territorial Funktionskreis siehe Hans-Joachim Flechtner: Themes in the Shaping of Knowledge. Hamps- Grundbegriffe der Kybernetik. München 1969, hire 1998, S. 195–215, hier S. 197. S. 170 f. 47 Planungsgrundlagen Pflanzenschutz-Zent- 49 Thomas J. Allen: Managing the Flow of rum vom 26.10.1977, S. 11. In: BAL 388/33.; The Technology. Cambridge 1977, S. 249 f. Consultation for the Bayer Research Centre in Monheim. In: Casabella 455 (1980), 50 Planungsgrundlage V, Nachtrag 2. In: BAL S. 61 f. 388/33. 150 DENNIS GSCHAIDER der japanische Architekt Kisho Kurokawa für sich entscheiden konnte. Sein Siegerentwurf, der einen modularen, erweiterbaren Komplex vorsah, spiegelte seine metabolistische Vorstellung von Architektur als organischem Lebenszyklus wieder und entsprach damit am deutlichsten der Forderung nach Zukunftssicherheit in Form von flexiblen und erweiterbaren Einrichtungen, als auch der Umsetzung des Funktionskreises.51 Allerdings kam der Siegerentwurf nur teilweise zur Ausführung, da die drei Erstplatzierten einzelne Teilbereiche des Zentrums übernah- men, die im Laufe der 1980er Jahre realisiert wurden. Welche Zielsetzungen mit dem Zentrum verbunden waren, wurde in den Werkszeitschriften wiederholt am Szenario zweier Forscher ver- anschaulicht, die sich auf dem Weg zur Cafeteria im Zentrum zufällig treffen und sich über ihre Forschung austauschen und dabei zu neuen Ideen gelangen: Ein der Wissenschaft vertrautes Motiv, das wiederholt in Artikeln der Werkszeitschriften verwen- det wurde und auch heutige Entwürfe von Forschungsanlagen prägt.52 Fazit Entscheidend für die Frage, mit welchen Raumvorstellungen Unternehmen der Zukunft begegneten, ist das Verhältnis von Freiheit und Kontrolle der Wissenschaft, welches in den diskutier- ten Beispielen in Abhängigkeit architektonischer Möglichkeiten und dem Verständnis wissenschaftlicher Praxis unterschiedlich konfiguriert wurde. Die Normungsstrebungen der 1950er Jahre tendierten dazu, mittels vorgeschriebener Handlungsräume eine stärkere Kontrolle der Forschung auszuüben. Man ging davon aus, dass die Effektivität der Forschung als handwerkliche Praxis in hohem Maße von der Konfiguration des Labors abhängig war. Ab den 1960er Jahren dominierte dagegen ein Verständnis von Forschung als ein von Interaktion und Kommunikation abhängiger 51 Architekten-Gutachten Pflanzen- 52 Bayer AG (Hg.): Kreatives Zentrum für den schutz-Zentrum Monheim. In: BAL 171/1.3. Pflanzenschutz. In: Unser Werk Nr. 8 (1979), S. 6 f., hier S. 7. BAUEN FÜR DIE FORSCHUNG DER ZUKUNFT 151 sozialer Prozess, der den Fokus von der Laborgestaltung auf den Raum und Interaktion zwischen den Laboratorien setzte. Zwar bildete ein hinsichtlich Effizienz und Flexibilität optimier- tes Labormodul nach wie vor die Planungsgrundlage, aber die Frage nach der Zukunftssicherheit der Forschungseinrichtungen schien weniger von technologischen Fortschritten und Laborpraktiken bestimmt als von der Frage, wie kreative Zufälle durch Architekturen, die Kommunikation fördern, provoziert wer- den können, und damit, wie Kontingenz in einem gesicherten Rahmen zugelassen wird, um sie als produktive Ressource nutz- bar zu machen. 152 SEBASTIAN KURTENBACH SEBASTIAN KURTENBACH Alltagsort Großsiedlung Zusammenhang von ‚physical‘ und ‚social disorder‘ am Beispiel Köln-Chorweiler Auf der Grundlage der Broken-Windows-Theorie von Wilson und Kelling untersucht der Beitrag den Zusammenhang zwischen phy- sischer Unordnung und abweichendem Verhalten innerhalb der Großsiedlung Köln-Chorweiler. Es wurden an sechs ausgewähl- ten Orten strukturierte teilnehmende Beobachtungen geführt und mehr als 1.500 Situationen dokumentiert und ausgewertet. Das Ergebnis zeigt, dass innerhalb der Siedlung ein Zusammenhang zwischen ‚social‘ und ‚physical disorder‘ besteht. Soziale Segregation, hier verstanden als die räumliche Ungleichverteilung von Arm und Reich innerhalb einer Stadt,1 ist in Deutschland mittlerweile zur Normalität geworden. Gründe liegen zum einen an Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt, wie der Rückgang preisgünstigen Wohnraums und seiner Konzentration auf wenige Wohngebiete,2 und zum anderen an der Polarisierung von Einkommen und Vermögen.3 Auf der Ebene der Stadtteile sind Zusammenhänge sowohl zwischen sozia- ler, ethnischer und demografischer Segregation sowie häufig mit gesundheitlichen Einschränkungen festzustellen.4 Dabei bringt eine erhöhte relative Armutskonzentration Konsequenzen für die lokale Bevölkerung mit sich. Im mittlerweile breiten 1 Jürgen Friedrichs, Sascha Triemer: Gespal- 3 Jan Behringer, Thomas Theobald, Till van tene Städte. Wiesbaden 2009. Treeck: Einkommens- und Vermögensvertei- lung in Deutschland: Eine makroökonomische 2 Institut Wohnen und Umwelt: Auswirkungen Sicht. IMK Report 99, 2004. des Wegfalls von Sozialbindungen und des Verkaufs öffentlicher Wohnungsbestände auf 4 Klaus Peter Strohmeier. Familien in der die Wohnungsversorgung unterstützungsbe- Stadt – Herausforderungen der städtischen dürftiger Haushalte. Darmstadt 2005. Sozialpolitik. In: Detlev Baum (Hg.): Die Stadt in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden 2007. ALLTAGSORT GROSSSIEDLUNG 153 Forschungszweig zu Kontexteffekten werden die individuellen Folgen räumlicher Segregation untersucht.5 Empirische Befunde weisen darauf hin, dass innerhalb segregierter Gebiete positive Rollenvorbilder fehlen,6 es zu weniger Kooperation zwischen den Bewohnern kommt7 und Netzwerkkontakte zu devianten ‚peers‘ abweichende Verhaltensweisen vermitteln beziehungsweise legitimieren.8 Offenbar werden auch durch das einem Stadtteil „Ausgesetzt sein“ (‚Exposure‘), oft verstanden als alltägliche Aufenthaltsdauer in einem sozial segregierten Wohngebiet, Normen der Bewohnerinnen und Bewohner beeinflusst, die unter anderem zu abweichenden Verhaltensweisen führen können.9 Wie es zu einer solchen Normbeeinflussung kommt, ist bislang nicht hinreichend geklärt. In der Literatur zu Kontexteffekten gibt es unterschiedliche Modelle, welche Faktoren der Normbeeinflussung formulieren. Das Rollenmodell geht davon aus, dass im Quartier vor allem negative Rollenvorbilder erfah- ren werden, wodurch abweichendes Verhalten zur Normalität wird.10 Das Netzwerkmodell geht, auf Grundlage der Annahmen von Edwin Sutherland,11 davon aus, dass abweichendes Verhalten von Peers im Netzwerk vermittelt beziehungsweise legitimiert wird.12 Das Wettbewerbsmodell schlägt vor, dass Gruppen miteinander in Konkurrenz um knappe Ressourcen stehen, wodurch es zu geringer Kooperation und dadurch nur 5 Patrick Sharkey, Jacob W. Faber: Where, 8 Jonathan Crane: The Epidemic Theory of When, Why, and For Whom Do Residential Ghettos and Neighborhood Effects on Dropping Contexts Matter? Moving Away from the Out and Teenage Childbearing. In: American Dichotomous Understanding of Neighborhood Journal of Sociology, H. 96 (1991), S. 1226– Effects. In: Annual Review of Sociology, (2014), 1259. H. 40, S. 559–579. 9 Jürgen Friedrichs, Jörg Blasius: Leben in 6 William Julius Wilson: The truly disadventage. benachteiligten Wohngebieten. Opladen 2000. Chicago 1987. 10 Wilson 1987 (Anm. 6). 7 Klaus Peter Strohmeier: Die Stadt im Wan- del – Wiedergewinnung von Solidarpotential. 11 Edwin H. Sutherland, Die Theorie der diffe- In: Kurt Biedenkopf, Hans Bertram, Elisabeth rentiellen Kontakte, In: Fritz Sack, René König Niejahr (Hg.): Starke Familie – Solidarität, (Hg.): Kriminalsoziologie. Frankfurt a.M. 1968. Subsidiarität und kleine Lebenskreise Bericht der Kommission ‚Familie und demographischer 12 Crane 1991 (Anm. 8). Wandel‘. Stuttgart 2007, S. 157–173. 154 SEBASTIAN KURTENBACH zu geringer sozialer Kontrolle kommt.13 Das Modell der rela- tiven Deprivation geht davon aus, dass durch den Vergleich der individuellen, zum Beispiel sozioökonomischen Lage, die eigene Benachteiligung erfahrbar wird und es dadurch zu einer resignativen Haltung kommt.14 Allen Modellen liegt die Absicht zugrunde, Kontexteffekte durch sozial-interaktive Mechanismen zu erklären.15 Hinzu kommen Arbeiten zum Einfluss der materiellen Umwelt auf abweichendes Verhalten. Prominent ist die Broken-Windows- Theorie von James Wilson und George Kelling.16 Ausgangspunkt dieser Theorie ist das Ergebnis eines Experiments von Philip Zimbardo,17 der gezeigt hat, dass ein verlassenes und aufge- gebenes Auto in einer Großstadt eher beschädigt wird als in einer gepflegten Vorstadtstraße. Wilson und Kelling schlussfol- gern daraus, dass nicht nur die soziale, sondern auch die mate- rielle Umwelt einen Einfluss auf das Auftreten abweichenden Verhaltens nehme. Die Arbeiten zur Broken-Window-Theorie haben unterschiedliche Ergebnisse hervorgebracht, doch im Kern hat sich die Theorie bestätigt.18 Sowohl die physisch-ma- terielle als auch die soziale Umwelt beeinflusst das Verhalten von Menschen. Unter physisch-materieller Umwelt werden im Folgenden sowohl Gebäude, als auch materielle Artefakte, wie 13 Hartmut Häußermann u.a.: Lebenslagen in 16 James Q. Wilson, Gerorge L. Kelling: Bro- Deutschland – Armuts- und Reichtumsbericht- ken Windows. In: Atlantic Monthly 3 (1982), erstattung der Bundesregierung: Möglichkeiten S. 29–39. der verbesserten sozialen Inklusion in der Wohnumgebung; Schlussbericht. Berlin 2010, 17 Philip Zimbardo: A Field Experiment in S. 18. Auto-Shaping. In: Colin Ward (Hg): Vandalism. London 1973, S. 85–90. 14 Jürgen Friedrichs: Sozialräumliche Kon- texteffekte der Armut. In: Dietrich Oberwittler, 18 Jacinta M. Gau, Nicholas Corsaro, Rod K. Susann Rabold, Dirk Baier (Hg.): Städtische Brunson: Revisiting broken windows theory: Armutsquartiere – Kriminelle Lebenswelten? A test of the mediation impact of social me- Studien zu sozialräumlichen Kontexteffekten chanisms on the disorder-fear relationship. In: auf Jugendkriminalität und Kriminalitätswahr- Journal of Criminal Justice 42 (2014), H. 6, S. nehmungen. Wiesbaden 2013, S. 11–44. 579–588; Timothy J. Haney: ‚Broken windows‘ and Self-Esteem: Subjective understandings of 15 George Galster: The Mechanism(s) of neighborhood poverty and disorder. In: Social Neighbourhood Effects: Theory, Evidence, and Science Research 36 (2007), S. 968–994; Wes- Policy Implications. In: Maarten van Ham u.a. ley G. Skogan: Disorder and Decline. Crime and (Hg.): Neighbourhood Effect Research. Dord- the spiral of decay in american neigborhoods. recht 2012, S. 23–56. Berkeley, Los Angeles 1990. ALLTAGSORT GROSSSIEDLUNG 155 Autos oder Bänke, verstanden. Unter sozialer Umwelt werden Menschen und ihre Interaktionen miteinander gefasst. Unklar scheint allerdings zu sein, ob es sich bei der Broken- Windows-Theorie nicht einfach um Handlungsweisen von Gruppen handelt, bei denen abweichendes Verhalten zur Norm geworden ist und die physische Umwelt damit keine kausale Erklärung für abweichendes Verhalten bildet. Daher bedarf es der Untersuchung, ob abweichendes Verhalten innerhalb eines segregierten Wohngebietes im Zusammenhang mit sichtbarer ‚physical disorder‘ auftritt. Die forschungsleitende Frage lau- tet daher: Tritt abweichendes Verhalten abhängig von der phy- sisch-materiellen Umgebung innerhalb eines sozial segregierten Gebietes auf? Vorweg: Eine kausale Überprüfung der Broken- Windows-Theorie kann nicht geleistet werden. Dennoch wird eine empirische Annäherung unternommen, welche ein relativ erhöh- tes Niveau von ‚social disorder‘ erklärt. In der Folge kommt es mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit zur Normbeeinflussung, da ‚social disorder‘, legitimiert durch ‚physical disorder‘, im Wohngebiet verstärkt erfahrbar wird. Großsiedlungen als Forschungskontext Zur Beantwortung der Forschungsfrage eignet sich die Untersuchung am Beispiel einer westdeutschen Großsiedlung, da sich dort häufig sowohl baulich-materielle als auch sozi- oökonomische Problemlagen kleinräumig überlagern. Allerdings sind westdeutsche Großsiedlungen ein Forschungskontext mit Besonderheiten, die im Folgenden dargelegt werden. Besonderes Augenmerk wird auf den sozialen Wandel westdeut- scher Großsiedlungen sowie auf Ursachen typischer baulicher Probleme gelegt.19 19 Siehe auch: Sako Musterd, Ronald van Kempen: Trapped or an the Springboard? Housing Careers in Large Hausung Estates in European Cities. In: Journal of Urban Affairs 29 (2007), H. 3, S. 311–329. 156 SEBASTIAN KURTENBACH Olaf Gibbins 20 schlägt folgende Definition für Großsiedlungen vor: „Mit dem Begriff ‚Großsiedlung‘ bezeichnen wir solche Wohngebiete, die in den 60er und 70er Jahren als separate oder zumindest funktional eigenständige Siedlungseinheiten geplant und realisiert wurden. Nicht nur sämtliche Wohnungen, son- dern auch die Infrastruktur, Grün- und Freizeitflächen sowie Verkehrserschließung waren Gegenstand der Planung und Realisierung. Das Erscheinungsbild ist durch eine dichte und hochgeschossige Bebauung geprägt. Der überwiegende Anteil des Wohnungsangebotes besteht aus Mietwohnungen, von denen ein hoher Anteil öffentlich gefördert ist. Die Siedlung sollte min- destens einen Bestand von 500 Wohneinheiten umfassen“.21 Anlass der Errichtung der Großsiedlungen in Westdeutschland war die endgültige Überwindung der Wohnungsnot infolge des Zweiten Weltkrieges, und die Baustellen wurden von Beginn an medial und wissenschaftlich begleitet. Daher ist die gesamte Siedlungszeit dokumentiert, was ein deutlicher Vorteil für die Erforschung von Großsiedlungen ist. Lebten dort in den 1970er Jahren eher mittelschichtsangehörige Haushalte, hat sich dies vielerorts dahingehend geändert, dass dort heute oftmals die Ärmsten der Stadtgesellschaft wohnen. Unter sozialem Wandel wird die „Veränderung sozialer Strukturen über die Zeit“22 verstanden. Beim Wandel von Wohngebieten bedeutet dies eine Veränderung der Sozialstruktur, beispielsweise von wohlhabend und monoethnisch zu armutsgefährdet und eth- nisch heterogen. Aus der Literatur lassen sich fünf idealtypische Phasen des sozialen Wandels westdeutscher Großsiedlungen zusammenfassen. 20 Olaf Gibbins, Großsiedlungen. Bestands- 22 Franz Lehner: Sozialwissenschaft. pflege und Weiterentwicklung. München 1988. Wiesbaden 2011, S. 342. 21 Ebd., S. 9. ALLTAGSORT GROSSSIEDLUNG 157 Phase 1: Großsiedlungen als Wohnort der modernen Kleinfamilie Die Studien aus der Zeit der Errichtung der Großsiedlungen weisen auf eine überdurchschnittliche Kinderzahl in den Siedlungen hin23, was auch als „Kinderberg“ bezeichnet wurde und Herausforderungen an die Stadtplanung stellte.24 Grund war die Belegungspraxis des sozialen Wohnungsbaus,25 wodurch vor allem Mittelschichtsfamilien in die Großsiedlungen zogen. Denn damals adressierte der soziale Wohnungsbau die „breiten Schichten des Volkes“, was insbesondere auf Familienhaushalte abzielte. Die ersten Bewohner der Großsiedlungen wohn- ten in Stadtteilen, die sich zum Teil noch im Bau befanden26 und es noch keine nachbarschaftlichen Beziehungen oder Organisationen gab.27 Phase 2: Großsiedlungen als Kompensationsorte für Bewohner von Behelfssiedlungen Zum Ende der 1970er Jahre hatte sich die Wohnungskrise in Westdeutschland deutlich entspannt, und es war genü- gend Wohnraum vorhanden, wozu auch Großsiedlungen einen Beitrag leisteten. Eben in dieser Zeit kam es zur ers- ten Bevölkerungsumschichtung in den Siedlungen. Ursachen waren verfügbare Alternativen für Mittelschichtsfamilien, da die Mieten aufgrund der Förderpraxis des sozialen Wohnungsbaus 23 Wolfgang Müller: Aktivität im Neubaublock. 24 Petra Dorsch: Eine neue Heimat in Perlach. In: Reimer Groenemeyer, Hans-Eckehard Bahr Das Einleben als Kommunikationsprozess. (Hg.): Nachbarschaft im Neubaublock. Empiri- München 1972; Ulfert Herlyn: Leben in der sche Untersuchungen zur Gemeinwesenarbeit, Stadt. Lebens- und Familienphasen in städti- theoretische Studien zur Wohnsituation. Wein- schen Räumen. Opladen 1990, S. 159. heim, Basel 1977, S. 204–293; Rotraut Weeber: Eine neue Wohnumwelt. Beziehungen eines 25 Weeber 1971 (Anm. 23), S. 39. Neubaugebiets am Stadtrand zu ihrer sozialen und räumlichen Umwelt. Stuttgart, Bern 1971; 26 Ebd., S. 40. Katrin Zapf, Karlous Heil, Justus Rudolph: Stadt am Stadtrand. Eine vergleichende Untersu- 27 Ebd., S. 22. chung in vier Münchener Neubausiedlungen. Frankfurt a. M. 1969. 158 SEBASTIAN KURTENBACH relativ teuer wurden.28 Familien zogen vermehrt in Eigenheime in den Vorstädten,29 was mit der Eigenheimzulage politisch noch unterstützt wurde.30 Zudem litt schon damals das Image von Großsiedlungen unter anhaltender Kritik und baulichen Problemen.31 Die frei gewordenen Wohnungen wurden mit Mietern eines geringen sozioökonomischen Status nachbelegt, was durch Distinktionspraktiken zu einer weiteren Abwanderung der verbliebenen Mittelschichtsfamilien führte. Die neuen Mieter wurden, insbesondere in den 1970er Jahren, aus soge- nannten Obdachlosen- oder auch Barackensiedlungen in die Sozialwohnungen „eingewiesen“.32 Phase 3: Großsiedlungen als gemiedene Gebiete Mit Beginn der 1980er Jahre wurden die Bevölkerungsum- schichtungen in den Großsiedlungen immer deutlicher. Der an- haltende Fortzug, ein ausgeglichener Wohnungsmarkt und die Auswirkungen des demografischen Wandels33 führten zu erhöh- ten Leerständen in den Großsiedlungen Westdeutschlands.34 Die Bewohner der Siedlungen, die es noch gab, waren vorwiegend Haushalte mit einem relativ geringen sozioökonomischen Status. Die Phase reichte von ca. 1983 bis 1986.35 28 Jürgen Friedrichs: Stadtsoziologie. Opladen 33 Franz-Xaver Kaufmann: Schrumpfende 1995, S. 105; Hartmut Häußermann, Walter Sie- Gesellschaft. Bonn 2005, S. 50. bel: Stadtsoziologie. Frankfurt a. M. 2004, S. 159. 34 Beate Huf: Brückenhof. Zusammenleben 29 Ebd. in einer Großsiedlung am Stadtrand. Kassel 1991; Volker Kreibich: Wohnversorgung und 30 Albrecht Göschel: Schrumpfung, demogra- Wohnstandortverhalten. In: Jürgen Friedrichs phischer Wandel und Kulturpolitik. Kulturpoliti- (Hg.): Die Städte in den 80er Jahren. Opladen sche Mitteilungen, 117 (2007), H. 2, S. 35–38. 1985, S. 181–195. 31 Dorsch 1972 (Anm. 24), S. 44; Jürgen 35 Friedrichs 1995 (Anm. 28), S. 124. Friedrichs, Jens Dangschat: Gutachten zur Nachbesserung des Stadtteils Mümmelmanns- berg. Hamburg 1986, S. 9. 32 Martin Lenz: Auf dem Weg zur Sozialen Stadt. Abbau benachteiligender Wohnbedin- gungen als Instrument der Armutsbekämpfung. Wiesbaden 2007. ALLTAGSORT GROSSSIEDLUNG 159 Phase 4: Großsiedlungen als Migrationszielgebiete Gegen Ende der 1980er Jahre nahm die Leerstandsproblematik der Siedlungen rapide ab, und das ohne grundlegende bauliche Eingriffe in die Siedlungsstrukturen oder Imageverbesserungen. Ursache war der verstärkte Zuzug von Zuwanderern aus der zusammenbre- chenden Sowjetunion und mit ihr verbündeter Staaten.36 Vor allem die Kommunen standen vor der Herausforderung, Zuwanderer mit Wohnraum zu versorgen. Dabei halfen ihre Belegungsrechte im sozialen Wohnungsbau, mit dessen finanzieller Unterstützung die Großsiedlungen errichtet wurden. Selbst in den Fällen, in denen die Kommunen keine direkten Belegungsrechte mehr hatten, waren die Mieten relativ günstig, was vor allem an Nachsubventionierungen für den sozialen Wohnungsbaus lag.37 Im Grunde wiederholte sich die zweite Phase des Wandels, nur diesmal mit Zuwanderern aus dem Ausland und nicht mehr aus Behelfswohnungen. Auch in die- sem Falle kam es zu selektiven Auszügen, vor allem der verbliebe- nen Mittelschichtshaushalte.38 Die Folge war zwar eine reduzierte Leerstandsquote, aber eben auch eine nahezu vollständige soziale Entmischung. Phase 5: Großsiedlungen als Wohnorte der Marginalisierten Auch heute sind Großsiedlungen noch an den Stadträndern zu finden, allerdings hat sich die Verkehrsanbindung verbessert und es sind zumeist ausreichend Plätze in Kindertageseinrichtungen vorhanden, was anfängliche Probleme waren. Andere Heraus- 36 Peter Kamper: Die Neue Vahr und die Kon- 37 Huf 1991 (Anm. 34), S. 13. junkturen der Großsiedlungskritik 1957–2005. In: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 38 Jürgen Friedrichs: Middle-class leakage in 1 (2013), S. 13–24, hier S. 21; Wendlin Strubelt, lage new housing estates: empirical findings Karin Veith: Zuwanderung und Integration – and policy implications. In: Journal of Architec- Deutschland in den 80 und 90er Jahren. In: tural and Planning Research 8 (1991), H. 4, Jürgen Friedrichs (Hg.): Die Städte in den 90er S. 287–295. Jahren. Demographische, ökonomische und soziale Entwicklungen. Opladen, Wiesbaden 1997, S. 109–135, hier S. 109–111. 160 SEBASTIAN KURTENBACH forderungen wurden vielerorts nicht bewältigt. Großsiedlungen sind heute sozial und ethnisch segregierte Quartiere39 und poli- tisch nur wenig beachtet. Sie gehören in vielen westdeutschen Städten zu den „Problemgebieten“ der Stadt und sind häufig Quartiere, die mit Hilfe von Städtebauförderprogrammen „stabili- siert“ oder „verbessert“ werden sollen. Zugleich treten in einigen Siedlungen gehäuft bauliche Problemlagen aufgrund unzurei- chender Investition von Seiten der Eigentümer, wie zum Beispiel Finanzinvestoren, auf.40 Für die Untersuchung zum Zusammenhang zwischen ‚social‘ und ‚physical disorder‘ folgt aus der Aufarbeitung des sozialen Wandels, dass von einer erhöhten ‚social disorder‘ ausgegan- gen werden kann. Die Bewohner unterhalten, aufgrund häufiger Bevölkerungsumschichtungen, nur im geringen Maße gewach- sene Nachbarschaftsbeziehungen und das Ausmaß sozialer Kontrolle ist gering.41 Zugleich führen geringe Investitionen in die Siedlungen, Vandalismus und Verschmutzung zu einem vergleichsweise hohen Ausmaß von ‚physical disorder‘. Selbstverständlich ist der hier skizzierte Verlauf nicht für alle Großsiedlungen in Westdeutschland zutreffend, da es durchaus unterschiedliche lokale Dynamiken geben kann. Daher ist er eher als idealtypische Entwicklung zu sehen. Zusammenhang von ‚physical‘ und ‚social disorder‘ unter den Bedingungen sozialer Segregation Als Beispielstadtteil dient die Großsiedlung Köln-Chorweiler (Mitte), welche in den 1970er Jahren errichtet wurde. Die „Neue Stadt“ Chorweiler ist heute aufgrund ihrer gerin- gen Wahlbeteiligung und hohen Problemdichte bundesweit 39 Hartmut Häußermann: Zuwanderung und 40 Sebastian Müller: Wohnungsverkäufe in die Zukunft der Stadt. Neue ethnisch-kulturel- Bochum Mieterprivatisierung, Mehrfachverkäu- le Konflikte durch Entstehung einer sozialen fe und Finanzinvestoren. Bochum 2009. ‚underclass‘? In: Wilhelm Heitmeyer, Rainer Dollase, Otto Backes (Hg.): Die Krise der 41 Robert J. Sampson, Stephen W. Rauden- Städte. Analysen zu den Folgen desintegrativer bush, Felton Earls: Neighborhoods and Violent Stadtentwicklungen für das ethnisch-kulturelle Crime: A Multilevel Study of Collective Efficacy. Zusammenleben. Frankfurt a. M. 1998. In: Science 277 (1997), S. 918–924. ALLTAGSORT GROSSSIEDLUNG 161 bekannt. Das oftmals als monoton empfundene städtebauli- che Erscheinungsbild korreliert mit einer armutsgeprägten und ethnisch diversifizierten Bevölkerung. Zudem sind mittlerweile weite Teile des Siedlungskerns von teilweise ausgebliebenen Investitionen gekennzeichnet, was die benachteiligende Lage noch verschärft. Gepflegte Hochhäuser stehen neben augen- scheinlich baulich eher problematischen Immobilien. Zur Beantwortung der Forschungsfrage wird ein explorati- ves und standardisiertes Verfahren im Rahmen eines empi- risch-quantitativen Forschungsansatzes gewählt. Grundlage war ein Feldaufenthalt von September bis November 2014, wozu in der Osloer Straße 5 eigens eine Wohnung angemietet wurde. Zwischen dem ersten und dem fünften September 2014 fanden vorbereitende Stadtteilbegehungen zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten statt. Ziel der Begehungen war es, Orte auszu- wählen, an denen strukturierte teilnehmende Beobachtungen durchgeführt werden konnten, welche sich hinsichtlich ihrer bau- lichen Qualität voneinander unterschieden. Darunter waren drei Orte, an denen es ‚physical disorder‘ in Form baulich problema- tischer Zustände wie starke Verschmutzung oder offensichtliche bauliche Mängel an den Hausfassaden gab; außerdem zwei Orte, an denen dies nicht der Fall war und eine Grünanlage. An fünf von sechs Orten waren Spielflächen für Kinder vorhanden. Tabelle 1 gibt einen Überblick zu den genannten Orten sowie zu ihrer Lage innerhalb der Siedlung: Ort ‚physical disorder‘ Spielfläche Pariser Platz Ja Nein Stockholmer Allee Ja Ja Osloer Straße Ja Ja Sahle Hochhaus Nein Ja Bumerang Siedlung Nein Ja Grünfläche Merianstraße Keine Bebauung Ja Tabelle 1: Übersicht der Erhebungsorte in Köln-Chorweiler 162 SEBASTIAN KURTENBACH Nach Michael Häder 42 bringen teilnehmende Beobachtungen zwei Probleme mit sich. Erstens gibt es ein Wahrnehmungsproblem, da oftmals unklar ist, was beobachtet werden soll. Dadurch kommt es zur selektiven Wahrnehmung eher unbekannter Phänomene, weil Vertrautes weniger deutlich wahrgenommen wird.43 Zweitens können Gesten oder Symbole falsch gedeutet werden, insbesondere, wenn sie dem Beobachtenden unbe- kannt sind. Beiden Problemen wurde mit der größtmöglichen Standardisierung entgegengewirkt. Sie können aber dennoch nicht ganz ausgeschlossen werden. Die standardisierten Beobachtungen während der Feldfor- schungsphase wurden passiv teilnehmend durchgeführt. Das bedeutet, dass zwar Präsenz am Ort gezeigt wurde, aber die Situationen nach Möglichkeit nicht beeinflusst wurden.44 Bei Rückfragen von Passantinnen und Passanten wurde Auskunft über das Projekt gegeben und der Beobachtungsbogen vorgezeigt. Die Erhebungseinheit der Beobachtungen waren „Situationen“. Situation ist definiert als „ein Komplex von Personen, ande- ren Organismen, materiellen Elementen, der zumeist an einen bestimmten Ort und Zeitraum gebunden ist und als solcher eine sinnlich wahrnehmbare Einheit bildet“.45 Daraus folgt, dass eine räumliche Nähe beziehungsweise soziale Präsenz der Situationsteilnehmer vorhanden sein muss,46 damit diese wahr- nehmen, dass sich ihre Interaktionen unmittelbar aufeinander beziehen: „Das meint, wenn zwei Individuen zusammen sind, wird zumindest ein Teil ihrer Welt auf der Tatsache (und der Betrachtung dieser Tatsache) beruhen, dass die Aufnahme einer Handlungslinie durch eine Person von der anderen entweder ver- ringert oder gefördert wird, oder auch beides“.47 Für die struk- turierten teilnehmenden Beobachtungen wurden Situationen 42 Michael Häder: Empirische Sozialfor- 46 Erving Goffman: Interaktion im öffentlichen schung. Wiesbaden 2010. Raum. Frankfurt a. M., New York 2009, S. 33. 43 Jürgen Friedrichs, Hartmut Lüdtke: Teilneh- 47 Ebd., S. 32. mende Beobachtung. Weinheim 1971, S. 29. 44 Ebd., S. 39. 45 Ebd., S. 45. ALLTAGSORT GROSSSIEDLUNG 163 Abb. 1: Räumliche Verteilung der Beobachtungsorte in Chorweiler operationalisiert als zwei oder mehr Menschen die, innerhalb eines vorher festgelegten Raumes, direkt miteinander intera- gieren. Als Grundgesamtheit mussten alle Personen, die sich im öffentlichen Raum der Siedlung aufhielten, definiert werden, auch wenn nicht alle in der Siedlung wohnen. Zur Datenerhebung wurden zwischen dem 6. September und dem 30. Oktober 2014 an jedem Samstag, Sonntag, Montag und Dienstag strukturierte teilnehmende Beobachtungen durchge- führt. An jedem der Orte wurde 15 Minuten lang beobachtet. Die Route, in Reihenfolge der Aufzählung in Tabelle 1, begann täglich an einem anderen Startpunkt, wurde aber für den Tag beibehal- ten. Pro Zeitabschnitt und Ort konnten mehrere Beobachtungen gleichzeitig durchgeführt werden. Die Zeitslots waren im Einzelnen: Morgens: zwischen 6:00 und 9:00 Uhr Vormittags: zwischen 9:00 und 11:30 Uhr Mittags: zwischen 11:30 und 14:30 Uhr Nachmittags: zwischen 14:30 und 17:30 Uhr Früher Abend: zwischen 17:30 und 19:30 Uhr Abends: zwischen 19:30 und 22:00 Uhr 164 SEBASTIAN KURTENBACH Zur Beobachtung diente ein standardisiertes Instrument, welches sich an Robert Sampson und Stephen Raudenbush48 orientiert. Es wurden pro Situation die in Tabelle 2 aufgeführten dichotomen Variablen abgefragt. Hinzu kam die demografische Beschreibung aller Gruppenmitglieder nach geschätztem Lebensjahrzehnt: Ziel Indikatoren Beschreibung der Ort, Anzahl und geschätztes Alter der Personen Interaktion Beschreibung der Erwachsene / Jugendliche, die herumstehen, ‚social disorder‘ aggressives Verhalten, es wird geraucht, Müll wird auf den Boden geworfen / es wird ausgespien, es sind Menschen im Drogen- oder Alkoholrausch zu sehen, Alkohol wird getrunken, Erwachsene schreien Kinder an, abweichendes Verhalten wird durch Situationsteilnehmer sanktioniert Beschreibung der Verwahrloste Gebäude, keine Bepflanzung vorhan- ‚physical disorder‘ den, Zigarettenkippen und / oder Müll liegen herum, leere Bierflaschen oder andere Alkoholflaschen lie- gen herum, es gibt Graffiti, Kondome liegen herum, Spritzen oder anderes, was auf Drogenkonsum hinweist, ist sichtbar, politische Botschaften sind zu sehen (Aufkleber etc.) Tabelle 2: Erhobene Indikatoren während der teilnehmenden Beobachtung im Oktober 2014 48 Robert J. Sampson, Stephen W. Rauden- bush: Systematic Social Observation of Public Spaces: A New Look at Disorder in Urban Neighborhoods. In: American Journal of Socio- logy 105 (1999), H. 3, S. 603–651. ALLTAGSORT GROSSSIEDLUNG 165 Abb. 2: Verteilung der Häufigkeiten beobachteter Situationen nach Zeitraum (N = 1.557) Insgesamt wurden 1.557 auswertbare Situationen erhoben. Die Erhebung war nur möglich, da der Autor in der Erhebungszeit (September bis November 2014) eine Wohnung in der Siedlung bezog. Abbildung 2 zeigt die Häufigkeitsverteilung der Situationen nach den Zeiträumen. Zu erkennen ist, dass sowohl in den Morgen- als auch in den späten Abendstunden der öffentliche Raum in Chorweiler mäßig genutzt wurde, was auch an der wenig einladenden städtebauli- chen Gestaltung sowie den beschränkten Angeboten, wie zum Beispiel Gaststätten, liegen könnte. Tagsüber hingegen, und ins- besondere am Nachmittag und am frühen Abend, wurde der öffent- liche Raum häufiger aufgesucht. Aufgrund der relativen zeitlichen Konzentration der Nutzung des öffentlichen Raums in Chorweiler ist davon auszugehen, dass sich unterschiedliche Gruppen gegen- seitig wahrnehmen und miteinander interagieren, wodurch sich Normen „ausbreiten“ können. Eine Norm wird im Rahmen dieser Arbeit verstanden als eine, von den Mitgliedern einer Gesellschaft als verbindlich erachtete Verhaltensvorschrift, welche sowohl positive als auch negative Sanktionen mit sich bringt.49 49 Alexandra Nonnenmacher: Ist Arbeit eine Pflicht? Wiesbaden 2009, S. 19. 166 SEBASTIAN KURTENBACH Abb. 3: Verteilung der Häufigkeiten beobachteter Situationen nach Erhebungsorten (N = 1.557) Abbildung 3 zeigt die Verteilung der Häufigkeiten beobachte- ter Situationen nach Erhebungsort. Zu erkennen ist, dass der Pariser Platz der meist frequentierte Ort war. Er bildet zugleich das Zentrum des öffentlichen Lebens im Wohngebiet. Die übri- gen Orte wurden etwa gleich häufig aufgesucht. Zur Überprüfung der forschungsleitenden Frage bedarf es der Auswertung nach dem Auftreten abweichenden Verhaltens, differenziert nach der augenscheinlichen Qualität der baulichen Substanz. Damit kann untersucht werden, ob die unmittelbare bauliche Umgebung einen direkten Einfluss auf das Auftreten abweichenden Verhaltens ausübt, da es sich ja um das gleiche Milieu handelt. Der einzige Unterschied bildet die materielle Umgebung. Abbildung 4 zeigt den Anteil an Situationen mit abweichendem Verhalten an allen Situationen jeweils an allen Erhebungsorten. Zu erkennen ist, dass am Pariser Platz, einem Vorplatz der Stockholmer Allee und der Spielplatz an der Osloer Straße abwei- chendes Verhalten relativ häufig auftrat, wohingegen dies am Sahle Hochhaus und der Bumerang Siedlung nicht der Fall war. Daher sind in Abbildung 5 die Orte mit und ohne augenschein- lichen baulichen Mängeln und ohne Gebäude (Grünanlage) zusammengefasst. ALLTAGSORT GROSSSIEDLUNG 167 Abb. 4: Anteil der Beobachtungen mit abweichendem Verhalten an allen Beobachtungen des jeweiligen Ortes nach Erhebungsort (N = 1.557) Deutlich zu erkennen ist, dass Orte mit ‚physical disorder‘ eben auch häufig solche sind, an denen ‚social disorder‘ auftritt. Der Befund ist beachtlich, da es sich an allen Orten um das glei- che Milieu handelt. ‚Social disorder‘ wird demnach durch ‚phy- sical disorder‘ auch innerhalb eines Wohngebietes legitimiert. Damit ist noch nicht gezeigt, welche Gruppen welche Art abwei- chenden Verhaltens zeigen. Die einzige dafür zur Verfügung Abb. 5: Anteil des abweichenden Verhaltens nach augenscheinlicher Qualität der Bausubs- tanz, in Prozentzahlen ausgedrückt (N = 435) 168 SEBASTIAN KURTENBACH Abb. 6: Typen abweichenden Verhaltens nach demografischen Aspekten (Mehrfachausprägun- gen pro Situation möglich; N = 1.219) stehende Information in den Beobachtungsdaten bildet die demografische. Abbildung 6 zeigt, aufgeteilt nach geschätz- tem Lebensjahrzehnt, die Art des aufgenommen abweichenden Verhaltens. Da Situationen die Erhebungseinheit bildeten, sind Mehrfachzählungen einer Situation möglich, da ihr gegebe- nenfalls Teilnehmer aus unterschiedlichen Lebensjahrzehnten angehörten. Zu erkennen ist, dass insbesondere dann abweichendes Verhalten ausblieb, wenn die Teilnehmer ein höheres Alter hatten. Ebenso waren Kinder und Jugendliche weniger an Situationen mit abwei- chendem Verhalten beteiligt als Menschen in der demografischen Lebensmitte. Allerdings waren Unterschiede hinsichtlich der Art des abweichenden Verhaltens zu erkennen. Während Kinder und Jugendliche häufiger an Situationen mit gewaltsamen Handlungen teilnahmen, waren es bei Erwachsenen eher solche, in denen der Konsum von Alkohol oder Drogen zu beobachten war. Wie Abbildung 7 zeigt, fanden sich hingegen kaum tageszeit- liche Unterschiede für das Auftreten abweichenden Verhaltens. ALLTAGSORT GROSSSIEDLUNG 169 Abb. 7: Anteil der Situationen mit abweichendem Verhalten an allen Situationen zur jeweiligen Tageszeit (Mehrfachausprägungen pro Situation möglich; N = 435) Was mit den Beobachtungen nicht geleistet werden konnte, ist eine Prüfung der kausalen Beziehungen zwischen ‚physi- cal‘ und ‚social disorder‘. Hier wenden zum Beispiel Sampson und Raudenbush50 erstens ein, dass es nicht alleine Anzeichen von ‚physical disorder‘, sogenannte ‚incivilities‘, sind, die zu ‚social disorder‘ führen, sondern eben auch die (diskriminie- rende) Wahrnehmung von Gruppen, die mit ‚social disorder‘ in Verbindung gebracht werden. Zweitens begründet ‚physical dis- order‘, wie sie argumentieren, kein abweichendes Verhalten, wodurch die Merkmale von ‚physical‘ und ‚social disorder‘ zwar korrelieren mögen, sich ‚social disorder‘ aber nicht kausal durch ‚physical disorder‘ erklären lässt.51 Mit dem standardisierten Instrument konnten demnach zwar die Handlungen, aber nicht die Ursachen der Handlungen erklärt werden. 50 Robert J. Sampson, Stephen W. Rauden- 51 Sampson, Raudenbush 1999 (Anm. 48). bush: Neighborhood stigma and the perception of disorder. In: Focus 24 (2005), H. 1, S. 7–11. 170 SEBASTIAN KURTENBACH Fazit Die Beobachtungen haben den vermuteten Zusammenhang von ‚physical‘ und ‚social disorder‘ bestätigt. Bemerkenswert am Befund ist, dass der Effekt sogar innerhalb einer Siedlung, also im gleichen Milieu, nachgewiesen werden konnte. Die for- schungsleitende Frage wird wie folgt beantwortet: Abweichendes Verhalten tritt auch innerhalb ein und desselben Wohngebietes, abhängig von der baulich-materiellen Umgebung auf. Dabei sind allerdings Alterseffekte festzustellen. Wenn Ältere an einer Situation beteiligt sind, tritt abweichendes Verhalten weniger häufig auf. Daraus folgen zwei mögliche Schlüsse. Erstens kann von einer Legitimierung abweichenden Verhaltens durch ‚phy- sical disorder‘ ausgegangen werden. Zweitens führt die räum- liche Konzentration von ‚social disorder‘ durch abweichendes Verhaltens zur Produktion einer Alltagswelt, die von abweichen- dem Verhalten geprägt ist und es dadurch legitimiert. Beide Befunde sind in einer Linie mit Arbeiten zur Broken-Windows- Theorie52 und zu lerntheoretischen Studien53. Die Arbeit ist nicht frei von Restriktionen. Es handelt sich nur um ein Fallbeispiel, und ob die Ergebnisse allgemein zutreffend sind, muss in weiteren Untersuchungen geprüft werden. Zudem sind durch das standardisierte Verfahren zum einen nur ausge- wählte Typen abweichenden Verhaltens erhoben, zum anderen sind alle erfassten Situationen gleich gewichtet worden. Das bedeutet, dass Situationen, in denen zum Beispiel geraucht wurde, mit gewalttätigen Situationen gleichgesetzt sind. Eine Hierarchisierung der Typen abweichenden Verhaltens ist also nicht vorgenommen worden. Der zwar nicht kausal bewiesenen, aber dennoch hinweisende Befund der baulich-materiellen Abhängigkeit abweichenden Verhaltens innerhalb eines Wohngebietes verweist auf die 52 Wesley G. Skogan: Disorder and Crime. 53 Albert Bandura: Social Learning Theory. Crime and the spiral of decay in american New York City 1971. neigborhoods. Berkeley, Los Angeles 2005. ALLTAGSORT GROSSSIEDLUNG 171 dringende Notwendigkeit der Sanierung und Instandhaltung von Wohngebieten als Daueraufgabe von Hauseigentümern und Stadtentwicklung. Denn in den sozial und ethnisch segregierten Quartieren, wie Großsiedlungen, ist der Bevölkerungsanteil der unter 6-Jährigen in der Regel relativ hoch. In solchen Quartieren lernen damit verhältnismäßig viele Kinder, und damit die nach- folgende Generation, die Legitimität abweichenden Verhaltens in ihrem täglichen Erfahrungsraum.54 54 Eine ausführlichere Darstellung der For- schungsarbeit findet sich in: Sebastian Kurten- bach: Leben in herausfordernden Wohngebie- ten. Das Beispiel Köln-Chorweiler. Wiesbaden 2017 (im Druck). 172 STEPHANIE KERNICH STEPHANIE KERNICH Die affektiven Deutungsstrategien von Architektur-Laien Dieser Beitrag befasst sich mit den Relevanzstrukturen von Architektur-Laien bei der Wahrnehmung der gebauten Umwelt, da – so die hier vertretene These – bei Laien prinzipiell andere Sinn- und Deutungszuschreibungen der gebauten Umwelt zugrunde liegen als bei denen, die sich professionell mit ihr beschäftigen. Dabei geht es insbesondere um die affektiven Deutungsstrategien, die hier als eine Auswahl präsentiert werden. Die Wahrnehmung der gebauten Umwelt durch Architektur- Fachleute auf der einen Seite und durch die Bevölkerung auf der anderen Seite stehen in einem nicht zu unterschätzen- den Spannungsverhältnis: Architektur und damit die gebaute Umwelt wird häufig nicht so wahrgenommen, wie Architektur- Fachleute sich das vorstellen, was sich in öffentlich geäußerten Kommentaren wie dem Folgenden widerspiegelt: „Außer dem Prime Tower und dem Elefantenhaus (Zoo) gibt es nun wirk- lich keine herausragend gute Architektur in Zürich. Soll mir mal jemand erklären, was am Toni Areal architektonisch toll sein soll (für mich ein überdimensionierter Bunker) oder die größte Bausünde der letzten Jahre – die Europaallee“.1 Wenn die gebaute Umwelt von der Bevölkerung kritisch wahr- genommen und kommentiert wird, was auch das anschließende 1 Roger Oesch: Leserbrief. Das sind die bes- ten Bauten von Zürich. In: Tages-Anzeiger, 6. Juni 2016. URL: http://www.tages-Anzeiger.ch/ zuerich/stadt/das-sind-die-besten-bauten-von- zuerich/story/27069605#mostPopularComment (08.01.2017). DIE AFFEKTIVEN DEUTUNGSSTRATEGIEN VON 173 ARCHITEKTUR-LAIEN Beispiel illustriert, wird offensichtlich, dass eine grundlegende Diskrepanz besteht zwischen professionellen ästhetischen und sozio-kulturellen Konzepten von Architektur-Fachleuten und der Aneignung von Architektur-Laien in deren jeweiliger Alltagswirklichkeit: „Die ‚hässlichen Quader‘ bleiben aber [...] ein 80 Meter langer Riesenklotz mit vielen kleinen Klötzen, da kön- nen Ausführungsplan und clevere Architektur nichts ändern und verschönern“.2 Das damit angesprochene Thema der Experten-Laien-Kommu- nikation in der Architektur3 wurde bereits von Riklef Rambow in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Allerdings beziehen sich die empirischen Grundlagen seiner architekturpsycholo- gischen Studie auf quantitative Befragungen von Architektur- Studierenden. Jedoch kann man Architektur-Studierende schwer- lich als Architektur-Laien auffassen, liegt bei ihnen doch bereits allein durch ihre Studienrichtungswahl mindestens ein implizi- tes Interesse an Architektur zugrunde. Es bleibt also die Frage im Kern unbeantwortet, wie die gebaute Umwelt als soziales Phänomen erforscht werden kann, das als geteilte intersubjektive Alltagswirklichkeit in Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Individuum steht, denn: „der Mensch – freilich nicht isoliert, son- dern inmitten seiner Kollektivgebilde – und seine gesellschaft- liche Welt stehen miteinander in Wechselwirkung. Das Produkt wirkt zurück auf seinen Produzenten. [...] daher gibt es für jedes Leben eine Spanne, in deren zeitlichem Verlauf der Mensch in seine Teilhaberschaft an der gesellschaftlichen Dialektik ein- geführt wird. Dieser Prozess ist die Internalisierung: das unmit- telbare Erfassen und Auslegen eines objektiven Vorgangs oder Ereignisses, das Sinn zum Ausdruck bringt, eine Offenbarung subjektiver Vorgänge bei einem Anderen also, welche auf diese Weise für mich subjektiv sinnhaft werden“.4 2 Raffael Ullmann: Leserbrief. Dem Volk 4 Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die vorlegen. In: Tages-Anzeiger, 2. August 2016, gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: S. 10. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M. 2003, S. 65, 139. 3 Riklef Rambow: Experten-Laien-Kommuni- kation in der Architektur. Münster 2012. 174 STEPHANIE KERNICH Durch diesen Beitrag soll zum einen deutlich gemacht werden, dass es sich bei Architektur-Laien um andere Relevanzstrukturen und damit zusammenhängend um andere Deutungsstrategien handelt als bei Architektur-Fachleuten. Um diese wissenschaft- lich zu erforschen, wird zum anderen eine Möglichkeit vorge- stellt, wie die explizit und implizit vorhandene architektonische Wirklichkeitsauffassung von Architektur-Laien erhoben und ana- lysiert werden kann. Daher steht hier die alltägliche subjektive Wahrnehmung der gebauten Umwelt durch die Bevölkerung im Mittelpunkt. Untersucht werden die für diese damit verbundene soziale, kul- turelle und ästhetische Kriterien, ohne jedoch die soziokultu- rellen und ästhetischen Definitionen zu diesen Konzepten aus Architekturtheorie, Stadtplanung und/ oder Kunstwissenschaften unhinterfragt zu übernehmen. Denn – so eine weitere, hier vertre- tene These: Die bestehenden Sinn- und Deutungszuschreibungen können nur dadurch entdeckt und analysiert werden, indem man sich einerseits im Rahmen einer empirischen Forschung direkt ins Forschungsfeld hinein begibt, das heißt in die Alltagswirklichkeit der Bevölkerung. Andererseits sind gemäß den wissenschaftlichen Standards der qualitativen Sozialforschung entsprechend sowohl die Datenerhebung als auch deren Auswertung stets methodo- logisch reflektierend durchzuführen. Dazu gehören als eine der wichtigsten Grundprinzipien der qualitativen Sozialforschung eine Offenheit gegenüber möglichen Forschungsergebnissen und dementsprechend ein adäquat entwickeltes Erhebungsverfahren. Es reicht also nicht, wenn Architektur-Fachleute Alltagswirklichkeit subjektiv nachempfinden, da sie unweigerlich mit einem fachlich geprägten Aufmerksamkeitsfokus ins Forschungsfeld gehen.5 Zu Beginn dieses Beitrags wird die theoretische Ausgangsbasis skizziert, indem architektursoziologische Theorien mit der sozio- logischen Theorie der gesellschaftliche[n] Konstruktion der 5 Wie dies jüngst wieder geschehen ist in: Eberhard Tröger, Dietmar Eberle (Hg.): Dichte Atmosphäre. Über die bauliche Dichte und ihre Bedingungen in der mitteleuropäischen Stadt. Basel 2015, S. 29–43 und S. 151–169. DIE AFFEKTIVEN DEUTUNGSSTRATEGIEN VON 175 ARCHITEKTUR-LAIEN Wirklichkeit 6 verbunden werden, um den personalen Bezug der subjektiven Wahrnehmung berücksichtigen zu können. Es folgen Ausführungen zur Methodologie und zur Datenbasis, darauf auf- bauend wird ein Teil der Forschungsergebnisse vorgestellt.7 Theoretischer Rahmen Die gebaute Umwelt als Gegenstand der Architektursoziologie Gebaute Umwelt umfasst neben der Architektur auch deren Umfeld wie beispielsweise Vorgärten, Innenhöfe oder Stadtraumgestaltungen. Wenn nach der Wahrnehmung von Architektur gefragt wird, sollte diese Umgebung als möglicher Einflussfaktor berücksichtigt werden. Daher wird hier der Begriff ‚gebaute Umwelt‘ verwendet.8 Diese stellt eine von Menschen in unterschiedlichen Epochen geschaffene materiale Kultur dar. Gleichzeitig bildet sie die Lebensumgebung von Menschen und beeinflusst deren Handlungsmöglichkeiten sowie -grenzen, die durch diese Lebensumgebung erst entstehen. Die gebaute Umwelt stellt somit im Sinne von Berger und Luckmann eine soziale Tatsache dar. Es kann festgehalten werden, „dass die Beziehung zwischen dem Menschen als dem Hervorbringer und der gesellschaftlichen Welt als seiner Hervorbringung dialektisch ist und bleibt. Das bedeutet: der Mensch – freilich nicht isoliert, sondern inmitten seiner Kollektivgebilde – und seine gesellschaft- liche Welt stehen miteinander in Wechselwirkung. Das Produkt wirkt zurück auf seinen Produzenten“,9 wobei unter „Produzenten“ in diesem Zusammenhang eben auch die Bevölkerung und ihre Alltagswirklichkeit zu verstehen ist. 6 Berger und Luckmann 2003 (Anm. 4). 8 Dass damit auch eine Räumlichkeit einbe- zogen wird, soll hier nicht vertieft thematisiert 7 Eine ausführliche Darstellung der For- werden, da das Forschungsinteresse auf die schungsarbeit findet sich in: Stephanie Kernich: Wahrnehmung der gebauten Umwelt bezogen Alltägliche Architektur. Die gebaute Umwelt in ist und nicht auf deren räumliche Wahrneh- unserer Alltagswirklichkeit. Konstanz 2017. mung. 9 Berger und Luckmann 2003 (Anm. 4), S. 64–65. 176 STEPHANIE KERNICH Menschen als handelnde Subjekte Die Perspektive der Bevölkerung, die sich in der gebauten Umwelt als ihrer Alltagswirklichkeit bewegt und darin lebt, ist bislang selbst in der architektursoziologischen Forschung wenig beach- tet worden. Auch aus diesem Grund basiert das im Folgenden Vorgestellte auf einer Konzeption der Wissenssoziologie, die „impliziert, dass Soziologie zu jenen Wissenschaften gehört, deren Forschungsgegenstand der Mensch als Mensch ist [...]. Dieser Forschungsgegenstand ist Gesellschaft als Teil einer menschlichen Welt, geschaffen von Menschen, bewohnt von Menschen und in unaufhörlichem historischen Prozess wie- derum an Menschen schaffend“.10 In diesem theoretischen Rahmen werden – ausgehend von der Bevölkerung als per- sonale Akteure11 – Wirklichkeitskonstruktionen im Alltags zur soziologischen Begriffs- beziehungsweise Kategorienbildung herausgearbeitet, welche in einer kommunikativ vermittelten Interaktionssituation zur Sprache kommen. Denn „sprachliche Zeichengebung erreicht als symbolische Sprache die weiteste Entfernung vom ‚Hier und Jetzt‘ der Alltagswelt. [...] Sie errich- tet riesige Gebäude symbolischer Vorstellung, welche sich über der Wirklichkeit der Alltagswelt zu türmen scheinen [...]. Religion, Kunst, Wissenschaft sind die größten Symbolsysteme der bis- herigen Geschichte der Menschen [...]. Sprache hat nämlich die Kraft, nicht nur fern der Allerweltserfahrung Symbole zu bilden, sondern sie umgekehrt auch wieder in die Alltagswelt ‚zurück- zuholen‘ und dort als objektiv wirkliche Faktoren zu ‚präsentie- ren‘. Symbole und symbolische Sprache werden so tragende Säulen der Alltagswelt und der ‚natürlichen‘ Erfahrung ihrer Wirklichkeit“.12 Mit dieser theoretischen Grundlage können sys- tematisch die durch Menschen in deren Alltagswirklichkeit kon- struierten, sozialen und kulturellen Deutungszusammenhänge erkannt, rekonstruiert und analysiert werden. 10 Ebd., S. 201. 12 Ebd., S. 157–166. 11 Siehe ausführlicher in: Kernich 2017 (Anm. 7), S. 46–47. DIE AFFEKTIVEN DEUTUNGSSTRATEGIEN VON 177 ARCHITEKTUR-LAIEN „Die Wirklichkeit oder das, ‚wo Objektivationen Realität gewor- den sind‘, bleibt vorerst nur ein Abstraktum. Erst durch die Wahrnehmung von Subjekten werden die Objektivationen in einen subjektiven Sinnzusammenhang gestellt. Um diese Sinndeutungen und diese Kongruenzherstellung auf einer inter- subjektiven Ebene wissenschaftlich zu fassen zu bekommen, werden Kategorien und (Ein-)Ordnungsstrukturen benötigt“.13 Dies findet ebenfalls in einem intersubjektiven Austausch statt und verhält sich reziprok zueinander. Die solchermaßen zu erfor- schende gebaute Umwelt wird hier als „konstitutives Element des Sozialen“ aufgefasst, welches eine mehr oder weniger starke Verbindung zwischen den Individuen und dem Sozialen her- stellt.14 Menschen schreiben der gebauten Umwelt beziehungs- weise Elementen von ihr dynamische, wechselseitige und damit auch antizipierende Wirkungen zu. Die Reziprozität beinhaltet einerseits Veränderungen durch handelnde Subjekte, indem diese die gebaute Umwelt im Laufe der Zeit entwerfen, erbauen und Bestehendes verän- dern, erneuern oder abreißen lassen. Andererseits beeinflusst die gebaute Umwelt eigendynamisch die in ihr lebenden und handelnden Subjekte. Allerdings beruht diese vermeintliche Selbstständigkeit allein auf der von diesen Subjekten durch Zuschreibung übertragenen Eigendynamik: „Der Architektur muss nicht ein Eigenleben diagnostiziert werden, um die Verwendung von Alltagswissen bzw. Wissensvorräten sowie Interaktionen zwischen Subjekt und Objektzuschreibungen zu analysieren. Dass Architektur handlungsrelevant sein kann, steht außer Frage“.15 Dieses darin vorhandene Handlungspotenzial bezieht sich auch auf Architektur-Laien, die sowohl als Nutzer, wesentlich mehr noch als Eigentümer von Immobilien handeln oder die mit ihrem Handeln beispielsweise durch die Gestaltung von privaten Außenräumen Einfluss nehmen können. Dies gilt ebenso in größeren, längerfristigen Zusammenhängen 13 Ebd., S. 46–47. 15 Kernich 2017 (Anm. 7), S. 46–47. 14 Joachim Fischer, Heike Delitz (Hg.): Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie. Bielefeld 2009, S. 9–17. 178 STEPHANIE KERNICH durch das Frequentieren – oder eben gerade durch das Nicht- Frequentieren – von öffentlich zugänglichen Räumen. Damit sind wahrnehmbare Veränderungen im öffentlich zugäng- lichen Raum angesprochen, die Bestandteil der Sinn- und Deutungsstrukturen von Architektur-Laien sind. Diese decken sich nicht zwangsläufig mit dem Aufmerksamkeitsfokus von Architektur-Fachleuten, da ganz andere Erkennungszeichen eine Rolle spielen. Diese haben ihren Ursprung in dem hier präsen- tierten Modell der Deutungsstrategien (Abb. 2). Gerade mit den Methoden der rekonstruktiven Sozialforschung kann sichergestellt werden, mit welcher ‚Wirklichkeit‘ man es zu tun hat. Damit kann die rein beschreibende Ebene überwunden und es können soziologische Theorieansätze generiert werden. Methodologische Erörterungen und empirische Daten Dieser Beitrag widmet sich insbesondere der Frage, welche kul- turell bestehenden und durch Sozialisation erworbenen Muster von Sinn- und Deutungszuschreibungen bei der Wahrnehmung der gebauten Umwelt als Alltagswirklichkeit festgestellt wer- den können. Solche Fragestellungen können idealerweise mit qualitativen Methoden erforscht werden. Nur wenn man sich nicht mit einer im Voraus festgesetzten, erwarteten Kriterien- Liste ins Forschungsfeld begibt, kann die Forschung anders als angenommen verlaufen und es können mögliche ‚neue‘, das heißt unerwartete Kriterien entdeckt werden. Wenn nach den Deutungsstrategien von Menschen in deren Alltagswirklichkeit geforscht wird, kann man in der Forschungspraxis Prozesse der intersubjektiven Kongruenzherstellung nachverfolgen, die sich nicht auf ein Einzelfallphänomen reduzieren lassen. DIE AFFEKTIVEN DEUTUNGSSTRATEGIEN VON 179 ARCHITEKTUR-LAIEN Die Grounded Theory Methodologie (GTM) als geeigneter Forschungsstil Da hier nicht die befragten Personen im Mittelpunkt stehen, son- dern, wie bereits erwähnt, ein soziales Phänomen, wurde die Datenerhebung und -auswertung im Forschungsstil der Grounded Theory Methodologie (GTM) angewandt. Es wurden keine Einzelfallstudien durchgeführt, sondern vielmehr fallübergrei- fend geforscht, mit dem Ziel, möglichst differenziert das soziale Phänomens der Wahrnehmung der gebauten Umwelt zu beleuch- ten. Dennoch bestehen die Daten aus Aussagen von Befragten im Sinne von Alfred Schütz und Thomas Luckmann, wonach ‚Sinn‘ immer gebunden an die aussagende Person zu verstehen ist: „als biographische Relevanzstruktur und in Um-zu- und Weilmotive eingebettete Handlungslogik“.16 So kann rekonstruiert werden, was aus der individuellen Erinnerung zur Deutungsunterstützung bei der sprachlichen Vermittlung des Wahrgenommenen abgeru- fen wird, also wie das ‚neu‘ Wahrgenommene mit einem beste- henden Wissensvorrat in Einklang gebracht wird. Die empirische Datenbasis Die empirische Basis dieses Beitrags besteht aus Erhebungen, die von Dezember 2011 bis August 2013 im Seefeldquartier in Zürich durchgeführt wurden. Im Zentrum stehen Begehungsinterviews mit Gesprächsaufzeichnung und die fotografische Dokumen- tation,17 die an zahlreichen Objekten der gebauten Umwelt aus unterschiedlichen Epochen entlang führten, welche sich zudem in verschiedenen Stadien des Umbaus oder der Erneuerung befanden. Mit der Methode der Begehungsinterviews wurde konsequent die Perspektive der befragten Architektur-Laien in den Mittelpunkt gerückt und es wurden deren jeweilige Kriterien der Wahrnehmung der gebauten Umwelt erfasst. 16 Monika Wohlrab-Sahr (Hg.): Kultursozio- 17 Kernich 2017 (Anm. 7), S. 72–76. logie. Paradigmen – Methoden – Fragestellun- gen. Wiesbaden 2010, S. 14. 180 STEPHANIE KERNICH Im Rahmen der Forschungsarbeit sind auf der Basis dieser Begehungen die während des Wahrnehmungsprozesses erzeug- ten Relevanzstrukturen und Deutungsmuster sukzessive rekon- struiert worden. Diese subjektiven Einordnungen und individu- ellen Verknüpfungen seitens der Teilnehmenden wurden mit deren lebensweltlich erworbenen Bezugssystemen zu Typen von Wahrnehmungsstrukturen des Phänomens ‚gebaute Umwelt‘ verbunden, unter anderem durch Folgeinterviews in Form von Leitfadeninterviews, die jeweils drei bis vierzehn Tage nach den Begehungen durchgeführt wurden.18 Das Kodierparadigma der GTM 19 Folgende Zusammenhänge der Sinn- und Deutungsstrategien zum sozialen Phänomen der Wahrnehmung der gebauten Umwelt konnten fallübergreifend rekonstruiert werden (Abb. 1): Das Seefeldquartier in Zürich stellt den Kontext dar und ist den Teilnehmenden mehr oder weniger vertraut.20 Die Vorstellungen von diesem Stadtteil speisen sich aus unterschiedlichen Erfahrungen in und mit dem Quartier und dessen Vergangenheit. Ferner zählen zum Kontext auch die Jahreszeiten und die Wetterverhältnisse. Da solche Umstände in die Wahrnehmung einbezogen werden, haben sie keinen ursächlichen Einfluss auf die Wahrnehmung der gebauten Umwelt. Vielmehr handelt es sich um das Alltagswissen, das besagt, dass wetter- oder jahreszeitenbedingte Witterungsverhältnisse unterschiedliche Wirkungen haben können und daher in die Deutung einbezogen werden. Ursächliche Bedingungen sind zeit- und raumdimensionale Veränderungen, wie beispielsweise durch unterschiedliche Bau- weisen und Stadtentwicklungsphasen. Auch gesellschaftliche, 18 Ebd. 20 Mit Ausnahme der letzten kontrastierenden Datenerhebung mit einer Person, die das Quar- 19 Detaillierte Ausführungen zum Kodierpara- tier explizit vor dem Begehungsinterview nicht digma finden sich in: Kernich 2017 (Anm. 7), S. kannte. 100–114. DIE AFFEKTIVEN DEUTUNGSSTRATEGIEN VON 181 ARCHITEKTUR-LAIEN Abb. 1: Kodierparadigma zur Wahrnehmung der gebauten Umwelt als sozialem Phänomen kulturell spezifische Wertevorstellungen gelten als kausal bezie- hungsweise ursächlich. Unter intervenierenden Bedingungen21 sind die unterschied- lichen Anspruchs- und Erwartungshaltungen der Akteure zu verstehen. Sie entsprechen deren individuellem Blick und Aufmerksamkeitsfokus. Vor allem in Anbetracht eines sich ver- ändernden Wahrnehmungsprozesses – sowohl im Laufe der Spaziergänge als auch im anschließenden Leitfadeninterview – kommen die fallspezifischen Grundhaltungen zum Tragen, die Einfluss auf die Deutungsstrategien haben. Zusätzlich las- sen sich jedoch auch klar bestimmbare Orientierungsrahmen definieren, die fallübergreifend wirksam sind und abstraktere Ordnungsprinzipien darstellen. Die Handlungsstrategien werden von den Befragten entwickelt und angewandt, um sich die gebaute Umwelt deutend und ein- ordnend zu erschließen. Es werden dabei unterschiedlich struk- turierte Schemata eingesetzt: von klaren, aber auch strikten 21 Der Begriff ‚intervenierend‘ wird definiert als ‚dazwischentretend‘ und ‚sich einmischend‘. 182 STEPHANIE KERNICH Einteilungen in gute und schlechte Architektur bis hin zu umfang- reichen Differenzierungen, von eher intuitiven Zuordnungen bis hin zu klar geordneten Kriterien. Die gebaute Umwelt und damit auch die Architektur werden sowohl affektiv als auch durch pragmatische und/oder ästhetische Überlegungen erschlos- sen. Ferner finden immer wieder auch Deutungsstrategien im Sinne von artikulierten Mutmaßungen über Milieu- und Schichtzugehörigkeit der (darin vermuteten) Bewohnerschaft statt. Alle diese Deutungsstrategien werden argumentativ vorgebracht. Die Wirkungen schließlich entsprechen den jeweiligen Reak- tionen. Wenn das Wahrgenommene durch die soeben erwähn- ten Strategien gedeutet, eingeordnet und gegebenenfalls hand- lungsrelevant wird, kann dies anhand von unterschiedlichen Reaktionsformen systematisch rekonstruiert werden. Ergebnisauswahl: affektive, insbesondere atmosphärische Deutungsstrategien22 Generell kann zwischen kognitiven und affektiven Deutungs- strategien unterschieden werden. Zu den kognitiven Deutungs- strategien gehören die funktionalen, sozialen und ästheti- schen; zu den affektiven zählen die emotionalen (vor allem Sympathie und Ausstrahlungskraft) sowie die atmosphäri- schen Deutungsstrategien. In der Praxis vermischen sich diese Handlungsstrategien (Abb. 2), wobei jedoch der jeweils domi- nierende Anteil in der Regel klar erkennbar ist. Dies verdeutli- chen auch die nachfolgenden Zitate. In diesem Beitrag werden die atmosphärischen Deutungsstrategien als Teil der affektiven erläutert.23 Sie sind Teil der systematischen Rekonstruktion aus dem empirischen Datenmaterial. Dadurch wird die grundlegende Rolle der Deutungsstrategien bei der Wahrnehmung der archi- tektonischen Wirklichkeit erkennbar. 22 Kernich 2017 (Anm. 7), S. 128–143. 23 Ebd., S. 89–99, 128–143. DIE AFFEKTIVEN DEUTUNGSSTRATEGIEN VON 183 ARCHITEKTUR-LAIEN Abb. 2: Deutungsstrategien Die folgenden Beispiele für affektive Deutungsstrategien stam- men aus der empirischen Datenbasis der bereits erwähnten Forschungsarbeit: 24 Die verbalen Äußerungen in den Zitaten hän- gen eng mit den abgebildeten Fotografien zusammen, die wäh- rend den Begehungsinterviews von den interviewten Personen selbst aufgenommen wurden. Sie dokumentieren bildlich, was in den Zitaten verbal geäußert wurde. Beispiel 1 (dazu Abb. 3): Die Ausstrahlungskraft spielt eine wichtige Rolle als Anhaltspunkt. Die große Bedeutung, die der Ausstrahlung eines Gebäudes zugeschrieben wird, wirkt auch handlungsstrategisch: Es besteht zum Beispiel eine Erwartungshaltung, dass ein Haus einladend wirken sollte. Diese Deutung der Ausstrahlung eines Gebäudes wird – ähnlich der Deutung einer menschlichen Ausstrahlung – häufig in Verbindung mit ‚Charakter‘, ‚Seele‘ oder ‚Gesicht‘ vorgebracht:25 „Ha, das ist ja riesig da. Das Gebäude. [S: Man kann sogar reingehen.] Ah ja? 24 Ebd. 25 So werden Gebäude als ‚seelenlos‘ oder ‚charakterlos‘ gedeutet, oder im positiven Sinne als ‚authentisch‘ oder ‚ehrlich‘. 184 STEPHANIE KERNICH Abb. 3: Fotografiert während des dritten Begehungsinterviews im Winter 2012, Foto: Kernich [S: Hast du Lust reinzugehen? Mal zu schauen?] Also. Ich finde es so schlimm, das reicht mir, was ich von außen sehe. Nein, wir-, wirklich. Also, wenn ich jetzt auch eine Wohnung suchen würde und ich käme da hin. Ich glaub-, ich glaube, ich würde von außen, würde ich gleich sagen, nein (schaudernd). Ich finde es einfach nicht schön. Es hat, es hat den Charakter von, ... abstoßend. Wenn man hinkommt schon. Weißt du, was ich meine? Also auf mich wirkt das-, einfach unsympathisch. Mag sein, dass es innen noch lustig ist, aber, ... auf mich wirkt es nicht gut“.26 Des Weiteren kommt mit einer affektiven Wahrnehmung die Absicht zum Ausdruck, etwa bei einer Wohnungssuche auf die Gesamt-Atmosphäre zu achten: Im oben genannten Beispiel weigert sich die Befragte geradezu, jenes große, moderne Gebäude von innen anzuschauen, oder gar in den Innenhof zu 26 Alle folgenden Zitate werden aufgrund der Originaltransskripts wiedergegeben. Zitat aus besseren Lesbarkeit nicht in der Form des dem dritten Begehungsinterview im Winter 2012, Zeile 135–156. DIE AFFEKTIVEN DEUTUNGSSTRATEGIEN VON 185 ARCHITEKTUR-LAIEN Abb. 4: Fotografiert während des ersten Begehungsinterviews im Sommer 2012, Foto: Kernich gehen. Ihre Deutung ist stark wertend und dennoch diffus, da unklar bleibt, was genau der Anlass war. Tatsache ist, dass die negative Deutung zu einer ablehnenden Handlung führte und eine Vermeidungsstrategie entwickelt wurde, sich weiter damit auseinanderzusetzen. Beispiel 2 (dazu Abb. 4): Deutende Aussagen werden – wie bereits erwähnt – argumentierend vorgebracht. Es handelt sich zwar um eine affektive Reaktion 27 auf das betreffende Gebäude, aber artikuliert wird ein Argument. Im folgenden Beispiel handelt es sich indessen um eine affektive Deutung, da sie emotional und spontan ausgedrückt wird. Solche Wahrnehmungsartikulationen finden ebenso in positiver Weise statt: in Form von Sympathiebekundungen bis hin zu spontaner Begeisterung. Die 27 Kernich 2017 (Anm. 7), S. 143–154, 167–169. 186 STEPHANIE KERNICH Kriterien für ein „tolles“ Haus sind hier: sympathisch, schlicht, originell und dass sich dort „jemand“ etwas überlegt habe, das heißt, dass professionelles Können (von einem Architektur- Laien) gedeutet wird: „Ja, aber ich muss schon sagen, eben jetzt architektonisch. Weil das Haus da ist doch irrsinnig. Da ist doch irgendwie mal so was wie (dabei wird auf ein nebenan stehen- des Gebäude gezeigt) dagestanden, oder. Und-, ... nein, solches Zeug habe ich nie gesehen irgendwie. Eben man lauft da durch und. Es erstaunt mich wirklich, was für tolle Häuser dastehen [...] [S: Was fasziniert dich an dem?] Das das, schlicht, vielleicht das Schlichte. Es ist eben gar nicht viel dran. [...] Ja, einfach das schlichte, es braucht eben gar nicht viel. Eben auch der Eingang. Das ist einfach leer und der, der- .... Der Boden, der-, wie sagt man. Das ist so Industrieboden, oder. [...] Ich finde-, nein, es ist sehr sym- pathisch. Also ich würde jetzt da jederzeit hineingehen und würde sagen ‚sehr schön‘. Auch, auch obwohl dass das grau ist. Das ist eigentlich ein bisschen eine kalte Farbe, oder. Grau. Aber ich würde sagen, nein, es ist gut gemacht. Auch da mit den Blumen, also. Einfach modern, originell. Da hat sich einer ein bisschen etwas designern müssen. Ein bisschen was überlegen“.28 Beispiel 3 (dazu Abb. 5): Im Gegensatz dazu entsprechen die klaren Atmosphären-Wahrnehmungen im folgenden Beispiel Allerweltswissens-Konstruktionen.29 Bei eindeutig atmosphä- rischen Zuordnungen gibt es häufig rückversichernde Fragen. Es wird versucht, im Gespräch Konsens herzustellen; dabei eig- net sich das Atmosphärische für diese Erlebnisschilderungen offenbar besonders gut: Die folgenden Interviewpassagen 28 Zitat aus dem ersten Begehungsinterview 29 Den Hintergrund der soziologischen Be- im Sommer 2012, Zeile 965–999. griffsdefinition von ‚Allerweltswissen‘ bildet die Unterscheidung zwischen zwei Analyse-Ein- stellungen, die den Konstruktionen ersten und zweiten Grades nach Alfred Schütz (1971) ent- sprechen. Die Rekonstruktionen ersten Grades beruhen weitgehend auf Allerweltswissen, die als Jedermannswissens-Argumente reprodu- ziert werden, gestützt auf den subjektiven Sinn von Individuen. Ausführlicher in: Kernich 2017 (Anm. 7), S. 59–60. DIE AFFEKTIVEN DEUTUNGSSTRATEGIEN VON 187 ARCHITEKTUR-LAIEN Abb. 5: Fotografiert während des dritten Begehungsinterviews im Winter 2012, Foto: Kernich werden von emotionalen Begriffen wie „herzige Häuschen“, „Gemütlichkeit verborgen“ oder „mit Herz“ dominiert, die sich in der Wahrnehmung der interviewten Person auf die Stimmung der gesamten Straße ausbreiten. Vorgebracht in einer verniedlichen- den Form (Diminutiv) gipfelt die Atmosphärenbeschreibung in der Typisierung einer ganzen Quartierstimmung. Stimmungserleben eignet sich für ein gemeinsames, das heißt geteiltes Erleben: „von dem Charakter von diesen sehr kleinen, herzigen Häuschen. [...] Und ich finde, das ist einfach-. Für mich ist das so, da lebt eine Stadt. Aber noch mit eh, mit einer gewissen Gemütlichkeit drin verborgen. Währendem so Häuser, wo es wirklich. Wo man wirklich das Gefühl hat, da gibt es nur so Abstellapartments drin. Das ist nicht eine Stadt gelebt für-, ja. Gehört vielleicht auch zur Stadt, aber-. [...] Weißt du was ich meine? Ja, das ist das, hat eh. Für mich hat das einfach etwas Liebevolles dazu. Das da ist 188 STEPHANIE KERNICH mit Herz und das andere ist einfach notgedrungen. Man muss ja noch irgendwo wohnen, oder. So in dem Stil. Und ich habe lieber etwas mit Herz. Schau dir mal das an. Das ist doch so schön. [...] Und so hat es noch ein paar Sträßchen da im Seefeld“.30 Beispiel 4 (dazu Abb. 6): Eine weitere Deutung des Atmosphärischen ist sozialanthropologisch geprägt. Wenn sich eine Deutungsstrategie auf eine Exklusionswahrnehmung bezieht, folgt eine Artikulation der Wahrnehmung von Abweisung oder Abschottung – ein Gebäude wird als „nicht einladend“ gedeutet. Ähnlich wie bei der Wahrnehmung und Deutung der Ausstrahlung gehen die sozialanthropologisch geprägten Deutungsstrategien über die Außenwahrnehmung und über einen ersten Eindruck hinaus: Hier werden existenzielle Erfahrungen in die Deutungen miteinbezogen. Die im vierten und letzten Beispiel erwähnten verschlossenen (dunklen) Fenster unterstrei- chen das hermetisch Geschlossene und Unzugängliche, was im sozialanthropologischen Kontext eine hohe Bedeutung von Grenzrealisierungen im Sinne von Zugänglichkeitserfahrungen und damit von Zugehörigkeit hat. Auch die wiederholte Bezeichnung „Bunker“ unterstreicht die negativ wahrgenom- mene Atmosphäre des Gebäudes, da Bunker nur in extremen Not- und Abwehrsituationen relevant werden: „Ja, und auch da. Also. Das finde ich besonders hässlich jetzt. Das Haus. Also das ist schon ... Gut ich bin kein Architekt, aber für mich wirkt es wie ein Bunker. [...] Gut, jetzt ist es noch besonders, wirkt es noch besonders so, weil die, weil die die Storen unten sind, oder. Dann wirkt es noch besonders nicht einladend. Hm, ja abschreckend. Vielleicht ist es innen sehr schick, sehr schön, aber auf mich wirkt das Gebäude abschreckend und ..., nicht einladend. Auch, weil es hat kein, keine Öffnung. Es hat keine Öffnung, es hat keine Balkone ..., es wirkt so, – Bunker“.31 30 Zitat aus dem dritten Begehungsinterview im Winter 2012, Zeile 494–515. 31 Zitat aus dem zweiten Begehungsinterview im Frühjahr 2012, Zeile 69–98. DIE AFFEKTIVEN DEUTUNGSSTRATEGIEN VON 189 ARCHITEKTUR-LAIEN Abb. 6: Fotografiert während des ersten Begehungsinterviews im Frühjahr 2012, Foto: Kernich 190 STEPHANIE KERNICH Fazit Diese kurzen Auszüge veranschaulichen, dass eine differen- zierte Deutung des Wahrgenommenen stattfindet. Zum Ausdruck kommt dabei auch die Vielschichtigkeit des Begriffs ‚atmo- sphärisch‘. Vermeintlich ausschließlich subjektive Atmosphä- renwahrnehmungen lassen sich über den Einzelfall hinaus ver- allgemeinern. Der Wahrnehmung des Atmosphärischen kommt neben pragmatischen, sozialen und ästhetischen Kategorien daher ein wichtiger Stellenwert bei der Deutung der gebau- ten Umwelt zu. Des Weiteren konnte aufgezeigt werden, dass diese affektiven Deutungen nicht einfach nur ‚flüchtige‘ Wahrnehmungen sind, sondern – zum Teil deutlich – als hand- lungsleitende Phänomene wirksam werden. Diese Erkenntnisse sind anschlussfähig an die Überlegungen von Tröger: „Bei dieser Suche [nach einer erstrebenswerten Stadtform] erhalten insbesondere die ‚weichen Faktoren‘ der subjektiven Stadtwahrnehmung und -benutzung wie Wohlgefühl, Stadtcharakter, Identität, Aufenthaltsqualität und Atmosphäre [...] wieder ein größeres Gewicht und stehen gleichberechtigt neben den objektiv messbaren Werten der Stadtplanung. Gerne würde man nun atmosphärische Faktoren in die Planungen mit einflie- ßen lassen, um angenehmere Stimmungen in den Quartieren zu erzeugen“.32 Die Absichtserklärung des Autors lautet, den dop- peldeutigen Begriff der „Dichte“ als „bauliche Dichte“ und „atmo- sphärische Dichte“ gleichwertig zu berücksichtigen.33 Jedoch können diese ‚weichen Faktoren‘ weder über literarische Essays noch über die subjektiven Wahrnehmungsbeschreibungen von Architektur-Fachleuten wissenschaftlich erfasst werden. Dabei ist für Tröger klar: „Um die subjektiven Anteile der Atmosphäre wahrnehmen zu können, muss man eigentlich selbst in dieser Umgebung anwesend sein. Man muss sich räumlich in ihr befinden, um all ihre Ingredienzien sehen, riechen und spüren zu können“.34 32 Tröger, Eberle 2015 (Anm. 5), S. 29. 33 Ebd., S. 39. 34 Ebd., S. 42. DIE AFFEKTIVEN DEUTUNGSSTRATEGIEN VON 191 ARCHITEKTUR-LAIEN Doch mangels methodischen Umsetzungskenntnissen wird dabei auf andere „Darstellungsmittel“ gesetzt, nämlich „standardisierte Quartierfotografien“, „Stimmungsfotografien“ und (eine Art auto- ethnografische) „Quartiersbeschreibungen“.35 Dementsprechend bleibt die Auswertung zum Atmosphärischen auf einer rein deskriptiven Ebene. Es findet keine Analyse statt, sondern die Interpretationen und Auslegungen werden den Rezipientinnen und Rezipienten der Fotografien und textlichen Beschreibungen überlassen. Die Begriffe ‚affektiv‘ bzw. ‚atmosphärisch‘ sind nicht neu. Jedoch sollte deutlich geworden sein, dass und wie unterschiedliche Deutungsstrategien miteinander kombiniert werden und dass gerade affektiven Erschließungsformen ein hoher Stellenwert zukommt. Zugleich verdeutlicht dieser Beitrag den Wert quali- tativer Methoden für die Architekturforschung. Erst durch die Wahrnehmung von Subjekten werden die Objektivationen in einen subjektiven Sinnzusammenhang gestellt und können durch fallübergreifende Deutungsstrategien Handlungsrelevanz erhalten. Ferner konnte aufgezeigt werden, dass es bei der Wahrnehmung der gebauten Umwelt nicht nur um Geschmacksfragen geht, son- dern um alltagsweltliche Deutungsstrategien. Diese stehen in einem Spannungsverhältnis zu denen von Architektur-Fachleuten, denn Architektur-Laien verfügen über andere Ausgangs- bedingungen oder – soziologisch gesprochen – über andere Relevanzstrukturen bei der Wahrnehmung der gebauten Umwelt: Die Alltagswirklichkeit wird nicht ausschließlich nach funktio- nalen oder/ und ästhetischen Kriterien gedeutet, sondern auch nach affektiven Deutungsstrategien ausgelegt und geordnet. 35 Ebd. 192 IRENE BREUER IRENE BREUER Der Leib als Umschlagstelle zwischen dem ästhetischen und dem technischen Gebrauch der Architektur Architektur ist das Produkt einer ästhetischen Herstellung, die wesentlich Entwurf und als solcher das Eröffnen von Möglichkeiten des Erlebens ist. Zugleich ist sie eine ‚techné‘, die nicht in ihrem Gebrauch aufgeht. Der Zwiespalt kann überwunden werden, indem Architektur als Entwurf von unterschiedlichen Erfahrungs- und Nutzungsweisen verstanden wird. Der Beitrag widmet sich dem ,leiblichen‘ Gebrauch der Architektur, insofern der Leib die Architektur in der Weise eines affektiven Verständnisses ein- wohnt. Dadurch ist er imstande, unsere Habitualitäten mittels einer kinästhetischen und/oder einer Gebrauchs-Epoché einzu- klammern, um neue Erlebens- und Gebrauchsweisen sowie neue Sinnbildungen zu ermöglichen. Eine Rückbesinnung auf den griechischen Ursprung des Wortes ‚Architektur‘ zeigt, dass sie allgemeine Ordnungsvorstellungen ins Spiel bringt, die über ihre handwerkliche oder materielle Herstellung weit hinausgehen. Architekturwerke gehören für Aristoteles zu dem Bereich der ‚techné‘, die zum einen eine bestimmte Form des Wissens und zum anderen eine bestimmte Form des Werdens bezeichnet: Unter dem Aspekt des Wissens ist die ‚techné‘ ein auf das Herstellen gerichtetes Wissen, denn sie kann über die Gründe ihres Tuns Rechenschaft ablegen. Obwohl sie auf ein Erfahrungswissen aufbaut, das immer auf Einzelnes DER LEIB ALS UMSCHLAGSTELLE 193 beziehungsweise einzelne Fälle bezogen ist, bezieht sich die Architektur auf das Allgemeine, da sie von dem Begriff des Bauens und der Kenntnis der dafür benötigten Mittel ausgeht. Aristoteles definiert somit die ‚techné‘ als eine „mit Überlegung verbun- dene[-] Disposition des Herstellens (meta logou hexis poietiké)“,1 das heißt als ein mit wahrer Vernunft verbundenes Wissens, das nicht nur über die Gründe oder Ursachen2 der Tätigkeit Rechenschaft ablegen kann, sondern das zum Habitus – zum dau- ernden Besitz – geworden ist. Unter dem zweiten Aspekt bezeich- net der Begriff der ‚techné‘ eine Form des Werdens, das heißt die Herstellung durch den Menschen. Der Herstellungsprozess ist teleologisch bestimmt, da der Werdeprozess vom Ziel des Prozesses – die erreichte Form des zu Erzeugenden – her bestimmt ist.3 Der Architekt oder die Architektin erscheint nicht nur als Herstellender im weiteren Sinne, sondern als ein „leiten- der Künstler“, der „weiser“ als der Handwerker ist,4 da er über die Kenntnis der ersten Prinzipien oder Ursachen seiner Kunst verfügt. Es sind jedoch die Gebrauchenden, die die entschei- dende Instanz verkörpern, denn erst der Gebrauch entscheidet über das Gelingen eines Werks; erst der Gebrauchende führt das Werk seinem Zweck zu. Die „gebrauchende Tätigkeit“, sagt Aristoteles, ist die „maßgebliche“, weil sie „der Kenntnis der Form fähig ist“.5 Die Gebrauchenden wissen nämlich, wie ein Gebrauchsgegenstand beschaffen sein muss, um sich dessen zu bedienen. Begreifen wir also die Architektur als eine bestimmte Form der Herstellung, müssen wir uns fragen, was eigentlich in der Architektur hergestellt wird. Folgen wir dem Vorschlag des Kunsthistorikers August Schmarsow, so ist die Architektur 1 Aristoteles: EN VI 4, 1140a 6 ff. Aristoteles: 3 Vgl. Klaus Bartels: Der Begriff Techné bei Nikomachische Ethik. Üb. und hg. von Ursula Aristoteles. In: Hellmut Flashar, Konrad Gaiser Wolf. Reinbek bei Hamburg 2006. (Hg.): Synusia, Festgabe für Wolfgang Scha- dewaldt zum 15. März 1965. Pfullingen 1965, 2 Vgl. Aristoteles: Met. I, 981a30 ff. Aristote- S. 275–287, hier S. 275. les: Metaphysik. Üb. von Hermann Bonitz (ed. Wellmann), auf der Grundlage und Bearbeitung 4 Aristoteles 2014 (Anm. 2), I, 1, 981a30 ff. von Héctor Carvallo und Ernesto Grassi, neu hg. von U. Wolf. Reinbek bei Hamburg 2014. 5 Aristoteles: Phys. II, 2, 194b2 ff. Aristoteles‘ Physik. Vorlesung Über Natur, üb. mit einer Einleitung und mit Anmerkungen hg. von Hans Günter Zekl. Hamburg 1987. 194 IRENE BREUER als „Raumgestalterin“6 zu bezeichnen. Die Architektur entwirft Räume, die Möglichkeitsformen des Einlebens darstellen. In diesem Sinne werden sich die nachfolgenden Überlegungen der Hauptthese widmen, dass der Raum dasjenige ist, was sowohl die Erfahrung als auch die Erscheinung der Architektur als ästhetische Form ermöglicht. So wird der erste Teil des Beitrags auf die zwiespältige Auffassung der Architektur als Kunst und als ,techné‘ eingehen, um zu zeigen, dass die Überwindung die- ses Zwiespalts darin besteht, die Architektur als Entwurf von möglichen Erfahrungsweisen zu verstehen. In diesem Entwurf erscheint die Offenheit des In-der-Welt-Seins als ästhetische Idee, deren Sinn durch den Gebraucher gestiftet wird. Diese These ist Gegenstand des zweiten Teils des Beitrags. Sie findet einen Halt in der Einsicht, dass diese Offenheit durch die Überschüsse der Sinnlichkeit gegenüber der Begrifflichkeit entsteht und im Vollzug der leiblichen Erfahrung erfasst wird, eine weitere These, die im dritten Teil des Beitrags begründet wird. Mit Rekurs auf die Philosophen Edmund Husserl und Maurice Merleau-Ponty wird hier die Einsicht gewonnen, dass der Leib der Architektur nicht nur als Tätigkeits- oder Orientierungsraum, sondern in der Weise eines affektiven Verständnisses einwohnt, so dass der Leib als die ,Umschlagstelle‘ zwischen einem technischen und einem affektiv/ästhetischen Gebrauch der Architektur fungiert; eine Folgerung, die durch die Berücksichtigung der Spannung zwi- schen den gewohnten und fremden Raumordnungen im vierten Teil des Beitrags weiter geprüft wird. Denn die Infragestellung der harmonischen Beziehung zwischen Raum und Leib führt zu einer hier vorgeschlagenen ,Gebrauchs-Epoché‘, die durch Erfahrungsstörungen und entsprechend neue Sinnbildungen 6 August Schmarsow: Grundbegriffe der Kunstwissenschaft. Berlin 1998 [1905], S. 184: „Die gemeinsame Grundlage und das unver- äußerliche Merkmal in der Definition der Archi- tektur als Kunst muss also die Raumbildung bleiben. Raumgestalterin ist sie von Anfang an bis zu Ende; nur dieser Begriff erschöpft ihr Wesen, bei dem freilich die Gestaltung ebenso notwendig ist wie der erste Teil des Namens“. DER LEIB ALS UMSCHLAGSTELLE 195 kennzeichnet wird. Gerade darin liegt die Kraft des ästhetischen Gebrauchs der Architektur, der anhand ausgesuchter architekto- nischer Beispiele im letzten Teil des Beitrags illustriert wird. Es wird gezeigt, dass diese ,Epoché‘ oder Einklammerung des tra- dierten Gebrauchs der Architektur zu neuen Möglichkeiten des leiblichen Erlebens und Gebrauchs der Architektur führt, deren Sinn Revisionen und Neustiftungen unterworfen ist. Am Ende des Beitrags werden die neu gewonnenen Einsichten in einen Zusammenhang gebracht, aus dem die grundlegende Rolle des Leibes in der sinnlich ästhetischen sowie in der ,technischen‘ Erfahrung der Architektur ersichtlich wird; denn es ist gerade der Leib, der die Umschlagstelle zwischen dem ästhetischen und dem technischen Gebrauch der Architektur bildet. Architektur als Kunst und als ‚techné‘ Die Architektur als Kunst zeigt sich in ihrer Erscheinung, sie ist daher wesentlich Phänomen, das sich ebenso in seiner Stofflichkeit und Materialität zeigt, das heißt in dem, wie und woraus es beschaffen ist. Denn wenn Martin Heidegger in der Schrift Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36) mit Bezug auf ein Kunstwerk von „Erde“7 spricht, beabsichtigt er, Kunstwerke von Werken der ‚techné‘ zu unterscheiden. Im Gegensatz zu Aristoteles bezeichnet Heidegger ein Werk der ‚techné‘ allein als Gebrauchsding, als „Zeug“, das gemäß seiner Funktion zweck- gerecht eingesetzt werden kann und dann im Funktionieren unthematisch bleibt. Das Herstellen des Zeuges besteht darin, einen Stoff zu formen und ihn für den Gebrauch bereitzustel- len; dieses Fertigstellen des Zeuges verschwindet aber in sei- ner „Dienlichkeit“.8 Ein Gebrauchsding ist umso besser und geeigneter, je unauffälliger es als solches im Gebrauch bleibt. Demgegenüber lässt ein Werk der Kunst wie das „Tempel-Werk“ den Stoff oder seine Materialität „allererst hervorkommen […] im 7 Martin Heidegger: Der Ursprung des 8 Ebd., S. 53. Kunstwerkes. In: Holzwege. Hg. von Friedrich Wilhelm von Hermann. Frankfurt a. M. 1994, S. 32, 57. 196 IRENE BREUER Offenen der Welt“.9 Das Kunstwerk hat also eine grundlegende Funktion: Es stellt eine Welt auf, worin der Mensch sich aufhalten kann.10 Kunstwerke unterscheiden sich weiterhin von jeder ‚techné‘, insofern es keine im Voraus feststehende Formen geben kann: Kunstwerke sind gänzlich offene und autonome Gebilde, die sich von sich selbst her zeigen: „Das Werk hält das Offene der Welt offen“,11 und dies ist ein wesentliches Merkmal des Werkes, das die Wahrheit ins Werk „setzt“.12 Heidegger definiert das Kunstwerk als „ein Werden und Geschehen der Wahrheit“,13 denn es stellt ein neues Seiendes ins Offene, in die Anwesenheit oder Unverborgenheit, indem dieses Seiende in der Gestalt ein- gerichtet wird.14 Die Offenheit der Kunstwerke besteht darin, dass sie sich einerseits der Eingliederung in rein pragmatische Kontexte widersetzen, indem sie uns „unserer Gewöhnlichkeit entrücken“.15 Andererseits aber schließt solch eine Offenheit die Möglichkeit der Eröffnung neuer Sinn- beziehungsweise Wahrheitshorizonte ein, insofern „die im Werk sich eröffnende Wahrheit […] aus dem Bisherigen nie zu belegen und abzuleiten“ ist. Mehr noch, das Werk widerlegt bestehende Sinnbildungen, so dass es eine kritische Funktion ausübt. Was es stiftet, „ist ein Überfluß, eine Schenkung“,16 das heißt, Werke leiten neue Sinnstiftungen ein, indem sie unsere Gewohnheiten und beste- henden Überzeugungen in Frage stellen: Das Werk räumt neue Sinne ein, indem es uns dafür deplatziert, das heißt, indem es uns unseren gewohnten Wahrnehmungsweisen und bereits gestifte- ten Sinnen entrückt. Daraus ist zu schließen, dass der Entwurf einer Welt mit der Veränderung der Selbstheit unmittelbar ein- hergeht. Weit davon entfernt, sich auf die Eröffnung einer Welt zu beschränken, lässt das Kunstwerk „Schaffende und Bewah- rende“ – Künstlerinnen und Gebrauchende – „in seinem Wesen 9 Ebd., S. 32. 13 Ebd. 10 Ebd., S. 31 f. 14 Ebd., S. 51. 11 Ebd. 15 Ebd., S. 62. 12 Ebd., S. 59. 16 Ebd., S. 63. DER LEIB ALS UMSCHLAGSTELLE 197 entspringen“.17 Hieraus folgt, dass Weltentwurf, Sinnbildung und Selbstentwurf in ihrer unmittelbaren Zusammengehörigkeit die Offenheit des In-der-Welt-Seins ausmachen. In diesem Kontext muss eine weitere Unterscheidung getrof- fen werden: Architekturwerke sollen, im Gegensatz zu reinen Kunstwerken, eine Funktion erfüllen und sich den unterschied- lichen lebensweltlichen Habitualitäten und Gewohnheiten der Nutzenden anpassen. In diesem Sinne ist jeder Raum auf bestimmte Weise gelebt, strukturiert, gedeutet. Er stellt einen Rahmen dar, in dem alltägliche Handlungen ablaufen können. Die Offenheit der Architektur besteht also darin, Möglichkeiten des Einwohnens zu eröffnen. Daher überschreitet die Architektur ihre ursprüngliche Bestimmung als ‚techné‘; sie ist vielmehr ein Wissen, das ins Werk eingeht und seine Funktionalität ausmacht, ohne sich darin zu erschöpfen. Die Architektur wird dement- sprechend bedeutsam, indem sie die Dualität Zeug–Kunstwerk überschreitet und offene Erfahrungsmöglichkeiten entwirft. Die Architektur ist deshalb wesentlich Entwurf: Entwurf von Möglichkeiten der räumlichen Erfahrung. Architektur und Sinnbildung In diesem Zusammenhang wird man sich fragen, was die Architektur zum Erscheinen bringt. In der Räumlichkeit der Architektur kommt die Offenheit des Entwurfs zum Vorschein, die sich in der Stiftung neuer Sinnhorizonte zeigt. Diese Offenheit selbst und nicht die zweckmäßige Formbestimmung ist die Idee, die den Entwurfsprozess leitet. Sie ist die eigentliche ästheti- sche Idee und wird „durch den schaffenden Entwurf ins Offene gebracht“.18 Diese Idee trägt in sich die wesentlichen Züge des- sen, was gebaut werden soll. Sie kann als eine ästhetische Form verstanden werden, in der nicht nur ein geordnetes System der zu erfüllenden Funktionen und Zwecke, sondern die wesentli- chen Eigenschaften des Werkes in einen bildlich-räumlichen Zusammenhang gebracht werden. Diese Idee der Form befasst 17 Ebd., S. 58 f. 18 Ebd., S. 58. 198 IRENE BREUER sich außerdem mit der möglichen Wirkung des architektoni- schen Werks auf die Benutzer und Benutzerinnen, das heißt mit der Art und Weise, wie diese das Werk erfahren und am eigenen Leib erleben mögen. Diese ästhetische Idee bildet zugleich das Wesen und das ‚telos‘ der Architektur. Die Architektur ist also das Produkt einer ästhetischen Herstellung, die auf eine ästhetische Idee zielt; das heißt, auf eine noch unbestimmte sinnliche Form, deren Sinn nach Heidegger noch gestiftet werden soll. Denn im Gegensatz zum Gegenstand, dessen Sinn am Anfang des Herstellungsprozesses bereits vorliegt, wird der architektonische Sinn im Nachhinein durch die Nutzer und Nutzerinnen gestif- tet: Sie allein entscheiden über die Art und Weise, wie sie die Architektur bewohnen und erfahren, und damit über deren Sinn. Kehren wir zu Heidegger und seinem Verständnis des Kunstentwurfs zurück, um eine weitere Eigentümlichkeit des architektonischen Gebrauchs einsichtig zu machen: Der Entwurf konfiguriert eine neue Offenheit des Sinns, der sich nicht auf the- oretische Begrifflichkeiten oder pragmatische Nützlichkeiten ein- schränken lässt. Architektur ist erst dann vollendet, wenn sie – wie es Heidegger den Kunstwerken abverlangt – diese Antinomie nicht aufhebt, sondern sie als „Streit“19 zeigt, das heißt, indem die Architektur sich weigert, die polemische Wirklichkeit in einem utopisch-harmonischen Gewand zu ,verkleiden‘. Architekturwerke, deren Offenheit sich der Versöhnung dieses polemischen Widerstreits entziehen, sind als echte Kunstwerke zu betrachten, die zum Nachdenken und zugleich zum sinnlichen Erleben verleiten. Was sich eigentlich in einem derart verstan- denen Architekturwerk zeigt, ist ein Überschuss der Sinnlichkeit gegenüber der Bedeutung: 20 Der Architektur sind sinnliche Erfahrungs- und Erlebnisweisen eigen, die in keine bestehenden Begrifflichkeiten, sondern nur nachträglich, das heißt im Vollzug der sinnlichen Erfahrung, erfasst werden können. 19 Ebd., S. 50. 20 Vgl. Irene Breuer: Husserls Lehre von den sinnlichen und kategorialen Anschauungen – Der sinnliche Überschuss des Sinnbildungspro- zesses und seine doxische Erkenntnisform. In: Christoph Asmuth, Peter Remmers (Hg.): Ästhe- tisches Wissen. Berlin, Boston 2015, S. 231–245. DER LEIB ALS UMSCHLAGSTELLE 199 Architektur und Leib Die Einsicht, dass der begriffliche Sinn der Architekturerfahrung nur nachträglich erfasst werden kann, folgt aus der Berücksichtigung der leiblich-sinnlichen Dimension der Architektur. Denn das sinn- liche Erleben deutet auf eine weitere wesentliche Bestimmung der Architektur: Sie wird am eigenen Leib erlebt. Es gäbe keinen Aufenthalt im Raum „ohne die raum- und grenzbildende Kraft der Leiblichkeit“,21 wie der Phänomenologe Bernhard Waldenfels erklärt, und ohne ihre affektive Kraft. Denn der Leib wohnt der Architektur nicht nur in der Weise eines begrifflichen, sondern auch eines affektiven Verständnisses ein. Zum einen ist Husserl zufolge jeder Raum als Nah- oder Fernort nicht nur in Relation zu der Erreichbarkeit des ruhenden Dinges für meinen bewegli- chen Leib22 bestimmt, sondern auch perspektivisch um meinem ruhenden Leib orientiert, nach hier und dort, nach rechts und links, und so weiter. Für Husserl ist der Leib ein „fester Nullpunkt der Orientierung“23, denn ohne mein leibliches Hier wären keine Richtungsunterschiede möglich. Dem Leib als „Nullpunkt“ aller räumlichen Orientierung entspricht die Bezeichnung des eigenen Leibes als „Nullkörper“.24 Mein Leib ist aber kein Ding im objektiven Raum, etwas, was den Raum begrifflich als Orientierungsraum versteht, sondern ein „System möglicher Aktionen“,25 das den Raum affektiv als Tätigkeitsraum versteht. Denn die Raumgliederung verweist ihrerseits auf eine leibliche Betätigung im Raum, da der Leib durch seine räumliche Situation angesichts der von ihm zu erledigenden Tätigkeiten bestimmt 21 Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. 23 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Studien zur Phänomenologie des Fremden 3. Phänomenologie und phänomenologischen Frankfurt a. M. 2013, S. 206. Philosophie, Zweites Buch, Phänomenologi- sche Untersuchungen zur Konstitution, Hua IV. 22 Edmund Husserl: Zur Phänomenologie Hg. von Marly Biemel. Den Haag 1952, S. 158. der Intersubjektivität. Texte aus dem Nach- lass. Zweiter Teil: 1921-1928, Husserliana XIV, 24 Ebd., S. 152. Beilage LXXIII: Die Konstitution des Raumes im synthetischen Übergang von Nahraum zu 25 Ebd., S. 291. Nahraum (1927). Hg. von Iso Kern. Den Haag 1973, S. 543. 200 IRENE BREUER wird. Sie setzt ein „habituelles Wissen“26 über ein räumliches Ganzes – Orte und Gegenstände in Einheit – voraus, das in eine „vertraute Umgebung“27 umschlägt, so Merleau-Ponty. Es folgt daraus, dass der leiblich-technische Gebrauch der Architektur einen affektiv ästhetischen Gebrauch voraussetzt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass diese eben erwähnte ver- traute Umgebung nicht nur objektiv gegeben ist, sondern in zumindest zwei Formen ebenso in mein leibliches Ich einge- prägt ist. Einerseits als eine Art „Verankerung des Leibes“ in einem Raum, das heißt als ein Leib, der nicht nur dem Raum „einwohnt“28 und in ihm handelt, sondern der zugleich – in den Worten Merleau-Pontys – „organisch“29 mit ihm verbun- den ist: „Mein Leib ist da, wo er etwas zu tun hat“.30 Er wohnt dem Raum in der Weise eines nicht-begrifflichen, affektiven „Verständnisses“31 ein, wenn seine motorischen Fähigkeiten sich im Leben entfalten können. Daher ist der Körperraum dem Leib eher in einer Handlungs- als in einer Erkenntnisintention gegeben.32 Dieses affektive Verständnis des Raumes erweist sich einerseits in den „motorischen Gewohnheiten“, die leib- lich eingeprägt sind. Sie bekunden sich nach dem Philosophen Henry Bergson auf der Ebene der Tätigkeit, die bewirkt, dass gewisse Bewegungen unseres Körpers sich in einer „automati- schen Reaktion“ verbinden, in der sich ein fließender Übergang zwischen Wahrnehmung und Erinnerung entfalten kann (zum Beispiel beim Steigen einer Treppe, bei der Benutzung eines Gebrauchsgegenstandes und so weiter).33 Andererseits erweist sich dieses affektive Verständnis des Raumes darin, dass er als „Ausdrucksraum“ fungiert. Merleau-Ponty versteht den Raum nicht als Raum der Orientierung oder leiblichen Bewegungen, 26 Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. 29 Ebd., S. 293. Untersuchungen zur Genealogie der Logik. Hg. 30 Ebd., S. 291. v. Ludwig Landgrebe. Hamburg 1972, S. 137 f. 31 Ebd. 27 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie 32 Maurice Merleau-Ponty: Die Prosa der Welt. der Wahrnehmung. Üb. von Rudolf Boehm. Üb. von Regula Giuliani. München 1984, S. 129. Berlin 1966, S. 129. 33 Henry Bergson: Materie und Gedächtnis. In: 28 Ebd., S. 128 f. Materie und Gedächtnis und andere Schriften. Köln 1994, S. 238–240. DER LEIB ALS UMSCHLAGSTELLE 201 sondern als einen erlebten und ausdrucksvollen Raum. Denn der Leib ist nicht wie die Gegenstände „im Raum“, sondern er „wohnt ihm ein“; seine Gesten spannen „affektive Vektoren auf, entde- cken emotionale Quellen und schaffen einen Ausdrucksraum“.34 Es entsteht somit eine Spannung zwischen meinem habituellen Leib, dem Leib, den ich durch Gewöhnung bin, und meinem aktu- ellen Leib, dem Leib, den ich in der Spontaneität meiner Aktionen schaffe.35 Es handelt sich also bei Merleau-Ponty um eine leibli- che Situations- und Bewegungsräumlichkeit, die Ausdruck eines verleiblichten Sinnes ist: „Mein Leib ist (der) Bedeutungskern“36 und kein Gegenstand, weil er gerade das Sehende und Berührende ist.37 So zeigt auch der Raum, den wir schaffen, ver- schiedene Bedeutsamkeitszonen, die der Vielfalt der leiblichen Betätigungen entsprechen. Man lebt nicht in einer abstrakten Hülle, sondern indem man dem Raum in verschiedenen Weisen einwohnt, erhält er einen entsprechend eigentümlichen Sinn.38 Aus dem Gesagten wird ersichtlich, dass die Deutlichkeit des Tuns und Wahrnehmens einen Wahrnehmungsboden definiert, worin der Leib sich nicht nur in der Lebenswelt verankert, son- dern ihr einen affektiven Sinn verleihen kann, der seinerseits nur nachträglich begrifflich erfasst werden kann. Merleau-Pontys Auffassung des Eigenleibes ist keine Fortsetzung des Husserlschen Ansatzes. Seine Neuinterpretation des ‚In-der- Welt-Seins‘ nach Heidegger mündet in eine nicht-dialektische Verflechtung von Leib und Existenz – ein Weltbezug, der auf leib- haftiger Erfahrung gründet und präobjektiv ist. Merleau-Ponty entwirft den Begriff „être-au-monde“, ein „Zur-Welt-Sein“, mit dem eine „Hingebung“39 an die Welt gemeint ist, die keine äußere Beziehung wie bei Husserl darstellt, sondern eine „originäre 34 Ebd., S. 176. 38 Waldenfels 2013 (Anm. 21), S. 212–215. 35 Bernard Waldenfels: Hyperphänomene, Modi 39 Vgl. Merleau-Ponty 1984 (Anm. 32), Fußnote hyperbolischer Erfahrung. Berlin 2012, S. 148. von Rudolf Boehm. 36 Merleau-Ponty 1984 (Anm. 32), S. 177. 37 Ebd., S. 117. 202 IRENE BREUER Verflechtung von Sein und Dasein“40 ausdrückt. Der Leib ist nicht nur der „Maßstab aller Dinge“41, sondern im Spätwerk sogar „der universelle Maßstab“, der ein „dimensional Sinnliches“ verkör- pert.42 Der menschliche Leib, der im Frühwerk Merleau-Pontys als Mittel zur Welt und Organ der Wahrnehmung galt, wird zum Fleisch der Welt. „Mein Fleisch selbst“, so Merleau-Ponty, „ist ein Sinnliches von der Art, dass sich alles andere Sinnliche in es ein- schreibt, es ist sinnlicher Angelpunkt, an dem alles andere Sinnliche teilhat, Schlüssel-Sinnliches, dimensionales Sinnliches“.43 Ein Selbst und seine Umgebung sind die zwei „Kehrseiten“ dieser reflexiven Beziehung, deren Einheit das Fleisch der Welt aus- macht.44 Mit dem Begriff des Fleisches überwindet Merleau-Ponty die Phänomenologie der Konstitution Husserls und somit die Spaltung zwischen dem Leib als Wahrnehmungsorgan und der Welt als Wahrnehmungsfeld. Was Merleau-Ponty „Fleisch“ nennt, bezeichnet die Verflechtung, das Chiasma von Welt und Ich:45 Das Fleisch ist somit ein sinnliches Prinzip, dessen „Angelpunkt“46 der eigene Leib ist. Die leibliche Verknüpfung von Berührendem und Berührtem vollzieht sich nicht durch das Denken, sondern das Bewusstsein selbst ist nichts anderes als die „Offenheit einer Leiblichkeit zur Welt“.47 Die Existenzialien, die bei Heidegger die Weisen des In-der-Welt-seins bezeichnen, wie Mitsein, Sorge, Verstehen oder Befindlichkeit, gehören für Merleau-Ponty zu den anonym-leibhaften Strukturen, die dieses sinnliche Fleisch der Welt ausmachen. Das Ich ist also in das Fleisch der Welt „einver- leibt“, so dass der Leib nicht von der Welt umgeben ist, sondern diese die „Verlängerung“48 des Leibes ist. 40 Anna Orlikowski: Merleau-Pontys Weg zur 45 François Dastur: Merleau-Pontys Begriff Welt der rohen Wahrnehmung. München 2012, der Erfahrung als Reversibilität und Chiasma. S. 72. In: Hans-Dieter Gondek, Tobias Klass, László Tengelyi (Hg.): Phänomenologie der Sinnereig- 41 Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und nisse. München 2011, S. 216. das Unsichtbare. München 1986, S. 199. 46 Merleau-Ponty 1986 (Anm. 41), S. 327. 42 Ebd., S. 327. 47 Ebd., S. 320. 43 Ebd., S. 326. 48 Ebd., S. 321. 44 Ebd., S. 327. DER LEIB ALS UMSCHLAGSTELLE 203 Aus dieser Auffassung können wertvolle Einsicht in die Beziehung zwischen dem architektonischen Werk und dem ‚Gebraucherin‘ oder dem ‚Gebraucher‘ gewonnen werden. Der architektonische Raum ist die Verlängerung meines Leibes, denn einerseits setzt der Kontakt des Leibes von sich zu sich im Berühren/sich Berühren als auch im Fortbewegen die Existenz des Raums voraus, ande- rerseits aber, indem der Leib sich selbst betastet und fortbewegt, wird der Raum in seinem Sinn konstituiert. Der so verstandene Raum ist deshalb keine leere Hülle, die dem Leib vorausgeht, son- dern im Gegenteil, Leib und Leibraum entstehen zusammen; wie es Aristoteles wusste, jeder Körper hat sein „topos idios“, das heißt einen eigentümlichen und eigenen Ort. Es handelt sich hier also um die „Ungeteiltheit“ Leib-Welt (Leib-Raum), die das Sinnliche ausmacht, so dass der Raum als eine weitere Dimension meines Leibes zu verstehen ist. Wir können aus dem Gesagten folgern, dass der Leib die Umschlagstelle ist zwischen einem technischen Gebrauch der Architektur – infolgedessen wir die Außenwelt erfah- ren und uns in ihr betätigen – und einem ästhetischen Gebrauch der Architektur – infolgedessen wir den architektonischen Raum am eigenen Leib erleben und fühlen. Architektur und Raum – die ,Gebrauchs-Epoché‘ Die Architektur vereint sich mit der raumschaffenden Bewegung des Leibes, die Raum gibt und gleichzeitig Raum einnimmt. Leibliche und architektonische Konzeptionen durchdringen sich: Die Wiederspiegelung der Struktur des Leibes im Raum hat eine harmonische Architektur hervorgebracht, die symbolische Werte in der Form von habituellen Typen repräsentiert. Ein Raum aber, der dem Leib wie angegossen wäre, wäre eine anthropometrische Utopie und das Gegenextrem zu einem Raumbehälter, der alles undifferenziert umfasst. Die Orte, die der Mensch bewohnt, wer- den unterhöhlt durch bestimmte Nicht-Orte,49 die wir uns nicht 49 Vgl. Irene Breuer: ,Il faut être absolument von Adornos ästhetischer Theorie. In: Birgit moderne!‘ Architektur und Technik zwischen Recki (Hg.), Kongressakten der Deutschen dem Noch-nicht der Utopie und dem Überall Gesellschaft für Ästhetik 3, Techne – poiesis – aber Nirgendwo der Dystopie – im Ausgang aisthesis. Technik und Techniken in 204 IRENE BREUER aneignen können, und durch Fremdorte, die sich uns in ihrem Sinn entziehen, wie Waldenfels erklärt. Selbst die vertraute Umgebung zeigt Züge der Fremdheit, denn Räume sind nicht statische Gebilde, die sich dem Eindringen neuer Lebensweisen wider- setzen. Wenn es einerseits keine Trennung zwischen Eigen- und Fremdort gibt, so gibt es andererseits auch keine Trennung zwischen realen und künstlerischen Räumen. Reale Räume, zu denen die Architektur verschiedene Szenarien beiträgt, sind der bewegliche Rahmen für Handlungsabläufe und dauerhafte Lebensläufe; künstlerische Räume wiederum gehen über nor- male Ordnungen hinaus, ohne das Gewohnte völlig zu verlassen. Die Raumkunst besteht darin, dass die Räumlichkeit befragt, modelliert und bearbeitet wird, wodurch die gewohnten Formen gestört oder verfremdet werden, bis hin zum Unheimlichen und Unbrauchbaren. Eine Architektur, in der der Leib nicht zur Ruhe kommen kann, geht in ihrer Funktionalität und ihrem Gebrauch nicht auf, sondern weist über sie hinaus.50 Man ist geneigt, nicht nur mit Waldenfels von einer „kinästheti- schen Epoché“,51 sondern ebenso von einer ,Gebrauchs-Epoché‘ zu reden. Denn nicht nur die gewohnten Bewegungsmuster, sondern ebenso der habitualisierte technische Gebrauch der Architektur werden zugunsten einer Destabilisierung der Leibbewegungen und einem ästhetischen Gebrauch der Architektur eingeklammert. Zum einen verwandelt sich die leib- liche Selbstbewegung, die, wie bereits erwähnt, von einem ori- ginären Hier oder Nullpunkt ausgeht und einem Ziel zustrebt, in ein zielloses Wandern, worin unser Leib aufgefordert wird, die Selbstkontrolle aufzugeben. Eine Bewegung, die dem Leib sozusagen den Boden entzieht, zwingt uns, spontan eine neue Form von Gleichgewicht zu suchen. Zum anderen führt das Überschreiten der gewohnten Raumordnung und der Gebrauch der Architektur als erstes zu Erfahrungsstörungen, die sich in einem befremdlichen Umgang bis hin zu einem Gefühl der Kunst und ästhetischer Praxis, http://www. 50 Vgl. Waldenfels 2013 (Anm. 21), S. 200–223. dgae.de/wp-content/uploads/2015/09/ Breuer_Architektur_und_Technik.pd- 51 Ebd., S. 221. f?c=76f6f1&p0=1&p1=-6&p2=-4 (10.Mai 2016). DER LEIB ALS UMSCHLAGSTELLE 205 Sinnlosigkeit bekunden. Es entsteht somit ein Erfahrungsentzug als Antwort auf die Unverfügbarkeit und Undurchschaubarkeit der fremden Ordnung, die uns ihrerseits auffordert, sie in einer neuen Ordnung zu integrieren. Es handelt sich generell um Ansprüche, auf die der Leib zu antworten hat. Als Antwort dar- auf entwickelt das leibliche Ich allmählich Erwartungen aus der Wiederholung dieser Erfahrungen und Erlebnisse, so dass sich ein neuer Sinn herausbilden kann. Dieser neue Sinn entsteht aus dem Überschuss der Sinnlichkeit gegenüber der Begrifflichkeit, denn das Neue wird zuallererst sinnlich wahrgenommen, bevor – wenn das überhaupt möglich ist – Begriffe gestiftet werden kön- nen. Gerade in der Möglichkeit einer neuen Sinnbildung liegt die Kraft des ästhetischen Gebrauchs der Architektur. Der ästhetische Gebrauch der Architektur Die Gebrauchs-Epoché bekundet sich in der Infragestellung der strukturellen Verbindung zwischen Leib, Raum und Architektur, die paradigmatisch von der Entwurfsstrategie Bernard Tschumis für den Parc de la Villette (1982–1988) ins Werk gesetzt wird. Dafür wird das ganze architektonische Programm einem gewal- tigen Vorgang der Demontage unterzogen. Aus dieser Zerlegung entstehen Fragmente, die in autonomen Struktursystemen kombi- niert werden: Erstens, das Netz der Intensitätspunkte, die neutra- len roten Würfel (die „folies“ oder Verrücktheiten), die Treffpunkte, Werkstätten und urbane Dienste beherbergen; zweitens, die Bewegungslinien oder Hauptachsen, die durch den Park führen, und drittens, die zusammengesetzten Flächen („prairies“ oder Wiesen), worin die Gartenanlagen untergebracht sind (Abb. 1,2). Durch die Überlappung dieser drei in sich kohärenten Strukturen wird eine Collage heterogener und unzusammenhängender Teile erzeugt um die Grenzen der tradierten Raumregister zu sprengen. Somit werden Konflikte und zufällige Verknüpfungen eingeleitet, die zu formalen und programmatischen Spannungen führen. Die Punkte oder ‚folies’ drücken keine Funktion aus, obwohl sie dennoch einen bestimmten Zweck erfüllen sollen; Ambiguität zwischen Sinn und Nicht-Sinn umspannt sie (Abb.3). Die ‚folies‘ 206 IRENE BREUER Abb. 1: Bernard Tschumi, Parc de la Villette, 1982–1988, Vogelperspektivische Zeichnung. Quelle: URL: http://www.tschumi.com (1. September 2016) stellen die Möglichkeit des Wohnens in Frage, indem sie einer- seits die Distinktion ‚innen-außen‘ ignorieren, und anderer- seits, indem sie dem Leib „keinen beruhigenden organischen Referenten“52 anbieten. Weit entfernt davon, einen „Körperraum“ zu schaffen, den der Leib „einwohnen“ kann und in dem und mit dem er – im Sinne Merleau-Pontys – fungieren kann, erzeugt die willkürliche Montage der einzelnen Elemente (wie Treppen und Rampen), „anti-körperliche Zustände“ wie „Schwindel, plötzli- che horizontale und vertikale Bewegungen“;53 es ist, als ob die Architektur auf die Labilität der Körperlichkeit abzielen würde. Es entsteht ein Gefühl der leiblichen Entfremdung, das auf das Fehlen eines Bezugs zu Orten oder Typen, die in unserem Leib verankert sind, zurückzuführen ist. Wege, die zu keinem Ziel füh- ren, sondern uns verleiten, in ihnen zu verweilen und die unsere Sinne ansprechen, wie es zum Beispiel bei dem so genannten Weg der Düfte der Fall ist, führen zu einer Revision unserer tradierten 52 Anthony Vidler: The architectural uncanny. 53 Italo Calvino: Die unsichtbaren Städte, Essays in the Modern Unhomely. Cambridge übers. von Heinz Riedt. München 1984, S. 21. 1992, S. 111. DER LEIB ALS UMSCHLAGSTELLE 207 Abb. 2: Bernard Tschumi, Parc de la Villette, 1982–1988, Überlappung der Strukturen, Plan. Quelle: URL: http://www.tschumi.com (1. September 2016) Abb. 3: Bernard Tschumi, Parc de la Villette, 1982–1988, Folies, Foto. Quelle: URL: http://www.tschumi.com (1. September 2016) 208 IRENE BREUER Begrifflichkeiten. Rampen oder Treppen, die eine Eigendynamik entwickeln und unseren leiblichen Gewohnheiten widersprechen, verleiten uns, ihren Zweck neu zu definieren. Diese Architektur fordert uns auf, unsere tradierten Gebrauchsgewohnheiten auf- zugeben. Diese Architektur ist nicht nur offen für Veränderungen, sondern offen für neue Möglichkeiten des Gebrauchs und der Aneignung. Die kinästhetische Epoché bekundet sich ihrerseits paradigma- tisch an dem von dem Architekten Peter Eisenman geplanten und zwischen 2003 und 2005 errichteten Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas (Abb.4). Grenzen zwischen Innen und Außen verschwimmen, einfache leibliche Möglichkeiten wie Stehen und Gehen werden durch die Unebenheit, die schräge Lage oder die Glätte des Bodens desta- bilisiert. Selbst die Architektur trotzt dem Vertikalen, der leib- lich aufrechten Haltung; Horizontale und Vertikale verlieren ihre Bedeutung. Jedwede räumliche Gliederung oder Orientierung wird im Werk vermieden und Bezugspunkte fehlen, so dass ein Gefühl der Verunsicherung und der Orientierungslosigkeit erzeugt wird. Das ziellose Wandern durch die engen Flure zwingt uns zu Körperhandlungen, ähnlich wie die schmalen und über- füllten Gassen uns zwingen, den gewohnten zwischenmensch- lichen Abstand neu auszuhandeln. Die abstrakt konzipierten Stellen verweisen auf keine Bedeutung, ihr Sinn bleibt ein Rätsel. Es entsteht somit eine Spannung zwischen den abstrakten, Abb. 4: Peter Eisenman, Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, 2003–2005, Foto. Quelle : Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas DER LEIB ALS UMSCHLAGSTELLE 209 Abb. 5: Zaha Hadid, One-North Masterplan, 2003, Singapur, Digitalisiertes Modell. Quelle: Courtesy of Zaha Hadid Architects sinnlosen Formen und den vielfältigen Assoziationen, die sich dem Besucher aufdrängen: Stelen, Gräber, ebenso wie Wald zum Wandern bis hin zum Spielraum für Kinder und Jugendliche, sie alle stellen mögliche Formen des Gebrauchs dar. Eine radikalere Gebrauchs-Epoché ergibt sich als Folge der Anwendung neuer Entwurfsmethoden wie dem ‚Parametrismus‘. Diese Methode zielt darauf ab, durch die Differenzierung und Konnektivität mannigfaltiger urbaner Systeme (Modulation der Baustrukturen, Straßensysteme und das System des offe- nen beziehungsweise des öffentlichen Raumes) eine tiefe Bezogenheit zwischen urbaner Funktionsaufteilung und archi- tektonischer Morphologie zu erreichen, wie am Beispiel eines Masterplans für Singapur, entworfen 2005 vom Architekturbüro Zaha Hadid, zu ersehen ist (Abb.5). Parametrisches Design konzipiert die urbane Baumasse als eine schwarmartige Gliederung, worin die urbanen Variablen von Masse, Räumlichkeit und Richtung sich dynamisch konfi- gurieren und den veränderlichen Besetzungsmustern anpassen 210 IRENE BREUER können.54 Weit davon entfernt, eine Vielfalt von kreativen Aneignungen zu fördern, wie am Beispiel von Tschumi durch die Kollision von heterogenen Fragmenten oder am Beispiel von Eisenman durch die Möglichkeit vielfältiger Assoziationen, entsteht hier durch die funktionelle Freiheit des Entwurfs eine starke Unbestimmtheit des Sinnes, wodurch die Frage des mög- lichen Gebrauchs stets offen bleibt. Diese Faszination an der Konnektivität, den kontinuierlichen stromartigen Formen und der funktionellen Flexibilität der unterschiedlichen Systeme übersieht einerseits den sozialen und programmatischen Wert der architektonischen Brüche und Diskontinuitäten, welche die unterschiedlichen Aktivitäten des urbanen Lebens benötigen; andererseits entspricht sie dem Deterritorialisierungsprozess der heutigen Netzwerkgesellschaft. Es handelt sich bei diesem Projekt um eine Konfrontation zwischen der historisch entwi- ckelten, aus einer Heterogenität von Lebensräumen bestehen- den Stadt, die aufgrund ihrer geschichtlichen Überlappung eine Vielfalt von möglichen Handlungen und Tätigkeiten mit unterschiedlicher affektiver Aneignung ermöglicht, und der kinetischen Stadt, die in unaufhaltsamer Motrizität sich in einem grenzenlosen, beschleunigten, fließenden Raum ‚auf- löst’. Das Subjekt schwankt somit zwischen der Fixierung auf den Leibort und dessen Verflüchtigung. Wichtig ist hier einzu- sehen, dass bewohnbare Orte nichts Statisches, sondern durch „sukzessive Überlagerungen gewachsen“ sind; gerade durch diese Veränderungen sind sie imstande, den Wünschen und Erwartungen „stets ihre Gestalt“ zu geben, wie der Schriftsteller Italo Calvino hervorgehoben hat.55 Die Überlagerung dieses Projekts auf die bestehende Stadt ruft aufgrund der unterschied- lichen Morphologien, Funktionen und Erfahrungsweisen starke Spannungen hervor, welche die „ungelösten Antagonismen der Realität“56 im Sinne des Philosophen Theodor Adornos aus- drücken. Denn wie jeder architektonische Entwurf, ist dieses 54 Vgl. Patrik Schumacher: Parametricism. 55 Calvino (Anm. 53), S. 43. In: Architectural Design (July/August 2009), S. 14–23. 56 Theodor Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1973, S. 16. DER LEIB ALS UMSCHLAGSTELLE 211 städtebauliche Projekt als eine Antizipation des Noch-nicht- Gewordenen durch einen utopischen Überschuss charakteri- siert: Es soll paradoxerweise die Erwartungen einer sich konti- nuierlich verändernden Gesellschaft mit recht stabilen lebens- weltlichen, leiblichen Bedürfnissen erfüllen. Aufgrund dieses Antagonismus entsteht ein Zwiespalt zwischen dem Mangel an qualitativer Vielfalt, der die leibliche Orientierung und Betätigung im Raum erschwert, und dem Überschuss an dynamisch fließen- den Formen, der in paradigmatischer Weise den Nomadismus unseres heutigen Lebensstils widerspiegelt. Fazit Aus den genannten Überlegungen geht hervor, dass eine kinästhetische und gebrauchsbezogene Epoché, die krea- tive Assoziationen ermöglicht, zu neuen Möglichkeiten des leiblichen Erlebens und Nutzens der Architektur führt. Diese Möglichkeiten gehen mit der Einsicht einher, dass der leib- lich-technische Gebrauch der Architektur einen affektiv-äs- thetischen Gebrauch voraussetzt, da der Leib originär in einen intentional affektiven Bezug zur Welt steht. Der Lebenswelt ent- spricht somit ein gelebter Raum und auch eine gelebte Zeit, die sich am Leitfaden des Leibes entfalten, so dass ohne die raum- und grenzbildende Kraft der Leiblichkeit, ohne leibliche Gefühle, Stimmungen und Sinneseindrücke die Architektur ihre lebens- weltliche Bedeutsamkeit einbüßt. Diese Verflechtung zwischen Leib, Raum und Zeit ist keineswegs ein harmonisches Gefüge: Die Anerkennung der lebensweltlichen Spannung zwischen dem Selben, das sich geschichtlich wiederholt, und dem Fremden, das die gewohnten Ordnungen sprengt, verursacht eine Umwälzung des tradierten Gebrauchs der Architektur und führt zu neuen Sinnbildungen, die herkömmliche ästhetische Ideen in Frage stellen. Denn diese Spannung entsteht aus der den erwähnten Beispielen zugrundeliegenden Einsicht, dass es einen fugen- losen Kosmos und eine harmonische, von allen Rissen befreite Lebenswelt nie gegeben hat. Unsere tradierten Lebensräume, in denen sich dank der Gewohnheiten ein Erfahrungsstil entwickelt, 212 IRENE BREUER werden – wie oben erwähnt – unterwandert durch fremde Orte, die sich der Aneignung widersetzen und deren Gebrauch neu definiert werden muss. In diesem Sinne besteht die Aufgabe der Offenheit des Entwurfs als ästhetische Idee gerade darin, tra- dierte Sinnhorizonte zu revidieren und sie im Einklang mit ver- änderten Erfahrungsweisen neu zu bestimmen. Der leiblich sinn- lichen Erfahrung der Architektur kommt hier eine Schlüsselrolle zu, denn es ist der Leib, der die Umschlagstelle zwischen dem ästhetischen und dem technischen Gebrauch der Architektur bildet. DER LEIB ALS UMSCHLAGSTELLE 214 CONSTANZE A. PETROW CONSTANZE A. PETROW Vom Entwurfsversprechen zum städtischen Freiraum als Alltagsort Konzept für eine empirische Wirkungsforschung in der Landschaftsarchitektur Trotz der hohen Bedeutung von öffentlichen Freiräumen als Natur- und Erholungsorten in der Stadt wird deren Gestaltung und die Zufriedenheit der Nutzerinnen und Nutzer kaum je evaluiert. Es fehlen dafür nicht zuletzt die methodischen Instrumente. Darauf reagierend, stellt der Beitrag ein Konzept für eine empirische Wirkungsforschung in der Landschaftsarchitektur vor. Ziel ist die Wissensproduktion und das kollektive Lernen aus realisierten Projekten. Kontrastiert werden dafür unterschiedliche Narrative über einen Freiraum. Insbesondere soll der Zusammenhang zwi- schen dem „Entwurfsversprechen“ der Landschaftsarchitekten und dem realisierten Projekt als städtischer Raum und Alltagsort nachvollzogen werden. „Es gibt in der Architektur keine Wirkungsforschung“, konsta- tierte der Schweizer Architekturtheoretiker Angelus Eisinger vor einigen Jahren in einem Interview mit der ZEIT. Was funkti- oniert, was nicht – und weshalb? Niemand stellt diese Fragen. „Architekten interessieren sich für das Bild, die Komposition und ihre Intention – aber der konkrete Alltag spielt für sie keine Rolle“.1 Diese Aussage bringt ein Defizit auf den Punkt, das 1 Matthias Daum: Denker außer Dienst. In: ZEIT online am 2. Februar 2012. URL: http:// www.zeit.de/2012/06/CH-Architekten (14. Sep- tember 2016). VOM ENTWURFSVERSPRECHEN ZUM STÄDTISCHEN 215 FREIRAUM ALS ALLTAGSORT in ähnlicher Weise für die Landschaftsarchitektur gilt. Denn nachdem ein Freiraumprojekt fertiggestellt ist, findet jen- seits der Gewährleistungsfristen der ausführenden Firmen keine Erfolgskontrolle statt. Schlechte Projekte haben keiner- lei Konsequenzen. Dennoch prägen sie die Lebensqualität der Nutzerinnen und Nutzer auf Jahrzehnte. Nur bei erheblichen Protesten seitens der Bevölkerung werden Nachbesserungen veranlasst.2 Aber nicht nur problematische, sondern auch her- vorragende Projekte, deren Erfolg manchmal erst nach einigen Jahren erkennbar wird und von denen Planer in anderen Städten viel lernen könnten, bleiben einer überörtlichen Wahrnehmung entzogen. Die Fachpresse berichtet nur ausgewählt, sehr affir- mativ und in der Regel bereits kurz nach Fertigstellung eines Projekts, wenn noch keine Gebrauchserfahrungen vorliegen. In den Köpfen der Planercommunity konservieren sich die Bilder eines Projekts zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung. Oft dienen diese Bilder den Fachkollegen als Referenzen für ihre eigenen Projekte. Wie aber geht die Geschichte eines Freiraums weiter? Das Lernen aus Freiräumen im Gebrauch ist über die eigene Planungs- und Baupraxis hinaus der Reiselust des einzelnen Landschaftsarchitekten überlassen, und selbst dann kommt ihr Eindruck vor Ort in Abhängigkeit vom Wetter und von der Jahres-, Tages- und Wochenzeit nur einer subjektiven Momentaufnahme gleich. Die Qualitäten von Freiräumen haben für Städter jedoch eine hohe Alltagsbedeutung und die gestalterischen Entscheidungen von Landschaftsarchitekten somit eine große soziale Relevanz. Landschaftsarchitekten gestalten öffentliche Räume, die 2 Wie bei der Platzfolge Rossmarkt, Goethe- platz, Rathenauplatz in Frankfurt am Main, bei der auf Bürgerversammlungen und in der lokalen Presse jahrelang so viel Unmut geäu- ßert wurde, dass die Stadt zunächst temporäre Kunstaktionen auf dem Platz unterstützte, spä- ter Nachbesserungen mit Staudenpflanzungen und zusätzlichen Bänken veranlasste und den mittleren Teil des Platzes schließlich mit einem Querriegel temporär bebauen ließ. 216 CONSTANZE A. PETROW „Benutzeroberfläche der Stadt“.3 Sie tun es im Auftrag der öffent- lichen Hand, und sie prägen mit ihren Werken maßgeblich die Gebrauchseigenschaften, die Wohlfühlqualitäten und schließlich die soziale Leistungsfähigkeit4 städtischer Räume. Freiräume und ihre Gestaltung sind ein Politikum. Wünschenswert wäre deshalb in besonderer Weise ein Instrumentarium, um Fehlentwicklungen in der Gestaltung dieser Räume zu vermeiden und ein überörtli- ches Lernen aus realisierten Projekten zu ermöglichen. Mit einer Evaluation von Freiraumgestaltungen könnte Planungsfehlern bei künftigen Projekten vorgebeugt werden. Ein solches Korrektiv böte die Wirkungsforschung. Insbesondere für die aus Wettbewerben hervorgegangenen Freiräume – und damit die kommunal zumeist bedeutsameren und innerfachlich stärker wahrgenommenen Projekte – könnte der Zusammenhang zwischen dem „Entwurfsversprechen“ der Planer und dem gebauten Objekt als einem auf Dauer genutzten Ort in der Stadt nachvollzogen werden. Offen gelegt werden könnten zudem auch Wirkmechanismen, die der Gestaltung und Nutzung von Freiräumen zugrunde liegen: die Werte und damit auch die Wertkonflikte zwischen den an ihrer Planung, dem Bau und der Unterhaltung Beteiligten sowie Konflikte mit und zwischen Nutzergruppen.5 In meiner Dissertation habe ich die Aufgaben und Potenziale öffentlich geführter Diskurse über landschaftsarchitektonische Projekte untersucht.6 Kernbestandteil der Arbeit war eine Analyse der Berichterstattung über Landschaftsarchitektur in der deutsch- sprachigen Tagespresse. Zu den wesentlichen Ergebnissen die- ser Analyse zählte, dass das Interesse der Qualitätspresse für 3 Constanze A. Petrow: Umraum, Freiraum, 5 Siehe dazu ausführlich Constanze A. rekonstruierter Raum. In: Sabine Ammon, Eva Petrow: Wertkonflikte in Landschaftsarchitektur Maria Froschauer, Julia Gill u.a. (Hg.): z.B. und Freiraumplanung. Felder, Akteure, Positi- Humboldt-Box. Zwanzig Architekturwissen- onen. In: Karsten Berr (Hg.): Architektur- und schaftliche Essays über ein Berliner Provisori- Planungsethik. Wiesbaden 2017, S. 45–67. um. Bielefeld 2014, S. 32–42, hier S. 40. 6 Constanze A. Petrow: Dialog mit der Öffent- 4 Im Sinne intensiv genutzter und in ihrem lichkeit. Kritik zeitgenössischer Landschafts- Besucherspektrum die Bevölkerungszusam- architektur in der Tagespresse. Dissertation. mensetzung der Umgebung hinsichtlich Alter, Hannover 2009. Gender, ethnischen Zugehörigkeiten und Sozialstatus repräsentierender Freiräume. VOM ENTWURFSVERSPRECHEN ZUM STÄDTISCHEN 217 FREIRAUM ALS ALLTAGSORT Themen der Landschaftsarchitektur relativ gering ist, es nur sporadisch auftritt und in der Regel an ein Ereignis wie eine Preisverleihung, eine Eröffnung oder ein Großevent gebunden ist.7 Angesichts dessen wurde mit den dort erörterten Aufgaben eines öffentlichen Diskurses8 eher ein Ideal als eine realisierbare Praxis beschrieben. Die Wirkungsforschung nimmt den Kern der Idee eines sol- chen Diskurses, nämlich die Multiperspektivität, auf. Bei der Berichterstattung in den Medien konstituiert sich die Perspektivenvielfalt vor allem in den Stimmen der einzelnen Journalistinnen und Journalisten und kulminiert im (selten auf- tretenden) Optimalfall im „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“9 innerhalb eines vielstimmig geführten Diskurses. Im Gegensatz dazu bedient sich die Wirkungsforschung der Methoden der empirischen Sozialforschung. Sie stellt damit sowohl eine realistischere als auch weitaus objektivere Methode dar, um die Wahrnehmung städtischer Freiraumgestaltungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu erfassen, zur Diskussion zu stellen und die gewonnenen Erkenntnisse den individuellen und kollektiven Glaubenssätzen von Planern, Behördenmitarbeitern und Stadtpolitikern entgegenzusetzen. Festgehalten wird indes an der Diskursanalyse als geeigneter Methode zur Gewinnung von Erkenntnissen über die Wahrnehmung städtischer Freiräume. Wirkungsforschung als Entwurfsforschung Wirkungsforschung kann als „kritische Entwurfsforschung“ begriffen werden. Das Interesse an der Entwurfsforschung ist 7 Vgl. Constanze A. Petrow: Kritik zeitge- 9 Jürgen Habermas: Vorbereitende Bemer- nössischer Landschaftsarchitektur. Städtische kungen zu einer Theorie der kommunikativen Freiräume im öffentlichen Diskurs. Münster Kompetenz. In: Ders., Niklas Luhmann (Hg.): 2013. Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnolo- gie. Was leistet die Systemforschung? Frankfurt 8 Ebd., S. 200–224. am Main 1971, S. 101–141, hier S. 137. 218 CONSTANZE A. PETROW in der Architektur und Landschaftsarchitektur in den vergange- nen Jahren sprunghaft angestiegen.10 Vor allem hochschulpo- litisch motiviert durch den Druck auf die Planungsfakultäten, mehr zu forschen und Drittmittel einzuwerben, wird die Entwurfsforschung gerade als ein Mittel zur Selbstlegitimation als universitäre Disziplin entdeckt, als Antwort auf die empfun- dene11 „verordnete Verwissenschaftlichung des Entwerfens“ 12 oder schlicht als Chance, einen explizit auf die architektonische Wissenskultur abgestimmten Forschungszweig zu etablieren.13 Der Entwurf wird dabei 1. als Werkzeug der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung und 2. als Gegenstand der Selbstreflexion erwogen. Beide Ansätze sind allerdings bislang über ausführliche theoretische Reflexionen 14 und konzeptionelle Überlegungen 15 an deutschen Architektur- und Landschaftsarchitekturfakultäten kaum hinausgegangen. Anders als bei diesen beiden Ansätzen der Entwurfsforschung, deren implizite Motive gerade darin bestehen, die den gestalterischen Disziplinen eigenen Arbeitsmethoden nicht zu verlassen und diese vielmehr auch für die Forschung nützlich zu machen (1.) sowie die eigene Perspektive durch eine Art Selbstbefragung noch zu vertiefen (2.), zielt die Wirkungsforschung genau auf das Gegenteil: auf eine Öffnung sowohl der Methoden als auch der Perspektiven. Im Folgenden soll der Möglichkeitsraum einer solchen Wir- kungsforschung für die Landschaftsarchitektur erkundet werden. 10 Siehe der Überblick von Sebastian Feldhu- 13 Anna Flach, Monika Kurath: Architektur sen: Doctor of Architecture? Entwurfspraxis als als Forschungsdisziplin. Ausbildung zwischen Bestandteil der Forschung. In: Stadt und Grün Akademisierung und Praxisorientierung. In: 65 (2016), H. 9, S. 46–49. Archithese 46 (2016), H. 2, S. 73–80. 11 „Empfunden“ deshalb, weil keine Hoch- 14 Sabine Ammon, Eva Maria Froschauer schule die Inhalte der geforderten Forschungs- (Hg.): Wissenschaft Entwerfen: Vom forschen- aktivitäten vorschreibt. Vielmehr reduzieren den Entwerfen zur Entwurfsforschung der einige Inhaber von Entwurfslehrstühlen ihre Architektur. München 2013. Wahrnehmung und ihr Erkenntnisinteresse auf Fragen des Entwerfens – eine Art freiwillige 15 Hille von Seggern, Julia Werner, Lucia Selbstbeschränkung. Grosse-Bächle (Hg.): Creating Knowledge: Innovationsstrategien im Entwerfen urbaner 12 Jürgen Weidinger: Antworten auf die ver- Landschaften. Berlin 2008; Weidinger 2014 ordnete Verwissenschaftlichung des Entwer- (Anm. 12). fens. In: Ders. (Hg.): Entwurfsbasiert forschen. Berlin 2014, S. 13–34, hier S. 13. VOM ENTWURFSVERSPRECHEN ZUM STÄDTISCHEN 219 FREIRAUM ALS ALLTAGSORT Zunächst werde ich ihre Relevanz angesichts gewandelter Planungsbedingungen begründen. Anschließend gehe ich auf die Tradition der Wirkungsforschung in anderen Disziplinen und gesellschaftlichen Handlungsfeldern ein und stelle zwei im angelsächsischen Raum verbreitete Bewertungsinstrumente vor. Darauf aufbauend entwickle ich einen Methodenbaukasten für die Wirkungsforschung. Gewandelte Planungsbedingungen Die Etablierung einer empirischen Wirkungsforschung geht mittlerweile, so kann man sagen, über ein ‚Nice-to-have’ hin- aus, denn die Bedingungen der Planung haben sich innerhalb der vergangenen zwei Jahrzehnte nachhaltig gewandelt. Vier Entwicklungen erachte ich dabei für besonders relevant: 1. Gesellschaftliche Differenzierungsprozesse Stadtgesellschaften verändern sich derzeit tiefgreifend: Sie werden ethnisch und kulturell vielfältiger, aber auch älter. Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich wächst. Städtische Milieus und Lebensstile differenzieren sich weiter aus, und damit verviel- fältigen sich auch die sozio-ökonomischen Kontexte, in denen Freiräume entstehen. Angesichts der gewachsenen gesellschaft- lichen Vielfalt kommt öffentlichen Freiräumen eine wichtige Integrationsfunktion in den Städten zu. Daraus ergibt sich ein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse an der Attraktivität und Eignung von Gestaltungen und Ausstattungen für eine möglichst breite Nutzerschaft (inklusive der Tauglichkeit von Freiräumen für ältere Menschen als wesentlicher Voraussetzung ihrer Integration und Teilhabe am öffentlichen Leben), an Exklusionsprozessen durch Gestaltung, an bestimmten Materialien, räumlichen Settings und an Atmosphären sowie an den Bedingungen der Freiraumnutzung und -aneignung in unterschiedlichen sozio-kul- turellen Kontexten. 220 CONSTANZE A. PETROW 2. Öffnung des traditionellen Planungssystems für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, Aneignung und private Akteure Ebenso hat sich das Spektrum der Akteure bei der Entstehung beziehungsweise Weiterentwicklung öffentlicher Freiräume ver- breitert. Teile der Stadtgesellschaft artikulieren sich heute ver- nehmlicher und selbstbewusster als noch vor wenigen Jahren, sie fordern Mitsprache und Mitmachmöglichkeiten ein. Andere Akteure verändern öffentliche Stadträume durch die Investition privaten Kapitals, vor allem im Rahmen von ‚Business Im- provement Districts‘ (BID). Festzustellen ist eine zunehmende Privatisierung genuin öffentlicher Aufgaben und Räume. Daraus erwächst ein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse darü- ber, wie sich bürgerschaftliches Engagement im Freiraum der Städte abbildet und wie es diesen verändert, wie sich die par- tielle Übertragung von Verantwortung an Bürgerinnen und Bürger bewährt oder aber wie sie Interessen der Allgemeinheit beschneidet sowie in welcher Weise private Akteure Einfluss auf die konkrete Gestaltung von Freiräumen nehmen und damit der Charakter öffentlicher Räume verändert wird. 3. Widerspruch zwischen einem gültigen Gestaltungsparadigma innerhalb der Landschaftsarchitektur und den Präferenzen einer gesellschaftlichen Mehrheit Ein mittlerweile seit rund 25 Jahren und vor allem im deutschspra- chigen Raum bestehendes Gestaltungsparadigma innerhalb der Landschaftsarchitektur, der Minimalismus, steht im Widerspruch zu den im innerfachlichen Diskurs als „Laiengeschmack“ abqua- lifizierten ästhetischen und atmosphärischen Vorlieben eines Großteils der Bevölkerung.16 Es steht zugleich aber auch im 16 Wulf Tessin: Ästhetik des Angenehmen. Städtische Freiräume zwischen professioneller Ästhetik und Laiengeschmack. Wiesbaden 2008. VOM ENTWURFSVERSPRECHEN ZUM STÄDTISCHEN 221 FREIRAUM ALS ALLTAGSORT Konflikt zur Alltagstauglichkeit und zu den räumlichen und pro- grammatischen Anforderungen leistungsfähiger Freiräume17 und damit zu den Kernaufgaben städtischer öffentlicher Räume. Daraus ergibt sich ein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse über die Annahme und Akzeptanz bestimmter Gestaltungen durch die Bevölkerung in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten sowie in Bezug auf verschiedene Freiraumtypen. 4. Vervielfältigung der mit Freiraumentwicklungen verfolgten Ziele Ökonomisches Kalkül bestimmt heute wesentlich stärker als noch in den 1980er und 1990er Jahren über die Ästhetik, Benutzbarkeit und Atmosphäre und so auch über den sozialen Charakter von öffentlichen Freiräumen. Die damit verbundene symbolische Ebene von Freiräumen hat an Gewicht gewonnen: das Ziel der Wertsteigerung einer Lage, der Erhöhung der tou- ristischen Anziehungskraft eines Ortes oder des Imagegewinns für private Bauherren, aber auch der gestalterischen Profilierung und Positionierung der verantwortlichen Landschaftsarchitekten innerhalb des beruflichen Feldes. Letztere „verfolgen damit auch Ziele, die sich jenseits der direkten Bedürfnisse der Nutzer der von ihnen gestalteten Anlagen bewegen“.18 Daraus ergibt sich ein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse an der Alltagstauglichkeit und Akzeptanz von Freiraumgestaltungen, welche vor allem auf die Produktion hochwertiger, vermarktbarer und publikations- tauglicher Bilder zielen. Erkenntnisse über den Erfolg von Gestaltungsstilen, Freiraum- ausstattungen, Nutzungspraktiken und Organisationsprinzipien, aber auch des Managements sowie die Folgen bestimmter Akteurskonstellationen (insbesondere von Public Private Partner- ship) haben angesichts des politischen „Imperativs öffentlicher Räume“19 nicht nur eine alltagspraktische, sondern auch eine 17 Leonard Grosch, Constanze A. Petrow: 18 Petrow 2017 (Anm. 5), S. 46, Hervorhebung Parks entwerfen. Berlins Park am Gleisdreieck im Original. oder die Kunst, lebendige Orte zu schaffen. Berlin 2016; Petrow 2017. 19 Setha Low, Neil Smith (Hg.): The Politics of Public Space. New York 2006. 222 CONSTANZE A. PETROW gesellschaftspolitische Dimension. Denn „[...] Parks und Plätze, deren Gestaltung nicht gefällt und die kaum Anreiz zum Aufenthalt bieten, unterhöhlen die Rolle, die sie für ein funktionierendes Gemeinwesen spielen könnten“.20 Aus diesem Befund speist sich das Desiderat einer Wirkungsforschung. Traditionen der Wirkungsforschung Eine Wirkungsforschung existiert bereits in vielen angewandten Disziplinen und gesellschaftlichen Handlungsfeldern, so etwa in der Politik, der Wirtschaft, der Sozialen Arbeit und der Pädagogik. Laut dem Gabler Wirtschaftslexikon stellt die Wirkungsforschung sogar eine eigene wissenschaftliche Disziplin dar, die sich mit den Folgen menschlichen Handels befasst.21 Ihr Gegenstand und Ziel sind die Evaluation von Neuerungen, zum Beispiel von politischen Instrumenten und Programmen, neu einge- führten Unterrichtsmethoden, Techniken und Technologien, Gesetzentwürfen oder von Steueränderungen, sowie die Überprüfung, inwiefern bislang als gültig akzeptierte Prämissen, Paradigmen und Ansätze Gültigkeit behalten können.22 Wirkungsforschung ist sogar im Sozialgesetzbuch festgeschrie- ben. So sind „die Wirkungen der Leistungen zur Eingliederung und der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts regel- mäßig und zeitnah zu untersuchen“.23 Vor diesem Hintergrund erscheint es einmal mehr erstaun- lich, dass sich in Bezug auf die gebaute Umwelt, die das Leben jedes einzelnen Menschen nachhaltig prägt, in Deutschland bislang kein Evaluationssystem herausgebildet hat und dass 20 Constanze A. Petrow: Parks als lebendige 23 „Das Bundesministerium für Arbeit und Orte entwerfen. In: Grosch, Petrow 2016 (Anm. Soziales und die Bundesagentur können in 17), S. 151–195, hier S. 154, Hervorhebung im Vereinbarungen Einzelheiten der Wirkungsfor- Original. schung festlegen. Soweit zweckmäßig, können Dritte mit der Wirkungsforschung beauftragt 21 Vgl. Gabler Wirtschaftslexikon. URL: http:// werden.“ § 55, Zweites Buch Sozialgesetzbuch wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/82571/wir- (SGB) vom 24.03.2011. URL: www.dejure.de (12. kungsforschung-v8.html (12. September 2016). September 2016). 22 Ebd. VOM ENTWURFSVERSPRECHEN ZUM STÄDTISCHEN 223 FREIRAUM ALS ALLTAGSORT bestimmte Arten der Gestaltung immer weiter realisiert wer- den, obwohl man weiß, dass sie mehrheitlich nicht gefal- len oder nicht gut funktionieren. Die Forschungsaktivitäten in Architektur und Landschaftsarchitektur sind im Einklang mit dem generellen Zukunftsbezug dieser Disziplinen vor allem auf die Entwicklung neuer Bauweisen, Technologien, Materialien usw. gerichtet. Dennoch legen einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit Langem wertvolle freiraumsoziolo- gische Studien vor und haben damit den Grundstock für eine Wirkungsforschung geschaffen.24 Zusammen mit den Arbeiten von William H. Whyte25 und Jan Gehl26 und weiteren Forschern im Ausland27 besteht bereits eine solide Tradition in der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Freiraumgestaltungen, Ausstattungen und Nutzung. Die meisten dieser Studien greifen auf einen Methodenkanon aus Nutzerbefragung, teilnehmender Beobachtung, Experteninterviews und Zählungen zurück. POE und REAP Zwei Instrumente wurden explizit für die Bewertung der gebau- ten Umwelt entwickelt. Eines davon ist die ‚Post Occupancy Evaluation‘ (POE), eine im angelsächsischen Raum verbrei- tete Methodologie zur Evaluation der Nutzerzufriedenheit, der 24 Stellvertretend Elisabeth Bühler, Heidi 25 William H. Whyte: The Social Life of Small Kaspar, Frank Ostermann (Hg.): Sozial nach- Urban Spaces. Washington, D.C. 1980. haltige Parkanlagen. Zürich 2010; Gert Gröning, Ulfert Herlyn, Almut Jirku u.a: Gebrauchswert 26 Jan Gehl: Städte für Menschen. Berlin und Gestalt von Parks. In: Das Gartenamt 34 2015. (1985), H. 9, S. 630–641; Grit Hottenträger: Fitness- und Bewegungsparcours. Gesund- 27 Stellvertretend Tisma Alexandra, Margit heitsprävention für Ältere im öffentlichen Grün? Jókövi: The New Dutch Parks: Relation bet- In: Stadt und Grün 62 (2013), H. 5, S. 25–31; ween Form and Use. In: Journal of Landscape Maria Spitthöver: Nutzung und Akzeptanz von Architecture 2 (2007), H. 2, S. 48–59. Parkanlagen. Untersuchung zu drei öffentlichen Parks im „Vorderen Westen“ Kassels. In: Stadt und Grün 58 (2009), H. 1, 50–58; Wulf Tessin: Schön grün . . . !? Beiträge zu einer Rezeptions- ästhetik in der städtischen Freiraumplanung. Hannover 2006; Ursula Paravicini, Silke Claus, Andreas Münkel u.a.: Neukonzeption städ- tischer öffentlicher Räume im europäischen Vergleich. Hannover 2002. 224 CONSTANZE A. PETROW Anpassungsmöglichkeiten von Bauten an neue Bedürfnisse, aber auch technologischer Aspekte wie der Energieeffizienz von Gebäuden.28 Langfristige Ziele der POE sind „improvements in building performance“ und „improvement in design quality“.29 Die POE wird als „shared learning resource“ betrachtet, und ihr größter Nutzen ist erreicht, wenn die Ergebnisse möglichst breit gestreut werden – „beyond the institution whose building is evaluated“.30 Der Ansatz der POE wurde von der angloamerikanischen Geografin und Stadtplanerin Clare Cooper Marcus für die Landschaftsarchitektur adaptiert31 und wird seither in der uni- versitären Ausbildung von Landschaftsarchitektinnen und Landschaftsarchitekten im angelsächsischen Raum einge- setzt. Die POE nach Marcus stellt eine Methodik zur systema- tischen Evaluation eines bereits bestehenden Freiraums, der um- oder neugestaltet werden soll, aus der Nutzerperspektive dar. Erfasst werden die Nutzerzufriedenheit, Nutzungsmuster sowie Defizite, die im Rahmen einer Neuplanung zu beheben wären. Die dabei zum Einsatz kommenden Methoden umfassen die sensuelle Wahrnehmung des Ortes durch die Forscherinnen unter Fokussierung auf jeweils einen der Sinne (Sehen, Tasten, Hören, Riechen, Schmecken), die teilnehmende Beobachtung, die Kartierung (von Nutzungsbereichen, Nutzungsspuren und Regeln wie Ge- und Verboten), das Mapping der Aktivitäten der Nutzer (mit Erfassen ihres Alters, Geschlechts und der ethni- schen Zugehörigkeit) sowie explorative Interviews mit Nutzern. Diese Erhebungen sollen mehrmals und zu unterschiedlichen Tages- und Wochenzeiten erfolgen. Die POE arbeitet also auch mit dem Prinzip der Multiperspektivität. Sie bleibt mit ihren Analysen jedoch direkt am Ort und in ihrem Interesse auf den Zeitpunkt der Erhebung beschränkt, denn sie ist auf die Aufgabe einer anschließenden (Neu-)Gestaltung zugeschnitten. 28 Higher Education Funding Council for 29 Ebd., S. 8. England (HEFCE), Association of University 30 Ebd. Directors of Estates (AUDE), University of West- minster: Guide to Post Occupancy Evaluation. 31 Clare Cooper Marcus, Carolyn Francis: URL: http://www.smg.ac.uk/documents/PO- People Places. Design Guidelines for Urban EBrochureFinal06.pdf (13. September 2016). Open Space. New York 1998. VOM ENTWURFSVERSPRECHEN ZUM STÄDTISCHEN 225 FREIRAUM ALS ALLTAGSORT Einen größeren Betrachtungsrahmen zieht die ‚Rapid Ethnographic Assessment Procedure‘ (REAP) auf, welche die amerikanische Anthropologin Setha Low federführend entwickelt hat32 und die ebenfalls seit vielen Jahren in der universitären Ausbildung von Landschaftsarchitektinnen und Landschaftsarchitekten in den USA zum Tragen kommt.33 Die REAP ist explizit auf die schnelle und effektive Sammlung von Informationen über einen Ort in sei- nen sozio-kulturellen Dimensionen ausgerichtet. Die Involvierung der Nutzerinnen und der lokalen Community spielt dabei eine zentrale Rolle. Aus dem Bereich der Sozialwissenschaften kom- mend und in deren Tradition zuallererst dem Verstehen eines Ortes beziehungsweise Phänomens gewidmet, erfasst die REAP ebenfalls verschiedene Perspektiven und bewegt sich dabei auch von dem Ort in seiner gegenwärtigen Gestaltung und Nutzung weg. Während man die POE allein ausführen kann, sollte die REAP bevorzugt nicht nur von einer Person, sondern von einem interdisziplinären Team aus Sozialwissenschaftlern, Planerinnen und Gestaltern durchgeführt werden.34 Ihre Methodologie umfasst die Sammlung und Auswertung von his- torischen Dokumenten und Archivmaterial, die Kartierung von Nutzungsspuren sowie des Nutzerverhaltens, Spaziergänge durch den Freiraum mit Nutzern oder Vertreterinnen von Nachbarschaftsorganisationen, Nutzerbefragungen, Experten- interviews, offene Gruppendiskussionen, die Arbeit mit Fokus- gruppen aus besonders ‚verletzlichen’ (vulnerable) oder schutz- bedürftigen Nutzern wie Schulkindern, Seniorinnen und Behinderten sowie die teilnehmende Beobachtung.35 Wirkungsforschung in der Landschaftsarchitektur Die Wirkungsforschung hat viel gemeinsam mit den bespro- chenen Methoden und Instrumenten. Auch ihr ist die 32 Setha Low, Dana Taplin, Suzanne Scheld: 33 Persönliche Auskunft im September 2016. Rethinking Urban Parks. Public Space and 34 Low u.a. 2005 (Anm. 32), S. 185. Cultural Diversity. Austin 2005. 35 Ebd., S. 188–190. 226 CONSTANZE A. PETROW Methodentriangulation eigen mit dem Ziel, verschiedene Perspektiven auf eine Gestaltung und einen Ort zu erfassen und ihre Urteile damit gut abzusichern. Während aber die POE vor- nehmlich der Nutzerperspektive gewidmet und in der Konsequenz als Planungshilfe für die Umgestaltung eines Freiraums ange- legt ist und auch die REAP in der Regel in eine solche mün- den soll, verfolgt die Wirkungsforschung das Ziel der Evaluation eines Freiraums zum Zweck der Produktion übertragbaren Wissens. Sie ist an Erkenntnissen interessiert, die über einen konkreten Fall hinausweisen. Dieses Interesse verbindet sie mit den erwähnten freiraumsoziologischen Studien. Im Unterschied zu diesen liegt ihr Schwerpunkt aber auf der Untersuchung des Verhältnisses von Anspruch und Wirklichkeit. Deshalb ist die Wirkungsforschung als Kontrastierung unterschiedlicher Narrative über einen Freiraum angelegt, und darum taucht sie auch stärker als die anderen Herangehensweisen in die Genese der Projekte ein. Dem Methodenkanon aus Nutzerbefragungen, teilnehmender Beobachtung, Experteninterviews und Zählungen fügt die Wirkungsforschung vor allem Textanalysen hinzu. Texte aus der Entstehungszeit eines Freiraums fungie- ren als authentische Quellen, um die Perspektiven der beteilig- ten Akteure zu erfassen. Sie sind verlässlicher als es ein zum Zeitpunkt der Wirkungsanalyse geführtes Interview mit den glei- chen Personen sein könnte, weil deren damalige Wahrnehmung durch den Prozess der Erinnerung und den Eindruck des reali- sierten und genutzten Freiraums verfärbt ist. (Dieses Interview ist aber zusätzlich vorgesehen, denn es erschließt die heutige Sicht der Planer auf ihr Projekt und gibt zudem Aufschluss über eventuelle Modifikationen und Abweichungen von der ursprüng- lichen Planung im Zuge der Realisierung.) Die historische Perspektive ist auch insofern wichtig, als die Wirkungsforschung auch ein professionssoziologi- sches Interesse antreibt: Sie versucht zu klären, inwie- fern die Tauglichkeit eines Freiraums als Alltagsort und seine Gebrauchseigenschaften bereits in der Phase der Entscheidungsfindung über auszuwählende Entwürfe eine Rolle spielen und wie diese Aspekte im Verhältnis zu anderen VOM ENTWURFSVERSPRECHEN ZUM STÄDTISCHEN 227 FREIRAUM ALS ALLTAGSORT Planungszielen gewichtet werden. So interessiert sie sich dafür, auf welcher Ebene sich die zentrale „Entwurfsbehauptung“ abspielt (ästhetisch, räumlich, atmosphärisch, nutzungs- bezogen und so weiter) und in welchem Verhältnis sie zur späteren Tauglichkeit eines Freiraums als Alltagsort steht. Wirkungsforschung wird angetrieben von einer Neugierde für die Mechanismen des Planungssystems. Sie versucht nachzuvoll- ziehen, was von den Planerinnen und Planern zu Beginn eines Projekts „versprochen“ wird und was an Zielen im Vordergrund steht, was von Bürgerinnen im Vorfeld bereits artikuliert wurde und an lokalem Wissen also schon vorhanden, jedoch im Zuge der Planung eventuell weggewogen wurde. Auf diese Weise kommt sie Werten, Werthierarchien und Wertkonflikten in der Freiraumplanung auf die Spur. Im Unterschied zur POE eva- luiert sie in der vorgefundenen Weise intendierte (und nicht in die Jahre gekommene) Gestaltungen, deren Planung in der Regel mehrere politische und behördliche Instanzen durchlau- fen hat. Überprüft wird die Bewährung der Projekte im Alltag und in einem mittleren Zeithorizont einige Jahre nach der Fertigstellung eines Projekts. Folgende Narrative – Erzählungen über einen Freiraum aus unterschiedlichen Perspektiven – werden zueinander in Beziehung gesetzt: I. Planungsziele: die vom Bauherren verfolgten Absichten und formulierten Anforderungen an eine Gestaltung (Wettbewerbsausschreibung oder Beauftragung) II. Nutzerwünsche: Artikulationen von Bürgerinitiativen und Vereinen über ihre Bedürfnisse, Vorstellungen und Forderungen (Homepages, Protokolle von Sitzungen und anderes Informationsmaterial) III. Entwurfsversprechen: Argumentation der Entwurfsverfasser über die Ziele und Qualitäten ihres Projektvorschlags (Entwurfserläuterung, Interview mit den Planern) 228 CONSTANZE A. PETROW IV. Entwurfsaffirmation: Bewertung durch die Fachcommunity (Jury-Protokoll) V. Wahrnehmung im Alltag: Aussagen von Nutzerinnen und Nutzern zur ästhetischen Wahrnehmung („Gefallen“) sowie zur Bedeutung und Tauglichkeit eines Freiraums als Alltagsort (Befragung, Semantisches Differenzial, leitfadenorientierte Tiefeninterviews im Rahmen von Spaziergängen, teilnehmende Beobachtung, Nutzungskartierung) VI. Erfahrungen aus der Pflege und Unterhaltung: Sicht des zuständigen Grünflächenamts (Interview) VII. Öffentliche Reaktion / mediale Rezeption: Berichterstattung in Tagespresse, Fachpresse und Internet. Methodisch ergibt sich damit folgendes Instrumentarium: Die Narrative I–IV werden durch Textanalysen sowie ein Ex- perteninterview erschlossen, das Narrativ V ebenfalls durch ein Experteninterview, das Narrativ VI durch Befragung, Seman- tisches Differential (darauf gehe ich später noch genauer ein), leitfadenorientierte Tiefeninterviews, teilnehmende Beobachtung sowie Nutzungskartierung und das Narrativ VII durch eine Medieninhaltsanalyse. Bei allen sieben Narrativen wird wie bereits angesprochen ein Schwerpunkt auf Aspekte des Gebrauchs, der Tauglichkeit und der Bedeutung des Freiraums im Alltag seiner Nutze- rinnen und Nutzer gelegt. Dabei interessieren insbesondere folgende Fragen: Welche Rolle spielen die künftigen Nutzungs- möglichkeiten und täglichen Gebrauchseigenschaften bei der Entscheidungsfindung für ein Projekt – in den Vorstellungen des Bauherren, der Landschaftsarchitekten und der Jury (im Falle eines Wettbewerbs)? Wie werden sie im Verhältnis zur Entwurfssymbolik oder Entwurfsmetaphorik sowie zu kom- merziellen Interessen oder touristischen Zielen gewichtet? Wie verändert sich das entwurflich Intendierte im Prozess der Realisierung sowie im Zuge langjährigen Gebrauchs? Vor allem VOM ENTWURFSVERSPRECHEN ZUM STÄDTISCHEN 229 FREIRAUM ALS ALLTAGSORT aber auch: Wen adressiert eine Gestaltung gerade nicht, welche Nutzergruppen schließt sie aus? In Anlehnung an die REAP inte- ressieren diesbezüglich insbesondere die besonders „verletz- lichen“ Personengruppen wie alte Menschen sowie jene, die in der Stadtplanung vielfach keine Stimme haben wie Jugendliche. Solchermaßen operationalisiert, kann die Wirkungsforschung nicht nur die Nachhaltigkeit von Entwürfen, sondern auch Wertkonflikte zwischen den an der Herstellung und Unterhaltung von öffentlichen Freiräumen Beteiligten und ihren Nutzern aufzeigen. Neben den Narrativen vervollständigt eine umfassende und sys- tematische fotografische Dokumentation das Bild vom unter- suchten Freiraum. Diese gibt dessen räumliche Qualitäten, Atmosphären, den baulichen Zustand, den Zustand der Vegetation und wiederum die Aktivitäten in ihm wieder. Semantisches Differential Um ein leicht visualisierbares und gut mit anderen Freiräumen vergleichbares Stimmungsbild über eine Freiraumgestaltung zu erhalten, wird im Rahmen des fünften Narrativs – der Wahrnehmung eines Freiraums durch seine Nutzerinnen und Nutzer – auch das Semantische Differenzial36 benutzt. Dieses stellt eine Methode zur schnellen Erfassung eines ‚Images’ (von einer Marke, einem Stadtteil oder anderem) dar; es wird auch „Eindrucksdifferential“ genannt. Fünfzehn Eigenschaftspaare werden dabei gegenüberstellt. Das Semantische Differential wurde durch das BBSR für Forschungen über die Wahrnehmung von Stadtquartieren abgewandelt.37 In Bezug auf städtische Freiräume wird folgendes Schema vorgeschlagen: 36 Peter R. Hofstätter: Gruppendynamik. Kritik 37 Ferdinand Böltken, Gabriele Sturm, der Massenpsychologie. Reinbek 1971. Kathrin Meyer: LebensRäume – Bevölkerungs- umfrage des BBSR 2007. GESIS Datenar- chiv, Köln. ZA5607 Datenfile Version 1.0.0, doi:10.4232/1.11746 (13. September 2016). 230 CONSTANZE A. PETROW Der Freiraum ist: schön 1 2 3 4 5 6 7 hässlich lebendig 1 2 3 4 5 6 7 verlassen kommunikativ 1 2 3 4 5 6 7 einsam stressig 1 2 3 4 5 6 7 erholsam abwechslungsreich 1 2 3 4 5 6 7 eintönig fremd 1 2 3 4 5 6 7 vertraut willkommen heißend 1 2 3 4 5 6 7 abweisend gute Orientierung 1 2 3 4 5 6 7 unübersichtlich gut ausgestattet 1 2 3 4 5 6 7 zu wenig Angebote unbeliebt 1 2 3 4 5 6 7 beliebt offen für Aneignung 1 2 3 4 5 6 7 restriktiv sauber 1 2 3 4 5 6 7 schmutzig in schlechtem Zustand 1 2 3 4 5 6 7 in gutem Zustand gefährlich 1 2 3 4 5 6 7 sicher Betont werden mit dem Erfragten Aspekte der Gestaltung – des Gefallens, aber auch der Atmosphäre –, Orientierungsqualitäten, Nutzungsmöglichkeiten und Gebrauchseigenschaften sowie der Pflegezustand und das Sicherheitsempfinden. Fazit Ziel der Wirkungsforschung ist es, ein ganzheitliches Bild von einem städtischen Freiraum einige Jahre nach dessen Fertigstellung zu zeichnen. Evaluiert werden die Qualitäten und Defizite aus der Perspektive unterschiedlicher Akteure sowie der Nutzerschaft. An der Schnittstelle zwischen Forschung und Praxis angesiedelt, kann die Wirkungsforschung fundierte Grundlagen für das kollektive Lernen aus realisierten Projekten liefern. Evaluationen können sowohl fachinternen als auch öffentlichen Diskussionen Impulse geben. In ihrer Aussagekraft gehen sie über essayistische Beiträge deutlich hinaus. Die Wirkungsforschung bietet das methodische Instrumentarium, um sowohl Einzelprojekte und deren Ausstattung als auch spezielle Typen von Freiräumen sowie gültige Gestaltungsparadigmen, VOM ENTWURFSVERSPRECHEN ZUM STÄDTISCHEN 231 FREIRAUM ALS ALLTAGSORT welche landesweit oder sogar international das Schaffen von Landschaftsarchitekten über lange Zeiträume hinweg unhinter- fragt prägen, zu evaluieren. Letzteres setzt die Untersuchung einer Reihe von Freiräumen aus vergleichbaren stadt- und sozi- alräumlichen Kontexten oder ähnlicher Typomorphologien38 voraus. Die Ergebnisse der Wirkungsforschung können eine Art Gegenpublizität für den Zustand „danach“ schaffen – wenn ein Freiraum einige Jahre des Gebrauchs und der Aneignung erlebt hat und erkennbar wird, wie sich seine Gestaltung bewährt. Als wissenschaftliche Begleitung der Praxis hinterfragt die Wirkungsforschung deren Tun, als kritische Entwurfsforschung evaluiert sie die Erfolge (nicht nur) entwurflicher Entscheidungen und stellt Praktikerinnen und Praktikern damit anwendbares Wissen zur Verfügung. 38 Typomorphologien sind formal ähnliche Freiraumgestaltungen ein und desselben Freiraumtyps. Siehe Kim Dovey: Urban Design Thinking. A Conceptual Toolkit. London, Ox- ford, New York 2016, S. 75 f. 232 ANDREA BENZE UND ANUSCHKA KUTZ ANDREA BENZE UND ANUSCHKA KUTZ Raumproduktion im Alter Senioren, ihre Vorstellungswelten und die Stadt Begonnen hat es mit der Studie Urbane Portraits. Senioren, ihre Vorstellungswelten und die Stadt, die während eines Forschungsaufenthaltes in Stuttgart durchgeführt wurde, um dort die Raumproduktion älterer Menschen zu untersuchen: Wie erleben ältere Menschen die Stadt, wie definieren sie ihre Zugehörigkeit, ist eine der Fragen. Der Titel des Beitrags ist in bewusster Anlehnung an Henri Lefebvre entstanden. Er paart zum ersten Mal die Begriffe Raum und Produktion als konzeptionel- len Ausgangspunkt und legt in seinem Buch Die Produktion des Raumes eine umfangreiche theoretische Ergründung des relati- onalen Raumes vor. Diese Auseinandersetzung hat die Studie in vieler Hinsicht beeinflusst. „Mein Sohn wohnt in Plochingen [...] wenn ich in die Wohnung gehe [...] weißt Du, was ich mache – ich fahr’ zwar nur zehn oder elf Minuten – je nachdem mit welcher Bahn – aber ich ziehe mei- nen Mantel aus, leg den drüber und sitz da wie eine Königin. Und erst wenn er hält, ziehe ich meinen Mantel wieder an. Und dann betrachte ich die Plochinger Fahrt mit elf Minuten als eine Reise“.1 Die Studie Urbane Portraits. Senioren, ihre Vorstellungswelten und die Stadt wurde während eines Forschungsaufenthaltes in der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart durchgeführt, um die Raumproduktion älterer Menschen in Stuttgart zu untersuchen: Wie erleben ältere Menschen die Stadt, wie definieren sie ihre Zugehörigkeit? Wie organisieren sie ihre sozialen Netzwerke? 1 Frau Rose (Name geändert), 79 Jahre, Interview am 30.7.2012, AWO Begegnungsstät- te, Altes Feuerwehrhaus Süd, Möhringerstr. 56, 70199 Stuttgart. RAUMPRODUKTION IM ALTER 233 Wie werden Wohnung und Stadt im Alltag benutzt? Welche Räume entstehen dadurch und welche Bedeutungen haben sie? Um die Lebensräume der Menschen so gestalten zu können, „dass sie möglichst lange selbständig sein und am gesellschaft- lichen Leben teilhaben können“,2 wird diesen Fragen mit einer extrem detaillierten Analyse – in Anlehnung an ethnografische Methoden – nachgegangen. Im ersten und umfangreichsten Teil dieses Beitrages soll auf die methodische Vorgehensweise und die Zielsetzungen ein- gegangen werden. Im zweiten Teil werden Ausschnitte aus den Erkenntnissen vorgestellt. Der Titel des Beitrags ist in bewusster Anlehnung an den Soziologen Henri Lefebvre ent- standen. Lefebvre paart zum ersten Mal die Begriffe Raum und Produktion als konzeptionellen Ausgangspunkt und legt in sei- nem Buch Die Produktion des Raumes3 eine umfangreiche theoretische Ergründung des relationalen Raumes vor. Diese Auseinandersetzung hat die Studie in vieler Hinsicht beeinflusst. Notwendigkeit der Aufklärung Inzwischen werden der demografische Wandel und seine Auswirkungen auf die Gesellschaft vielfältig beforscht. Als wich- tigster Forschungsbeitrag innerhalb Deutschlands gelten die Altenberichte, die in regelmäßigen Abständen mit unterschiedli- chen Themenschwerpunkten erscheinen. In ihnen sind wichtige ethische, soziale, juristische und medizinische Fragestellungen aufgeworfen worden, zum Beispiel die Forderung nach einer ‚altersfreundlichen Kultur’. Hierunter ist laut dem Psychologen 2 Deutsches Zentrum für Altersfragen. 3 Henri Lefebvre: The Production of Space. Geschäftsstelle für die Altenberichte der Bun- Übersetzt von Donald Nicholson-Smith. Oxford desregierung (Hg.): Sorge und Mitverantwor- 1991, Nachdruck von 2000; Originalausgabe: La tung in der Kommune. Aufbau und Sicherung production de l’espace. Paris 1974. zukunftsfähiger Gemeinschaften. Themen und Ziele des Siebten Altenberichts der Bundes- regierung. Berlin, Juli 2014, URL: http://www. konferenz-altern-engagement.de/fileadmin/ altenberichtskonferenz/pdf/Broschuere_The- men_Ziele_Siebter_Altenbericht.pdf (20. Mai 2016). 234 ANDREA BENZE UND ANUSCHKA KUTZ Andreas Kruse „ein gesellschaftlicher und politischer Kontext zu verstehen, der ältere Menschen – deren Ressourcen und ebenso deren Werte, Bedürfnisse und Interessen – in gleicher Weise in die Mitte des öffentlichen Raumes stellt und diesen in gleichem Maße Möglichkeiten des mitverantwortlichen Lebens eröffnet wie jüngeren Menschen“.4 Des Weiteren werden anhand umfangreicher quantitativer Untersuchungen zukunftsweisende Handlungsempfehlungen ausgesprochen, die sich an unterschiedliche planende und ver- waltende Stellen in ganz Deutschland richten. Demgemäß müs- sen die Handlungsempfehlungen allgemeinen Charakter haben und auf viele unterschiedliche Situationen übertragbar sein. Eine detaillierte Untersuchung sehr spezifischer Fälle ist nicht Bestandteil der Berichte. In der Auseinandersetzung über eine alternde Gesellschaft und ihre räumlichen Auswirkungen – zum Beispiel auf die Wohnsituation oder die Stadt – überwiegen messbare technische und praktische Aspekte. Demgegenüber werden in kulturwissenschaftlichen, gerontologischen und phi- losophischen Diskussionen tiefgehende theoretische Konzepte über veränderte Sichtweisen und Werte im Alter vorgelegt.5 Zum Teil findet eine sehr intensive Auseinandersetzung mit einzel- nen Fällen oder einzelnen Aspekten des Alterns statt. Bezüge zum materiellen städtischen oder privaten Wohnraum werden jedoch sehr selten aufgebaut. Nicht zuletzt lässt sich auch in den Disziplinen Städtebau und Architektur eine Auseinandersetzung mit dem demografischen Wandel feststellen. Hier wird das Thema jedoch meistens auf die praktischen Themen Mobilität und Zugänglichkeit reduziert.6 4 Andreas Kruse: Mit älteren Menschen Ge- öffentlichen Diskursen und Alltagspraktiken. sellschaft gestalten. In: Körber-Stiftung (Hg.): Gefördert von der VW Stiftung 2009–2012 und Politische und gesellschaftliche Partizipation die daraus entstandenen Publikationen. Älterer. Symposium in der Körber Stiftung, 4./5. November 2010. Hamburg 2010, S. 10. Prof. Dr. 6 Zum Beispiel: Wohnen im Alter. Detail Andreas Kruse ist Vorsitzender der Sechsten Konzept, Zeitschrift für Architektur 9 (2012); und Siebten Altenberichtskommission. oder das von Heidi Sinning geleitete BMBF-For- schungsprojekt: WASta – Wohnen im Alter im 5 Zum Beispiel das von Thomas Rentsch Kontext der Stadtentwicklung 2009–2012. geleitete Forschungsprojekt: Gutes Leben im hohen Alter angesichts von Verletzlichkeit und Endlichkeit – Eine Analyse von Altersbildern in RAUMPRODUKTION IM ALTER 235 Um über allgemeingültige Handlungsempfehlungen und tech- nische Umrüstmaßnahmen hinaus zu erforschen, welches Lebensumfeld das geforderte ‚selbständige Leben im Alter’ för- dern und eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben unterstüt- zen kann, ist es wichtig, eine Verbindung zwischen den planeri- schen, humanwissenschaftlichen und den geisteswissenschaft- lich ausgerichteten Diskursen herzustellen. Die große Vielfalt des Alters7 sollte feinkörnig und detailliert als solche erfasst und untersucht werden, um die vielfältigen Raumproduktionen im Alter erschließen zu können. Aus der intensiven Erforschung von Einzelfällen ergeben sich nicht unbedingt übertragbare Handlungsempfehlungen, jedoch bieten sie die Chance, ein vertieftes Verständnis von Lebenssituationen im Alter zu erlan- gen. Eine Kenntnis darüber, wie die Stadt von Seniorinnen und Senioren im Alltag genutzt wird, welche Orte aufgesucht wer- den, welche sozialen Netzwerke aufgebaut werden, welche Bedeutungsräume und Raumkonzepte entstehen, ist notwendig, um angemessene Lösungen für städtische und häusliche Räume zu entwickeln. Bisher ist dieses Feld weitgehend unerforscht. Ein erster Schritt ist es, die Lebensräume älterer Menschen detailliert zu erforschen und zu verstehen. Weil Ethnografie in dieser Feinkörnigkeit arbeitet und zu zeigen beansprucht, wie Kultur praktisch hervorgebracht wird,8 ist die Studie metho- disch an eine ethnografische Untersuchung angelehnt. Einzelne Personen werden intensiv qualitativ befragt und gemeinsame Spaziergänge unternommen, die „gelebte Erfahrung und leibli- che Präsenz von Akteur und Beobachter“9 werden als Basis der Forschung angenommen. Denn subjektive Perspektiven einneh- men zu können, ist die Stärke ethnografischer Untersuchungen und begründet ihren Wert: „Ethnography offers us explicitly sub- jective accounts of reality and it is precisely because it reveals 7 Vgl. hierzu: Deutscher Bundestag, 17. 8 Suzanne Hall: City, Street and Citizen. The Wahlperiode (Hg.): Unterrichtung durch die Measure of the Ordinary. London, New York Bundesregierung. Sechster Bericht zur Lage 2012, S. 13. der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland – Altersbilder in der Gesellschaft 9 Rolf Lindner: Walks on the Wild Side. Eine und Stellungnahme der Bundesregierung. Geschichte der Stadtforschung. Frankfurt am Drucksache 17/3815, 17.11.2010, S. 22. Main 2004, S. 210. 236 ANDREA BENZE UND ANUSCHKA KUTZ the variable, fallible and ingenious dimensions of human life that it has validity“.10 Ideen, die in der Theorie eindeutig und deutlich umrissen sind, werden vielgestaltiger wahrgenommen innerhalb der komplexen Lebenssituationen und Räume der Stadt.11 Im Unterschied zum ethnografischen Bericht wird die sehr feinkörnige Studie des gelebten Raumes einzelner Personen nicht ausschließlich textlich erstellt, sondern die entdeckten Raumproduktionen werden auch zeichnerisch erfasst und analy- siert. Im Gegensatz zum linearen Text erlauben Zeichnungen die gleichzeitige Darstellung unterschiedlichster Vorgänge. Kartiert man die individuelle Raumproduktion im Zusammenhang mit dem städtischen Gewebe, wird deutlich, in welchem Verhältnis sie zu bestehenden räumlichen Qualitäten steht. Was kennzeichnet das Alter? Die Philosophin Simone de Beauvoir hat sich bereits in ihrem 1970 erschienenen Buch mit der gesellschaftlichen Stellung des Alters beschäftigt und kommt zur schockierenden und in vielen Grundzügen heute immer noch gültigen Analyse, dass der Lebensabschnitt des Alters in einer auf Erwerbsarbeit und Produktivität ausgerichteten Gesellschaft weitgehend ausge- grenzt wird.12 In vielen gegenwärtigen Forschungsprojekten wird darauf hinge- wiesen, dass bereits die Idee einer gesellschaftlich abgetrenn- ten Lebensphase des Alters auf dessen mangelnde Integration 10 Hall 2012 (Anm. 8), S. 13. 12 Simone de Beauvoir: Das Alter. Reinbeck bei Hamburg 52012. Originalausgabe: La 11 Vgl. Hall 2012 (Anm. 8), S. 14. Vieillesse. Paris 1970. In Kapitel 4, „Das Alter in der heutigen Gesellschaft“, geht sie besonders detailliert und aus vielen Perspektiven auf die gesellschaftliche Stellung des Alters ein, S. 277–357. Bezogen auf den Arbeiter formu- liert sie beispielsweise zugespitzt (S. 354): „Alt geworden, hat der Arbeiter keinen Platz mehr auf der Welt, weil man ihm in Wahrheit nie einen Platz zuerkannt hat: Er hatte nur keine Zeit, das zu merken“. RAUMPRODUKTION IM ALTER 237 in die Gesellschaft und damit auf eine schlechte Lebensqualität im Alter verweist. Disziplinübergreifend wird eine gesellschaftli- che Integration des Alters als Grundvoraussetzung für ein glück- liches Leben im Alter angesehen.13 „In der idealen Gesellschaft, die ich hier beschworen habe, würde, so kann man hoffen, das Alter gewissermaßen gar nicht existieren: Der Mensch würde, wie es bei manchen Privilegierten vorkommt, durch Alterserscheinungen unauffällig geschwächt, aber nicht offen- kundig vermindert, und eines Tages einer Krankheit erliegen; er stürbe, ohne zuvor Herabwürdigungen erfahren zu haben“.14 Bezogen auf das Individuum verändert sich im Alter die Perspektive. Der Philosoph Odo Marquard formuliert sehr tref- fend die grundsätzliche Ausgangslage: „Unsere gewisseste Zukunft ist unser Tod. Im Alter wird diese Zukunft immer auf- dringlicher. Aber der Tod ist jene Zukunft, die besiegelt, dass wir keine Zukunft mehr haben. Zum Alter – der Lebensperiode des Zukunftsschwundes – gehört, dass es uns – aus zunehmendem Mangel an Zukunft immer schwerer fällt, Zukunftsillusionen zu entwickeln und aufrechtzuerhalten“.15 Philosophisch kann daraus gefolgert werden, dass man Wahrheiten radikaler sieht; damit verändert sich die individu- elle Perspektive auf die eigene Lebenssituation. Der Philosoph Thomas Rentsch spricht vom „Altern als werden zu sich selbst“. Indem man begreift, dass der Selbstwerdungsprozess in eine Situation der Endlichkeit und Endgültigkeit eingebettet ist, wird das Leben bewusster gelebt. Es entsteht eine Einsicht über den Zusammenhang zwischen Endlichkeit und Sinn, die – hier folgt Rentsch Aristoteles – mit dem wahren beständigen Glück 13 Beispielsweise weist Manfred Gogol, 14 Beauvoir 2012 (Anm. 12), S. 712. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie, in seinem Grußwort 15 Odo Marquard: Theoriefähigkeit des Alters. darauf hin, dass es umso wichtiger wird „ein In: Thomas Rentsch, Morris Vollmann (Hg.): gesellschaftliches Klima auszubilden, das Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Alter und Altern nicht ausgrenzt, sondern die Grundlagen. Stuttgart 2012, S. 207. Potenziale des alten Menschen wertschätzt und diese in das gesellschaftliche Leben inte- griert.” In: Andreas Kruse, Thomas Rentsch, Harm-Peer Zimmermann (Hg.): Gutes Leben im hohen Alter. Heidelberg 2012, S. vii. 238 ANDREA BENZE UND ANUSCHKA KUTZ gleichzusetzen ist.16 Im alltäglichen Leben drückt sich diese Einsicht darin aus, dass der Gegenwart eine große Bedeutung beigemessen wird.17 Der Alltag und die Freude an alltäglichen Situationen ist für viele ein sehr wichtiger Bestandteil ihrer Lebensqualität. Innerhalb der Lebensperiode des Zukunftsschwundes gibt es oft zwei große Einschnitte, die das Leben kennzeichnen und bishe- rige Lebensgewohnheiten radikal verändern bzw. verändern kön- nen: Zum einen das Ende der beruflichen Tätigkeit oder der akti- ven Familienarbeit, zum anderen spürbare Einschränkungen in der Mobilität bis hin zur möglichen Immobilität. Nach dem Ende der Erwerbstätigkeit wird es in der Regel erfor- derlich, das gesamte Leben umzustrukturieren. Einflüsse von außen, die zuvor das Alltagsleben bestimmten, wie berufliche Verpflichtungen, oft verbunden mit der Eingebundenheit in andere berufsbegleitende Strukturen und einer bestimmten gesellschaft- lichen Stellung, entfallen ersatzlos. Plötzlich ist der Einzelne für die Erfindung und Gestaltung des eigenen Alltagslebens verant- wortlich. Hierzu müssen aktiv Entscheidungen gefällt werden. Manche empfinden das Ende der Erwerbstätigkeit als lange ersehnten Beginn ‚großer Ferien’, andere aber auch als endgülti- gen ‚Rauswurf’.18 Alltagspraktisch und bezogen auf den physischen Raum verän- dert das Ende der beruflichen Tätigkeit in der Regel grundsätz- lich das Verhältnis zwischen Zuhause / der eigenen Wohnung und draußen / der Stadt. Während früher alltägliche Wege in der Stadt sehr stark durch Pflichten im Zusammenhang mit der Arbeit bestimmt wurden, verändert sich das Verhältnis im Alter. Zuhause ist nicht mehr mit einem Moment der Erholung vom arbeitsamen Alltag verbunden, sondern Zuhause kann zur Falle werden: Wenn man nichts macht, sitzt man zu Hause. Draußen sein kann jetzt Erholung vom Zuhause sein bieten. Die Gründe, 16 Thomas Rentsch: Altern als Werden zu sich 17 Die Gegenwart war für alle Interviewten in selbst. Philosophische Ethik der späten Le- der Pilotstudie sehr wichtig. benszeit. In: Thomas Rentsch, Morris Vollmann (Hg.): Gutes Leben im Alter. Die philosophi- 18 Vgl. hierzu Beauvoir 2012 (Anm. 12), S. 338. schen Grundlagen. Stuttgart 2012, S. 205. RAUMPRODUKTION IM ALTER 239 das Haus zu verlassen, beruhen zum größten Teil auf eigener und freiwilliger Initiative. Genauso ist es mit der Gliederung der Zeit. Ein aufgezwungener Rhythmus entfällt. Die Gliederung der Zeit fällt in den eigenen Verantwortungsbereich. Es liegt sehr nah, dass sich unter die- sen Bedingungen die persönliche Raumproduktion vollständig wandelt. An die städtische Umwelt ebenso wie die eigenen ‚vier Wände‘ werden komplett andere Erwartungen und Bedürfnisse gestellt, sie werden anders bewohnt und gelebt, verbunden mit einer veränderten Wahrnehmung alltäglicher Orte und neuen Bedeutungszuschreibungen. Raumproduktion im Alter Zu Beginn wurde bereits das Konzept der ‚Produktion des Raumes’ erwähnt. Lefebvre möchte die Perspektive von der einfachen Betrachtung des Raumes mit seinen sichtbaren phy- sisch-materiellen Elementen zu einer umfassenderen aufwei- ten. Ähnlich einem Industriellen, der sich für ein bestimmtes Produkt interessiert, möchte er nicht lediglich das Produkt als materiellen Gegenstand betrachten, sondern alle Faktoren, die zu seiner Erstellung beigetragen haben: sichtbare und unsicht- bare sowie gesellschaftliche und individuelle. Für Lefebvre ist der Raum relational. Im Gegensatz zu der Vorstellung, Raum sei ein feststehender Behälter, in dem sich soziales Leben abspielt, geht das Konzept vom ‚relationalen Raum’ davon aus, dass Raum ein Beziehungsgeflecht mit vielfältigen Abhängigkeiten ist, durch soziale Handlungen entsteht und durch diese verän- dert wird. Betrachtet man den Raum als relationalen Raum, sind alle Akteure unmittelbar an seiner Produktion beteiligt. Die Untersuchung der Raumproduktion von Senioren legt demnach nicht nur Bedürfnisse, sondern auch Fähigkeiten älterer Bürger frei. Lefebvre entwickelt eine doppelte Begriffstriade,19 anhand derer er aufspannt, aus welchen dialektischen Zusammenhängen 19 Lefebvre 2000 (Anm. 3), S. 33. 240 ANDREA BENZE UND ANUSCHKA KUTZ sich das Raumgefüge zusammensetzt. So schafft er es, sowohl den individuellen wie auch den gesellschaftlichen Aspekt der Produktion des Raumes zu denken und bietet damit eine sehr auf- schlussreiche Denkfigur für die Untersuchung von Architektur im Gebrauch an: die materielle Produktion des Raumes als ‚wahrge- nommener Raum’ und ‚räumliche Praxis’; der ‚(gedanklich) konzi- pierte Raum’ und die ‚Repräsentation des Raumes’ (zum Beispiel in Modellen und Karten); der ‚erlebte Raum’ und die ‚Räume der Repräsentation’. Diese letzte Betrachtungsebene umfasst den freiesten, schöpferischen und poetischen Prozess, nämlich die individuelle und gesellschaftliche Bedeutungsproduktion. Die Begriffe werden von Lefebvre nicht endgültig und eindeutig definiert, sondern – wie es der Soziologe Christian Schmid sehr ausführlich und nachvollziehbar darlegt – bewusst in poetischer Unbestimmtheit gefasst. Zusätzlicher Erkenntnisgewinn führt bei Lefebvre zur Anpassung der Begriffe innerhalb der Theorie.20 In der Studie sind die Begriffe demnach nicht rezepthaft ange- wendet worden, vielmehr haben sie den Horizont bei der Erforschung der Raumproduktion maßgeblich erweitert. Die Interviews sind offen geführt worden, ausgehend von der Alltags- und Erfahrungswelt der Befragten, dem ‚wahrgenommenen’ und ‚erlebten Raum’. Umwege im Gespräch sind akzeptiert wor- den, um die ‚Raumkonzeptionen’ der Befragten sowie einzelnen Räumen zugeschriebene Bedeutungen freizulegen. In den Prozessen der Raumproduktion durch die Seniorinnen sind unterschiedliche ‚Raumtaktiken’ sichtbar geworden. Sie zeigen individuelle Konzepte zum Umgang mit der gewonnenen Zeit und den dadurch entstandenen Räumen. Der Begriff ‚Taktik‘ wird hier im Sinne des Soziologen Michel de Certeau verwendet und von dem der ‚Strategie‘ unterschieden.21 Strategien verwen- den Subjekte, die mit Macht und Willenskraft ausgestattet sind, zur Durchsetzung ihrer Ziele. Sie setzen einen eigenen Ort vor- aus (z. B. eine Institution), von dem aus gehandelt werden kann. 20 Vgl. hierzu Christian Schmid: Stadt, Raum 21 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theo- Berlin 1988, Originalausgabe: L’invention du rie der Produktion des Raumes. München 2005, quotidien. Bd. 1, Arts de faire. Paris 1980, S. 15. S. 23–26. RAUMPRODUKTION IM ALTER 241 Taktiken hingegen werden von Subjekten angewandt, die nicht über Macht oder einen Ort verfügen. Es ist eine Handlungsweise der Konsumenten22 beziehungsweise Nutzerinnen, wie sie im Zusammenhang mit Stadtentwicklung oft genannt werden. De Certeau nennt sie auch „verkannte Produzenten, Dichter ihrer eigenen Angelegenheiten und stillschweigende Erfinder“.23 Die so entstehende Raumproduktion bietet Ansätze für innovative Interpretationen sowohl des städtischen wie auch des häuslichen Kontextes. Hierbei gibt es immer wieder Verweise auf die Ebene der ‚Bedeutungsräume’ und der ‚Räume der Repräsentation’. Aufbau der explorativen Pilotstudie Wie ältere Menschen genau mit den tiefgreifenden Veränderungen in ihrer Lebenswelt umgehen und welche Taktiken sie entwickeln, Raum und Zeit für sich neu zu strukturieren, wurde in einer explo- rativen Studie mit 18 älteren Menschen in Stuttgart anhand zwei- stündiger leitfadengestützter, qualitativer Interviews erforscht. Mit sieben der Seniorinnen wurden zusätzlich gemeinsame Spaziergänge unternommen. Den in der Studie untersuchten Personen war gemeinsam, dass sie bereits das Ende der Erwerbstätigkeit erreicht hatten, ein eigenständiges Leben führten und altersgemäß mobil waren. Menschen mit gravierenden gesundheitlichen Einschränkungen wie zum Beispiel einer Erblindung wurden nicht einbezogen; das wäre ein eigenständiges Thema gewesen. Die Studie wurde nach dem Prinzip des theoretischen Samplings24 durchgeführt. Es wurde versucht, über unterschiedliche Zugänge ein möglichst heterogenes Sample zusammenzustellen. Der Kontakt zu den Studienteilnehmerinnen stellte sich vor allem durch Mitarbeiter der Arbeiterwohlfahrt an mehreren Standorten in Stuttgart und 22 Certeau untersucht in Kunst des Handelns 24 Uwe Flick: Qualitative Sozialforschung, die Aktivitäten von Verbrauchern. Reinbek bei Hamburg, 2002, S. 102–104; Hans Merkens: Auswahlverfahren, Samplings, Fall- 23 Certeau 1988 (Anm. 21) S. 21. konstruktionen. In: Uwe Flick, Ernst von Kar- dorff, Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 195–197. 242 ANDREA BENZE UND ANUSCHKA KUTZ Mitarbeiter einer Wohnanlage der evangelischen Altenheimat her. Aus einem Interview ergaben sich über die Mitgliedschaft der Interviewten in einem Bridge Club weitere Kontakte. Insgesamt wurden vier Männer und vierzehn Frauen befragt. Gemeinsame Spaziergänge wurden ausschließlich mit Frauen durchgeführt. Dieses Verhältnis ist nicht angestrebt worden, sondern wurde durch die Zugänglichkeit im Feld bestimmt. Bezogen auf das Alter von 65 bis 85 Jahren, den Familienstand, die Anzahl der Kinder beziehungsweise Kinderlosigkeit, den Bildungsstand, die ökonomische Situation und den Wohnort ist das Sample heterogen. Extrembeispiele oder Beispiele aus pre- kären Situationen fehlen. Obwohl Stuttgart über einen sehr hohen Migrationsanteil von fast 40 % verfügt, fließt dieser Anteil nicht in das Sample ein, da Schwierigkeiten bestanden, diese Gruppe zu erschließen. Einige der Interviewten waren Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg, eine weitere war Spätaussiedlerin. Trotz des sehr persönlichen Ausgangspunkts der Untersuchung sind räumliche Themen und Phänomene sichtbar geworden, die weit über das Untersuchungsthema hinausweisen. Einige Taktiken der Raumproduktion sollen im Folgenden vorgestellt werden. Fragen nach Möglichkeiten, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu entwickeln, und Orte der Teilhabe am urbanen Leben stehen dabei im Vordergrund. Taktik der Selbstverwurzelung Frau Eisenkraut,25 65 Jahre, lebt in einer WG, ist getrennt lebend, Akademikerin und hat, zwei Kinder. Frau Eisenkraut ist erst kürzlich in den Ruhestand eingetreten. Sie spricht sehr offen über ihre Verunsicherung und über die Kraft, die es kostet, sein Leben neu zu strukturieren und auszufül- len. Sie hat die Situation zum Ausgangspunkt dafür genommen, sich sehr bewusst zu fragen, wie sie von nun an leben möchte, und sich für ihren Stadtteil entschieden. Er ist Lebensumfeld und sinnstiftend zugleich. 25 Name geändert. RAUMPRODUKTION IM ALTER 243 Bewusst möchte sie so viel Zeit wie möglich im eigenen Stadtteil verbringen und hat alle Aktivitäten dorthin verlagert. Sie versucht alles zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erreichen. Darüber hinaus möchte sie sich an der Veränderung ihres Stadtteils beteiligen. Aktivitäten, die sie bisher nicht in ihrem Stadtteil verfolgen kann, möchte sie dort initiieren. Sie beginnt im ‚Weltladen’ mitzuarbei- ten und ist seit neuestem Teil einer politischen Bewegung. Abb. 1: Frau Eisenkraut – Taktik der Selbstverwurzelung, CAD-Zeichnung (150x150 cm): OFFSEA Andrea Benze, Anuschka Kutz, 2014 244 ANDREA BENZE UND ANUSCHKA KUTZ Unser gemeinsamer Spaziergang hat sich auf einer Länge von ca. 500 Meter abgespielt und er hat, obwohl alle sehr gut zu Fuß waren, über zwei Stunden gedauert. Unterwegs sind wir spontan bei einer Freundin von ihr eingekehrt, weil spontane Besuche zum Stadtteil gehören. Der lokale Kiosk ist die Nachrichtenzentrale des Quartiers, der Besitzer der Gärtnerei ein Hobby-Historiker. Frau Eisenkraut gestaltet jeden Tag anders. Sie möchte die alten, durch den Arbeitsrhythmus aufgezwungenen Routinen nicht durch neue, starre ersetzen. Eine Regel befolgt sie allerdings: Jeden Tag etwas vorhaben und das Haus einmal verlassen. Das Stadtviertel ist mittlerweile in ihre Wohnung hineingewan- dert. Nach dem Auszug der Kinder und der Trennung vom Mann ist die Wohnung viel zu groß geworden. Sie vermietet einzelne Zimmer unter, nicht nur an andere Bewohner, sondern auch an Menschen, die dort ihr Gewerbe treiben. Die Küche ist der gemeinsame Treffpunkt geworden, der öffentliche Raum inner- halb ihrer privaten Wohnung. Durch ihre breit gefächerten Aktivitäten auf persönlicher, sozia- ler, kultureller und politischer Ebene ist die Raumproduktion von Frau Eisenkraut auf vielfache Weise mit der Raumproduktion im Stadtteil verknüpft. Aus den Erfahrungen von Frau Eisenkraut resultiert eine wesentliche Einsicht zur Perspektive älterer Menschen auf die Stadt: Rausgehen aus Freude. Man muss nicht mehr raus, sondern geht raus, um das Draußensein zu genießen. Damit entstehen viele Forderungen an die städtische Umwelt: Grundsätzlich muss sie zur Freude am Draußensein beitragen. Im Fall von Frau Eisenkraut geschieht das, indem durch Interaktion und ihre vertiefte Ortskenntnis innerhalb des relativ begrenzten geografischen Raumes unterschiedliche Bedeutungsebenen entstehen. Die Qualität des städtischen Umfeldes intensiviert sich und neue Möglichkeiten, die Nachbarschaft zu nutzen, wer- den sichtbar. In diesem Zusammenhang definiert sie Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Räumen innerhalb des Stadtviertels für sich neu. RAUMPRODUKTION IM ALTER 245 Taktik der verschobenen Nachbarschaft Frau Rose,26 79 Jahre, geschieden, Handwerkerin, fünf Kinder. Frau Rose verbringt ihren Alltag mit ausschweifenden Spaziergängen weit entfernt von ihrem Wohnort. Nahezu täg- lich verlässt sie ihren Wohnort und fährt fast eine Stunde mit öffentlichen Verkehrmitteln, um in ihre frühere Nachbarschaft zu gelangen. Obwohl ein schöner Schlosspark und ein botanischer Garten in ihrer Nähe liegen, durchquert sie lieber den weit ent- fernten Stadtpark in ausgiebigen Spaziergängen. Bei den ‚Berger Sprudlern’ verlaufen achtförmige Wege, und manchmal dreht sie mehrere ‚Achten’, bis sie zufällig eine Bekannte trifft. Von dort zieht sie weiter am Neckarufer entlang bis nach Bad Cannstatt. Selten gönnt sie sich Pausen. Nur um kurz ein mitgebrachtes Brot zu essen, lässt sie sich auf einer Parkbank nieder und nur dort, wo es nicht nach Müßiggang aussehen könnte. Ankerpunkt und häufiger Ausgangspunkt dieser Spaziergänge ist eine sozi- ale Institution in Stuttgart, in der Frau Rose an einem Tag in der Woche ehrenamtlich arbeitet, die jedoch im Stadtraum versteckt angeordnet ist. In der ‚verschobenen Nachbarschaft’ trifft sie Bekannte von frü- her. Sie schafft sich damit einen unverbindlichen Raum, indem sie selber entscheiden kann, ob sie teilhaben möchte oder nicht. Frau Rose erhält sich eine zweite Welt neben ihrem Wohnumfeld, ähnlich ihrer früheren Welt am Arbeitsplatz. Die Taktik der ‚verschobenen Nachbarschaft’ haben wir bei eini- gen Seniorinnen festgestellt. Auf den ersten Blick scheint sie der ‚Taktik der Selbstverwurzelung’ unterlegen. Sie ist ein fragiles Konstrukt, das auf großer Mobilität beruht. Doch neben dem Vorteil der Unverbindlichkeit ist die ‚verschobene Nachbarschaft’ auch noch mit einem zweiten Vorteil verbunden. Sie ist unabhängig vom Wohnort. Man kann sich weitgehend aussuchen, wo man seine ‚verschobene Nachbarschaft’ aufbaut. Einige Senioren wählen das Stadtzentrum mit vielen historischen Gebäuden, in deren Kontext sie ihren persönlichen Alltag stellen. 26 Name geändert. 246 ANDREA BENZE UND ANUSCHKA KUTZ Abb. 2: Frau Flieder – Imagination, CAD-Zeichnung (150x150 cm): OFFSEA Andrea Benze, Anuschka Kutz, 2014 Es mag sonderbar erscheinen, die ,verschobene Nachbarschaft’ unter dem Aspekt der Teilhabe anzusprechen. Doch sie offenbart zwei wichtige Bedürfnisse: die Teilhabe an festlichen Momenten 27 und ein durchaus bei vielen Senioren vorhandenes Bedürfnis 27 Margarete Mitscherlich: Die Radikalität des Lebensende ist [...], mir festliche Augenblicke Alters. Frankfurt am Main 2012. Auf S. 239 be- zu verschaffen und nie zu vergessen, sie zu schrieb die damals 93-Jährige dieses Bedürfnis erkennen, sie zu erschaffen und zu genießen”. sehr direkt: „Mein Ziel bis zum RAUMPRODUKTION IM ALTER 247 nach einem Raum unverbindlicher Bekanntschaften und beiläu- figer Kontakte, wie es bereits in Jane Jacobs Beschreibungen des ‚Bürgersteig-Betriebs’ thematisiert wird.28 Diese beiläufigen Kontakte finden in der ‚verschobenen Nachbarschaft’ nicht am Wohnort, sondern an einem selbst gewählten Ort statt. Taktik der Imagination Frau Flieder,29 84 Jahre, verwitwet, Akademikerin, keine Kinder. Die nachlassende Fähigkeit, sich frei zu bewegen, ersetzt Frau Flieder teilweise durch ganz unterschiedliche Arten der Imagination. Zum Beispiel wird die Wohnung detaillierter wahrgenommen und unterschiedliche Orte in der Wohnung bekommen verschiedene Bedeutungen. Auf dem einen Stuhl am Tisch wird gefrühstückt, auf dem anderen Stuhl am selben Tisch wird immer gelesen. Der Wechsel des Stuhls und damit die veränderte Perspektive auf den Raum übernimmt die Rolle eines Ortswechsels. Der Balkon ersetzt zum Teil das Reisen. Oft sieht Frau Flieder sich, während sie auf dem Balkon sitzt, einen umfangreichen Farbatlas an. Die Büsche vor dem Balkon werden zur Landschaft oder der kleine Teich vor dem Haus könnte das Meer sein. Manchmal geht sie im nahegelegenen Wald spazieren. So richtig weit kommt sie nicht mehr, doch die Tatsache, dass sich dieser Wald bis in die Landschaft erstreckt und man immer weitergehen könnte, gibt ihr das Gefühl von Weite. Ist Imagination als Raumtaktik ungewöhnlich? Alle Interviewten waren in der Realität fest verwurzelt. Imagination hilft ihnen, Defizite zu überbrücken und sich einer Welt zugehörig zu fühlen, an der sie nicht mehr teilhaben können. Diese Taktik ist von fast allen Interviewten angewendet worden. Für die Untersuchung folgt daraus, Imagination als Raumtaktik ernst zu nehmen, obwohl Imagination zweischneidig ist. Zu leicht kann sie als Legitimation 28 Jane Jacobs: Tod und Leben großer 29 Name geändert. amerikanischer Städte. Braunschweig 1976, Übersetzung: Eva Gärtner, Originalausgabe: The Death and Life of Great American Cities. New York 1961, S. 49–53. 248 ANDREA BENZE UND ANUSCHKA KUTZ Abb. 3: Frau Flieder – Imagination, CAD-Zeichnung (150x150 cm): OFFSEA Andrea Benze, Anuschka Kutz, 2014 für Missstände missbraucht werden – nach dem Motto: „Stellen sie sich doch einfach vor, es wäre anders.“ Einen Hinweis über das Potenzial von Imagination gibt die Tatsache, dass sie in der Psychologie bereits als Therapie zur Überwindung trau- matischer Erfahrungen eingesetzt wird. Dabei setzt sie an den Selbstheilungsmechanismen der Patienten an.30 30 Vgl. hierzu: Luise Reddemann: Imagination Therapieform besonders auch für ältere Men- als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Trau- schen eignet. 2013 verfasste sie ein weiteres mafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. Buch mit dem Titel Imagination als heilsame Stuttgart 2001. Reddemann erwähnt innerhalb Kraft im Alter. dieses Buches ebenfalls, dass sich diese RAUMPRODUKTION IM ALTER 249 In der Studie wird allerdings keine psychologische Perspektive ein- genommen. Analog zu Lefebvre wird davon ausgegangen, dass sich in der gesellschaftlichen Praxis ‚innerseelische’ Prozesse abbilden. Es soll jedoch nicht das ‚Innere’ der Interviewten erforscht wer- den,31 stattdessen wird die Wechselwirkung von Imagination und Raumproduktion im Alter untersucht. Imagination, wie sie im Rahmen der Interviews sichtbar wurde, diente zur Bereicherung des Alltags, oder kritischer formuliert, dazu, den Alltag erträgli- cher zu machen.32 Vom individuellen Standpunkt aus gesehen ist Imagination eine innovative Raumtaktik, die es Einzelnen ermöglicht, Defizite aus- zugleichen oder mit Defiziten zu leben. Das legt die Forderung nach Orten und städtischen Situationen nahe, die Spielräume für Imagination bieten. Aus der Forschung lässt sich schluss- folgern, dass das oft Orte sind, die eine gewisse Offenheit in der Interpretation zulassen, weil sie nicht eindeutig abgegrenzt sind, weil sich dort Handlungsstränge überschneiden, weil ihre Gestaltung unterschiedlichste Assoziationen weckt oder weil sie auf eine andere Art mehrdeutig gelesen werden kön- nen. Die Mehrdeutigkeit des Ortes kann es ermöglichen, sich sowohl in der gesellschaftlich geteilten Welt aufzuhalten als auch individuellen Imaginationen nachzugehen. Eine Balance zu halten zwischen persönlicher Imagination und gesellschaft- lich geteilter Welt ist wichtig, um nicht in eine Isolation durch Imagination abzurutschen. Imagination kann die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht ersetzen und zum Mittel werden, in Vereinzelung zu leben. 31 Vergleiche hierzu Schmid 2005 (Anm. 20) 32 Lefebvre thematisiert Imagination als S. 244. psychisches Verhalten nur einmal direkt und äußert sich sehr kritisch: „Es ist der beherrsch- te, also erfahrene und erlittene Raum, den die Imagination abzuwandeln und sich anzueignen sucht.“ Deutsche Übersetzung: Schmid 2005 (Anm. 20), S. 222; Lefebvre 2000 (Anm. 3), S. 39. Imagination ist für Lefebvre eine Taktik der Machtlosen, um die Zustände erträglicher zu machen. 250 ANDREA BENZE UND ANUSCHKA KUTZ Unverbindliche Orte als Orte der Teilhabe Innerhalb der Pilotstudie wurden mehrere Formen der Teilhabe am urbanen Leben untersucht. Sie variierten zwischen dem Aufsuchen von Orten, die speziell auf die Bedürfnisse älterer Menschen ausgelegt sind, bis zu einer eher beiläufigen informel- len Teilnahme am urbanen Geschehen. Damit ist eine Teilhabe gemeint, die nicht zum aktiven Handeln verpflichtet, nicht auf formalen Mitgliedschaften beruht und auch nicht darauf, Geld ausgeben zu müssen. Bereits der Stadtplaner Jan Gehl arbeitet die Wichtigkeit passiver sozialer Kontakte mit niedriger Intensität in seinem Buch Leben zwischen Häusern heraus, indem er das passive ‚Beobachten’ oder ‚Zuhören’ als grundlegende Form des sozialen Austausches vorstellt.33 Es ist wichtig, das Recht auf diese zurückhaltende Form des sozi- alen Kontaktes zu betonen. Denn in den letzten Jahren wird in der Altersforschung vor allem der Begriff ‚aktives Alter’34 thema- tisiert. „Aktives Altern beinhaltet [unter anderem] alle außerhalb der bezahlten Erwerbsarbeit stattfindenden Aktivitäten, die dazu beitragen, das individuelle Wohlbefinden zu fördern oder die anderen Menschen, dem lokalen Umfeld oder der Gesellschaft im Ganzen zugutekommen“.35 Aktives Altern soll jedem die Möglichkeit der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eröffnen, ist jedoch auch mit der Verpflichtung verknüpft, Teilhabechancen zu nutzen und die Aktivität im Alter aufrecht zu erhalten. Die Wertigkeit der unverbindlichen, passiven, beiläufigen Teilnahme an hierfür geeigneten Orten droht in dieser Debatte überdeckt zu werden durch einen fast schon normativen Zwang zum aktiven 33 Jan Gehl: Leben zwischen Häusern. 35 Britta Bertermann: Arbeitspapier: Partizi- Übersetzung: Jan Gehl Architects. Berlin 2012, pation im Alter. Im Rahmen einer Projektes der Erstausgabe: Livet mellem husene, Kopenha- Forschungsgesellschaft für Gerontologie e. V. gen 1971, S. 13. und dem Institut für Gerontologie, Technische Universität Dortmund, Projektleitung: Dr. Elke 34 Vgl. hierzu: World Heritage Organization Olbermann, Dortmund 2011 http://www.ffg. (WHO): Active Ageing: A Policy Framework, tu-dortmund.de/cms/Medienpool/110330_Ar- Genf 2002. beitspapier_Partizipation_FfG_4-2011_final.pdf (24. Mai 2016). RAUMPRODUKTION IM ALTER 251 Abb. 4: Frau Flieder – unverbindliche Orte, CAD-Zeichnung (150x150 cm, Ausschnitt): OFFSEA Andrea Benze, Anuschka Kutz, 2014 sozialen Handeln.36 Darüber hinaus ist die Diskrepanz zwischen dem geäußerten Bedürfnis an beiläufiger Teilnahme und den vorhandenen Möglichkeiten groß, sodass es einer genaueren Untersuchung bedarf. 36 Vgl. hierzu: Harm-Peer Zimmermann: Über oder Silke van Dyk, Stephan Lessenich, Tina die Macht der Altersbilder: Kultur – Diskurs – Denninger u. a.: Die ,Aufwertung’ des Alters. Dispositiv. In: Andreas Kruse, Thomas Rentsch, Eine gesellschaftliche Farce. In: Mittelweg 36. Harm-Peer Zimmermann (Hg.): Gutes Leben Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozial- im hohen Alter. Das Altern in seinen Entwick- forschung (Oktober/November 2010), S. 15–33. lungsmöglichkeiten und Entwicklungsgrenzen verstehen. Heidelberg 2012, S. 75–85; 252 ANDREA BENZE UND ANUSCHKA KUTZ Das Rasten auf einer Parkbank am Wegesrand lehnen viele Senioren ab. Man wolle nicht aussehen, als würde man ‚her- umlungern’ oder hätte zuhause keinen Ort zum Aufenthalt. Stattdessen werden auch hier Orte bevorzugt, die mehrere Bedeutungen haben können. Sitzt man beispielsweise auf einer Bank nahe einer Sehenswürdigkeit, gliedert man sich in ein tou- ristisches Verhalten ein und fällt nicht auf. Im Supermarkt wer- den Bänke genutzt, die unmittelbar hinter der Kasse stehen, meistens in der Nähe der Informationstafeln mit Kleinanzeigen. Beim Aufenthalt dort kann man noch seine Einkäufe sortieren oder könnte auch die Anzeigen studieren. Eine Seniorin weist uns auf die Qualität der Bushaltestellen in ihrem Quartier hin. Aufgrund der räumlichen Enge sind sie dicht von Bistrotischen oder den Auslagen anliegender Geschäfte umstellt. Diese Nutzungsüberschneidungen bieten nicht nur Sicherheit, sondern machen es möglich, sich aus allerlei Gründen dort aufzuhalten und unter Umständen einfach wieder zu gehen. Thematisiert worden sind diese Orte der Überschneidung bezo- gen auf unterschiedliche Handlungen vom Architekturtheoretiker Christopher Alexander in A City is Not a Tree. Er beschreibt eine Kreuzung mit Ampel, an der sich eine Drogerie mit auf dem Gehweg stehenden Zeitungsständer befindet. Hier beob- achtet er, dass Menschen, die an der Ampel warten, diese Möglichkeit nutzen, um entweder nur die Schlagzeilen zu lesen oder sich eine Zeitung zu kaufen. Für Alexander besteht in der Überschneidung unterschiedlicher Handlungsstränge ein wichti- ges Bezugssystem, das kennzeichnend für städtische Qualitäten ist.37 In der Studie wurde entdeckt, dass für Senioren die Qualität solcher Handlungsüberschneidungen auch darin besteht, dass man keines der Angebote annehmen kann und sich trotzdem zugehörig fühlt. 37 Christopher Alexander: A City is Not a Tree. Nachdruck aus der Fachzeitschrift: Design. London, Council of Industrial Design 206 (1966); zugänglich auf: www.best.polimi.it/ fileadmin/docenti/TEPAC/2012/FONTANA/A_ City_is_not_a_Tree.pdf. S. 3. RAUMPRODUKTION IM ALTER 253 Offenes Ende Die detaillierte und feinkörnige Untersuchung der Raum- produktion älterer Menschen hat ein relativ komplexes Bezieh- ungsgeflecht aufgedeckt. In Teilen korrespondiert diese Raum- produktion mit Erkenntnissen aus der Stadtentwicklung. An anderen Stellen zeigen sich offensichtliche Defizite bezogen auf Angebote und die Gestaltung des städtischen Raums. Eine wich- tige Erkenntnis ist der Perspektivwechsel, von dem viele Senioren berichtet haben, und die Tatsache, dass das Rausgehen nicht mehr als Verpflichtung empfunden wird, sondern als freiwillige Aktivität: ‚Rausgehen aus Freude’. Hier stellen sich viele neue Anforderungen an den Stadtraum. Ebenso haben die Interviews mit den Seniorinnen das Bedürfnis nach passiver Teilnahme deutlich ins Bewusstsein gerückt. Im Zusammenhang mit der Debatte um ‚aktives Altern’ kann geradezu die Forderung nach einem Recht auf passive Teilnahme erhoben werden. Innerhalb des untersuchten Stadtraumes fehlt es deutlich an unverbind- lichen Orten, die passive Teilnahme ermöglichen, ohne sich ausgeschlossen zu fühlen. Zuletzt stach das Phänomen der Imagination heraus. Die Wichtigkeit, mehrdeutige Orte anzubie- ten, die Freiräume zur Imagination lassen, ist ein bisher völlig übersehenes und unerforschtes Bedürfnis. In den persönlichen Raumtaktiken wurden individuelle Wege zur Überwindung der Defizite deutlich, wie zum Beispiel in der Raumtaktik der ‚Selbstverwurzelung’ oder in der weit verbrei- teten Raumtaktik der ‚verschobenen Nachbarschaft’, deren Potenziale und Grenzen dringend weiterer Erforschung bedür- fen. Imagination als Raumtaktik ist ein neu erkanntes Phänomen und kann bisher noch gar nicht in den städtebaulichen Diskurs eingeordnet werden. Der Philosoph Thomas Rentsch, einer der Initiatoren des Forschungsprojektes Gutes Leben im hohen Alter fordert zum Abschluss des Projektes nichts weniger als ein Aufklärungsprojekt über das ganze Leben einschließlich des Alters und des hohen Alters. Gerade weil keine Patentlösungen vorliegen und es keine Antworten auf die überkomplexen existenziellen, sozialen und 254 ANDREA BENZE UND ANUSCHKA KUTZ kulturellen Fragen gibt, ist seiner Meinung nach ein gesellschaft- liches Aufklärungsprojekt erforderlich.38 Diese Aufklärung ist auch hinsichtlich der Raumproduktion im Alter erforderlich. Nur so können Lebensräume – physisch-materielle, aber auch sozi- ale, ökonomische und kulturelle – gesichert werden, die es mög- lich machen und unterstützen, lange selbstständig zu bleiben und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. 38 Thomas Rentsch: Ethik des Alterns: Perspektiven eines gelingenden Lebens. In: Andreas Kruse, Thomas Rentsch, Harm-Peer Zimmermann (Hg.): Gutes Leben im hohen Alter. Das Altern in seinen Entwicklungsmög- lichkeiten und Entwicklungsgrenzen verstehen. Heidelberg 2012, S. 70–72. RAUMPRODUKTION IM ALTER 256 ARNE DREISSIGACKER UND GINA R. WOLLINGER ARNE DREISSIGACKER UND GINA R. WOLLINGER Die Verletzung der ‚dritten Haut‘ Architektur und Kriminalität am Beispiel des Wohnungseinbruchs Der Beitrag versucht das vornehmlich kriminologisch erforschte Phänomen des Wohnungseinbruchs unter Einbezug archi- tektursoziologischer Denkansätze zu beleuchten. Dabei wird zunächst anhand einer Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens von 1.329 Betroffenen eines Wohnungseinbruchs gezeigt, welche Folgen die erlebte Tat für die Opfer nach sich zieht, die von Verhaltensänderungen bis hin zu Symptomen traumatischer Belastungsreaktionen rei- chen können. Anschließend wird nach dem Zusammenhang zwi- schen Architektur und Kriminalität gefragt und die Ergebnisse einer Studie zur Wirksamkeit präventiver Maßnahmen und Verhaltensweisen vorgestellt. Architektur kann in Analogie zur Kleidung und im Sinne der phi- losophischen Anthropologie Helmuth Plessners als ein Modus der „natürlichen Künstlichkeit“1 des Menschen beschrieben werden. In diesem verbindet sich die Funktion der „Sicherung des Daseins“ mit dem „Ausdruck des Soseins“. Architektur wird daher als „expressiver Außenhalt“2 oder als „dritte Haut“3 1 Helmuth Plessner: Die Stufen des Orga- 3 Joachim Fischer: Zur Doppelpotenz der nischen und der Mensch. Einleitung in die Architektursoziologie. Was bringt die Soziolo- philosophische Anthropologie. Berlin, New York gie der Architektur – Was bringt die Architektur 1975. der Soziologie? In: Ders., Heike Delitz (Hg.): Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für 2 Heike Delitz: Expressiver Außenhalt. Die die Architektursoziologie. Bielefeld 2009, ‚Architektur der Gesellschaft‘ aus Sicht der S. 385–414, hier S. 396. Philosophischen Anthropologie. In: Joachim Fischer, Dies. (Hg.): Die Architektur der Ge sellschaft. Theorien für die Architektursoziolo- gie. Bielefeld 2009, S. 163–194. DIE VERLETZUNG DER ‚DRITTEN HAUT‘ 257 bezeichnet, die mit dem physischen und psychischen Befinden des Menschen in enger Verbindung steht. Evident wird dieser Zusammenhang gerade dann, wenn die pri- vate Grenzziehung von Dritten verletzt wird, wie es bei einem Wohnungseinbruch der Fall ist. Das Delikt Wohnungseinbruch ist gemäß dem Kriminologen Hans-Dieter Schwind zu den „delicta mala per se“, also zu den „Handlungen [zu zählen], die auch ohne Verbot als verwerflich bzw. als sozialschädlich gelten“4 und dies auch kulturübergreifend und überzeitlich. Einbrecher überwinden die Baukörpergrenzen und verschaffen sich illegitimen Zugang ins Innere des Hauses beziehungsweise der Wohnung. Und auch hier missachten sie die Abgrenzungen verschiedener Bereiche der Bewohnerinnen und Bewohner. Der Schlafbereich wird ebenso betreten und nach geeignetem Diebesgut durchsucht wie der Empfangsbereich usw. Auch wenn diese Grenzverletzungen sehr selten unter Kopräsenz von Einbrechern und Bewohnern statt- finden, wirken sie sich zum Teil langfristig auf das Wohlbefinden und das Verhalten der Betroffenen aus und tragen „im Hinblick auf die Viktimisierung Züge eines Gewaltdeliktes“.5 Im Gegensatz zu Gewaltdelikten, Sachbeschädigungen und anderen Diebstahlsdelikten stiegen die Fallzahlen des Wohnungs- einbruchs in Deutschland seit dem Jahr 2006 um 43,4 % an, wäh- rend die polizeiliche Aufklärungsquote, das heißt der Anteil der registrierten Fälle, bei denen Tatverdächtige ermittelt wurden, auf einem geringen Niveau stagniert.6 Als weitere Besonderheiten dieses Deliktes können deutliche regionale Unterschiede hin- sichtlich der Fallbelastung und der Aufklärungsquote sowie eine heterogen zusammengesetzte Gruppe der Betroffenen genannt werden.7 4 Hans-Dieter Schwind: Kriminologie. Eine 6 Im Jahr 2014 lag diese bei 15,9 %. Quelle: praxisorientierte Einführung mit Beispielen. Bundeskriminalamt (Hg.): Polizeiliche Kriminal- Heidelberg, München, Landsberg u. a. 2011, S. 4. statistik (PKS) 2014. Wiesbaden 2015. 5 Gerhard Schmelz: Der Wohnungseinbruch 7 Vgl. Gina R. Wollinger, Arne Dreißigacker, Ka- aus Opfersicht. Projektstudie. Wiesbaden 2000. tharina Blauert u. a.: Wohnungseinbruch: Tat und URL: http://www.gerhard-schmelz.de/media/ Folgen. Ergebnisse einer Betroffenenbefragung Wohnungseinbruch.pdf (9. Februar 2016), S. 1. in fünf Großstädten. Hg. v. Kriminologisches For- schungsinstitut Niedersachsen e.V. (Forschungs- bericht Nr. 124). Hannover 2014, S. 7, 26–28. 258 ARNE DREISSIGACKER UND GINA R. WOLLINGER Vor diesem Hintergrund entstand das Forschungsprojekt Vergleichende kriminologische Regionalanalyse des Wohnungs- einbruchdiebstahls am Kriminologischen Forschungs-institut Niedersachsen (KFN), das nach dieser Einführung kurz vorge- stellt wird. Anschließend stehen Ergebnisse der in diesem Projekt durchgeführten Betroffenenbefragung zu den unterschiedli- chen Folgen und Reaktionen im Mittelpunkt, die unter anderem in Bezug zu Wohneinstellungen gesetzt werden. Ein weiterer Schwerpunkt soll der Frage gewidmet werden, ob sich bauliche Maßnahmen präventiv auswirken können. KFN-Studie zum Wohnungseinbruch Die in diesem Beitrag vorgestellten Ergebnisse basie- ren auf einer Betroffenenbefragung, die ein Teil der KFN- Studie Vergleichende kriminologische Regionalanalyse des Wohnungseinbruchdiebstahls ist.8 Für die Teilnahme an die- ser Studie konnten die Städte Bremerhaven, Berlin, Hannover, Stuttgart und München gewonnen werden. Neben der Befragung von 500 Betroffenen pro Stadt wurden eine Analyse von insge- samt jeweils 800 bis 900 Strafakten und je ein Gruppeninterview mit Experten aus Polizei und Justiz durchgeführt. Das Forschungsinteresse der Betroffenenbefragung lag auf dem Erleben der Tat, den psychischen Folgen und Reaktionen sowie auf der Beurteilung des Kontakts mit der Polizei. Die Analyse von Strafverfahrensakten wurde mit dem Ziel verfolgt, Informationen zur Arbeit der Polizei, der Entscheidungspraxis der Justiz und zu Tatverdächtigen und Tätern zu generieren. In den Gruppeninterviews von Experten, bestehend aus Polizisten, Staatsanwälten und Richtern, wurden ausgewählte Ergebnisse der Aktenanalyse näher erörtert, um die Perspektive der Praxis in die Ergebnisse zu integrieren.9 8 Für die finanzielle Förderung des Projekts 9 Ausführliche Informationen zur Studie, zum bedanken wir uns bei den Städten Bremerha- methodischen Vorgehen und zu den Ergebnis- ven und Berlin sowie beim Gesamtverband der sen finden sich insbesondere bei Wollinger u. a. Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. 2014 (Anm. 7) sowie bei Arne Dreißigacker, DIE VERLETZUNG DER ‚DRITTEN HAUT‘ 259 Aus der Zufallsstichprobe von Wohnungseinbrüchen aus dem PKS-Jahr 2010 im Rahmen der Aktenanalyse konnten 2.299 Adressen geschädigter Haushalte entnommen werden. Diese bildeten die Basis für die Betroffenenbefragung. Insgesamt wur- den drei Kontaktversuche unternommen mit der Bitte, dass das- jenige Haushaltsmitglied, welches als letzte Person im Haushalt Geburtstag hatte, einen Fragebogen ausfüllt. Als monetäres Incentive wurde jedem Fragebogen fünf Euro beigelegt. Bei als unzustellbar zurückgesandten Briefen wurde das jeweilige Einwohnermeldeamt kontaktiert, um eine aktuelle Adresse zu erhalten. Insgesamt konnten 2.024 Fragebögen zugestellt wer- den. 1.391 Fragebögen wurden zurückgeschickt, was einer sehr guten Rücklaufquote von 68,7 % entspricht. 1.329 Fragebögen gingen letztendlich in die Auswertung ein. An der Befragung nahmen Personen im Alter von 18 bis 97 Jahren (durchschnittlich 52,9 Jahre) mit überwiegend hoher Bildung (54,9 %) teil. Mit 53,2 % sind mehr Frauen als Männer vertreten. Zur Tatzeit lebte die Mehrheit in familiären Strukturen (60,9 %), gut ein Drittel lebte allein (36,1 %) und nur wenige in anderen Wohnformen (3,1 %). Zwei Drittel der Befragten wohn- ten zum Zeitpunkt der Tat in einem Mehrfamilienhaus (65,1 %), davon 36,7 % in Erdgeschosswohnungen und 23,2 % im ersten Obergeschoss. Etwa ein Drittel wohnte in einem Einfamilienhaus (34,9 %). Verletzung der ‚dritten Haut‘ Um die Situation der Opfer zu erfassen, wurden diese nach ihrem psychischen Befinden sowie nach bestimm- ten Verhaltensreaktionen nach dem Einbruch befragt. Dazu konnten sie angeben, wie lange nach der Tat sie bestimmte Belastungssymptome erlebten. Für die folgende Auswertung Gina R. Wollinger, Katharina Blauert u. a.: Woh- analyse in fünf Großstädten. Hg. v. Kriminolo- nungseinbruch: Polizeiliche Ermittlungs- gisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. praxis und justizielle Entscheidungen im Er- (Forschungsbericht Nr. 130). Hannover 2016. kenntnisverfahren. Ergebnisse einer Akten- 260 ARNE DREISSIGACKER UND GINA R. WOLLINGER Abb. 1 (eigene Darstellung): Psychische Belastung aufgrund eines Wohnungseinbruchs (Anga- ben in Prozent) wurden zwei Zeiträume unterschieden: innerhalb der ersten acht Wochen nach der Tat und langfristig, das heißt länger als acht Wochen (siehe Abb. 1). Dabei gaben 28,8 % an, in den ers- ten acht Wochen Gefühle der Unsicherheit in der gewohnten Umgebung zu spüren; für weitere 46,5 % traf dies langfristig zu. Macht- und hilflos fühlte sich ebenfalls ein bedeutender Anteil der Befragten sowohl kurz- als auch langfristig. Weitere verbrei- tete Belastungen waren Stress und Anspannung, welche von knapp einem Viertel auch nach einem achtwöchigen Zeitraum bejaht wurden. Zu einem kleineren Anteil wurden Angstgefühle und Schlafstörungen angegeben. Seltener wurden Gefühle des Ekels und der Erniedrigung berich- tet sowie das Bedürfnis, nicht darüber nachdenken zu wollen, was passiert sei. Des Weiteren wurde zu einem kleinen Anteil das Auftreten von Alpträumen berichtet. Sehr selten fühlten sich Opfer unsicher im Umgang mit anderen Menschen. Des Weiteren war von Forschungsinteresse, welche Faktoren die psychische Belastung erhöhen. Dazu wurde eine Skala zur Erfassung posttraumatischer Belastungssymptome angewandt DIE VERLETZUNG DER ‚DRITTEN HAUT‘ 261 und mittels OLS-Regression untersucht, welche Faktoren die Belastungssymptome erhöhen.10 Im Ergebnis zeigt sich, dass das Geschlecht (weiblich), geringe Bildung, externale Kontroll- überzeugungen und neurotizistische Persönlichkeitsmerkmale die Belastungssymptome erhöhen. Neben diesen Personen- merkmalen, zeigen jedoch auch Wohneigenschaften signifikante Effekte. Betroffene, die eine sehr private Einstellung zum Wohnen aufweisen, sind eher psychisch belastet. Dahingegen senkt ein hoher Zusammenhalt in der Nachbarschaft die psychische Belastung, ebenso wie das Vorliegen einer Hausratsversicherung. Bezüglich der Tatmerkmale zeigt sich, dass sich eine verwüstete Wohnung sowie die Vorstellung, die Täter zu kennen, belastend auswirken. Neben der psychischen Belastung ändern viele Betroffene auch ihr Verhalten. Eine besondere Reaktion auf einen Einbruch ist das Umzugsverhalten. 9,7 % der Betroffenen gaben an, aufgrund des Einbruchs umgezogen zu sein. Weitere 14,8 % der Opfer wären gern aus diesem Grund umgezogen. Frauen, jüngere Betroffene und Mieter (im Gegensatz zu Eigentümern) zogen eher aufgrund der Tat um. Die Umzugsneigung erwies sich als unabhängig vom Tatstadium (‚vollendet‘ versus ‚versucht‘). Einbruchprävention und Architektur Gemäß der Architektursoziologin Heike Delitz kann der Architektur in zweierlei Hinsicht eine „soziale Aktivität“ zugesprochen wer- den, insofern sie aus sozialtheoretischer Perspektive bestimmte „Handlungen und Haltungen, Interaktionen und Selbstverhältnisse evoziert und stabilisiert“11 und aus gesellschaftstheoretischer Perspektive als „materialisierte Verkörperung“12 der Gesellschaft 10 Dabei handelt es sich jedoch nur um die Betroffenenbefragung zu Einflussfaktoren Erhöhung der Anzahl der einzelnen Belas- posttraumatischer Belastungssymptome. In: tungssymptome und nicht um die Erhöhung Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechts- der Chance, dass eine Posttraumatische Belas- reform 98 (2015), S. 365–383. tungsstörung im klinischen Sinn vorliegt. Aus- führlich zum Vorgehen und den Ergebnissen 11 Delitz 2009 (Anm. 2), S. 178. siehe Gina R. Wollinger: Wohnungseinbruch als traumatisches Ereignis. Ergebnisse einer 12 Ebd. 262 ARNE DREISSIGACKER UND GINA R. WOLLINGER diese erst imaginierbar macht. Mit diesem Verständnis lässt sich auch ein Zusammenhang zwischen Architektur und Kriminalität oder allgemein deviantem Verhalten herstellen. Dass ein sol- cher Zusammenhang besteht und sich mittels baulicher Gestaltung Kriminalität reduzieren lässt, ist bereits eine geteilte Grundannahme sogenannter CPTED-Konzepte, die vor allem im angelsächsischen Raum mittlerweile weit verbreitet sind.13 CPTED steht für ‚Crime Prevention through Environmental Design‘ und soll im Folgenden auch Konzepte zur Kriminalprävention durch bauliche Gestaltung unter anderem Label (‚Secured by Design‘, ‚Designing out Crime‘ und andere) umfassen. Ihren Ausgang nahmen diese in den 1960er und 1970er Jahren vor allem in den theoretischen Arbeiten Jane Jacobs (The Death and Life of Great American Cities), C. Ray Jeffery (Crime Prevention through Environmental Design) und vor allem Oscar Newmans (Defensible Spaces).14 Mittlerweile werden CPTED-Konzepte der ersten und zweiten Generation unterschieden und eine dritte Generation beginnt sich abzuzeichnen. Die erste Generation beruhte im Wesentlichen auf umwelt- und verhaltenspsychologischen Theorien und neigte zur Übervereinfachung der Wechselwirkung zwischen Mensch und gebauter Umwelt, zum Beispiel in dem Sinne, dass etwa eine verbesserte Straßenbeleuchtung oder baulich verbes- serte Möglichkeiten sozialer Kontrolle immer zur Reduktion kri- mineller Handlungen führe. Aus dem Vorwurf des physischen Determinismus und der Negierung sozialer Faktoren heraus wur- den soziale Dimensionen, zum Beispiel die soziale Kohäsion oder die kollektive Wirksamkeit von Gemeinschaften in den CPTED- Konzepten der 2. Generation (‚social CPTED‘) mit einbezogen.15 Neuerungen, die für eine dritte Generation sprechen, sind vor 13 Vgl. Günter P. Stummvoll: Kriminalpräventi- 14 Vgl. Paul Cozens, Terence Love: A Review on durch Gestaltung des öffentlichen Raumes: and Current Status of Crime Prevention through CPTED. In: Neue Kriminalpolitik 14 (2002), Environmental Design (CPTED). In: Journal of S. 123–126, hier S. 123. Planning Literature (2015) S. 1–20, hier S. 1 f. 15 Ein aktueller und detaillierter Überblick zur Entwicklung und zum Forschungsstand von CPTED-Konzepten findet sich bei Cozens und Love 2015 (Anm. 14). DIE VERLETZUNG DER ‚DRITTEN HAUT‘ 263 allem die verstärkte Bildung kriminalpräventiver Netzwerke aus Polizei, Sozialarbeit und Stadtplanung.16 In Deutschland kam es gemäß Schubert unter anderem zu kei- ner Übernahme vollständiger CPTED-Konzepte.17 Ein Grund dafür liegt in der vorwiegend kritischen gesellschaftstheoreti- schen Auseinandersetzung mit möglichen negativen Folgen von „Fortifikations- und Bewachungstechniken“.18 Dennoch wurden in den letzten Jahren ausgehend von einzelnen Bundesländern und Kommunen ausgewählte CPTED-Leitlinien19 insbesondere zur baulichen Gestaltung von Siedlungen aufgegriffen und in ver- schiedenen Modellprojekten zur Erfahrungssammlung umgesetzt. Im Unterschied etwa zu Großbritannien erfolgt städtebauliche Kriminalprävention in Deutschland aber nicht losgelöst von wohl- fahrtsstaatlichen Interventionsprogrammen, wie zum Beispiel dem Bund-Länder-Programm Die soziale Stadt,20 und ist insofern kein rein „begleitendes Mittel zur Intensivierung informeller sozialer Kontrolle in der Gemeinschaft der Nachbarschaft.“21 Umfassende wissenschaftliche Evaluationen von umgesetzten CPTED-Modellen oder Leitlinien blieben bisher aufgrund verschiede- ner Schwierigkeiten, zum Beispiel hinsichtlich der Reichweite bauli- cher Interventionen, weitgehend aus. Vorhandene Untersuchungen zur Frage, ob sich mit solchen Modellen Kriminalität reduzieren lässt oder nicht, zeichnen ein sehr widersprüchliches Bild.22 16 Vgl. Günter P. Stummvoll: CPTED. Kriminal- 19 Dabei handelt es sich vorwiegend um Vorga- prävention durch Gestaltung des öffentlichen ben für die bauliche Gestaltung von Siedlungen Raumes. Hg. v. Institut für Höhere Studien. wie z.B. die Ausrichtung der Fenster zur Straße Wien 2002. URL: http://www.veilig-ontwerp-be- hin, um die Möglichkeiten der Sozialkontrolle heer.nl/publicaties/cpted-kriminalpraventi- zu erhöhen, die Vermeidung von Dunkelzonen, on-durch-gestaltung-des-offenlichen-raumes/ das Anbringen technischer Sicherungsmaßnah- at_download/file (9. Februar 2016), S. 10. men an Fenstern und Türen, die Schaffung von Zugangsbeschränkungen für Fremde hinsichtlich 17 Vgl. Herbert Schubert, Holger Spiecker- halböffentlicher, halbprivater und privater Be- mann, Katja Veil: Sicherheit durch präventive reiche, das Anbringen von Grenzmarkierungen, Stadtgestaltung. In: Aus Politik und Zeitge- die Schaffung einsehbarer und gut beleuchteter schichte (2007) H. 12, S. 32–38, hier S. 38. Parkflächen etc. Siehe dazu Nadja Müller: Krimi- nalprävention durch Baugestaltung. Münster 2015. 18 Guido Lauen: Stadt und Kontrolle. Der Diskurs um Sicherheit und Sauberkeit in den 20 Vgl. Schubert u. a. 2007 (Anm. 17), S. 38. Innenstädten. Bielefeld 2011, S. 330. 21 Lauen 2011 (Anm. 18), S. 342. 22 Vgl. Cozens und Love 2015 (Anm. 14), S. 9 f. 264 ARNE DREISSIGACKER UND GINA R. WOLLINGER Bezogen auf den Wohnungseinbruch gibt es zumindest verschie- dene Anhaltspunkte aus der internationalen Forschung, die für die Wirksamkeit von CPTED sprechen.23 Insbesondere scheinen Einbrecher relativ häufig rationale Überlegungen bei der Auswahl geeigneter Objekte anzustellen. Dabei spielen zum einen die „Anmutungsqualität“24 des Gebäudes, die damit verbundene erwar- tete Beute und die zu überwindenden physischen Barrieren eine große Rolle. Deusinger konnte mittels Vorlage von Fotografien zei- gen, dass Ein- und Mehrfamilienhäuser, die in der Vergangenheit bereits von einem Einbruch betroffen waren, auch signifikant häufiger von den befragten Tätern als geeignete Tatobjekte ein- gestuft wurden.25 Daneben ist die Abschätzung des Risikos der Entdeckung mitentscheidend, wobei der Faktor Nachbarschaft von großer Bedeutung ist, wie Bennett und Wright ebenfalls mit einer Täterbefragung unter Vorlage von Fotos zeigen. Auch ohne explizi- ten Hinweis auf bessere Möglichkeiten sozialer Kontrolle durch die Nachbarschaft entschied sich die Mehrheit der Befragten anhand der Fotos bei entsprechenden Objekten gegen einen Einbruch.26 Hinsichtlich der Wirksamkeit sicherheitstechnischer Präventions- maßnahmen (‚target hardening‘), die immer auch ein Bestandteil der CPTED-Modelle sind, können auch die Daten der Betroffenenbefragung der KFN-Studie zum Wohnungseinbruch ausgewertet werden.27 In binär-logistischen Regressionsmodellen 23 Vgl. Lawrence W. Sherman, Denise 24 Ingrid M. Deusinger: Der Einbrecher. Gottfredson, Doris McKenzie u. a.: Preventing Psychologische Untersuchungen zu Entschei- Crime: What Works, What Doesn’t, What’s dungsstrategien im Rahmen der Tatplanung Promising. College Park, Maryland 2002. URL: und Deliktausführung. Göttingen, Stuttgart http://www.rolim.com.br/2002/_pdfs/ing.pdf 1993, S. 27. (09.02.2016) sowie David Sorensen: The Nature and Prevention of Residential Burglary. A Re- 25 Vgl. Deusinger 1993 (Anm. 24), S. 84–86. view of the International Literature with An Eye Toward Prevention in Denmark. Copenhagen 26 Vgl. Trevor Bennett, Richard Wright: Bur- 2003. URL: http://justitsministeriet.dk/sites/de- glars on burglary. Prevention and the offender. fault/files/media/Arbejdsomraader/Forskning/ Aldershot, Brookfield 1984, S. 74–76. Forskningspuljen/2011/2003/The_Nature_ and_Prevention_of_Residential_Burglary.pdf 27 Die ausführlich dargestellten Ergebnisse (09.02.2016), S. 35. finden sich bei Arne Dreißigacker, Gina R. Wollinger, Tillmann Bartsch u. a.: Prävention von Wohnungseinbruch. Was schützt vor einem Einbruch und welche Konsequenzen ziehen Betroffene aus einer solchen Tat? In: Forum Kriminalprävention (2015), H. 2, S. 58–64. DIE VERLETZUNG DER ‚DRITTEN HAUT‘ 265 werden dabei Fälle miteinander verglichen, bei denen die Täter in die Wohnung oder das Haus gelangten und Fälle, bei denen die Tat noch außerhalb abgebrochen wurde. Im Ergebnis zeigen sich verschiedene Faktoren, die die Chance zur Verhinderung des Eindringens in die Wohnung erhöhen konnten. Positiv wirkte es sich aus, wenn die Betroffenen vor der Tat Informationen zur Einbruchsprävention bei einem entsprechen- den Fachgeschäft einholten. Informationen können logischer- weise nur präventiv wirken, wenn bestimmte Empfehlungen umgesetzt werden. Es ist also davon auszugehen, dass einer sol- chen Beratung weitere sicherheitstechnische Maßnahmen, bau- liche Veränderungen oder präventiv wirkende Verhaltensweisen folgten, die nicht erfragt wurden. Einen eigenständigen Effekt hatten zusätzliche Türsicherungen. Wenn ein Haushalt über eine spezielle zusätzliche Türsicherung verfügte, erhöhte sich die Chance der Verhinderung des Eindringens. Zu den sons- tigen Sicherungen, die ebenfalls positiv wirkten, zählen ins- besondere Bewegungsmelder, zeitgesteuerte und einbruchs- gesicherte Fensterrollläden sowie automatische Alarmmelder. Bivariat bestand daneben auch ein Zusammenhang zu Fenstersicherungen und Alarmanalagen, das heißt, Fenstersicherungen und Alarmanlagen wirkten nicht allein prä- ventiv, sondern nur in Kombination mit anderen sicherheitstech- nischen Maßnahmen, beispielsweise Türsicherungen. Zusätzlich zu diesen relevanten technischen Maßnahmen erhöhte sich die Chance zur Verhinderung des Eindringens, wenn die Betroffenen eine längere Abwesenheit verborgen hielten. Dabei handelt es sich um eine Mittelwertskala, die mit den fol- genden zwei Items gebildet wurde: „Wenn ich längere Zeit nicht da bin, bitte ich andere, nach meiner Wohnung zu sehen und/ oder den Briefkasten zu entleeren“ und „Ich achte darauf, dass möglichst wenige Menschen von einer längeren Abwesenheit (zum Beispiel Reise) erfahren“.28 Und auch eine präventionsorien- tierte Nachbarschaft wirkte sich positiv aus. Diese Mittelwertskala wurde mit den Items: „Innerhalb der Nachbarschaft sprach man 28 Cronbachs Alpha = 0,49. 266 ARNE DREISSIGACKER UND GINA R. WOLLINGER über Wohnungseinbrüche“, „… war man wachsam gegenüber Fremden“, „… machte man sich Gedanken um Einbruchschutz“ und „… achtete gegenseitig auf die Wohnung, wenn jemand verreiste“.29 Die Ergebnisse einschränkend muss erwähnt werden, dass die Befragung retrospektiv durchgeführt wurde und dass keine Aussagen über Inhalt und Qualität der Beratungsgespräche sowie über Art und Qualität der vorhandenen zusätzlichen Sicherungstechniken gemacht werden können. Daneben kann auf- grund des Stichprobendesigns auch keine Aussage über wirksame Mittel gemacht werden, die bereits den Tatansatz verhinderten. Fazit Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich viele Betroffene nach der Tat in ihrer Wohnung beziehungsweise ihrem Haus anhaltend unwohl und unsicher fühlen. Der erlebte Einbruch war für sie eine Art Kontingenzerfahrung, deren unterschiedliche Konsequenzen die Bedeutung der Architektur in ihrer „Kopplung von Funktion und Ausdruck“ 30 prägnant werden lässt. Ein Viertel der Betroffenen sahen sich auf Dauer nicht mehr durch die „dritte Haut“ geschützt und entwickelte zumindest das Bedürfnis, diese zu wech- seln. Andere passten ihr alltägliches Verhalten an und nutzten vorhan- dene oder zusätzlich installierte technische Sicherungsmaßnahmen konsequenter. Dabei wurden vielfach auch nach außen hin deut- lich sichtbare Mittel wie Videokameras oder Kameraattrappen eingesetzt31 und somit „das Erscheinen in der Welt“ über die „Baukörpergrenzen“32 modifiziert. Bei etwa 10 % der Befragten hatte der Einbruch hingegen keinerlei psychische Folgen. Ein Drittel der Opfer zog keine Konsequenzen hinsichtlich sicherheitstechnischer Maßnahmen oder einem möglichen Wohnungswechsel. Bestrebungen, mit CPTED-Konzepten Kriminalität in Stadtteilen und Stadtquartieren zu reduzieren, sind vor allem im angelsächsischen 29 Cronbachs Alpha = 0,81 31 Vgl. Dreißigacker u. a. 2015 (Anm. 27), S. 62. 30 Fischer 2009 (Anm. 3), S. 396. 32 Fischer 2009 (Anm. 3), S. 396. DIE VERLETZUNG DER ‚DRITTEN HAUT‘ 267 Raum zu finden, für deren Wirkung – zumindest bezogen auf ein- zelne Delikte wie den Wohnungseinbruch – verschiedene For- schungsergebnisse sprechen.33 Dass insbesondere sicherheits- technische Maßnahmen, eine präventionsorientierte Nachbarschaft und Verhaltensweisen zum Verbergen der Abwesenheit die Chance für einen Abbruch des Eindringversuchs erhöhen können, zeigt auch die Auswertung der Betroffenenbefragung der KFN-Studie zum Wohnungseinbruch.34 Dennoch kam es in Deutschland bisher ledig- lich zur vereinzelten Einbindung ausgewählter CPTED-Leitlinien in regionalbezogene, stärker wohlfahrtsstaatlich ausgerichtete Programme, unter anderem weil im Diskurs um die Sicherheit und Sauberkeit in den Städten immer wieder auch auf die Ambivalenz großräumig durchgeführter städtebaulicher Maßnahmen zur Kriminalprävention hingewiesen wurde.35 Zwar mag eine die infor- melle soziale Kontrolle und normkonformes Verhalten fördernde bauliche Gestaltung zur Senkung der Kriminalitätsrate beitragen, gleichzeitig ist aber auch zu hinterfragen, inwiefern sich dadurch der „Grad der Durchlässigkeit“36 der Baukörpergrenzen für verschie- dene Personengruppen und damit die Identität einer Stadt, eines Stadtteils oder eines Stadtquartiers verändert. Angesichts vieler offener Fragen zu Wirkungsweise, Effektivität und nichtintendierten Folgen verschiedener baulicher Präventions- maßnahmen bleiben eine weitergehende Forschung und die fortgesetzte Evaluation von Modellprojekten in Deutschland wünschenswert. 33 Zusammengefasste Forschungsergebnisse 34 Siehe Dreißigacker u. a. 2015 (Anm. 27). finden sich in den Metastudien von Sherman 2002 und Sorensen 2003 (Anm. 23). Dass sich 35 Vgl. Herbert Schubert: Raum und Archi- die Einbruchsrate durch die Umsetzung eines tektur der Inneren Sicherheit. In: Hans-Jürgen Secured by Design-Konzeptes relativ deutlich Lange, H. Peter Ohly, Jo Reichertz (Hg.): Auf reduzierte, zeigt z.B. Rachel Armitage: An Eva- der Suche nach neuer Sicherheit. Fakten, The- luation of Secured by Design Housing within orien und Folgen. Wiesbaden 2008, S. 281–291, West Yorkshire. Home Office Briefing Note, hier S. 287. 7/2000, S. 1–4. 36 Markus Schroer: Grenzen - ihre Bedeutung für Stadt und Architektur. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (2009), H. 25, S. 21–26, hier S. 23. 268 ALEXANDER HENNING SMOLIAN ALEXANDER HENNING SMOLIAN Über den Gebrauch von Sakralarchitektur in einer besonderen historischen Situation Kirchen und die politische Wende 1989 Der Beitrag beleuchtet das Phänomen der Verflechtungen von Kirche und Stadt unter anderem am Beispiel der Nikolaikirche zu Leipzig während des Jahres 1989. Die Kirche wird im Sinne ihrer „Tempelfunktion“, wie dies der Architekt, Stadtplaner und Stadtökologe Martin C. Neddens allgemein definiert, untersucht: das Bauwerk nimmt über die Gemeinde hinaus gesamtstädtische Aufgaben war. Die politische Wende hatte einen ihrer wesentli- chen Ausgangspunkte hier, getragen von Menschen mit unter- schiedlichen Weltanschauungen. Die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR gehört zu den erstaunlichsten und wohl folgenreichsten Ereignissen der jün- geren Geschichte. Deutschland hatte sich wiedervereinigt. Ganz Europa, die ganze Welt hatte die Bedrohung des ‚Kalten Krieges’ abgeschüttelt. Die Menschen in Osteuropa hatten sich ihrer fun- damentalen Grundrechte erinnert und einen gewaltfreien Wechsel ermöglicht. 2014 jährten sich diese Ereignisse zum 25. Mal. Auch ich habe damals als Kind an den Demonstrationen in Leipzig teil- genommen. Gewalt lag in der Luft, doch Gewaltlosigkeit war die Antwort. Bestimmte Räume und räumliche Strategien wurden seitens der Oppositionellen, aber auch seitens der Staatsmacht genutzt, um ihre jeweiligen Ziele zu erreichen. Ein wesentliches Merkmal der Montagsgemeinde der Hauptkirche Leipzigs war das ÜBER DEN GEBRAUCH VON SAKRALARCHITEKTUR IN 269 EINER BESONDEREN HISTORISCHEN SITUATION Prinzip ‚Nikolaikirche – offen für alle’, wodurch dieser Sakralbau seine Funktion als Stadtkirche für breite Bevölkerungsschichten erfüllte. Auch die anschließenden Demonstrationen um den Leipziger Cityring waren ein Ritual nach dem Gottesdienst, das immer mehr Menschen in den Tagen der politischen Wende anzog. Die Staatsmacht mit ihren Sicherheitskräften versuchte die entscheidenden Stellen um die Nikolaikirche und am Ring zu besetzen, griff aber durch den Gewaltverzicht der Demonstranten ihrerseits nicht stark ein. Im Folgenden sollen diese und andere Aspekte näher betrachtet werden. Das geteilte Deutschland Nach Ende des Zweiten Weltkrieges standen sich zwei ent- gegengesetzte Weltanschauungen feindlich gegenüber. Die Teilung der Welt lief durch das von den Siegermächten gespal- tene Deutschland. Im Osten Deutschlands wurde die Deutsche Demokratische Republik (DDR) nach ihrer Gründung 1949 unter Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zu einer kommunistischen Diktatur nach Vorbild der Sowjetunion weiter ausgebaut.1 Zu den Merkmalen der ostdeut- schen Wirtschaft gehörten Verstaatlichung und Planwirtschaft, Parteien und Verbände mussten sich dem Führungsanspruch der SED unterordnen, Regimegegner wurden verfolgt. Die Wirtschaft der DDR wurde stark durch Reparationsleistungen an die Sowjetunion belastet. Das Ziel der Amerikaner, das durch den Krieg zerstörte Westeuropa wieder aufzubauen, gelang. Bald schon sprach man in der Bundesrepublik Deutschland von einem ‚Wirtschaftswunder’. Seit dieser Zeit wurde der Westen Deutschlands für viele Ostdeutsche zu einem Sehnsuchtsziel, eben nicht nur in Bezug auf Freiheit und Demokratie, son- dern gerade auch wegen des materiellen Wohlstandes, der 1 Vgl. Ulrich Op de Hipt, Hans-Joachim West- holt: Vier Zonen – zwei Staaten. In: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Unsere Geschichte. Deutschland seit 1945. Bielefeld, Berlin 2012, S. 53. 270 ALEXANDER HENNING SMOLIAN dort herrschte. Der DDR gelang es nie, dasselbe Niveau der Versorgung und des Lebensstandards zu erreichen wie der deutsche Nachbarstaat. Der ‚Aufbau des Sozialismus’ nach Planwirtschaft führte zu erheblichen wirtschaftlichen Problemen und war von weitreichender Unterdrückung begleitet. So kam es am 17. Juni 1953 zu einem Volksaufstand, der neben Ost-Berlin die ganze DDR umfasste. Sowjetische Truppen schlugen ihn nieder, die DDR wurde nun auch militärisch umfassend in den sowjeti- schen Herrschaftsbereich eingegliedert. Eine Wiedervereinigung Deutschlands war in weite Ferne gerückt. Um die Millionen von Flüchtenden aus der DDR in den Westen zu stoppen, griff das Regime zu einem baulichen Mittel, welches wohl am stärksten räumliche Gewalt und gleichzeitig einen Akt der Unterdrückung symbolisiert: den Bau der Berliner Mauer und die starke Sicherung der innerdeutschen Grenze. Die Ursachen für die ‚Wende’ 1989 waren vielfältig: zum einen von innen die Reformbestrebungen der oppositionellen Gruppen und die genannte wirtschaftliche Lage, zum anderen von außen vor Allem der Reformkurs in der Sowjetunion nach der Ernennung Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Seine Politik gab den oppositionellen Kräften im Ostblock, nicht nur in der DDR, starken Auftrieb. Doch die alten Machthaber in Ostdeutschland lehnten Gorbatschows Reformideen ab, so dass neben der Unzufriedenheit der Ostdeutschen mit den wirt- schaftlichen Verhältnissen die Frustration über den politischen Stillstand kam. Der offene Protest nahm zu, das SED-Regime war nicht mehr Herr der Lage. Die Rolle der Kirchen im Osten Deutschlands Generell war die marxistische Weltanschauung, die Weltanschauung des Kommunismus, von tiefem Atheismus geprägt. Anfänglich wurde in Ostdeutschland nach Beendigung des Krieges in der sowjetischen Besatzungszone, später in der DDR, versucht, die Christen für die sozialistische Bewegung zu gewinnen. Nach der Machtfestigung verschärfte sich der Kampf ÜBER DEN GEBRAUCH VON SAKRALARCHITEKTUR IN 271 EINER BESONDEREN HISTORISCHEN SITUATION gegen die Kirchen.2 Trotzdem behielten diese eine gewisse Eigenständigkeit. Die Konfession der Bevölkerung war überwie- gend protestantisch. Später versuchte man staatlicherseits eine Steuerung der Kirche als Propagandainstrument des Staates. Die Kirchen waren damit seit Beginn des Bestehens der DDR in einer gewissen Oppositionsrolle. Dies war größtenteils wel- tanschaulich geprägt, zudem fühlte sich die Kirche in der Führungspartei, der SED, nicht repräsentiert. Trotzdem waren gerade durch die gesamtdeutschen Verbindungen der Kirchen, durch die Beziehungen zwischen den deutschen Staaten, die Kirchen in der DDR weniger isoliert und dem Niedergang ausge- setzt als in den anderen sozialistischen Staaten. Karl Marx vertrat die These vom natürlichen Absterben der Religion durch die Naturwissenschaften.3 Seine Philosophie wurde für die kommunistischen Machthaber zum Träger alleiniger Wahrheit, nach ihm wurde beispielsweise die traditionsreiche Leipziger Universität benannt und neu ausgerichtet. Eine symbolhafte architektonische Handlung, die Sprengung der Universitätskirche St. Pauli 1968, war ein Akt der Machtdemonstration und gleichzei- tig die räumliche Implementierung der marxistischen Ideologie in das Stadtgefüge. Die Richtung des historischen Materialismus stand in schrof- fem Gegensatz zu jedweder idealistischen Denkweise, erst recht zum Offenbarungsglauben der christlichen Religion. Somit war die Sprengung dieser Kirche nicht nur eine prag- matische Lösung zur Schaffung neuer Räumlichkeiten, auch keine bloße politische Tat, sondern räumliches Resultat des Kampfes verschiedener Weltanschauungen. Die Kirchen in Ostdeutschland engagierten sich vor allem seit den 1980er 2 Vgl. Jürgen J. Seidel: Die sozialistischen 3 Vgl. Rüdiger Lux: Die Wissenschaft befreit Staaten (1) in der Anfangsphase. In: Evangeli- uns von Gott. In: Ders., Martin Petzold (Hg.): sche Akademie Berlin-Brandenburg (Hg.): Staat Vernichtet, vertrieben – aber nicht ausgelöscht. – Kirche – Beziehungen in der DDR und ande- Gedenken an die Sprengung der Universitäts- ren ehemals realsozialistischen Ländern: 1945 kirche St. Pauli zu Leipzig nach 40 Jahren. bis 1989, Wissenschaftliches Kolloquium im Leipzig, Berlin 2008, S. 37–51, hier S. 40. Adam-von-Trott-Haus vom 17. bis 19. Dezember 1993. Berlin-Brandenburg 1994, S. 37–52, hier S. 37. 272 ALEXANDER HENNING SMOLIAN Jahren aktiv in der Friedensbewegung. Die Friedensgebete, die eine gewisse Tradition erfuhren, sind hier zu nennen. Außerdem nahm man zu Umweltfragen Stellung, bot Raum für alternative Jugendliche. Seit dieser Zeit wurden die Freiräume der Kirche, welche die Staatsmacht nicht offen zu bedrohen wagte, für eine politische Diskussion der unzufriedenen Bürger genutzt. Zu einer ersten Massenbewegung wurde die Aktion um den Aufnäher mit dem Signet ‚Schwerter zu Pflugscharen’, die das Landesjugendpfarramt im Zuge der Friedensbewegung ver- breitete. Viele Jugendliche hatten sich dieses Protestsymbol gegen das Wettrüsten an ihre Mäntel und Jacken genäht. Heftige Verfolgungen und Repressalien seitens der Staatsmacht waren die Folge, die ein derartiges politisches Eingreifen durch die evangelische Kirche verhindern wollte.4 Die Kirchen waren die einzige wirklich gut organisierte andersden- kende Struktur in den kommunistischen Ländern. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte hierbei die Bereitstellung eines archi- tektonischen Rahmens, der, durch Tradition tief verwurzelt, einen Gegenpol zu den neuen baulichen Symbolen der Staatsmacht darstellte. Das Gedächtnis einer Stadt – ihre Räume, baulichen Strukturen und Symbolhaftigkeit war prägend und leitend auch für viele Wiederaufbauten in der ehemaligen DDR. Als Beispiel kann man die schrittweise Wiederherstellung des Dresdner Stadtzentrums trotz sozialistischer Stadtplanung heranziehen, wo bedeutende Bauwerke früherer Epochen wie beispielsweise die Semperoper und der Zwinger schon zu DDR-Zeiten wie- derhergestellt worden waren, oft unter großer Anteilnahme der 4 „Zwischen November 1981 und April 1982 registrierte das Landeskirchenamt Dresden allein 62 gemeldete Übergriffe auf Jugendliche zumal in Schulen und Universitäten, zuneh- mend aber auch auf offener Straße, bei denen immer mehr Drohungen mit dem Verlust der Lehrstelle, der Nichtzulassung zum Abitur, der Exmatrikulation von der Universität und ähnlichem ausgesprochen wurde“. In: Hermann Geyer: Nikolaikirche, montags um fünf. Die poli- tischen Gottesdienste der Wendezeit in Leipzig. Darmstadt 2007, S. 69 f. ÜBER DEN GEBRAUCH VON SAKRALARCHITEKTUR IN 273 EINER BESONDEREN HISTORISCHEN SITUATION Bevölkerung.5 Ihre architektonische Zeichenhaftigkeit und raum- bildenden Maße überdauerten im Gedächtnis der Stadtbewohner. Den letzten Höhepunkt in dieser Reihe des Aufbaus liebge- wonnener Bauten in Dresden stellte dann die Frauenkirche dar, nun schon Jahre nach der politischen Wende. Somit war der sogenannte „Canaletto-Blick“6, die Sicht über die Elbe auf das Dresdner Stadtzentrum, wieder vollständig. Nach der politischen Wende setzte auch in Leipzig vermehrt die Diskussion um den Wiederaufbau des alten Ensembles mit der Universitätskirche am Augustusplatz ein.7 Es war ein Thema, das viele bewegte. Die Sprengung der Leipziger Universitätskirche 1968, die entschiedene Proteste hervorrief, blieb jedoch in dieser Form eine Ausnahme. Die SED hatte Angst vor den Protesten, die auch schon vor der Sprengung der Kirche zahlreich stattfanden.8 Zum Verhalten der Führungspartei gegenüber den Kirchen lässt sich folgendes sagen: „Insgesamt verfolgte die SED in ihrer Kirchenpolitik seit 1954 eine Strategie auf zwei Ebenen: Zum einen blieb als traditionelles und übergeordnetes End-Ziel ihrer Politik die Zurückdrängung der Kirche aus der Gesellschaft bis hin zu ihrem völligen Absterben bestehen. […] Zum anderen trat nun zu dieser traditionellen Zielstellung das Bestreben hinzu, die Kirchen zu einer Loyalitätserklärung zu nötigen […] Es ging der Partei nicht um ihre Akzeptanz als Ordnungsmacht durch einen souveränen Partner, sondern um ein bedingungsloses Bekenntnis zu ihren staatspolitischen Zielen und den dazugehö- rigen ideologischen Grundlagen, […]“.9 5 Eine breite Bürgerschaft protestierte nach 1748 in Dresden gemalt hat. Es befindet sich dem Zweiten Weltkrieg gegen den drohenden in der Gemäldegalerie Alte Meister zu Dresden Totalabriss der teilzerstörten Semperoper, und ist als Canaletto-Blick weltberühmt. nachdem der hintere Bühnenhausgiebel 1948 eingestürzt war, vgl. Heidrun Laudel: Im Dienste 7 Vgl. Dietrich Koch, Eckhard Koch: Kultur- eines herausragenden Bauwerks des 19. Jahr- kampf in Leipzig. Denkschrift zur Wiederauf- hunderts. Der Wiederaufbau der Semperoper baudebatte Universitätskirche St. Pauli. Leipzig in Dresden. In: Wolfgang Kil (Hg.): Wolfgang 2006. Hänsch – Architekt der Dresdner Moderne. Berlin 2009, S. 122. 8 Vgl. ebd., S. 22. 6 Dresden vom rechten Elbufer unterhalb der 9 Martin Georg Goerner: Apparatestruktur Augustusbrücke ist ein Ölgemälde des Malers und Methoden der SED-Kirchenpolitik. In: Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, das dieser Evangelische Akademie Berlin-Brandenburg 1994 (Anm. 2), S. 53–63, hier S. 56. 274 ALEXANDER HENNING SMOLIAN Die DDR-Führung fürchtete bei zu starkem Vorgehen gegen die Kirchen außerdem negative Auswirkungen auf westdeutsche Kirchenkreise, die man als Bündnispartner gegen die Politik der Adenauerregierung zu gewinnen suchte.10 Die Kirchenpolitik der DDR war von einem ständigen Taktieren zwischen ihrer Grundüberzeugung gegen die Kirchen und den strategischen Überlegungen zur ideologischen Gewinnung von Sympathisanten in beiden deutschen Staaten beherrscht, was letztendlich zum Vorteil für den Freiraum der Kirche wurde. Die Sprengung der Universitätskirche in Leipzig Leipzig war seit alters her eine traditionsreiche Bürgerstadt, an der Schnittstelle zwischen bedeutenden Handelswegen im mittleren Südosten von Deutschland gelegen. Die Stadt besitzt eine der ältesten Universitäten des Landes, im 15. Jahrhundert gegründet. Es war eine freie Stadt, die traditionsreiche Messe zog zu DDR-Zeiten Tausende an und war dann für ein paar Tage das ‚Tor zum Westen’. Hier wehte seit jeher ein freier Geist, sie war keine Residenzstadt wie Dresden, sie war eine Handelsstadt, und Handel bringt bekanntlich Beziehungen zu Fremden und zu anderen Kulturen. So ist aus dieser Stadtgeschichte nachvoll- ziehbar, warum Leipzig zu einem der Hauptschauplätze der fried- lichen Revolution gegen das DDR-Regime werden konnte. Bereits in den 1970er Jahren formierte sich in Leipzig Widerstand gegen das Regime, als im Zuge der Neugestaltung der Universität die traditionsreiche Universitätskirche St. Pauli am Augustusplatz auf Anordnung der Regierung gesprengt wurde. Vor ihrer Sprengung war die Kirche ein integraler Bestandteil des Platzensembles um den Augustusplatz, durch zahlreiche Aufnahmen, Zeichnungen, Gemälde und vor allem durch die starke Präsenz vor Ort war sie den Leipzigerinnen und Leipzigern 10 Joachim Heise: Gab es ein kirchenpoliti- sches Modell für Osteuropa? In: Evangelische Akademie Berlin-Brandenburg 1994 (Anm. 2), S. 27–36, hier S. 30. ÜBER DEN GEBRAUCH VON SAKRALARCHITEKTUR IN 275 EINER BESONDEREN HISTORISCHEN SITUATION Abb. 1: Ansicht des Augustusplatzes mit abgesperrter Universitätskirche und Augusteum vor der Sprengung. Quelle: Stefan Welzk: Leipzig 1968. Unser Protest gegen die Kirchensprengung und seine Folgen. Leipzig 2011, S. 54. Archiv Bürgerbewegung Leipzig ans Herz gewachsen (Abb. 1). Bei der Entscheidung um die Beseitigung der Universitätskirche seitens der Staatsmacht ging es weniger um einen Akt gegen die Kirchen in der DDR, sondern vielmehr speziell um die Universitätskirche, um die Verbindung einer Kirche mit einer Universität.11 Das Monopol der Wissenschaft, der offiziellen Weltanschauung und der Erziehung beanspruchte die Staatsmacht für sich. Christliche Weltdeutung wollte man erst gar nicht in die Nähe einer Universität bringen, und dies bedeutete auch im Städtebau, hier ein starkes Zeichen zu setzten. Die Sprengung der Universitätskirche und die Schaffung eines Neubaus zeigt mit allen Mitteln den Kampf um die richtige Weltanschauung. Seitens der Universitätsleitung, seitens der Staatsführung und seitens der Partei waren die Sprengung und der Neubau der 11 Vgl. Christian Winter: Der Weg zur Spren- gung der Universitätskirche St. Pauli. In: Lux, Petzold (Anm. 3), S. 17–37, hier S. 30. 276 ALEXANDER HENNING SMOLIAN Universität an dieser Stelle angestrebt worden, 1968 erfolgte die Sprengung der Universitätskirche als auch der angren- zenden älteren Bauten der Universität. Doch viele Bürger woll- ten diesen Akt der Willkür nicht einfach hinnehmen. Es kam zu Protesten. Was in westlichen Demokratien normal erscheint, ist für die Verhältnisse einer Diktatur erstaunlich, da Oppositionelle mit scharfer Verfolgung rechnen mussten. Ich möchte eine Protestaktion beispielhaft herausgreifen, auch um zu zeigen, dass nicht nur Christen, sondern auch Menschen ohne diesen Hintergrund sich aufgerufen fühlten, etwas zu unternehmen. Dies ist gleichzeitig ein Beweis dafür, dass die Universitätskirche in das Gedächtnis der Stadt eingegangen war, für jedermann, und damit der eigene Lebensbereich, die eigene Identität und Zugehörigkeit zur Stadt verbunden wurden. Somit gibt es eine Ebene, die Architekturen und Stadträume neben dem ‚Weltanschaulichen’, ‚Religiösen’ zu einem Punkt eigener Identität, eigener ‚Heimat’ macht. Es sind im Zusammenhang solcher Architekturen und Strukturen zum Beispiel biographische Erlebnisse, verbunden mit diesen Bauwerken, es können der gewohnte Blick auf eine inte- ressant anmutende Silhouette oder auch prägende Erlebnisse und öffentliche Ereignisse in diesen Räumen sein. Fünf junge Physiker protestierten im Juni 1968 mit einer Plakataktion gegen die Sprengung der Kirche. Drei Wochen nach dem Abriss ent- rollte sich, ausgelöst von einem selbstgebauten, automatischen Weckermechanismus, während des Abschlusskonzertes des III. Internationalen Bachwettbewerbs in der Leipziger Kongresshalle ein gelbes, circa 1,5 Meter mal 2,5 Meter großes Plakat. Auf diesem wurde unter der Umrisszeichnung der Kirche mit dem Vermerk „1968 †“, was symbolisch auf das ‚Todesjahr’ der Kirche verweist, zum ersten Mal die Losung gefunden:12 „WIR FORDERN WIEDERAUFBAU!“ Stefan Welzk, einer der Beteiligten, erinnert sich: „Die Losung, drei Wochen nach der Sprengung, musste absurd anmuten. Keinen Augenblick hatten wir damals geglaubt, 12 Vgl. Dietrich Koch, Eckhard Koch: Kultur- kampf in Leipzig. Denkschrift zur Wiederauf- baudebatte Universitätskirche St. Pauli. Leipzig 2006, S. 35–45. ÜBER DEN GEBRAUCH VON SAKRALARCHITEKTUR IN 277 EINER BESONDEREN HISTORISCHEN SITUATION ein Wiederaufbau sei durchsetzbar oder auch nur denkbar. Ich hatte sie gewählt, um schockartig vor Augen zu führen, dass etwas Unwiederbringliches zerstört worden war“.13 Das Konzert mit Preisübergabe war der ideale Ort für diese Aktion: 1800 Zuhörer, typisches Kulturbürgertum spendete acht Minuten lang tosenden Beifall. Versammelt war die internationale Bach- Fachwelt, ebenso die politische DDR-Führung mit Kulturminister Klaus Gysi, dem Minister für Hochschulwesen Ernst-Joachim Gießmann, dem Leipziger Oberbürgermeister Kurt Kresse, außer- dem DDR-Fernsehen und Filmemacher aus Japan.14 Die Akteure des Protestes sahen sich im Nachhinein harter Verfolgung und Überwachung seitens der Staatssicherheit aus- gesetzt, einige flohen abenteuerlich über das Schwarze Meer und die Türkei in den Westen, andere wurden verhaftet.15 Die Protestierenden eigneten sich die Architektur der Universitätskirche für ihre Aktion symbolisch an, da sie nicht den wirklichen Wiederaufbau forderten. Gleichzeitig war es aber auch eine Tat, die eng mit dem Thema Stadtraum verbunden war. Mit der Sprengung der Universitätskirche zeigt sich eine Art von räumlicher Gewalt, die typisch für unterschiedliche Ideologien mit verschiedenen Weltanschauungen und räumlichen Strategien ist: die Beseitigung der Architektur eines ‚Gegners’. Ein Beispiel ist die Gedenkstätte der Sozialisten, die Mies van der Rohe in Berlin entworfen hatte und die in den Jahren der Nazi-Herrschaft zerstört wurde, ebenfalls eindeutig eine Handanlegung an Architektur, die von weltanschaulich anderer Seite errichtet wurde. Gegensätzliche politische und philosophische Strömungen wenden Zerstörungen an ihnen unliebsamen Architekturen an, rechte und linke Strömungen, religiöse und materialistische. Der Architekturtheoretiker und Architekturlehrer Andrew Herscher unterscheidet zwischen Gewalt durch Architektur und Gewalt an Architektur.16 Zweifellos gehört die 13 Stefan Welzk: Leipzig 1968. Unser Protest 15 Vgl. ebd., S. 66–106. gegen die Kirchensprengung und seine Folgen. Leipzig 2011, S. 60. 16 Andrew Herscher: From Target to Witness: Architecture, Satellite Surveillance, Human 14 Vgl. ebd., S. 70. Rights. In: Bechir Kenzari (Hg.): Architecture and Violence. Barcelona, Basel, New York 2011, S. 134–137. 278 ALEXANDER HENNING SMOLIAN Sprengung von Strukturen zur Kategorie Gewalt an Architektur, in vielen Fällen dann ersetzt durch Bauwerke, die Gewalt durch Architektur ausüben. Und bei diesen Beseitigungen von Architekturen im eigenen Herrschaftsgebiet ist eine Parallele zum Bau der Berliner Mauer festzustellen: die Mauer wie die Sprengungen sind vorrangig nach innen gerichtet, nicht gegen einen Feind von außen oder auf dem Territorium des Feindes, aber zur Einkesselung, wie bei der Mauer oder der Erziehung des eigenen Volkes, so im Falle der Sprengung und Errichtung neuer Strukturen. Nach außen sollen diese Art Architekturen und Akte vor allem Macht demonstrieren, aber auch nach innen. Die Berliner Mauer, um in der Kategorie von Andrew Herscher zu bleiben, ist hierbei ein typisches Beispiel für eine Gewalt durch Architektur. Das bloße physische Vorhandensein einer Struktur ist dabei die unmittelbarste Seinsweise einer gewalterzeugenden Architektur. Die Mauer blockiert vordergründig, hemmt und schließt ein. Von diesem widerständigen Moment zu unterscheiden ist die symbolische Gewalt, die Architektur auf Andersdenkende aus- üben kann: das immerwährende Zeigen des Zeichens der Herrschenden, so beispielsweise das Hochhaus der ehemali- gen Karl-Marx-Universität in Leipzig, das in Formensprache und Höhe eine wesentliche Dominante im Stadtzentrum wurde. Doch nicht nur neu errichtete Architekturen, eben auch jene traditi- onsreichen Strukturen üben Macht aus, und gerade dann, wenn sie sich über viele Jahre und Jahrhunderte in das Gedächtnis der Stadt eingeprägt haben. Diese sind oft entgegen gesetzten Weltanschauungen verhaftet und bieten, so im Fall der politi- schen Wende 1989, Oppositionellen aller Richtungen Raum für ihren Protest, eben weil sie ein anderer Raum sind als der von offizieller Seite ‚beherrschte’. Um noch einmal auf die Handlung der Sprengung oder ander- weitigen Beseitigung von unliebsamer Architektur zu kommen: Das Paradoxe daran ist, dass gerade die Sprengung das Zeitlich- Endliche von Architektur deutlich macht, und auch die neu errichtete symbolhafte oder vordergründig physisch-hemmende Architektur dasselbe Schicksal ereilen kann. Sie ist keinesfalls für die Ewigkeit. ÜBER DEN GEBRAUCH VON SAKRALARCHITEKTUR IN 279 EINER BESONDEREN HISTORISCHEN SITUATION Die friedliche Revolution 1989 und die Nikolaikirche Hatte die Sprengung der Universitätskirche zu Leipzig noch kleinere Proteste gegen das Regime hervorgerufen, wurden die Oppositionellen in den 1980er Jahren immer stärker. Der Widerstand kulminierte schließlich in der friedlichen Revolution von 1989 (Abb. 2). Doch welche Rolle spielten hier Architektur und Raum? War es 1968 ein architekturbezogener Auslöser, die Sprengung eines Bauwerkes, welcher die Proteste hervorgerufen hat, sind es 20 Jahre später Architekturen und besondere Räume, aus denen die Proteste erwuchsen. Ende der 1960er Jahre war es ein Stück Lebenswelt, ein Stück ihres Alltags, die den Menschen genom- men wurde, jedenfalls empfanden es viele so. Dabei war es, wie Abb. 2: Montagsdemonstration – während des Friedengebetes wird die überfüllte Kirche von Tausenden Demonstranten umlagert, 13. November. Quelle: Karl Czok. Die Nikolaikirche Leipzig. Leipzig 1992, S. 110. Fotograf: Martin Naumann 280 ALEXANDER HENNING SMOLIAN gezeigt, nicht vordergründig wesentlich, ein Anhänger des christ- lichen Weltbildes zu sein. Auf einer höheren Ebene wurde die Beseitigung dieses Sakralwerkes dann als das verstanden, was es war: eine symbolische Kampfansage gegen traditionelle Werte und die zeichenhafte Implementierung einer neuen Herrschaft und Erziehung. Symbolhaft wurde so auch die Auseinandersetzung im Protest. Mit der damaligen Plakataktion und der unmittelbaren, utopischen Forderung nach Wiederaufbau wurde die Sprengung der Kirche nun nicht nur zur Implementierung der Herrschaft sei- tens der Staatsmacht, sondern auch zum Protestieren benutzt. Der Widerstand wurzelte so in der Alltagswelt und griff über in die weltanschauliche und politische Ebene. Ähnlich verhielt es sich auch während der Wendezeit, in der die Nikolaikirche nun unmit- telbar den räumlichen Rahmen bot, jeweils montags aus dieser Alltagswelt auszubrechen oder sie vielmehr aufzubrechen und gleichzeitig mit den vielen Menschen im Raum nun auch einen symbolischen Protest mit der zeichenhaften, missliebigen, aber traditionsreichen Architektur zu erzeugen. Eine Gemeinsamkeit besteht auffälligerweise darin, dass es jeweils sakrale Bauwerke sind, Bauwerke eines entgegen gesetzten Weltbildes, die den Rahmen für die Gegenströmung abgaben und gleichzeitig waren es fest gegründete, ehemalige Universitätskirchen. In Leipzig hatten sich in den 1980er Jahren Friedensgebete eta- bliert, jeweils wöchentlich, am Montag um fünf Uhr nachmittags. Das Friedensgebet hatte man gezielt auf den frühen Abend des ersten Arbeitstages der Woche gelegt, an dem die Menschen, mit allen Erfahrungen des Wochenbeginns erfüllt, sich sammeln, sich auf diesen Alltag beziehen, doch zugleich Distanz zu ihm gewinnen konnten. Die Eigenschaft des Werktagsgottesdiensts und die dialektische Verortung zwischen dem Bezug auf die Alltags- und Lebenswelt einerseits und deren Unterbrechung andererseits waren also bereits in den Anfängen angelegt. Das erste Friedensgebet in der Nikolaikirche fand am 13. September 1982 statt.17 Das Publikum war stark durchmischt und umfasste 17 Vgl. Hermann Geyer: Nikolaikirche, mon- tags um fünf. Die politischen Gottesdienste der Wendezeit in Leipzig. Darmstadt 2007, S. 84. ÜBER DEN GEBRAUCH VON SAKRALARCHITEKTUR IN 281 EINER BESONDEREN HISTORISCHEN SITUATION nicht nur Mitglieder der Jungen Gemeinden aus ganz Leipzig und Mitglieder anderer Gemeinden, sondern auch mehr oder weniger kirchenferne Gruppen aus der Ökologie- oder der unab- hängigen Friedensbewegung bis hin zur Hausbesetzerszene. Manchmal kamen sogar unzufriedene SED-Mitglieder. Wichtig war die Einbeziehung der gesamten Stadt-Öffentlichkeit in einer Zentrumskirche, wie sie die Nikolaikirche eine ist. Um etwas über die räumliche Besonderheit dieser Stadtkirchen und ihren Bezug zur Umgebung zu sagen, soll kurz auf diesen Typus des Sakralraumes und seiner Verankerung in der Geschichte einge- gangen werden. Der Zeithistoriker Hermann Geyer beschreibt unter Bezug auf den Architekten, Stadtplaner und Stadtökologen Martin C. Neddens die Charakteristika von sogenannten „Citykirchen“.18 Sie sind auf das gesamtstädtische Leben bezogen und hätten eine „Tempel“- Funktion im Gegensatz zu den Kirchen, die für eine überschau- bare Gruppe oder für Gemeinde gebaut sind. Diese Tempel hätten primär darstellende Funktion und wären oft größer gewesen, als sie eigentlich gebraucht wurden. Der ursprüngliche Bezug nicht nur auf die Gemeinde, sondern auf die Stadt als Gegenüber ist ein wesentliches Merkmal dieser Kirchen, auch der Nikolaikirche in Leipzig. Stadtkirchen ist ein doppelter Bezug eingesenkt: auf die Religion wie auf die Stadt. Stadtkirchen in Deutschland sind so öffentliche Stadträume. Es sind Orte, die eben der Marktplatz und das Rathaus nicht bieten und auch das Internet nicht ersetz- ten kann. Somit nehmen gerade auch diese Sakralräume am öffentlichen Leben der Stadt teil und beleben die Urbedeutung des Wortes „Liturgie“ als „staatsbürgerliche Betätigung“ wieder neu. Die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung klingt im ursprünglichen Wortsinn auch des religiösen Gebrauchs immer mit.19 Gerade die Stadtkirchen sind prädestiniert dazu, müssen aber von der Stadtöffentlichkeit, die nach Neddens eine zweite Gemeinde bildet, angenommen werden.20 18 Vgl. ebd. S. 194–197. 20 Vgl. ebd., S. 197. 19 Ebd., S. 182. 282 ALEXANDER HENNING SMOLIAN Abb. 3: Grundriss der Nikolaikirche. Heutiger Zustand mit Projektionen der gotischen Gewölbe nach Karl Czok. Quelle: Karl Czok. Die Nikolaikirche Leipzig. Leipzig 1992, Einbandinnenseite. Fotograf: Martin Naumann Von der Leipziger Nikolaikirche gingen 1989 die entscheiden- den Friedensgebete aus, die in den Demonstrationen um den Straßenring der Leipziger City mündeten. St. Nikolai wurde als Kaufmannskirche im Mittelalter gegründet, war also seit ihrem Bestehen auf das engste mit der Handelsstadt Leipzig ver- bunden, die auch als Marktplatz Europas bezeichnet wurde. Die Kirche war mit ihren 54 Metern Länge auch eine der ers- ten Großbauten der Stadt (Abb. 3). Die Kaufleute müssen sehr wohlhabend gewesen sein, wenn sie sich einen solchen Monumentalbau leisten konnten.21 Im 14. und 15. Jahrhundert erfolgten umfangreiche Um- und Ausbauten an St. Nikolai. Die geistigen Verbindungen der Protestierenden, die gegen die Sprengung der Universitätskirche St. Pauli opponiert hatten, mit den Friedensaktivisten und Demonstranten der Nikolaikirche 21 Vgl. Karl Czok: Die Nikolaikirche Leipzig. Leipzig 1992, S. 12. ÜBER DEN GEBRAUCH VON SAKRALARCHITEKTUR IN 283 EINER BESONDEREN HISTORISCHEN SITUATION von 1989 haben eine lange Vorgeschichte. Bis 1543 diente St. Nikolai als Universitätskirche, bevor die Dominikanerkirche an der Stadtmauer der Universität übereignet wurde. Es ist wohl kein Zufall, dass sich Opposition und Protest an Fragen und in Räumen entzündeten, die mittelbar oder unmittelbar mit einer Universität zu tun hatten. Der freie Geist, den die freie Forschung mit sich bringt und den sie zur Grundlage haben muss, ist tra- ditionell mit diesen Räumen und auch mit der Nikolaikirche ver- bunden. Sie wurde in den nachfolgenden Jahrhunderten als ein Ort auch mit großem kunsthistorischen Wert immer wieder um- und ausgebaut und sicherte sich so die hohe Wertschätzung vieler Leipzigerinnen und Leipziger. Diese Kirche ist ein Raum, der geistig wie auch materiell über Jahrhunderte gewachsen ist. Mit seiner Ausrichtung auf das gesamte Stadtgeschick, gepaart mit der christlichen Weltanschauung in Opposition zur herrschenden SED-Regierung wurde diese Kirche, gerade auch als abgeschlossener Raum im Stadtgefüge, zu einer Keimzelle des Widerstandes. Die Kirche war zu einer spätgoti- schen Hallenkirche umgebaut worden, Ort der Reformation im 16. Jahrhundert und im 18. Jahrhundert wurden hier die Werke von Johann Sebastian Bach uraufgeführt. Das in breiten Kreisen der Bevölkerung tief verwurzelte Aufklärungsbewusstsein stand Pate bei der umfassenden Erneuerung des Innenraumes von 1784 bis 1796:22 Die weit und hoch gestaltete Halle trennte man als Gemeindebereich vom hohen Chor, der nach katholischem Konzept dem priesterlichen Altardienst vorbehalten blieb, ab. Wesentliche geistig-ästhetische Quelle für die Umgestaltung war das 1768 in deutscher Übersetzung in Leipzig erschienene Werk des französischen Architekturtheoretikers, Jesuiten und Abtes Marc-Antoine Laugier Neue Anmerkungen über die Baukunst.23 Ein entscheidender Faktor für die räumliche Wirkung des Kirchenprotestes aus der Nikolaikirche heraus war deren zentrale Lage in der Innenstadt. Zum anderen ist es das gut organisierte netzartige Zusammenwirken der verschiedensten Kirchen und 22 Vgl. ebd. S. 67–73. 23 Vgl. ebd. S. 72. 284 ALEXANDER HENNING SMOLIAN Gemeinden im Herbst 1989 gewesen, das die Revolution in Gang brachte, also wiederum ein räumlicher Faktor. St. Nikolai war damals nicht der einzige Schauplatz von Protesten und diesbe- züglichen Veranstaltungen und Gottesdiensten. Das „Ensemble Leipziger Kirchen“24 hatte eine räumliche Wirkung, es war ein Netzwerk, so dass an unterschiedlichsten Punkten im städti- schen Gefüge der Protest jeweils punktuell in Gang kam und so aber über die gesamte Stadtfläche verteilt war. Gleichzeitig fun- gierten andere Kirchen gleichsam als Subzentren im Gegenüber zur Zentralfunktion der Stadtkirche St. Nikolai. Einem räumlichen Netzwerk lag so ein geistiges Netzwerk, so möchte man es nen- nen, zugrunde. Die heimatliche, alltagsweltliche Verbundenheit mit diesen kleineren Kirchen war auch hier, wie bereits am anderen Beispiel früher erwähnt, zu einem Teil mit ausschlag- gebend für die Sympathie vieler Menschen mit der kirchlichen Opposition. Außerdem stellten sie baulich wichtige Orte dar, mit kleineren und größeren Räumen für Versammlungen, wie die Michaeliskirche am Nordplatz mit dem vorwiegend von der Jugend genutzten „Michaeliskeller“.25 Die Nikolaikirche war offen für alle. Diese Losung stand an der Eingangspforte in den Tagen des Umbruchs und war sowohl räumlich als auch geistig gemeint. Der ehemalige Pfarrer der Nikolaikirche, Christian Führer, erinnerte sich: „Der Raum, die Nikolaikirche, war entscheidend, innerlich und äußerlich für viele Menschen mit unterschiedlichsten Beweggründen. Wir frag- ten niemand, warum er in die Kirche kommt. Wir kontrollierten auch niemanden. Wir haben sie einfach alle kommen lassen“.26 Zu bestimmten Zeiten waren 90 Prozent Nichtchristen in den Gottesdiensten anwesend. Hier zeigten sich die Funktion der Stadtkirche als öffentlicher Raum sowie die Macht der Tradition: Noch immer war die Kirche fest im geistigen Stadtbild als Raum der Zusammenkunft verankert und konnte durch keine Neubauten des Sozialismus verdrängt oder ersetzt werden. Es war zu jener 24 Geyer 2007 (Anm. 17), S. 185. 26 Christian Führer, zitiert nach Geyer 2007 (Anm. 17), S. 203. 25 Vgl. ebd., S. 187. ÜBER DEN GEBRAUCH VON SAKRALARCHITEKTUR IN 285 EINER BESONDEREN HISTORISCHEN SITUATION Zeit ein Gebrauch sakraler Architekturen zu erleben, der durch das politische Klima gefördert wurde. Verschiedenste Fragen wur- den während der Gebete behandelt, so beispielsweise die Frage nach Leben oder Bleiben in der DDR. Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen trafen sich. Im Herbst 1989 entwickelte sich dann ein Szenario, welches man als „Doppelritual“27 bezeich- nen kann: zuerst das Friedensgebet allwöchentlich am Montag in der Nikolaikirche und anschließend der Demonstrationszug einer um ein Vielfaches größeren Menschenmenge um den Leipziger Ring. Die Historiker Charles S. Maier, Robert Darnton und Karsten Timmer bemerkten den rituellen Charakter des Geschehens.28 Raum wurde rhythmisch besetzt, gleichsam in einem ers- ten, punktuellen, sakralen Geschehen, dann in einem linearen Zug säkularer Art um die Innenstadt. Die bereits beschriebene Doppelfunktion der Stadtkirche für die Gemeinde wie für die Stadt verstärkte sich durch die Montagsdemonstrationen. Diese setzten eine Massenbewegung in der Fläche, in der gesamten ehemaligen DDR in Bewegung und führten schließlich gepaart mit den ökonomischen Schwierigkeiten des Staates und dem Reformgeschehen der anderen sozialistischen Länder sowie einer Krise der DDR-Regierung zum Umbruch. Ein wesentliches Charakteristikum der Revolution war deren friedlicher Verlauf. Mit ausschlaggebend war hierbei die christ- liche Botschaft der Gewaltlosigkeit, die von den Kirchen aus- ging: „Der Geist des Friedens muß aus diesen Mauern herausge- hen“.29 Gerahmt von dieser Weltanschauung hatten die Proteste begonnen und sind auf die gesamte Bewegung übertragen worden. Im Gegenzug dazu machte die Staatsmacht mobil: Die SED-Führung hatte starke Verbände der Nationalen Volksarmee (NVA), der Polizei und der Kampfgruppen um die Stadt gezogen.30 27 Geyer 2007 (Anm. 17), S. 4. 30 Vgl. Kornelia Lobmeier: Friedliche Revo- lution. In: Stiftung Haus der Geschichte der 28 Vgl. ebd., S. 3. Bundesrepublik Deutschland. Zeitgeschichtli- ches Forum Leipzig (Hg.): Einsichten Diktatur 29 Predigt von Gotthard Weidel im Friedens- und Widerstand in der DDR. Leipzig 2001, gebet am 9. Oktober 1989 in der Nikolaikirche, S. 190–202, hier S. 194. zitiert Geyer 2007 (Anm. 17), S. 219. 286 ALEXANDER HENNING SMOLIAN Außerdem besetzten sie die Räume um die Nikolaikirche.31 Doch zu einem Einsatzbefehl kam es nicht. Die Macht der Massen war zu groß, auch der friedliche Protest überraschte: „Wir haben mit allem gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten […]“,32 so der stellvertretende Staatsratsvorsitzende Horst Sindermann. Die Demonstrationen griffen 1989, ausgehend von Brennpunkten wie Leipzig, auf die gesamte DDR über: „Am 4. November versam- meln sich Hunderttausende Menschen auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin zu einer fünfstündigen Kundgebung, die das DDR-Fernsehen überträgt. Die Redner fordern Meinungs- und Versammlungsfreiheit, freie Wahlen, den Rücktritt der Regierung, die Zulassung der Oppositionsgruppen“.33 Die Wende war eingeleitet. Es zeigt sich im Hinblick auf die friedliche Revolution von 1989, die größtenteils und doch nicht allein von Leipzig ausging, aber auch in Bezug auf die Sprengung der Universitätskirche in der- selben Stadt, dass beide Seiten, Staatsmacht wie Oppositionelle, bestimmte räumliche Strategien und Architekturen für ihre Zwecke benutzt haben. Ein entscheidender Unterschied ist jedoch festzu- stellen: War die Durchsetzung der Ziele seitens der Staatsmacht größtenteils mit Gewalt oder zumindest Gewaltandrohung ver- bunden, verzichtete die Gegenbewegung auf physische Gewalt. Es waren friedliche Proteste, die sowohl 1968 und auch als Großdemonstrationen 1989 in Leipzig stattfanden, und dies kann man wohl am besten mit den Anschauungen begründen, die hin- ter den jeweiligen Gruppen standen. Die Oppositionellen kamen aus der Friedensbewegung und dann, 1989, waren es vor allem die Kirchen, die Räume für offene Gespräche bereitstellten. Die ursprünglich friedliche christliche Grundhaltung mit dem Spruch Jesu: „Liebe Deine Feinde!“ war leitend und hat sich auch auf die Großdemonstrationen in Gewaltlosigkeit ausgedrückt, während die Staatsmacht gewaltsam an der Macht war und bleiben wollte. Es lassen sich für die Raumstrategien beider Seiten, der 32 Ebd., S. 3. 33 Andrea Mork, Dietmar Preißler, Helene Thiesen: Neue Herausforderungen 1974–1989. 31 Vgl. Geyer 2007 (Anm. 17), S. 31. In: Stiftung Haus der Geschichte 2012 (Anm. 1), S. 278. ÜBER DEN GEBRAUCH VON SAKRALARCHITEKTUR IN 287 EINER BESONDEREN HISTORISCHEN SITUATION Oppositionellen wie der DDR-Regierung, erstaunliche Parallelen und damit für die Umsetzung gewaltfreier wie gewalttätiger Bewegung feststellen: Ausgehend von einer zeichenhaften Architektur, einem geschützten Raum – der Nikolaikirche – die auch Oberzentrum eines Netzwerkes war, geht die Bewegung linear – als Demonstrationszug um einen Straßenring in eine Welle über, die sich in die Fläche ausdehnt und so ein ganzes Land ergreifen kann. Auf der anderen Seite sind es symbolhafte Architekturen wie die Universitätskomplexe am Augustusplatz, die dieses Zeichenhafte im Dienste dieser Weltanschauung übernahmen. Auch hier wurde demonstriert, von Seiten der Staatsmacht, wie beispielsweise an jedem 1. Mai. Die Nikolaikirche als ein geschützter, traditionsreicher Kunstraum, der tief im Bewusstsein der Stadtbevölkerung verankert war, war der Ausgangspunkt für die Demonstrationen in Leipzig. Es stellte ein entscheidendes Kriterium dar, dass er Oberglied in einer netzwerkartigen, gut organisierten Struktur war. Somit kann man diese Art von traditionsreicher Kirchenarchitektur in diesem Netzwerk mit diesen Kunstgütern und dieser Symbolik als eine Gewalt abwendende Architektur bezeichnen. Die Kirche war ein Ort, an dem man Vergebung und Nächstenliebe predigte, und diese geistige Grundhaltung verbanden die Veranstalter und die Besucher mit der Architektur und dem Raum: „Der Geist des Friedens muß aus diesen Mauern herausgehen“.34 Dieser Wahlspruch einer Predigt in der Nikolaikirche kann als Grundlage der gesamten Montagsgebete und des Verlaufs der politischen Wende angesehen werden. Hinzu kam die Lage des Sakralraumes inmitten der Stadt, umgeben von dem Straßenring, der für die Demonstrationen quasi um diesen Punkt herum wie um einen Kultgegenstand oder Altar genutzt wurde. Diese krei- sende, rhythmische Bewegung jede Woche war eine auffällige Gestalt, sowohl der Gewaltlosen wie der Gewaltbereiten, die ebenfalls einen Ring um das Kirchengebiet und um die Stadt 34 Gotthard Weidel, zitiert nach Geyer 2007 (Anm. 17), S. 219. 288 ALEXANDER HENNING SMOLIAN zogen. Das Aufeinanderprallen von Staatsgewalt und gewaltlo- sen Demonstranten in ihren jeweiligen Räumen und Architekturen zeigt, dass immer bestimmte Weltanschauungen hinter der Nutzung und Besetzung von Räumen stehen und ohne diese die baulichen Strukturen ihren menschlichen Sinn verlieren. „Gewalt erzeugt Gegengewalt“ – dieser Spruch ist bekannt, doch im Hinblick auf den Herbst 1989 in der DDR kann man eventuell auch sagen – „Gewaltlosigkeit erzeugt Gewaltlosigkeit“. ÜBER DEN GEBRAUCH VON SAKRALARCHITEKTUR IN EINER BESONDEREN HISTORISCHEN SITUATION 290 KATJA FRIEDRICH KATJA FRIEDRICH Vom Gebrauch ausgehen Selbstbestimmte Raumaneignung ermöglichen Der Aufsatz ist ein Plädoyer für das Ermöglichen selbstbestimm- ter Lebensweisen fernab festgelegter Architekturkonzepte, die Nutzer einschränken und normieren. Anhand eines Atelierbaus in Köln und der Gebrauchsgeschichten seiner Bewohner werden Raumaneignungsprozesse aufgezeigt. Dabei wird gezeigt, dass gerade eine erfolgreiche Raumaneignung über das Gelingen von Architektur entscheidet. Im selbstbestimmten Handeln erwächst ein je eigener Stil, der als äußerer Ausdruck des Selbst sichtbar wird, eine Wohlfühl-Atmosphäre schafft und das Zuhause als einen eigenen Geborgenheitsraum erlebbar macht. Selbstverständlich sollten die Konzeption des Gebauten an den Anforderungen des Alltags ausgerichtet und das architektonische Raumverständnis von den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer abgeleitet werden. Dennoch ist eine Auseinandersetzung mit der Perspektive der Bewohnerinnen und Bewohner in den Architekturdiskursen und der Architekturausbildung kaum zu finden. In diesem Beitrag soll mithilfe konkreter Beispiele ver- anschaulicht werden, was Raumaneignung heißt: Vier Berichte gelebter Situationen zeigen den je individuellen Zusammenhang von Zuhause, Selbstbestimmung und Wohlbefinden. Als Fallbeispiel dient das im Jahr 2000 fertiggestellte Kölner Brett, ein viergeschossiger, innerstädtischer Atelierbau der Architekten Brandlhuber und Kniess (b&k+) in Köln. Der Beitrag plädiert dafür, den Fokus der Architekturtheorie von der Auseinandersetzung mit dem physisch Gebauten hin zum Umgang des Menschen mit Architektur zu verschieben. Das auf optische Effekte und technische Neuheiten fokus- sierte Selbstverständnis der Architekturszene wird zunehmend VOM GEBRAUCH AUSGEHEN 291 erweitert.1 Gerade die Philosophie eröffnet Möglichkeiten, Architektur jenseits baukonstruktiver, ökonomischer und bausti- listischer Dimensionen zu befragen. Im Anschluss an Martin Heideggers Auffassung, dass Bauen und Denken im Dienst des Wohnens stehen, möchte ich das Augenmerk auf den Gebrauch legen.2 Wobei im Folgenden unter Wohnen ganz allgemein das Bleiben und Sich-Einrichten an einem bestimmten Ort verstan- den wird. Grundlegend für die Untersuchung von Raumaneignungen ist die Konzeption des „gelebten Raums“. Jenseits mathematisch-ab- strakter Raumkonzepte versteht der Philosoph und Psychologe Karlfried Graf von Dürckheim Raum als „erlebte Bedeutsamkeit“, als „Ausdrucks-, Bewährungs- und Verwirklichungsform des in ihm lebenden und erlebenden und sich zu ihm verhalten- den Subjekts“.3 Zum gelebten Raum gehören Handlungs- und Stimmungsraum, also sowohl alltägliche Verrichtungen wie auch an den Menschen gebundene, leibliche Wahrnehmungen und deren persönliche Interpretationen. Aber welches methodische Vorgehen kann dieser Einsicht Rechnung tragen, will man indi- viduelle, teils unbewusste Dimensionen des gelebten Raums einbeziehen? Eine Möglichkeit bietet die phänomenologisch-hermeneutische Architekturtheorie.4 Sie versteht sich als empirisch begrün- dete Architekturwissenschaft und knüpft an lebensweltliche Bedeutsamkeiten an. Denn nicht die Architektur, sondern der Mensch, der sich zur Architektur wohnend, entwerfend und bauend 1 So greift die Architekturzeitschrift Arch+ 2 Vgl. Martin Heidegger: Bauen Wohnen erstmalig und zugespitzt das Wohnverhalten Denken. In: Ulrich Conrads, Peter Neitzke (Hg.): in Form des Putzens eines preisgekrönten Mensch und Raum. Das Darmstädter Gespräch Gebäudes aus der Perspektive der spanischen 1951. Braunschweig 1991, S. 101. Putzfrau Guadalupe Acedo auf. Auf humor- volle Weise werden Gebrauchsweisen wie der 3 Karlfried Graf von Dürckheim: Untersu- Transport eines Staubsaugers statt avantgar- chungen zum gelebten Raum. Erlebniswirk- distischer Besonderheiten dargestellt. Vgl. Ila lichkeit und ihr Verständnis. Systematische Bêka, Louise Lemoîne: Koolhaas Houselife Untersuchungen II. 1932. Wiederveröffentli- – Wie putzt man ein monument historique? In: chung hrsg. v. Volker Albrecht, Jürgen Hasse, Arch+ Zeitschrift für Architektur und Städtebau Ellen Sulger. Frankfurt a. M. 2005, S. 16. 218 (2014), S.110–113. 4 Vgl. Achim Hahn: Architekturtheorie. Woh- nen, Entwerfen, Bauen. Wien 2008. 292 KATJA FRIEDRICH verhält, steht im Mittelpunkt einer solchen Architekturtheorie.5 Mit ihrer Hilfe lassen sich Raumaneignungen als lebenswelt- liche Mensch-Umwelt-Beziehungen erforschen. Die konkrete Lebenswelt samt unserem unbewussten Vorverständnis im Alltag sind dabei Ausgangs- und Bezugspunkte. Im hier beschriebenen Untersuchungsfall bildet die Beispiel- hermeneutik als phänomenologisch-hermeneutische Methodologie den Rahmen.6 Der Architekturtheoretiker Achim Hahn beschreibt, wie die Beispielhermeneutik aus einem Exempel Prinzipien ablei- ten kann und sich Theoreme aus dem konkreten Leben extrahie- ren lassen.7 „An den Beispielen interessiert, dass sie die Forschung auf etwas Prinzipielles führen. Denn allein das besondere, konkrete Beispiel leitet uns zu dem, wofür es Beispiel ist“.8 Ausgangspunkt der Methodik ist es, die Menschen zum freien Erzählen über ihren Umgang mit Wohn- und Lebensraum zu brin- gen. Unter Vermeidung konkreter Fragestellungen und Thesen legen gerade ausführliche, von den Erzählenden selbst gesteu- erte Schilderungen komplexe Lebenszusammenhänge und hierin eingebettete Verhaltensweisen dar.9 In den Beschreibungen 5 Allgemeine Lehrhaltung im Bereich der gisch-hermeneutischen Soziologie. In: Joachim Architekturtheorie am Institut für Baugeschich- Fischer, Heike Delitz (Hg.): Die Architektur der te, Architekturtheorie und Denkmalpflege der Gesellschaft. Theorien für die Architektursozio- Technischen Universität Dresden, geleitet von logie. Bielefeld 2009, S. 79–108. Prof. Dr. Achim Hahn. 8 Achim Hahn: Erlebnislandschaft – Erlebnis 6 Die Untersuchung stützt sich erstens Landschaft? Atmosphären im architektoni- auf die Phänomenologie, die dem Freilegen schen Entwurf. Bielefeld 2012, S. 21. des Verborgenen vor allem im Kontext von Alltagserfahrungen dient. Mit Verborgenem ist 9 Über die sprachliche Vermittlung von Erfah- dabei das Unbewusste, weil Selbstverständli- rungen können Außenstehende Hintergründe che unserer Lebenswelt und unserem Handeln über die Bedeutung der Architektur erhalten. Zugrundeliegende gemeint. Eine zweite Grund- Verstehen und Deuten sind situativ, das heißt, lage ist die Hermeneutik, die dem Sinn-Verste- mit der Veränderung der Situation ändern sich hen (nicht Erklären) menschlicher Lebensäuße- auch Wahrnehmung und Perspektive. Aufgrund rungen dient. Vgl. Siegfried Lamnek: Qualitative dieser Situations- und Akteurgebundenheit des Sozialforschung. Methodologie. Weinheim subjektiven Sinns von Handlung und Deutung 1995. ist dem wissenschaftlichen Beobachter das Verständnis, wie es der Handelnde selbst er- 7 Vgl. Achim Hahn: Erfahrung und Begriff – fährt, nie in identischer Form zugänglich. Eine Zur Konzeption einer soziologischen Erfah- theoretische Grundlage dieser Vorgehensweise rungswissenschaft als Beispielhermeneutik. schuf der Phänomenologe Wilhelm Schapp. Frankfurt a. M. 1994; Ders.: Gebrauch und Vgl. Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Geschmack – Architektonisches Verhalten im Zum Sein von Mensch und Ding. Frankfurt a. Kontext der Lebensführung. Die ‚Architektur M. 2004. der Gesellschaft‘ aus Sicht der phänomenolo- VOM GEBRAUCH AUSGEHEN 293 tauchen Werte, Erfahrungen und Bedingungen auf, die die Basis der wissenschaftlichen Interpretationen bilden und letztendlich in grundlegende Erkenntnisse zur Raumaneignung überführt werden können. Der Philosoph und Jurist Wilhelm Schapp ver- gleicht dies mit der Beziehung von Gesetz und Einzelfall: „Das Gesetz ist nichts ohne den Einzelfall. Der Einzelfall ist nichts ohne das Gesetz“.10 Beide tragen sich gegenseitig, wobei der Fall sich nicht den allgemeinen Regeln des Gesetzes unterordnet, sondern das Allgemeine konkret macht. Die hier präsentierte Untersuchung basiert auf Berichten von vier Nutzerinnen respektive Nutzern über ihren persönlichen Prozess des Einrichtens und fördert anhand dieser Zeugnisse zutage, was (selbstbestimmte) Raumaneignung ist. Theorie und Praxis sind dabei verzahnt, denn das Beispiel (Praxisfall) steht für ein lebens- weltlich wirksames Prinzip (Theorem). Methodisch orientiert sich der Beitrag an offenen rekonstruktiven Vorgehensweisen wie der ‚Grounded Theory‘.11 Für die Gewinnung von Verhaltensprinzipien aus den empirischen Daten wurden zudem externe Grundlagen (beispielsweise der Phänomenologie und Raumtheorie)12 zu Hilfe genommen. Dabei galt es, fallspezifische (an Bauformen gebundene Aneignungen) und allgemeine Theorien (beispiels- weise die Raumaneignung als Verankerung des Selbst) zu unter- scheiden. Bei allgemeinen Prinzipien der Raumaneignung spielt es im Gegensatz zu fallspezifischen Lösungen keine Rolle, ob es sich um das Kölner Brett oder um eine Gründerzeitwohnung 10 Ebd., S. 109. 12 Neben den Arbeiten von Achim Hahn wurden methodologische Grundlagenwerke 11 Vgl. Uwe Flick: Qualitative Sozialforschung, von Uwe Flick sowie Anselm Strauss ge- Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie nutzt. Wichtige Quellen im Teilgebiet ‚gelebte und Sozialwissenschaften. Hamburg 1998, Räume‘ sind unter anderem die Philosophen S. 82; vgl. Anselm L. Strauss: Grundlagen Bernhard Waldenfels, Otto-Friedrich Bollnow, qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und Elisabeth Ströker, Hermann Schmitz, Maurice Theoriebildung in der empirischen soziologi- Merleau-Ponty und natürlich Karlfried Graf von schen Forschung. München 1998, S. 30. Dürckheim. Zur Selbstbestimmung dienten die Schriften von Helmuth Plessner, Erich Rotha- cker, Martin Seel, Friedrich Kambartel, Charles Taylor sowie Undine Eberlein. Beim Begriff Aneignung wurden die Grundlagen der Umwelt- psychologie von Lenelis Kruse, Carl-Friedrich Graumann, Paul-Henry Chombart de Lauwe und Andrea Petmecky genutzt. 294 KATJA FRIEDRICH handelt, da Raumaneignungen überall stattfinden. Lediglich der Grad des Gelingens und Wohlfühlens kann aufgrund der bau- lichen Gegebenheiten und Gebrauchsweisen unterschiedlich ausfallen. Das Kölner Brett ist ein offenes Gebäude, das diverse Möglichkeiten der Nutzung sowie Ausgestaltung zulässt. So war es methodisch naheliegend, einen solchen Gebäudetypus zu wählen, um erfahren zu können, was beim Prozess der Raumaneignung im Allgemeinen geschieht. Ergebnisoffene Vorgehensweisen, wie die hier gewählte, wer- den als gegenstandsbegründete beziehungsweise -verankerte Theoriebildung bezeichnet. Sie problematisieren gerade im Kontext neu zu untersuchender menschlicher Verhaltensweisen bestehende Forschungsansätze durch Thesenbildung. Denn ginge man von einer konkreten Annahme aus, so bliebe die Wahrnehmung im Laufe der Forschung voreingenommen und mit der Selektion der über die Grundthese hinausreichender und widersprechender Daten wäre es unwahrscheinlich, dass Neues entdeckt wird.13 Eine lebensweltlich verankerte und empirisch begründete, offene Vorgehensweise lässt nach und nach im Zusammenspiel mit externen Grundlagen eine dem Forschungsgegenstand angemessene Theorie emergieren.14 Das Kölner Brett – empirisches Hilfsmittel und gebautes Vorbild Das Kölner Brett15 präsentierte sich auf besondere Weise unbe- stimmt und unfertig. In Veröffentlichungen wurde das Gebäude als ‚New Loft‘ umschrieben, denn es bietet unkonventionelle, bis zu sechs Meter hohe Räume mit sichtbaren Betonwänden 13 Vgl. auf den Wissenssoziologen Karl 15 Der Name des Gebäudes stammt von sei- Mannheim Bezug nehmend: Ralf Bohnsack: ner Adresse Am Kölner Brett, welches auf das Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung erste Kölner Brett, einer Gardinenaufhängung, in die Methodologie und Praxis qualitativer die früher dort hergestellt wurde, zurückgeht. Forschung. Opladen 1991, S. 31. 14 Vgl. ebd. S. 32; vgl. Achim Hahn: Wohnen als Erfahrung. Reflexionen und empirisch-so- ziologische Untersuchungen zur Pragmatik des Wohnens. Münster 1997, S. 29–31. VOM GEBRAUCH AUSGEHEN 295 Abb. 1: Das Kölner Brett von der Helmholtzstraße aus, Foto: Friedrich, 2006 und Eichendielen.16 Dieses Gebäude schien geeignet, um facet- tenreiche Aneignungsprozesse zu beobachten. Nicht zuletzt die Bezeichnung „Atelierhaus“ machte vielfältige Nutzungen erst möglich, denn es handelt sich rechtlich um eine gewerbli- che Zuordnung, baulich hingegen wurden auch Wohnstandards erfüllt. So sind Gewerbe, Wohnen sowie Mischformen möglich. Der einfache Kubus des Kölner Bretts (Abb. 1) ist durch die Ineinander-Stapelung von stehenden und liegenden Modulteilen entstanden. Die Gesamtmaße des Gebäudes betragen: (knapp) 30 Meter Länge, 12 Meter Höhe, 15.60 Meter Tiefe plus acht Meter für den rückseitig auskragenden Erschließungsanbau. Die zwölf einzelnen Module mit je rund 100 Quadratmeter Grundfläche sind horizontal und vertikal miteinander verschaltbar. Dies wird über 16 Erstes Interesse am Gebäude als Unter- bungen wird das Lob früh ausgesprochen, suchungsbeispiel weckte die Publikation Nicht denn was bedeutet nutzungsneutral über- wie gewohnt, die die Räume im Kölner Brett als haupt? Kann eine solche Aneignungsoffenheit nutzungsneutral beschrieb (Ludger Fischer: nicht erst nach dem Ingebrauchnehmen seiner Zwölf Kölsch. Atelier- und Wohngebäude ‚New Bewohner festgestellt werden? Loft‘. In: Nicht wie gewohnt. Bauwelt 33 (2000), S. 20–25). Wie so oft in Architekturbeschrei- 296 KATJA FRIEDRICH Trockenbauteile gewährleistet. Das Atelierhaus sollte gemäß des Investors Anton Mertens ein „bezahlbares Loftgefühl“ im Kölner Stadtteil Ehrenfeld ermöglichen. Die Erschließung mit Vorgartenqualität, die Dachgärten sowie die ungewöhnliche Gebäudestruktur sollten die Nutzerinnen und Nutzer herausfor- dern, so die Architekten.17 Zum Besonderen des Kölner Bretts gehört das Rohbauhafte, welches unter anderem den sichtbaren Betonflächen und dem fehlenden Bäder- und Kücheneinbau geschuldet ist. Auch sind die Modulmaße sowie deren Verschaltbarkeit ungewöhnlich. Die zwölf Grundmodule setzen sich jeweils aus einem sechs Meter hohen und einem drei Meter hohen Raumteil zusammen. Einige verfügen über einen Dachaufstieg und so bietet sich den Inhabern dieser Module die Option der Dachnutzung. Diverse Sekundärstrukturen wie Galerien oder Wandabtrennungen sind möglich. Der fehlende Küchen- und Bädereinbau führte, je nach Nutzungsart, zu sehr unterschiedlichen und von den Bewohnern selbst bestimmten Realisierungen. Deren Variabilität in Art und Größe wird durch die selbst zu bestimmende Lage innerhalb des Moduls, mittels diverser dafür vorgesehener Anschlüsse, noch erhöht. Zusammenschaltung und Trennung der Module sind bau- konstruktiv vorgesehen und wurden bereits mehrfach realisiert. Die Untersuchungsfälle Die vier bearbeiteten Praxisbeispiele umfassen unterschied- liche Lebenssituationen im Kölner Brett, die in den Jahren 2006 und 2007 bezüglich ihrer Aneignungspraxis vor Ort untersucht wurden. Die Personen unterscheiden sich in Alter, in Art der Nutzung (Wohnen, Gewerbe, Mischnutzung), in ihrem Eigentumsverhältnis und in ihrer Nutzerkonstellation (Familie, Paar, Single, Arbeitsgemeinschaft). Gemein ist allen 17 Ausführliche Gespräche mit den Architek- ten sowie dem Investor wurden in den Jahren 2006 und 2007 geführt, ebenso wie die Gesprä- che mit den verschiedenen Nutzern im Kölner Brett. VOM GEBRAUCH AUSGEHEN 297 Abb. 2: Dentallabor, Foto: Friedrich, 2006 Untersuchungsteilnehmern die positive Grundhaltung zu hel- ler, großzügiger Architektur und sichtbarem Beton. Wie ein Gesprächspartner sagte: „Wer Stuckdecken oder kleine abge- trennte Zimmer sucht, ist hier nicht eingezogen“. Der folgende Einblick zeigt den Stand der Untersuchungsjahre 2006/07. Der erste Fall ist ein Dentallabor, welches von einem älteren Ehepaar betrieben wird. Es handelt sich um eine gewerbliche Nutzung mit etwa zehn Mitarbeitern. Die Räumlichkeiten wer- den zusätzlich für Kunstausstellungen genutzt (Abb. 2). Die Inhaber sind Erstnutzer und Mieter des horizontal verschal- teten Doppelmoduls mit ebenerdigem Hauptzugang. Für den Zusammenschluss ihrer Module wurde die Trennwand heraus- genommen und an einer inneren Fassadenseite gelagert, um sie gegebenenfalls einer zukünftigen Nutzung wieder zuzuführen. Diverse betriebsspezifische Einbauten wie Umkleide, Büro und Lager sowie technische Anlagen wurden getätigt. Der Hauptraum 298 KATJA FRIEDRICH mit Maschinenarbeitsplätzen weist über die gesamte Fläche von knapp 60 Quadratmetern die großzügige Höhe von sechs Metern auf. Beim zweiten Fallbeispiel handelt es sich ebenfalls um eine Erstnutzung, diesmal eines in den beiden obersten Etagen liegen- den Einzelmoduls inklusive Dachzugang. Die hier allein lebende Person betritt die Eigentumswohnung von der Terrasse kommend über einen schmalen Steg. Von der sechs Meter hohen, sehr hel- len Küche mit einer kleinen, selbst eingebauten Galerie gelangt man in die oberen Etagen (Wohnbereich mit abgetrenntem Bad und Dachfläche). Über dem Dachaustritt ließ sich der Eigentümer nach- träglich ein kleines massives Haus aufbauen, um den Dachgarten für sich optimal nutzen zu können. Eine zur Miete wohnende Familie ist der dritte Fall. Vater, Mutter, Kind und Hund bewohnen ein Einzelmodul ohne Etagensprung, ebenfalls mit Zugang über den Laubengang, welcher mit großer Freude als Terrasse in Anspruch genommen wird. Die Familie ist Zweitnutzer. Zuvor war in diesem Modul ein Büro untergebracht. Bereits zu dieser Zeit kam es zu kleineren Veränderungen auf der 100 Quadratmeter großen Fläche. Es wurden ein kleines Bad sowie ein Abstellraum eingebaut. Zudem wurde eine Schiebetür zwischen dem sechs Meter hohen hinteren Raumteil und dem flacheren, am Eingang befindlichen Teil vorgenommen. Die Familie selbst änderte während ihrer Jahre des Gebrauchs lediglich ihre Einrichtung und Funktionszuordnung. Eine Mischnutzung ist der vierte Fall. Es handelt sich um einen Showroom zur Präsentation von Kleidung und Schuhen sowie um eine Wohnnutzung durch zwei Personen. Die beiden Betreiber sind Zweitnutzer und Mieter eines horizontal verschalteten Doppelmoduls. Sie verfügen über einen Dachausstieg und mieten ein Drittel der Dachfläche. Ihr Modul war zuvor ein Dreiermodul, welches nun wieder getrennt wurde. Die Betreiber des Showrooms ließen diverse Änderungen vor ihrem Einzug vornehmen. Beispielsweise wurde eine hängende Toilette entfernt und die Lage der Küche verändert. Andere, bereits zuvor getätigte Einbauten wie eine Galerie und ein kleiner, abgeschlossener Raum, der über eine weitere Galerie erreicht wird, wurden für gut befunden und genutzt. VOM GEBRAUCH AUSGEHEN 299 Gelebter Stil resultiert aus Entscheidungen und Bedeutungszuweisungen Bei der Untersuchung von Raumaneignung zeigte sich, dass in den Wohn- und Gewerberäumen ein je eigener, zur jeweiligen Person (oder Personengruppe) passender Stil im Sinne einer Lebensweise zum Ausdruck kommt. Der Mensch wird sich seiner selbst ansichtig, weil der eigene Stil als äußerer Ausdruck des Selbst und seiner Lebensform leiblich wahrnehmbar wird. Damit kann sich der Mensch ‚wohnend‘ erleben, sich reflektieren und neu bewusst werden. Somit offenbart sich eine Beziehung von Wohnen, Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung. Intendiert oder nicht – der Stil wird sichtbar, denn er ist die Folge des Lebens selbst. Stil ist dabei kein Entwurf im Sinne eines Designs, sondern ein anhaltender Prozess des Gestaltens. Denn den Situationen Gestalt zu geben, die nicht durch Mittel und Zwecke unseres Lebens festgelegt und festlegbar sind, ist eine Notwendigkeit.18 Theoretisch kann sich der Mensch über Situationen erheben, praktisch muss er sie bewältigen, das heißt Probleme lösen.19 Im Kontext der Raumaneignung entwickeln wir somit, auf eigene Bedürfnisse reagierend, unseren Stil als Ausdruck unseres Selbst. Im Alltag heißt das: Wer Betonnester zu dunkel findet, über- streicht diese mit einer weißen Pigmentschicht oder entschei- det sich gegen einen Sichtbetonbau wie das Kölner Brett. Situationsspezifische Lösungen sind aber immer auch mit einer individuellen Bedeutungszuweisung der Nutzerinnen und Nutzer verbunden.20 Die Dinge unseres Lebens sind nicht nur formal unbestimmt, sondern auch in ihrer Bedeutung relativ offen.21 18 Vgl. Friedrich Kambartel: Philosophie der Gebäude zu finden waren, die jeweils mit der humanen Welt. Frankfurt a. M. 1989, S. 104. Wohngeschichte (WG, Elternhaus, früheres Loft) in Verbindung stehen. 19 Vgl. Erich Rothacker: Philosophische Anth- ropologie. Bonn 1982, S. 157. 21 Zur Unbestimmtheit der Dinge und Offenheit des Wohnens ausführlich: Vgl. Katja 20 Aussagen wie „wohnlich statt clean“ oder Friedrich: Geplante Unbestimmtheit. Aneig- „reduziert“ sind keine Raumeigenschaften son- nungsoffene Architektur für Selbstbestimmung dern Interpretationen der jeweiligen Bewohner. im gelebten Raum am Beispiel des Kölner Hinzu kommt, dass unter „wohnlich“ auch sehr Bretts. Aachen 2011, S. 201–207. unterschiedliche Vorstellungen im gleichen 300 KATJA FRIEDRICH Zugeschriebene Eigenschaften wie cool und edel (so einige Bewohner über Beton) sind keine Materialwirkungen, sondern Empfindungen und Deutungen eines Menschen im Kontext einer konkreten Situation.22 Die Handlungen und Entscheidungen der Raumaneignung und die Erfahrungen der Bewohnerinnen und Bewohner sind miteinander verwoben. Die Bedeutungen für die Nutzerinnen und Nutzer sind nur über ihre Gedankenwelt (also ihre per- sönliche Geschichte)23 erlebbar. Aber erst die hermeneuti- sche Vorgehensweise über offene Gespräche ermöglicht die Interpretation von Raumaneignung, denn die Versprachlichung der erlebten Wohn-Geschichten lassen auch Unbewusstes ins Bewusstsein rücken. Außenstehende können nur über die Welt der Nutzerinnen und Nutzer versuchen, deren Vorgehen und Leben zu verstehen. Eine Besichtigung oder gar nur eine Interpretation über Fotos reichen deshalb nicht aus, um nachzu- vollziehen, wie sich Menschen einen bestimmten Raum mit ihrer derzeitigen Lebenssituation aneignen. Raumaneignung ist Formgebung des eigenen Lebens Zur Formgebung des eigenen Lebens gehören praktische Entscheidungen und Bewertungen wie: Wo schlafe ich? Wo kochen wir und wo empfangen wir Gäste? Was finde ich gemütlich? 22 Materialien wie Beton als Bedeutungsträger jedoch immer situativ an einen empfindenden beschreibt auch Gernot Böhme. Was in seinen Menschen gebunden. Darlegungen jedoch zu kurz kommt, ist, dass der Faktor Mensch mehr als bloßer Empfänger 23 Der Begriff der Geschichte wird hier in einer von Atmosphären ist. Bei Böhme spielt die komplexen Weise verstanden: Die erzählte eigene Gestimmtheit des Subjekts kaum eine Geschichte (empirische Datengrundlage) ist ein Rolle. Nur die Erfahrungen, die an Wissen und sprachliches, in Alltagsgegebenheiten einge- kulturelle Herkunft gebunden sind, beeinflus- bettetes Phänomen. Diese Geschichte umfasst sen die Raumempfindung. Beispielsweise Biographisches sowie Sinnbezüge zwischen zitiert Böhme die Publikation Die Sprache der Ereignissen individueller und kollektiver Art. Materialien von Thomas Raff und die darin dar- Eben weil der Mensch immer in Geschichten gestellte, veränderte Interpretation der ästhe- verstrickt ist (vgl. Schapp), kann er vor allem im tischen Wirkung von Beton zu Beginn des 20. Kontext dieser Wohn-Geschichten auf implizite Jahrhunderts. (Vgl. Gernot Böhme: Architektur Weise über seinen alltäglichen Umgang mit den und Atmosphäre. München 2006, architektonischen Bedingungen berichten. S. 18, 160.) Die Wirkung eines Materials ist VOM GEBRAUCH AUSGEHEN 301 Das Formen des Lebens betrifft ebenso die Einrichtung, die Spezialanfertigung von Möbeln und, wie im besonderen Fall des Kölner Bretts, bauliche Eingriffe. Beispielsweise sieht ein junges Paar (der Mann ist Künstler) beim Einzug zunächst eine tolle Partywohnung, die man auch für Ausstellungen nutzen könnte. Später ändert das Paar mit der Geburt eines Kindes ihre Sicht (Abb. 3). Die Ruhe für ein schlafendes Kind steht im Vordergrund und so nutzen sie den schönsten Bereich ihrer Wohnung „nur“ zum Schlafen.24 An die- sem Beispiel ist zu erkennen, dass Raumaneignung ein offener, zugleich aktiver und passiver Prozess ist, der von situations- spezifischen Rahmenbedingungen und deren Beurteilungen geprägt wird. Das heißt eine Lebensveränderung erfordert gegebenenfalls eine Veränderung im Wohnverhalten. Es muss reagiert oder zumindest Stellung bezogen werden, ganz im Sinne der Lebensführung. Die konkrete Lösung wird jedoch von den Nutzenden selbst bestimmt (das ist die aktive Seite von Raumaneignung und Selbstbestimmung, die immer auch kleine Freiräume bereithalten). Der Philosoph Martin Seel beschreibt es so: „Sie haben keine Wahl, ob sie die Wahl haben wollen. Sie stehen vor der Wahl, sich diesen oder jenen Möglichkeiten zu überlassen“.25 Das selbstbestimmte Formen vieler Details entwickelt sich aus dem eigentlichen Leben und beim Gebrauchen. Formgeben heißt eigene Lösungen finden. Am Beispiel Dachausstieg und Dachnutzung zeigt sich, dass einmal ein massives Haus, einmal ein Zelt und einmal ein Grill mit ein paar Stühlen den Nutzenden als angemessen erscheinen. Ein Bewohner des Kölner Bretts befand den ursprünglichen Dachausstieg über Treppe und Schiebefenster als ungeeignet. Es könne hereinregnen und ohne Dachaufbau fehlen beispielsweise Schatten und Windschutz bei 24 Dieser Abschnitt basiert auf Aussagen 25 Martin Seel: Sich bestimmen lassen. von Bewohnern und Gewerbetreibenden. Die Studien zur theoretischen und praktischen Erzählungen wurden in den Jahren 2006 und Philosophie. Frankfurt a. M. 2002, S. 275. 2007 von mir im Kölner Brett aufgenommen und in den folgenden Jahren wissenschaftlich ausgewertet. Dies gilt auch für weitere bewoh- nerbezogene Zitate und Aussagen im Text. 302 KATJA FRIEDRICH Abb. 3: Sechs Meter hoher Schlaf- und Arbeitsbereich, Foto: Friedrich, 2007 VOM GEBRAUCH AUSGEHEN 303 der Dachgartennutzung. Der besagte Nutzer ließ sich deshalb einen sehr aufwendigen Aufbau über seinen Dachausstieg rea- lisieren. Die Architekten von b&k+ sagten später, diese Lösung hätte so kein anderer für ihn finden können.26 Es ist eine ganz individuelle Antwort auf ein eigenes Bedürfnis. Ebenso sind die Deutungen aller Raumelemente sehr vielfältig und mit den eigenen Lebensbiographien, Erfahrungen und Vorlieben verbunden. Beispielsweise wird die schwere Eingangstür aus massivem Holz (ohne Flur oder Zwischenraum) auf je eigene Art interpretiert. Die direkte Öffnung nach Draußen sei „eine wun- derbare Beziehung zwischen Innen- und Außenraum“, so ein Bewohner. Ein anderer Nutzer würdigt die Tür als „sicherheits- stiftend“. Und die offenen Türen symbolisieren Vertrauen und gelten als Einladung einzutreten, so weitere Bewohner. Die eigene Wohn-Atmosphäre stiftet Geborgenheit Indem der eigene Stil gelebt und gestaltet wird, erwächst eine besondere Raum-Atmosphäre, in der sich die Wohnenden wohlfühlen. Der gelebte Stil ist dabei optischer Ausdruck und Gefühl einer Lebensweise. Die selbst geschaffene, als ange- nehm empfundene Atmosphäre wird von den Bewohnerinnen und Bewohnern im Kölner Brett als etwas Eigenes (nicht im Sinne von Besitz) beschrieben, das Sicherheit stiftet. Dieses positive Raumverhältnis ist nicht einfach gegeben, sondern Ergebnis einer Aneignungsleistung. Atmosphäre ist hierbei keine Raumeigenschaft, sondern empfundene Überlagerung innerer (zum Beispiel Sorge oder Verliebtheit) und äußerer Stimmungen (zum Beispiel Farb- und Lichtsituation). Mit dem Wohlfühlen in der selbst geschaffenen Atmosphäre erwächst eine Identifikation mit dem Raum. Dazu gehören die Würdigungen der selbst kreierten Lösungen (wie zum Beispiel der Dachaufbau, die für sinnvoll befundene Raumaufteilung oder 26 Reaktion der Architekten bezüglich des Dachaufbaus aus den Jahren 2006 und 2007. 304 KATJA FRIEDRICH der zusätzlich geschaffene Raum auf einer Galerie, Abb. 4) und Gewohnheiten (wie die Sonnenbeobachtungen je nach Tages- und Jahreszeit). Gelungen ist der Prozess der Raumaneignung, wenn positive Empfindungen mit Aussagen wie „wir wollen hier bleiben“, „das ist eine Oase“, „wir gehen kaum aus, weil wir uns hier so wohl fühlen“ verdeutlicht werden. Nicht zuletzt bietet ein Zuhause einen Ort, wo man so sein kann, wie man ist.27 Das Zuhause ist privater „Ort des geglückten Bei-sich-Seins“, der sich für die Verwirklichung von Isolations- und Integrationswünschen eignet, so der Philosoph Sloterdijk.28 Man hat die Möglichkeit zur Selbstbestimmung, zur Selbsterkenntnis und zum Sich-selbst-erleben. Begreift man den Wohnraum als Ausweitung des leiblichen Eigenbereichs (Waldenfels29), als eine Einverleibung von Architektur (Schmitz30), kommt der anthropologischen Ebene (Lebensführung und Heimatlosigkeit des Menschen, Plessner31) und damit der Schaffung eines Ortes der Zugehörigkeit eine besondere Bedeutung zu. Wie wichtig es ist, sich in seinem Zuhause wohl zu fühlen, wird gerade deutlich, sofern das Zuhause als erweiterter Leib begriffen wird. Das Gefühl eines Zuhauses bekommt in Verbindung mit anthropologischen Grundlagen wie der Heimatlosigkeit des Menschen eine besondere Relevanz. Um die Bedeutung der Geborgenheit eines Zuhauses und seine haltgebende Funktion noch deutlicher zu machen, möchte ich die Gedanken des Hauptvertreters der Neuen Phänomenologie, Hermann Schmitz, nutzen. Der Leib dient als Ort der Gefühle, als ein Vermittler zwischen Selbst- und Weltbezug. Wenn unser 27 Gerade in der Abgrenzung zu öffentlichen 29 Vgl. Bernhard Waldenfels: Vortrag am Räumen bietet die Raumaneignung im Privaten 29.10.2008 in Dresden, Philosophisches Kollo- mehr Verhaltens- und Handlungsspielräume. quium der Technischen Universität Dresden. Vgl. Katja Friedrich: Zuhause im Drinnen und Draußen. In: Wolkenkuckucksheim, Internatio- 30 Vgl. Hermann Schmitz: Vortrag am nale Zeitschrift zur Theorie der Architektur 34 22.10.2008 in Dresden, Philosophisches Kollo- (2015), S. 39–56, hier S. 50. URL: cloud-cuckoo. quium der Technischen Universität Dresden. net/fileadmin/hefte_de/heft_34/artikel_friedrich. pdf (1. Januar 2016). 31 Vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des organischen und der Mensch. Einleitung in die 28 Peter Sloterdijk: Sphären III – Schäume. philosophische Anthropologie. Berlin, Leipzig Frankfurt a. M. 2004, S. 534, 536. 1928. VOM GEBRAUCH AUSGEHEN 305 Abb. 4: Nachträglich eingebauter Raum, Foto: Friedrich, 2007 306 KATJA FRIEDRICH Zuhause Wohlgefühl und Geborgenheit stiftet, gibt es darüber hinaus auch Sicherheit und Halt, um in der Welt zuhause zu sein. Denn das Zuhause hat eine über die Wohnungswände hinausge- hende Reich- und Tragweite. Mit einem Vergleich macht Schmitz den Unterschied deutlich: „Das Behagen in der Badewanne reicht nicht über deren Rand hinaus; das Behagen als Gefühl der Geborgenheit ist dagegen eine Atmosphäre, die den Menschen umhüllt und trägt, wohin er auch geht, und ihm sein Leben leich- ter macht, wie heiteres Wetter.“32 Zuhause und Heimat als selbst geschaffene Anker in der Welt Das Zuhause und die räumlich und kulturell noch weiter gefasste Heimat geben uns Wohlgefühle; sie stabilisieren uns, aber sie sind uns nicht gegeben.33 Der Philosoph Helmuth Plessner beschreibt den Menschen aus seiner „exzentrischen Position“ und der damit verbundenen „konstitutiven Heimatlosigkeit“ heraus.34 Daraus leitet Plessner ab, dass sich der Mensch selbst zu dem machen muss, was er schon ist. Er muss sich seine Mitte, einen Ort der Zugehörigkeit selbst gestalten. Oder anders formuliert: der Mensch muss sein Leben führen und dabei Verantwortung übernehmen.35 Denn „führen“ besagt mehr als sein Leben irgend- wie zu Ende zu bringen. Der Mensch muss sein Tun lenken und sich dabei selbst reflektieren. In den miteinander verwobenen Prozessen von Selbstbestimmung und Raumaneignung tun wir dies und schaffen uns konkrete Orte und persönliche Welten zum Wohlfühlen und damit Bleiben. 32 Hermann Schmitz: Der Leib, der Raum und 34 Vgl. Plessner (Anm. 31). die Gefühle. Bielefeld 2007, S. 25. 35 Ebd., S. 293. 33 Die Bedeutungen von Heimat und Zuhause weisen Überlagerungen und Unterschiede auf. Einige Klärungen dazu in: Marie Lorenz, Katja Friedrich: Heimat – ein weiter gefasstes Zuhause. In: Katja Friedrich (Hg.): Zuhause. Eine architekturtheoretische und lebensnahe Beschreibung von Dingen und Gefühlen. Berlin 2015, S. 48–59. VOM GEBRAUCH AUSGEHEN 307 Der Architekt Adolf Loos beschrieb in der Geschichte Vom armen reichen Mann, wie sich ein Mann von einem Architekten die gesamte Wohnung perfekt durchgestalten ließ. Der reiche Mann wurde damit aber nicht glücklich, er verbrachte seine Zeit lieber außerhalb seiner Wohnung. Sein Leben schien mit der Unveränderbarkeit seiner Wohnung am Ende. „Er war aus- geschaltet aus dem künftigen Leben und Streben, Werben und Wünschen“.36 Das ist ein Extrembeispiel, es soll jedoch verdeut- lichen, dass Selbst-aneignen, Verantwortung-übernehmen und Bedeutung-geben erst zum Gelingen von Architektur beitragen und dies ein offener Prozess bleiben muss. Ein für unser Wohlgefühl, Geborgenheit und Identifikation beson- ders wichtiger Aspekt ist zudem das menschliche Miteinander. Gerade Familienangehörige, Nachbarn und Freunde prägen unser Zuhause. Das zeigt sich beim Kölner Brett beispielsweise in Form einer Hausgemeinschaft. Die Bewohner der oberen Etage betonen, dass sie kaum mehr ausgehen, sondern lieber Freunde zu sich einladen, weil sie sich hier am wohlsten fühlen. Auch innerhalb des Hauses sind vertraute Freundschaften ent- standen, die Türen stehen füreinander offen und man verlebt den Alltag gemeinsam, beispielsweise auf der Terrasse in der Sonne sitzend. Die Hausgemeinschaft macht zudem deutlich, dass bauliche Angebote wie Gemeinschaftsräume (in diesem Fall die Terrassen und Dachgärten, Abb. 5a, Abb. 5b) den gemeinsamen Gebrauch erst ermöglichen und ohne diese Raumangebote die Gemeinschaft schwieriger zu leben wäre. Als Architekturwissenschaftlerin ist es, von diesem Punkt abgesehen, eher überraschend, dass vor allem imaginäre und immaterielle Bedingungen wie Erinnerungen, per- sönliche Dinge, selbst geschaffene Atmosphären und Menschen, mit denen man zusammenlebt, das Gelingen der Raumaneignung begründen. Nicht zuletzt deshalb kann die kaum ausgeprägte Auseinandersetzung mit Prozessen im gelebten Raum gerade für Architekten und Planer sehr gewinnbringend sein. 36 Adolf Loos: Vom armen reichen Mann. In: 2008, S. 83 (zuerst erschienen in: Neue Freie Wie man eine Wohnung einrichten soll. Wien Presse, 12.6.1898). 308 KATJA FRIEDRICH Abb. 5a: Intensiv genutzter Erschließungsbereich, Foto: Friedrich, 2006 Raumaneignung ist Teil der Selbstbestimmung Gerade die Moderne und Postmoderne machen die zunehmende Beschäftigung mit dem Selbst erst notwendig.37 Im Kontext des Wohnens verweist Sloterdijk darauf, dass wir heute in Abgrenzung zu vormodernen Lebensweisen in einer Atmosphäre des Selbst leben.38 Um sich der eigenen Identität gewahr zu werden, sind Gespräche über die Raumaneignungen hilfreich. Denn in den Erzählungen stecken narrative Selbstdarstellungen, die die Bedeutung der Ausdrucksformen bewusst machen.39 37 Vgl. Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die 38 Vgl. Peter Sloterdijk: Architekten machen Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frank- nichts anderes als In-Theorie, Peter Sloterdijk furt a. M. 1996. im Gespräch mit Sabine Kraft und Nikolaus Kuhnert. In: Arch+ Zeitschrift für Architektur und Städtebau 169/170 (2004), S. 14–25, hier S. 20 f. 39 Taylor (Anm. 37), S. 94. VOM GEBRAUCH AUSGEHEN 309 Abb. 5b: Dachgarten mit Teich, Foto: Friedrich, 2007 Es spinnen sich rote Fäden zwischen der eigenen Geschichte, dem Wohnen in der Kindheit und dem heutigen Wohnen. Eine Bewohnerin grenzt sich beispielsweise deutlich vom Haus ihrer Eltern ab. Dort sei es weiß und clean gewesen. Die Frau mag es auch heute hell und großzügig, dabei aber bunt und gemütlich. Ein Handwerker berichtet nach und nach in seiner Erzählung, als wenn ihm die Bedeutung seines Tuns selbst erst während des Erzählens deutlich würde, dass er sichtbare Technik liebe, dass er sehen wolle, wenn etwas gut gemacht sei. Schließlich legt er bei seiner Arbeit auch Wert auf perfekte technische Ausführung. Dieser Handwerker spricht wie alle im Kölner Brett mit seiner spe- zifischen (meist berufsgeprägten) Sprache.40 Zudem betont er, dass er eine gute Beziehung zu den Architekten habe. Er schätze 40 Ob Handwerker, Modevertreter, Künstler Begriffe im Sinne des Erzählers zu verstehen, oder Arzt, alle machen ihre berufliche und in die Welt des anderen hineinversetzen. Die persönliche Welt auch sprachlich deutlich. Man Modevertreter sprechen von „stylisch“, der muss sich als Wissenschaftler, um die Handwerker von „hochwertigem Material“. 310 KATJA FRIEDRICH deren Leistungen und seine Identifikation mit dem Gebäude geht so weit, dass er Graffiti immer sofort von den Fassaden entferne. Der Herr beklagte auch „billiges Zeug aus Asien“ und vieles mehr, darin zeigt sich in der Gesamtschau für ihn als Erzähler wie auch für den Hermeneutiker eine ganze, schlüssige Welt mit Werten und Erfahrungen aller Art. Wird es erreicht, sich in die Welt dieser Person emphatisch hineinzuversetzen, wird auch dem Außenstehenden der jeweilige Lebensstil als sichtbarer Ausdruck eines Menschen deutlich. Es wird wahrnehmbar, dass der Stil der Persönlichkeit des jeweiligen Individuums entspricht und Identität aus der spezifischen Aneignung heraus erwächst. Die Geschichten über die eigenen Erfahrungen im Kölner Brett waren nicht nur für mich als Wissenschaftlerin hilfreich, sie führ- ten auch bei den Bewohnerinnen und Bewohnern zu eigenen Selbsterkenntnissen. Eine Oase als gelungene Raumaneignung Was es bedeutet, sich selbst zu erleben und neu zu erfahren, möchte ich nun am Beispiel der „Oase“ im Kölner Brett zeigen. Im Verlauf eines Gesprächs mit der Familie schwärmten die jungen Eltern von ihrem Leben in diesem Gebäude, vor allem von der miet- freien Terrasse, auf der Möbel, Pflanzen, gar eine Palme stehen. Auch die von den befreundeten Nachbarn gemieteten Dachgärten werden als erweiterter Wohnraum dankbar in Anspruch genom- men. Die Freiräume werden gemeinsam vielfältig genutzt. Kinder spielen. Es wird draußen gegessen. Dass es bei ihnen ohne Zwischenräume direkt nach draußen geht, sei wundervoll und in jeder Hinsicht positiv. Außerdem unterstütze die direkte Verbindung das Gefühl, im eigenen Haus zu wohnen, aber ohne die Probleme eines eigenen Hauses. Die Situation auf dem Dach umschreibt die Mutter mit Wildnis und Erhabenheit. „Also auf der Dachterrasse – das ist der Hammer, dass man wirk- lich denkt, hier ist man total weg von allem. Man guckt über alles schön drüber, man hat so ein bisschen Wildnis, weil da alles durch- einander wächst. Ne, man hat den Platz da oben. […] Da kann man es sich so richtig gut gehen lassen“ (Abb. 6). VOM GEBRAUCH AUSGEHEN 311 Abb. 6: Bepflanzte Dachterrasse, Foto: Friedrich, 2006 Plötzlich fiel der Begriff der Oase. Es sei ein bisschen wie in einer Oase. Das Gefühl von Urlaub wird durch die Palme noch unter- strichen: „Und dann steht da noch diese Palme. Dann ist das halt echt wie, als wenn man nicht in Köln, sondern irgendwo […] Du bist nicht in Deutschland, sondern eher im Süden. Du hörst hier die Vögel. Man ist hier halt so ab von dem Ganzen“. Die Oase wird gedeutet als Ruhe inmitten des turbulenten Stadtteils Ehrenfeld. In diesem Fall steht die Oase für Sonne, Vogelgezwitscher und Ruhe, aber auch für Lebensgenuss. Statt einer Partywohnung entwickelt die Familie mit ihrer neuen Lebenssituation zu dritt das Wohnen unter freiem Himmel als neue Wohnform. Sie entdecken eine neue Seite an sich, denn das meist Draußen-sein kannten sie so an sich noch nicht. Mit die- ser Selbsterkenntnis ändert sich zunehmend die Lebensweise. Man hält sich bewusst im Freien auf und verlagert Tätigkeiten nach Draußen. Hier zeigt sich die jeweils eigene Sicht- und Verhaltensweise des gelebten Stils, denn andere Menschen 312 KATJA FRIEDRICH Abb. 7: Galerie aus Stahlträgern und Gitterrost, Foto: Friedrich, 2006 VOM GEBRAUCH AUSGEHEN 313 würden dort keine Oase entdecken. Die Oase ist auch nicht das Ergebnis der Architekten. Die spezielle Erschließung ist für eine Freiraumnutzung konzipiert, aber das Gebrauchen und Deuten als Oase ist die Leistung der Nutzerinnen und Nutzer. Wohlfühlen und Geborgenheit entstehen aus der eigenen Auseinandersetzung. Aus dem selbstbestimmten Leben her- aus wächst der eigene Stil. Damit das Raumangebot zu den Bewohnern passt und gelungene Architektur entsteht, bedarf es an eigene Erfahrungen des Nutzers gebundene Lösungen (Galerie und Betonanstrich, Abb. 7). Schließlich können wir das Formen des eigenen Lebens weder dem Zufall noch einer nicht selbst verantworteten Konvention überlassen.41 41 Vgl. Kambartel (Anm. 18). 314 SABINE AMMON SABINE AMMON Hat das Gebaute eine Moral? Zwischen Artefakten und Lebenswelt besteht ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis: Artefakte beeinflussen unsere Lebenswelt, die wiederum Entstehung und Nutzung von Artefakten beein- flusst. Angesichts dieser Auswirkungen drängen sich Fragen nach Verantwortung in der Entwicklung des Gebauten auf. Wird das Gebaute damit moralisch und das Entwerfen zu einem Akt ethischer Relevanz? Abwehrend wird häufig auf die Neutralität der Technik verwiesen. Der Beitrag untersucht anhand der tech- nikphilosophischen Positionen von Verbeek, Ihde und Winner, warum die Auffassung von der Neutralität des Gebauten falsch ist, sie aber noch lange nicht die Behauptung von der Moralität des Gebauten richtig macht. Einer der Ausgangspunkte technikphilosophischer Reflexion ist die Einsicht, dass Technik ganz wesentlich unsere Lebenswelt prägt. Zugleich gehen in die Entwicklung gerade dieser Technik, die wir selbst hervorbringen, unsere lebensweltli- chen Voraussetzungen und Vorstellungen ein. Was hier vor- liegt, ist ein komplexes, wechselseitiges Bedingungsverhältnis von Lebenswelt und Artefakten: Artefakte beeinflussen unsere Lebenswelt, das heißt, wie wir leben, uns die Welt erschließen, ebenso wie unsere Lebenswelt die Entstehung und Nutzung von Artefakten beeinflusst. Kaum besser als am Bauwesen lässt sich dieses grundlegende Bedingungsverhältnis ablesen, denn hier zeigt sich der Einfluss der Lebenswelt auf das Gebaute ganz unmittelbar. In der Architektur kommt zum Ausdruck, wie wir wohnen, arbeiten, uns fortbewegen, wie wir spielen, strafen oder auszeichnen, wie wir ins Leben treten und es wieder ver- lassen. Vorstellungen, wie gelebt werden soll, schreiben sich HAT DAS GEBAUTE EINE MORAL? 315 in Gebäude und bauliche Artefakte ein und bleiben dort, auf- grund ihrer Langlebigkeit, meist über viele Jahrzehnte wirksam. Angesichts dieser Auswirkungen drängen sich Fragen nach der Verantwortung in der Entstehung und Entwicklung des Gebauten geradezu auf. Wenn lebensweltliche Vorstellungen in den Entwurf einfließen, welche Rolle spielen dann Werte in diesen Prozessen? Wird das Entwerfen damit zu einem Akt mit hoher ethischer Relevanz? Was heißt das für die entstehenden Artefakte, sprich Bauwerke? Werden sie selbst moralisch – und beeinflussen uns wiederum in unseren Handlungen als Benutzende? Fragen dieser Art sind alles andere als selbstverständlich und trivial. Noch immer dominiert ein weit verbreitetes Diktum die Bewertung von Technik: Technik sei neutral, ist immer wieder zu hören. Kontext und Gebrauch entscheide darüber, ob von den Artefakten positive oder negative Impulse ausgehen; Technik selbst könne nicht wertbehaftet und Werte setzend sein oder gar zu einer moralischen Instanz werden. Warum die Auffassung von der Neutralität des Gebauten falsch ist, sie aber noch lange nicht die Behauptung von der Moralität des Gebauten richtig macht, und welche Konsequenzen daraus für das Entwerfen und Gebrauchen von Architektur folgen, soll Gegenstand dieses Beitrags sein. Die Moralität der Dinge: Peter-Paul Verbeek Wenn auch nicht auf die Architektur oder die gebaute Umwelt bezogen, findet sich eine aktuelle und provokative Zuspitzung der Frage nach der Moralität und der Gestaltbarkeit von Artefakten bei dem niederländischen Technikphilosophen Peter- Paul Verbeek. Bereits der Titel seiner Monographie, Moralizing Technology. Understanding and Designing the Morality of Things,1 deutet die zwei zentralen Thesen des Buches an: Die Dinge haben eine Moralität, und wir können diese Moralität nicht nur 1 Peter-Paul Verbeek: Moralizing Technology. Understanding and Designing the Morality of Things. Chicago, London 2011. 316 SABINE AMMON verstehen, sondern auch entwerfen! Er begreift seinen Ansatz als Aufweitung klassischer ethischer Positionen, die die Relevanz des Artefaktischen übersehen haben: „Taking seriously the moral relevance of technological artifacts requires that ethical theory move beyond its classical assumption that morality necessarily is a solely human affair, because technologies lack consciousness, rationality, freedom, and intentionality“.2 Verbeek, dessen Ansatz deutlich von dem Soziologen Bruno Latour beeinflusst ist, der die Symmetrie von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren auch in moralischen Fragen betont, folgt diesem Anspruch. Für Verbeek steht in der Interpretation des Technischen der aktive Part im Vordergrund: „Technologies contribute actively to how hum- ans do ethics“,3 was er mit einer „fundamentalen Verwobenheit“4 zwischen dem Bereich des Technischen und des Sozialen, zwi- schen dem Menschlichen und Nicht-Menschlichen erläutert. Bei ihm begegnet uns die Feststellung wieder, dass technische Artefakte für unsere Lebensweise konstituierend wirken. Sie beeinflussen unsere Handlungen und Erfahrungen, legen die informationelle Grundlage unserer moralischen Entscheidungen und haben Auswirkungen auf unsere Lebensqualität. Wenn wir technische Artefakte gebrauchen, dann haben sie unweigerlich Einfluss auf den Kontext, in dem sie verwendet werden. Somit kann Verbeek zuspitzen: „Even though the fact usually remains unnoticed, technologies appear to have moral significance“.5 Diese Feststellung allerdings hat die Provokation, aber auch die Problematik der „Moralität der Dinge“ verloren, die in einer radi- kalen Interpretation dem Gebauten eine Moral und die Fähigkeit zu moralischen Handlungen unterstellen würde. Doch selbst in der abgeschwächten Form bleibt es für den Ansatz Verbeeks eine Herausforderung, theoretisch zu fundieren, auf welche Weise und in welchem Ausmaß Artefakte tatsächlich moralisch wirksam sein können, worin sich also ihre „moralische Signifikanz“ erstreckt. Um auf diese Signifikanz aufmerksam zu machen, reicht es, vom Eröffnen und Verschließen moralischer 2 Ebd., S. 6. 4 Ebd., S. 4; Übersetzung durch die Autorin. 3 Ebd., S. 5. 5 Ebd., S. 2. HAT DAS GEBAUTE EINE MORAL? 317 Handlungsoptionen durch Artefakte zu sprechen, womit die ethi- sche Dimension des Artefaktischen ins Zentrum rückt. Was für die Technik im Allgemeinen gilt, zeigt sich am Beispiel der gebau- ten Umwelt mit aller Deutlichkeit. Ihre Alltäglichkeit lässt uns ihre ethische Relevanz schlichtweg übersehen, wenn sie auch immer vorhanden ist. Doch wer Verbeek in diesem Sinne folgt, muss sich zwangsläufig mit einer zweiten, impliziten These aus- einandersetzten. Zugestanden, bauliche Artefakte haben ethi- sche Implikationen, weil sie moralische Werte verkörpern. Dann aber müsste es auch möglich sein, diese Werte gezielt in den Entwurfsvorgang einzubringen! Dahinter steht also die Frage, wie die Werte, die verkörpert werden, in die Artefakte kommen und inwiefern Werte bewusst während der Entwicklung einge- tragen werden können. Lassen sich tatsächlich Rezeption und Gebrauch von Artefakten aus ihrer Entwicklung heraus steuern, wie es die Ausführungen von Verbeek nahelegen? Der Fehlschluss des Entwerfens: Don Ihde Nein, das ist nicht möglich – so die klare und eindeutige Antwort des Technikphilosophen Don Ihde. Nach Ihde sollten wir uns unbedingt vor der „designer fallacy“, dem Fehlschluss des Entwerfens, hüten.6 Ihde möchte den Fehlschluss des Ent- werfens analog zum „intentionalen Fehlschluss“ der Literatur- wissenschaften verstanden wissen, wie ihn die Strömung des ‚New Criticism‘ entwickelte.7 Letztere wendete sich gegen die vor- herrschende Sichtweise, dass die Deutungshoheit von Werken in der Literatur in den Absichten der Autorin oder des Autors 6 Don Ihde: The designer fallacy and techno- 7 In der programmatischen Schrift The logical imagination. In: Pieter E. Vermaas, Peter Intentional Fallacy von William Wimsatt und Kroes, Andrew Light, Steven A. Moore (Hg.): Monroe Beardsley heißt es, dass “the design Philosophy and design. From engineering to or intention of the author is neither available architecture. Dordrecht 2008, S. 51–59. nor desirable as a standard for judging the success of a work of literary art”; vgl. William K. Wimsatt, Monroe C. Beardsley: The Intentional Fallacy. In: Sewanee Review 54 (1946), S. 468–488. Neu veröffentl. in: William K. Wim- satt: The Verbal Icon. Studies in the Meaning of Poetry. Lexington, Ky. 1954, S. 2–18, hier S. 3. 318 SABINE AMMON zu suchen sei. Stattdessen rückt der ‚New Criticism‘ den Text an sich in den Mittelpunkt und vertritt die Auffassung, dass ein Textverständnis unabhängig davon ist, was seine Erschaffenden beabsichtigt haben könnten. Die Interpretation soll daher unbe- einflusst von sonstigen Äußerungen einer Autorin oder eines Autors erfolgen; ein intentionaler Fehlschluss läge demnach vor, wenn die Bedeutung eines Textes in ihren Intentionen gesucht würde. Um also den intentionalen Fehlschluss zu vermeiden, dür- fen die Intentionen der Urheberin oder des Urhebers nicht in der Interpretation berücksichtigt werden, um nicht die Aussagekraft des Werkes zu verfälschen. Ihde nun transferiert diesen Fehlschluss auf den Entwurfskontext: „[T]he ‚designer fallacy’ […] is the notion that a designer can design into a technology, its purposes and uses. In turn, this fallacy implies some degree of material neutrality or plasticity in the object, over which the designer has control. In short, the designer fallacy is ‘deistic’ in its 18th century sense, that the designer-god, working with plastic material, creates a machine or artifact which seems ‘intelligent’ by design – and performs in its designed way”.8 Ihde kritisiert mit dem Fehlschluss des Entwerfens die Vorstellung, dass Entwerfende im Entwurf die Ziele und den Gebrauch festlegen könnten. In zweifacher Hinsicht suggeriere der Fehlschluss den Schaffenden eine Machbarkeit, die nicht gegeben ist. Zum einen betrifft sie das Verhältnis von Entwerfenden und Material: Die reine Plastizität des Materials, über die die Entwerfenden Verfügungsgewalt haben, existiere so nicht, denn die Exploration mit dem Material führe immer auch zu überraschenden Ergebnissen.9 Zum ande- ren betrifft sie das Verhältnis von Artefakten und Gebrauch, der vermeintlich durch den Entwurf festgelegt werden könnte. Doch gerade unzählige Beispiele aus der Technikgeschichte machen deutlich, welche unterschiedlichen Gebrauchsgeschichten Technologien und Artefakte erfahren können. In der Vielfältigkeit der Verwendungsweisen muss der Gebrauch zwangsläufig unbe- stimmt bleiben. Weder über das Material noch den Gebrauch 8 Ihde 2008 (Anm. 6), S. 51. 9 Ebd., S. 58. HAT DAS GEBAUTE EINE MORAL? 319 hätten die Entwerfenden letztlich Kontrolle.10 Der Entwurfsprozess sei „fallibilistisch“ und „kontingent“.11 Beides, sowohl beabsich- tigte und unbeabsichtigte Ergebnisse seien daher unvorherseh- bar. Damit zeigen sich die Beziehungen zwischen Entwerfenden und Material sowie zwischen Artefakten und Gebrauch als kom- plex und multistabil, die nicht dauerhaft ausgebildet, sondern immer einem Wandel unterworfen seien. Wer Ihde bis zu diesem Punkt in der Argumentation folgt, muss nun das Aus für jede steuernde, pro-aktive Einflussnahme in Entwurfsprozessen zugestehen – sie wird schlichtweg sinnlos. Doch lässt sich der Eindruck nicht verwehren, dass nun seiner- seits Don Ihde einem Fehlschluss aufsitzt. Er hat sicherlich in seiner Feststellung Recht, dass der Entwurfsvorgang eine hoch- komplexe Angelegenheit ist, dass das Material ein Eigenleben führt und dass sich die Art des Gebrauchs aus dem Entwurf heraus nicht eindeutig festlegen lässt. Aber daraus zu folgern, dass Absichten, eingebrachte Wertvorstellungen und Intentionen keine Auswirkungen auf Gebrauch und Bedeutung des späteren Artefakts haben können, ist falsch. Gerade das Beispiel der Architektur zeigt, wie in die vielfälti- gen Entwurfsentscheidungen immer Werte eingehen und auf diese Weise das Ergebnis bedingen. Entstehungsprozesse der gebauten Umwelt zeigen, wie eng die Entwicklung dieser Artefakte mit gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen verwoben sind; zahlreiche Steuerungsinstrumente und Versuche der Einflussnahme geben davon Zeugnis. Zugleich legen wert- basierte Entwurfsentscheidungen Nutzungsarten an, bereiten Lesarten vor und steuern Interpretationszusammenhänge, was nun an einem Beispiel genauer untersucht werden soll. Die Politik des Gebauten: Langdon Winner Einen Themenkomplex, der eng mit der Frage nach Werten und Moral von Artefakten verwoben ist, stieß der Technikphilosoph Langdon Winner mit seinem Aufsatz Do Artifacts have Politics? 10 Ebd. 11 Ebd., S. 59. 320 SABINE AMMON an.12 Darin diskutierte er ein Beispiel, das in der Technikphilo- sophie und -soziologie mittlerweile als klassisch gelten kann. Unter der Verantwortung des einflussreichen New Yorker Stadtplaners Robert Moses entstanden auf Long Island von 1920 bis in die 1970er Jahre hinein rund 200 Straßenüberführungen mit einer ungewöhnlich niedrigen Durchfahrtshöhe. Sie sind Teil einer umfassenden Neugestaltung Long Islands als Park- und Strandlandschaft. Von der Stadtgrenze bis zum östlichen Ende der Halbinsel wurde ein System aus Schnellstraßen entwickelt, die sogenannten ‚parkways‘, welche in das Gelände eingebet- tet sind. Als verkehrsplanerisches Element ermöglichen sie die kreuzungsfreie Fahrt, die nicht selten mit besonderen landschaft- lichen Ausblicke belohnt wird. Die Planung und Ausführung geht auf die Long Island State Park Commission (LISPC) zurück, die Moses für 40 Jahre leitete. Die LISPC baute 13 ‚parkways‘, die mit der Southern State im Jahr 1925 ihren Anfang nahmen und mit der Heckscher State im Jahr 1959 endeten. Bereits in der ers- ten Dekade nach ihrer Gründung 1924 entwickelte die LISPC ein Dutzend Parkanlagen, die sich durch hohe gestalterische Standards auszeichneten.13 Letztere spiegeln sich in der Wahl der Materialien und der sorgfältigen Ausführung der ‚overpas- ses‘ wider, jene steinernen Brücken über die Schnellstraßen, die durch eine große entwurfliche Vielfalt gekennzeichnet sind (Abb. 1 a–f). „Nothing is too good for the people of the Empire State“, wird Moses zitiert.14 Einer der unbestrittenen Höhepunkte in der öffentlichen Wahrnehmung wie in der Fachpresse stellte dabei die Erschließung Jones Beach dar, deren vorgelagerter Sandstrand durch drei ‚parkways‘ (Meadowbrook State Parkway, Wantagh State Parkway, Robert Moses Causeway) mit der Halbinsel ver- bunden ist (Abb. 2). Das ausgesprochene, aus damaliger Sicht als besonders innovativ eingestufte Ziel der LISPC war es, der urbanen Mittelschicht Orte der Freizeit und Erholung anzubieten. 12 Langdon Winner: Do Artifacts have Po- 13 Hilary Ballon, Kenneth T. Jackson (Hg.): Ro- litics? In: Daedalus. Journal of the American bert Moses and the modern city. The transfor- Academy of Arts and Sciences 109 (1980), H. 1, mation of New York. New York, London 2007, S. 121–136. S. 158. 14 Ebd. HAT DAS GEBAUTE EINE MORAL? 321 Die ‚parkways‘ spielten in der Umsetzung eine wichtige Rolle. Sie sind ausschließlich dem Personenkraftverkehr vorbehalten, was durch die Höhe der Brücken gesteuert wird. Letztere ist so gewählt, dass sie keine großen Fahrzeuge durchlassen – was bis heute bei Nichtbeachtung zu schweren Unfällen führt.15 Winner folgt in seiner Interpretation dem Moses-Biographen Robert Caro, der diese Entwurfsentscheidung auf Moses Voreingenommenheit gegenüber sozial schlechtergestellten Menschen und auf rassistische Vorurteile zurückführt.16 Nach Winner werden in die Brücken politische Absichten eingetragen. Sie stellen damit eines von vielen Beispielen in der Architektur- und Städtebaugeschichte dar, wie „artifacts can contain political properties“ (wobei hier Politik mit „arrangements of power and authority in human associations as well as the activities that take place within those arrangements“ gleichzusetzen ist).17 Somit lässt sich das Argument Winners folgendermaßen zuspitzen: Der Planer Robert Moses entwirft absichtsvoll niedrige Brücken, um bestimmte soziale Effekte zu erzielen. Die auf (Doppeldecker-) Busse angewiesene Unterschicht, das heißt insbesondere Menschen afroamerikanischer Herkunft, können auf diese Weise von den Stränden Long Islands ferngehalten werden. Damit ent- falten die Bauwerke politische Eigenschaften, die ihnen einge- schrieben sind. Das provozierende Beispiel Winners hat eine kontroverse Diskussion ausgelöst.18 Eine Reihe von Gegenargumenten liegen auf der Hand: Auf ‚parkways‘ verkehren in den USA grundsätz- lich keine Busse, zudem waren die Parks und Strände auf Long 15 Joel Landau: Truck collides into low 18 Eine Gegenposition findet sich in Bernward overpass on Long Island’s Meadowbrook Joerges: Do Politics Have Artifacts? In: Social State Parkway. In: New York Daily News, 15. Studies of Science 29 (1999), H. 3, S. 411–431; Mai 2014. URL: http://www.nydailynews.com/ dazu auch eine Aufbereitung der Debatte in: news/national/truck-collides-overpass-long-is- Ders.: Scams Cannot be Busted. In: Social land-parkway-article-1.1793510 (6. September Studies of Science 29 (1999), H. 3, S. 450–457; 2016). Ders.: Die Brücken des Robert Moses: Stille Post in der Stadt- und Techniksoziologie. In: 16 Winner 1980 (Anm. 12), S. 123f.; Robert A. Leviathan 27 (1999), H. 1, S. 43–63. Caro: The power broker. Robert Moses and the fall of New York. New York 1975. 17 Winner 1980 (Anm. 12), S. 123. 322 SABINE AMMON Abb. 1 a–f (S. 322f.): Überführungen (overpasses) auf den Schnellstraßen Meadowbrook State Parkway, Wantagh State Parkway und Ocean Parkway. Quelle: URL: http://www.alpsroads.net/ roads/ny/meadow/; http://www.alpsroads.net/roads/ny/wantagh/; http://www.alpsroads.net/roads/ ny/ocean/ (6. September 2016). © Steve Alpert Island auch durch andere Straßen und mit anderen öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen. Doch ganz so einfach stellt sich die Lage nicht dar. Gerade die Verkehrsplanung auf Long Island hatte Vorbildcharakter und prägte erst das System der ‚park- ways‘. Der Hinweis, dass die Strände auch durch andere Straßen HAT DAS GEBAUTE EINE MORAL? 323 zu erreichen sind, klingt in den Ohren jener, die kein Auto besit- zen, zynisch. Was schließlich die Erreichbarkeit durch weitere öffentliche Verkehrsmittel betrifft, so gilt diese Feststellung nicht für alle Strände. So agierte Moses explizit gegen die Verlängerung der Bahnverbindung durch die Long Island Railroad bis zur Jones Beach. Dennoch ließen sich weitere Gründe anführen, die gegen Winners Interpretation sprechen: seien es ökonomische (niedrigere 324 SABINE AMMON Abb. 2: Erschließung der Jones Beach durch die ‚parkways‘ Meadowbrook State Parkway (M), Wantagh State Parkway (W), Robert Moses Causeway (RM), verbunden durch den Ocean Parkway. Quelle: OpenStreetMap. URL: http://www.openstreetmap.org/#map=12/40.6403/-73.3979 (6. September 2016). © OpenStreetMap-Mitwirkende HAT DAS GEBAUTE EINE MORAL? 325 Brücken sind deutlich billiger als größere, was bei der Vielzahl an Brücken, die für das Konzept des kreuzungsfreien Transfers notwendig waren, deutlich ins Gewicht fällt), ästhetische (nied- rigere Brücken lassen sich besser in die Landschaft integrie- ren, was dem Ideal des Erhalts der Naturlandschaft entgegen- kommt; niedrigere Brücken verhindern ein Massenaufkommen, was ein individuelles, ungestörtes Naturerlebnis ermöglicht) oder planerische (an Entwurfsentscheidungen bei derartigen Groß- projekte sind eine Vielzahl von Personen beteiligt; die Weichen- stellung für niedrige Brücken fiel vor die Wirkungszeit von Moses; Ausschluss der Doppeldeckerbusse könnte nur ein Nebeneffekt gewesen sein, um insbesondere den kommerziellen Verkehr in Form von großen Lastkraftwagen aus den Freizeit- und Nah- erholungsbereichen fernzuhalten). Allerdings verliert das Beispiel an seiner Aussagekraft, wenn es nur auf die Frage reduziert wird, ob der Planung von Moses eine rassistische Motivation unterliegt. Planungs- und Entwicklungsprozesse bearbeiten äußerst komplexe Problem- lagen, die sich wohl nur selten auf einen Aspekt und eine ver- meintliche Ursache reduzieren lassen. Viel wichtiger sind in diesem Zusammenhang sicherlich strukturelle Bedingungen. Eine Planung, die dem Ideal der autogerechten Stadt in einer Zeit folgt, in der die Nutzung eines eigenen Autos noch immer ein Oberschichtsphänomen und später ein Privileg der Mittelschicht darstellt, macht Baupolitik zugunsten ausgewähl- ter Bevölkerungsgruppen. Dasselbe gilt für das Ideal exklusiver Parks und Strände wie auch jenes des ungestörten, individuel- len Naturerlebnisses – sie sind nicht zu haben, wenn sich die Massen in Bewegung setzen. Deutlich wird hier, dass weniger eine persönliche Motivation ausschlaggebend ist, als vielmehr die Werte, die im Entwurfsverlauf wirksam werden und sich im späteren Artefakt niederschlagen. Doch inwieweit diese Werte tatsächlich im Gebrauch wirksam werden und damit eine politische Bedeutsamkeit erhalten, hängt von den Rahmenbedingungen ab. Diese können sich ändern: Das Wohlstandsniveau kann so angehoben werden, dass nahezu alle Bevölkerungsschichten ein Auto besitzen und auf den ‚parkways‘ 326 SABINE AMMON die Strände erreichen. Der öffentliche Nahverkehr ist nicht not- wendig an Doppeldeckerbusse gebunden, sondern kann ebenso mit einstöckigen Bussen betrieben werden, damit Parks und Strände durch alle erreichbar sind. Schlussüberlegungen Das Beispiel Winners zeigt sehr deutlich, wie Artefakte in ihrem Gebrauch lebensweltlich wirksam werden. In der Benutzung entfalten sich Wertvorstellungen und können Handlungen in bestimmte Richtungen lenken. Bis heute, fast 100 Jahre nach der Errichtung der ersten Überführungen, lenken die Bauwerke die Benutzung der Straßen und damit die Erschließung der Parks und Strände auf Long Island. Der Zugriff ganzer Bevölkerungsgruppen auf wichtige Elemente der Verkehrsinfrastruktur und der Naturerfahrung wird dadurch verhindert. Auf diese Weise erhal- ten die Bauwerke eine ethisch-moralische Dimension, deren Relevanz sich nicht länger von der Hand weisen lässt, wenn sie auch selten thematisiert und bewusstgemacht wird. Gerade durch die lange Lebensdauer von Artefakten der gebauten Umwelt ist es daher besonders wichtig, mögliche ethisch-morali- sche Konsequenzen schon so frühzeitig wie möglich in den Blick zu nehmen. Der Gebrauch kann sich, wie oben angedeutet, durch veränderte Rahmenbedingungen wandeln. Aber gerade das Beispiel der Brücken auf Long Island zeigt, welche Beharrlichkeit das Gebaute über die Jahrzehnte hinweg entwickeln kann. Noch immer kön- nen sich einkommensschwache Personen kein Auto leisten und noch immer stellen Menschen afroamerikanischer Herkunft den Großteil der einkommensschwachen Personen. Auch wenn die Jones Beach durch eine Kombination aus Zugfahrt und Busverbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen ist, strahlt der Effekt der niedrigen Durchfahrtshöhe der Überführungen bis heute aus. Damit wird deutlich, dass die Art des Gebrauchs und die damit verknüpften Werte in kei- nem absoluten Sinne eingeschrieben sind, wie Don Ihde zu Recht betont. Werte im Gebrauch können sich überraschend HAT DAS GEBAUTE EINE MORAL? 327 und unvorhergesehen entfalten sowie auf vielschichtige Weise aktiv werden. Doch mit Ihde den Benutzungskontext als etwas Unberechenbares zu deuten, der einem permanenten Wandel unterworfen wäre, ist die falsche Schlussfolgerung. Der tatsäch- liche Gebrauch liegt jenseits von Determinismus und Kontingenz. Im Artefakt angelegt, kann er ein großes Beharrungsvermögen entwickeln. Damit lässt sich auf die erste der eingangs dargestellten Thesen Verbeeks reagieren, die den Artefakten eine Moralität unter- stellte. Wie das Beispiel zeigt, führt die Rede von einer Moral des Gebauten in die Irre (es sei denn, es handelt sich um eine ellip- tische Sprechweise). Vielmehr manifestieren sich im Gebauten Moralvorstellungen, die in bestimmten Gebrauchskontexten wie- der wirksam werden können. Das weit verbreitete Diktum der Neutralität technischer Artefakte ist damit als naiv entlarvt. Das Gebaute ist wertbehaftet und in der Benutzungserfahrung Werte setzend. Doch diese sind nicht festgeschrieben, sondern sie kön- nen sich durch neue Rahmenbedingungen verändern. Wie sieht es aber mit der zweiten These Verbeeks aus, die davon ausgeht, dass sich Werte entwerfen lassen? Ohne Zweifel stellt sich der Entwurfsvorgang als ein Schlüsselprozess dar, in dem Lebens- und Moralvorstellungen in einem Artefakt verankert werden. Das Beispiel Robert Moses zeigt, dass sich persön- liche Lebens- und Moralvorstellungen der Verantwortlichen mit strukturellen Vorstellungen überlagern können. Von bei- den Ebenen gehen Einflussnahmen auf den Entwurf aus und wirken auf die unzähligen Entscheidungen ein, die während eines Entwicklungsprozesses getroffen werden. Von großer Bedeutung ist daher, diese Prozesse transparent zu machen. Zugrundeliegenden Werte müssen aufgedeckt und kritisch über- prüft werden, um auf dieser Grundlage gezielte Entscheidungen zur Integration gewollter Werte treffen zu können. Doch mit Ihde ist vor überzogenen Erwartungen an die Planbarkeit und gezielte Steuerung von Wert-Wirkungen zu warnen. Entwurfsvorgänge stellen eine Projektion in die Zukunft auf der Grundlage unscharfer Ausgangsbedingungen dar. Gebrauchsweisen vorwegzunehmen, und, wie im Fall des 328 SABINE AMMON Bauwesens, für Jahrzehnte, ja zum Teil für Jahrhunderte festzu- legen, unterliegt großen Einschränkungen und zeigt die Grenzen eines solchen Vorgehens auf. Beabsichtigte Werte müssen nicht zwangsläufig die gewünschte Wirkung in der Benutzung zeigen und zugleich kann sich ihre Wirkung verändern. Diese Schwierigkeiten stellen allerdings keinen Freibrief dar, wertbezogene Problemstellungen im Entwurf zu vernachläs- sigen. Ganz im Gegenteil muss genau hier angesetzt werden, um zu sensibilisieren und Entwicklungsprozesse gezielt zu len- ken. Allerdings sind die richtigen Planungsinstrumente und eine solide wissenschaftliche Fundierung der Maßnahmen gefragt. Gerade die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts ist voll an Beispielen, wie hochtrabende gesellschaftspolitische Ziele durch Bauwerke umgesetzt werden sollten – mit nicht selten gra- vierenden Folgen für die Bewohnerinnen und Bewohner, die zu besseren Menschen und einer besseren Gesellschaft erzogen werden sollten und sich heute in einem Wohnumfeld wiederfin- den, dass wenig mit den ursprünglichen Absichten zu tun hat. Dies sollte eine Lehre sein. Es bedarf veränderter Ansätze in Ausbildung und Planung, um eine höhere Selbstreflexivität und ein größeres Wertbewusstsein bei den einzelnen Akteuren zu erreichen. Eine wesentliche Funktion muss zugleich geeigneten Entwurfswerkzeugen zukommen, um ethische Weichenstellun- gen im Entwurf besser steuern zu können. Dazu gehört auch die empirische Beobachtung, die Begleitung und Auswertung der umgesetzten Entwürfe. Daher sollten Entwurfsaufgaben nicht mit der Schlüsselübergabe abgeschlossen sein. Rückkopplungen aus der Gebrauchsphase sind entscheidend, um bestehende Artefakte nachzubessern und aus Fehlern für zukünftige Projekte zu lernen. Nur so kann langfristig der moralischen Signifikanz von Bauwerken Rechnung getragen werden. HAT DAS GEBAUTE EINE MORAL? 330 Autorinnen und Autoren Sabine Ammon ist Philosophin und Dipl.-Ing. der Architektur und arbeitet an der Technischen Universität Berlin. Andrea Benze ist Architektin und Professorin für Städtebau und Theorie der Stadt an der Hochschule München sowie Mitgründerin von OFFSEA (Office For Socially Engaged Architecture and Urbanism). Karsten Berr ist Philosoph, Soziologe und Dipl.-Ing. der Landespflege und derzeit an der Universität Vechta tätig. Irene Breuer ist Philosophin und Architektin und arbeitet als Lehrbeauftragte im Bereich der theoretischen Philosophie und der Phänomenologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Martin Doll ist Medienwissenschaftler und Juniorprofessor für Medien- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Uni- versität Düsseldorf. Arne Dreißigacker ist Soziologe und arbeitet als wissen- schaftlicher Mitarbeiter am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. Katja Friedrich ist Baufacharbeiterin, Architektin und Architekturtheoretikerin. Sie lebt in Dresden. Dennis Gschaider ist Historiker und arbeitet als wissen- schaftlicher Mitarbeiter im DFG-Graduiertenkolleg „Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage: Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln“ an der Universität Duisburg-Essen. Stephanie Kernich ist Soziologin und Dozentin am Soziologischen Institut der Universität Zürich. Sie ist Geschäftsführerin der dort angesiedelten Fachstelle „Zentrum für Qualitative Sozialforschung“. ARCHITEKTUR IM GEBRAUCH 331 Sebastian Kurtenbach ist Sozialwissenschaftler und wis- senschaftlicher Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Anuschka Kutz ist Architektin und Gastprofessorin für Architektur an der KU Leuven, Sint-Lucas Brussels, sowie Senior Lecturer an der University of Brighton. Sie ist außer- dem Mitbegründerin von OFFSEA (Office For Socially Engaged Architecture and Urbanism). Ralf Liptau ist Kunst- und Architekturhistoriker. Er arbeitet als Assistent am Institut für Kunstgeschichte, Bauforschung und Denkmalpflege der TU Wien. Christine Neubert ist Kultursoziologin und promoviert an der Technischen Universität Dresden über die „Begegnung mit dem Gewohnten. Zur Struktur und Praxis architektonischer Erfahrung“. Constanze A. Petrow ist Landschaftsarchitektin und Professorin für Freiraumplanung an der Hochschule Geisenheim University. Kerstin Renz ist Architekturhistorikerin und Publizistin. Sie lehrt derzeit an der Hochschule für Technik und an der Universität Stuttgart. Moritz Schumm ist Filmwissenschaftler und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Graduiertenkolleg „Das Wissen der Künste“ an der Universität der Künste Berlin. Alexander Henning Smolian ist Architekt und bereitet derzeit ein Forschungsprojekt am Institut für Baugeschichte, Architekturtheorie und Denkmalpflege der Technischen Universität Dresden vor. 332 Kirsten Wagner ist Kulturwissenschaftlerin und Professorin am Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Bielefeld. Gina Rosa Wollinger ist Soziologin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen e. V. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliogra- fische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Universitätsverlag der TU Berlin, 2018 http://verlag.tu-berlin.de Fasanenstr. 88, 10623 Berlin Tel.: +49 (0)30 314 76131 / Fax: -76133 E-Mail: publikationen@ub.tu-berlin.de Alle Teile dieser Veröffentlichung – sofern nicht anders gekennzeichnet – sind unter der CC-Lizenz CC BY lizenziert. Lizenzvertrag: Creative Commons Namensnennung 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Lektorat: Eva Maria Froschauer, Christiane Salge Gestaltung: Stahl R, www.stahl-r.de Satz: Julia Gill, Stahl R Druck: docupoint GmbH ISBN 978-3-7983-2940-9 (print) ISBN 978-3-7983-2941-6 (online) ISSN 2566-9648 (print) ISSN 2566-9656 (online) Zugleich online veröffentlicht auf dem institutionellen Repositorium der Technischen Universität Berlin: DOI 10.14279/depositonce-6019 http://dx.doi.org/10.14279/depositonce-6019 334 ARCHITEKTUR IM GEBRAUCH → iNHALT ArCHiTekTUr im GeBrAUCH Der Tagungsband versammelt Beiträge des 2. Forums Architekturwissenschaft zum Thema Architektur im Gebrauch, das vom 25. bis 27. November 2015 im Schader-Forum in Darmstadt stattfand. Die Beiträge nähern sich dem Thema grundlegend in zwei Perspektiven. zum einen interessiert die lebensweltliche Verankerung von Architektur: die Gebrauchs- erfahrungen und die vielfältigen Weisen, in denen das Gebaute im Alltag jedes menschen in erscheinung tritt. zum anderen werden die Vorstellungen vom Gebrauch in Prozessen des Planens und Bauens untersucht. Dabei treten unweigerlich auch Spannungs-verhältnisse auf – zwischen Planerinnen und Nutzern, aber auch zwischen unterschiedlichen Gebrauchsweisen. Sowohl in theoretischen Auseinandersetzungen zu einem Begriff von Gebrauch in der Archi- tektur als auch in empirischen Studien zu einzelnen Bauten und Bautypen, zeitgeschicht- lichen Gebrauchsphänomenen und Situationen des Alltags wird dem auf den Grund gegangen. Universitätsverlag der TU Berlin iSBN 978-3-7983-2940-9 (print) iSBN 978-3-7983-2941-6 (online)