Heimatschutz und Bauerndorf Zum planmäßigen Dorfbau im Deutschen Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Vorgelegt von Verena Jakobi M.A. aus Winterberg von der Fakultät VII Architektur, Umwelt und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Ingenieurswissenschaften - Dr.-Ing. genehmigte Dissertation Promotionsausschuss: Vorsitzende: Prof. Dr.-Ing. Dorothée Sack Berichter: Prof. Dr.-Ing. Johannes Cramer Berichter: Prof. Dr. Robert Suckale Tag der wissenschaftlichen Aussprache: 12.05.2003 Berlin 2003 D 83 Hiermit danke ich meinen Eltern Margret und Horst Jakobi sowie meinem Freund Arno Frank. Ohne ihre Hilfe und Unterstützung wäre diese Arbeit nie zustande gekommen. Ich danke dem Graduiertenkolleg „Kunstwissenschaft – Bauforschung – Denkmalpflege“ der Technischen Universität Berlin und der Otto-Friedrich-Universität Bamberg für die fachliche und finanzielle Unterstützung meiner Arbeit sowie die umfassende Betreuung und Förderung. INHALTSVERZEICHNIS Band 1 Seiten I. Einleitung ............................................................................................................................. 1 1. Gegenstand und Ziel der Untersuchung ....................................................................... 1 2. Methodik und Forschungsstand .................................................................................... 4 3. Tradition und Moderne, Krise und Reform im Deutschen Kaiserreich ........................ 7 4. Die Idee der „Heimat“ ................................................................................................ 13 II. Heimatschutz und Bauerndorf ....................................................................................... 17 1. Die Heimatschutzbewegung ....................................................................................... 1.1. Protagonisten, Aufgaben, Organisation ........................................................... 1.2. Gesetzgebung und Denkmalpflege im Spiegel des Heimatschutzes ................ 1.3. Heimatschutz und Architekturkritik ................................................................. 2. Die Beschäftigung mit Dorf und Bauernhaus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ................................................................................................ 2.1. Der Stadt-Land-Konflikt und seine Folgen ...................................................... 2.2. Forschungen zu Dorf und Bauernhaus ............................................................. 2.3. Die Bauberatung – zu Erhalt und Pflege von Dorf und Bauernhaus ............... 2.4. Dorf und Bauernhaus als Ideal und Vorbild für die zeitgenössische Architektur ............................................................................. 2.5. Die Quellen zum Dorf- und Gehöftbau und ihre Sprache ................................ 17 17 25 31 38 38 47 52 57 61 III. Dorfbau im Spiegel des Heimatschutzes zu Beginn des 20. Jahrhunderts ............... 74 1. Das Dorf als städtebauliches Projekt .......................................................................... 74 1.1. Einführung: Die Entwicklung des Städtebaus im späten 19. und frühen 20 Jahrhundert ...................................................................................... 74 1.1.1. Das Dorf im Grundriß .......................................................................... 77 1.1.2. Bebauungspläne ................................................................................... 88 1.1.3. Plätze und Straßen ............................................................................... 97 1.1.4. Dorfbilder .......................................................................................... 105 1.1.5. Exkurs: Verwandte Siedlungsplanungen der Zeit ............................. 113 1.1.6. Rationalität und Romantik im Dorfbau ............................................. 119 1.1.7. Öffentliches Grün, Gärten, Einfriedungen und Friedhöfe ................. 125 1.1.8. Wasserleitungen, Brunnen, Baderäume und Aborte .......................... 139 Inhalt 2. Haus und Hof – die Dorfgebäude ............................................................................. 2.1. Einführung: Wohnungsreform und Typisierung ............................................ 2.2. Privatgebäude ................................................................................................. 2.2.1. Gehöfte – Form, Funktion, Typisierung ............................................ 2.2.2. Arbeiterhäuser .................................................................................... 2.2.3. Wohnhäuser und Wohnbereiche ........................................................ 2.2.4. Ställe und Scheunen ........................................................................... 149 149 156 156 181 185 194 2.3. Öffentliche und halböffentliche Gebäude ...................................................... 2.3.1. Kirchen .............................................................................................. 2.3.2. Schulen .............................................................................................. 2.3.3. Gaststätten, Jugendhalle, Gewerbe .................................................... 2.3.4. Gemeindehäuser ................................................................................ 2.3.5. Schmieden .......................................................................................... 2.3.6. Transformatorenhaus ......................................................................... 203 203 210 214 221 223 225 2.4. Einzelelemente der Dorfgebäude ................................................................... 2.4.1. Baumaterialien ................................................................................... 2.4.2. Fachwerk ............................................................................................ 2.4.3. Die Giebelbehandlung ....................................................................... 2.4.4. Die Farbigkeit der Gebäude ............................................................... 2.4.5. Die Anlage der Dächer ...................................................................... 2.4.6. Türen und Fenster .............................................................................. 225 225 230 236 238 241 248 IV. Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie ......................................... 255 1. Typus und Individualität ........................................................................................... 2. Land und Stadt .......................................................................................................... 3. Region und Nation .................................................................................................... 4. Tradition und Moderne .............................................................................................. 255 259 265 269 V. Schluß ............................................................................................................................. 275 VI. Quellenverzeichnis ....................................................................................................... 278 1. Ungedruckte Quellen ................................................................................................ 278 2. Gedruckte Quellen .................................................................................................... 280 VII. Literaturverzeichnis ................................................................................................... 294 Inhalt KATALOG Band 2: Seiten I. Das Musterdorf Golenhofen in der Provinz Posen .......................................................... 1 1. Die „Innere Kolonisation“ im Osten des Deutschen Reiches ....................................... 1 2. Dorfanlagen der Ansiedlungskommission .................................................................... 4 3. Golenhofen – die Dorfanlage ........................................................................................ 6 4. Die Dorfgebäude ......................................................................................................... 12 5. Die öffentlichen Gebäude ........................................................................................... 14 6. Die Gehöfte und Arbeiterhäuser ................................................................................. 23 II. Das Dorf Böhmenkirch in Württemberg ...................................................................... 46 1. Zu Geschichte und Wiederaufbau des neuen Dorfes .................................................. 2. Die Dorfanlage ............................................................................................................ 3. Die Dorfgebäude ......................................................................................................... 3.1. Die Bauten des Architekten Immanuel Hohlbauch aus Geislingen......................................................................................................... 3.2. Die Bauten des Architekten Theodor Hiller aus Göppingen ........................... 3.3. Die Bauten der Architekten Schenk & Dangelmaier aus Schwäbisch Gmünd ......................................................................................... 3.4. Die Bauten des Architekten Karl Philipp aus Geislingen ................................ 3.5. Die Bauten des Architekten Georg Wachter aus Geislingen ........................... 46 54 56 58 63 71 76 82 III. Die waldeckischen Dörfer Neu-Berich, Neu-Bringhausen und Neu-Asel ................ 87 1. Zu Geschichte und Untergang der Dörfer .................................................................. 2. Zum Wiederaufbau der Dörfer ................................................................................... 2.1. Neu-Berich ....................................................................................................... 2.2. Neu-Bringhausen .............................................................................................. 2.3. Neu-Asel .......................................................................................................... 87 90 92 96 98 3. Die Dorfanlagen .......................................................................................................... 99 3.1. Neu-Berich ....................................................................................................... 99 3.2. Neu-Bringhausen ............................................................................................ 103 3.3. Neu-Asel ........................................................................................................ 106 Inhalt 4. Die Dorfgebäude ....................................................................................................... 108 5. Die öffentlichen Gebäude ......................................................................................... 110 6. Die Gehöfte ............................................................................................................... 128 IV. Die Ausstellungsdörfer ................................................................................................ 147 1. Zur Geschichte der Ausstellungsdörfer .................................................................... 2. Bauausstellungen im frühen 20. Jahrhundert ............................................................ 3. Die Dorfanlage auf der Internationalen Baufach-Ausstellung in Leipzig 1913 ............................................................................................................. 3.1. Zur Geschichte des Dorfes ............................................................................. 3.2. Die Dorfanlage ............................................................................................... 3.3. Die Dorfgebäude ............................................................................................ 3.4. Die öffentlichen Gebäude .............................................................................. 3.5. Das Beispielgehöft ......................................................................................... 4. Das Neue Niederrheinische Dorf auf der Deutschen Werkbund-Ausstellung in Köln 1914 ....................................................................... 4.1. Zur Geschichte des Dorfes – der Deutsche Werkbund und seine Ausstellung ........................................................................................... 4.2. Die Dorfanlage ............................................................................................... 4.3. Die Dorfgebäude ............................................................................................ 4.4. Die öffentlichen Gebäude .............................................................................. 4.5. Die Gehöfte .................................................................................................... 4.6. Die Arbeiterhäuser ......................................................................................... 147 153 154 154 157 163 164 176 182 182 185 192 193 206 215 1 I. Einleitung 1. Gegenstand und Ziel der Untersuchung Diese Arbeit analysiert weitgehend unbekannte, als Gesamtanlagen konzipierte Bauerndörfer im Deutschen Reich und liefert damit einen Beitrag zur Geschichte des Siedlungsbaus am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Gegenstand der Untersuchung ist der Einfluß der Heimatschutzbewegung auf städtebauliche, naturräumliche, architektonisch-funktionale und gestalterische Aspekte der Dorfplanung zu dieser Zeit. Als ich 1997 meine Magisterarbeit zum Thema „Dorfarchitektur und Heimatschutz am Beispiel von Neu-Berich in Nordhessen“ abschloß, war dies nur der Anfang einer übergreifenden Untersuchung zu Heimatschutz und Dorfbau jener Zeit. Das waldeckische Dorf NeuBerich ist von der städtebaulichen Anlage bis hin zu den Fassadendetails vom Heimatschutz beeinflußt, wie ich anhand der zeitgenössischen Quellen von wichtigen Heimatschutztheoretikern und Architekten im Vergleich mit der Anlage selbst sowie den Aussagen des für den Dorfbau zuständigen Architekten Karl Meyer herausarbeiten konnte. Wir haben es jedoch nicht mit einem rein waldeckischen Phänomen zu tun. Denn der Bund Heimatschutz ist eine Organisation, die in Abgrenzung zum gründerzeitlichen Historismus und der aufziehenden Moderne des frühen 20. Jahrhunderts auf alle Länder und Provinzen Deutschlands mit eigenen Landesverbänden und Ortsgruppen einwirkt, um die regionalen Spezifika zu erhalten. Angetrieben werden die Protagonisten der Bewegung von dem Willen, die durch die negativen Folgen von Industrialisierung und Urbanisierung gefährdete Architektur zu schützen und auf der Basis „heimattypischer“ Bauweise weiterzuentwickeln. Im Zentrum der heimatschützerischen Bemühungen steht die Architektur von Kleinstadt und Dorf. Gerade die Kultur des einfachen Volkes wird vom Heimatschutz als Schlüssel für das Verständnis deutscher Geschichte und damit auch deutscher Identität begriffen. Daher werden Dorf und Bauernhaus, die noch am deutlichsten regional gebunden sind, als besonders schützenswert erachtet. Das läßt sich auch an der großen Zahl von zeitgenössischen Publikationen aus den Reihen des Heimatschutzes ablesen, die sich mit der Anlage und den Grundrissen von Dörfern, mit ihren Straßenzügen und den verschiedenen Dorfbauten, ihrer Lage im Dorf und ihrer Gestaltung beschäftigen. Eine Suche nach planmäßig entstandenen Dorfanlagen im gesamten Deutschen Reich führte mich zu sechs weiteren Dorfanlagen, die im Zeitraum von 1902 bis 1914 neu erbaut oder wieder aufgebaut worden sind. Dazu gehören auch zwei Dörfer, die auf bedeutenden Bauausstellungen der Zeit in Originalgröße errichtet werden und verschiedene Konzepte vor- Einleitung 2 stellen: Im Jahre 1913 wird die sogenannte „Dorfanlage mit Beispielgehöft“1 auf der Internationalen Baufach-Ausstellung in Leipzig vorgeführt; ein Jahr später entsteht auf der Deutschen Werkbund-Ausstellung in Köln das „Neue Niederrheinische Dorf“. Untersucht werden auch die beiden Dörfer Neu-Bringhausen und Neu-Asel (1912-1914), die zusammen mit NeuBerich aufgrund eines Talsperrenbaus in Waldeck (im heutigen Nordhessen) in der Nähe des neu entstandenen Sees wieder aufgebaut werden. Ein Großteil des Dorfes Böhmenkirch auf der Schwäbischen Alb fällt im Jahre 1910 einem Großbrand zum Opfer und wird noch im gleichen Jahr mit Hilfe einer eigens eingerichteten Bauberatungsstelle unter strikter Einhaltung finanzieller Vorgaben wieder errichtet. Ebenfalls untersucht wird das Dorf Golenhofen in der ehemaligen Provinz Posen, das bereits in den Jahren 1902 bis 1905 auf einem vormals von Polen bewirtschaftetem Landgut entsteht. Es ist ein Musterdorf, das als Teil der Eindeutschungspolitik der staatlichen „Inneren Kolonisation“ von der Ansiedlungskommission für Posen und Westpreußen erbaut wird und deutsche Bauern aus allen Teilen des Reiches aufnimmt. Die ausgewählten Dorfanlagen sind sehr verschieden – nicht nur was ihre Lage und landschaftliche Zugehörigkeit angeht, sondern auch was die Gründe für ihre Entstehung sowie die Herkunft und Ausbildung der für den Wiederaufbau verantwortlichen Architekten betrifft. Besonders das Musterdorf Golenhofen hebt sich durch seinen soziopolitischen und nationalistischen Hintergrund deutlich ab. Gerade weil alle Dörfer jedoch in einem sehr engen Zeitraum nacheinander entstehen, drängt sich die Frage auf, in welchem Grad und auf welche Weise der Heimatschutz die städtebauliche und architektonische Anlage der Dörfer geprägt hat. Die Auswahl wurde deswegen auch völlig unabhängig von der Nähe zum Gedankengut der Heimatschutzbewegung getroffen. „Im Dorfe wohnen Bauern und Tagelöhner. Die Ackerwirtschaft mit Viehhaltung, mit kleineren und größeren Gehöften, mit Scheunen und Düngerhaufen und dergl. gibt dem Dorfe das Gepräge, und auch selbst, wo Hausindustrie betrieben wird oder wo der größere Teil der Bevölkerung Tags über oder auch monatelang sich außerhalb gewerblich betätigt, verwischt sich dies landwirtschaftliche Wesen nicht ganz.“2 Meine Arbeit beschränkt sich im Sinne dieser Definition des Architekten Karl Henrici auf die Untersuchung von Bauerndörfern. Dörfern also, die noch mehrheitlich von Landwirtschaft treibenden Bauern bewohnt und bewirtschaftet werden. Die einzige Ausnahme bildet das Neue Niederrheinische Dorf, das neben den bäuerlichen Gehöften bewußt auch Industrie1 2 Im folgenden kurz „IBA-Dorf“ genannt. Henrici, Karl in: Die künstlerische Gestaltung des Arbeiter-Wohnhauses 1906, S. 61. Der Regierungsbaumeister Richard R. Hinz definiert Bauerndörfer als „die wirklichen Dörfer, also Ortschaften, die sowohl ihrer Verfassung, als auch ihrem sonstigen Wesen, den Lebensgewohnheiten ihrer Einwohner und ihrer äußeren Anlage nach noch als Dörfer im engeren Sinne des Wortes anzusprechen sind“. Hinz 1911, S. 15. Einleitung 3 arbeiterhäuser integriert, um damit ein modernes Mischdorf vorzustellen. Weil es mir um die besondere Stellung des Heimatschutzes zum bäuerlichen Dorfbau geht, würde eine Ausweitung auf Arbeitersiedlungen und Villenkolonien, Gutsdörfer, Vorortsdörfer oder Gartenstädte das Grundthema nur verwischen und in seiner Aussage verunklären. Die Arbeit beschränkt sich auch auf das Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches und damit auf die dezidiert deutsche Heimatschutzbewegung. Interessante Beispiele wie der brandbedingte Wiederaufbau des Tiroler Dorfes Zirl in Österreich im Jahre 1908 oder das Heimatschutz-„Dörfli“ auf der Landesausstellung im schweizerischen Bern müssen daher außen vor bleiben.3 Der zeitliche Beginn der Untersuchung ist auf etwa 1900 bis 1902 festgelegt, als sich die ersten Initiativen zum Heimatschutz bilden. Zwar konstituiert sich der überregionale Bund Heimatschutz erst im Jahre 1904. Bereits 1897 entwickelt jedoch der Musiklehrer und Komponist Ernst Rudorff den Namen und die Programmatik des Heimatschutzes in zwei Aufsätzen, die in den „Grenzboten“ erscheinen. Auch die Schrift „Heimatschutz“ erscheint im Jahre 1901 zum ersten Mal.4 Einige Landesverbände entstehen ebenfalls schon vor der Gründung des Dachverbandes, wie z.B. der Heimatbund Niedersachen (1901) oder der Bayerische Verein für Volkskunst und Volkskunde (1902).5 Das chronologische Ende der Untersuchung markiert der Erste Weltkrieg, der die erste Hochzeit der Heimatschutzbewegung abschließt und ihre Arbeit (im Krieg, z.B. mit dem Wiederaufbau Ostpreußens), in eine andere Richtung lenkt. Durch den Kriegsausgang desillusioniert, nimmt der Heimatschutz in der Weimarer Republik zwar seine Arbeit wieder auf. Er muß jedoch ernüchtert feststellen, daß die Wirtschaft sich unvermindert fortentwickelt, die eigene ästhetische Programmatik jedoch im Vergleich zum „Neuen Bauen“ an Attraktivität verliert. Feindbild der Heimatschützer ist daher die 1926/27 errichtete Weißenhofsiedlung in Stuttgart. Gegen Ende der 20er-Jahre politisiert und radikalisiert sich der vormals reformorientierte Heimatschutz immer mehr in rassistischer und sozialdarwinistischer Richtung, bis er schließlich 1933 fast folgerichtig dem nationalsozialistischen „Reichsbund Volkstum und Heimat“ eingegliedert wird.6 Kernstück dieser Dissertation ist die Analyse der genannten Dörfer im Abgleich mit zeitgenössischen Quellen zum Dorf- und Gehöftbau – von Verfassern, die regionaltypische 3 4 5 6 Der neue Bebauungsplan wird vom Bayerischen Verein für Volkskunst und Volkskunde in München erstellt. Vgl. Knaut 1993, S. 29. Vgl. ebd., S. 123. Vgl. dazu Speitkamp 1988, S. 170 und Knaut 1993, S. 440f. Einleitung 4 Bauweisen mit in technisch und hygienischer Hinsicht modernen Ansprüchen zu verknüpfen trachten. Das ländliche Bauwesen dieser Zeit ist in Kunst- und Architekturwissenschaften bislang weitgehend vernachlässigt worden. Obwohl seitens der Denkmalpflege und der inzwischen etablierten Dorferneuerungsprogramme ein großer Bedarf nach Anwendungskriterien und Vorbildern besteht, da weder zum bäuerlichen Siedlungsbau selbst geschweige denn zu den einzelnen Dörfern oder zu den Quellentexten bislang Untersuchungen vorliegen. Diese Arbeit soll die beschriebene Lücke schließen. Meine These ist, daß sich alle für die Dorfbauten zuständigen Architekten mit dem Heimatschutz und seinen Zielen beschäftigt und sich mit den Antagonismen Typus – Individualität, Land – Stadt, Region – Nation, Tradition – Moderne auseinandergesetzt haben; in den Dorfarchitekturen ist manifestiert, in welchem Maße und in welcher Weise dieser Einfluß gewirkt hat. Die Romantiker haben mit ihrem ideellen Blick auf Dorf und Bauerntum diese Topoi für spätere agrarromantische und nationalistische Ideologien erst operabel gemacht – eine Instrumentalisierung, die auch dem Heimatschutz nicht fremd war. 2. Methodik und Forschungsstand Grundlage für diese Untersuchung ist der an den Hauptteil der Arbeit sich anschließende Katalog. Er enthält die Basisinformationen zur Geschichte der neuen Dörfer und die genauen Umstände ihrer Entstehung. Er informiert über die jeweilige Dorfanlage, ihre städtebauliche Grundstruktur und Gebäude vermittels Beschreibungen, Bauzeichnungen und Fotos. Querblättern zwischen Hauptteil und Katalog ist also gefragt. Gerade bei den nicht mehr existierenden Ausstellungsdörfern oder bei Böhmenkirch, einem Ort, in dem viele der Gebäude heute abgerissen oder umgebaut sind, bin ich gezwungen, mich auf die Baupläne zu verlassen. Im Hauptteil der Arbeit folgt nach der Einleitung eine theoretische Abhandlung, auf der der darauf folgende praktische Teil beruht: Hier werden die Hintergründe der Heimatschutzbewegung sowie ihre spezifischen architektonischen Forderungen beleuchtet. Eine Betrachtung der Gründe für die Verklärung von Dorf und Bauernhaus sowie eine Erläuterung zu den bearbeiteten Quellentexten und ihrer Sprache schließen sich an. Die nächsten Kapitel widmen sich schließlich der vergleichenden Untersuchung der Dörfer nach verschiedenen Kriterien: Auf eine Analyse der städtebaulichen Struktur der Siedlungen einschließlich Bepflanzung und Sanitäranlagen folgt eine Betrachtung der einzelnen Dorfgebäude – von den privaten bis hin zu den öffentlichen Bauten. Dabei bleibt die individuelle Innenausstattung der Wohnräume außer Acht, zumal sich auch der Heimatschutz kaum zur Ausstattung von Innenräumen Einleitung 5 äußert; die äußere Gestaltung von Häusern im Kontext von Dorf und Landschaft hatte immer Priorität.7 Die Aufgabe dieser Hauptkapitel ist es, die jeweiligen Dörfer und ihre Gebäude mit der Heimatschutz-Literatur zum Dorf- und Gehöftbau um die Jahrhundertwende zu vergleichen und damit den Einfluß der Theorie auf die Praxis zu untersuchen. Ein wichtiges Augenmerk dieser Arbeit liegt daher auf der Aufarbeitung bisher kaum beachteter Quellentexte, die sich auf unterschiedlichen Wegen mit dem Thema auseinandersetzen. Um die Relevanz dieser Texte, ihre charakteristisch neoromantische bis deutschtümelnde Sprache zu veranschaulichen, werden die Quellen häufig direkt zitiert. Der Heimatschutzbewegung wird von der Geschichtswissenschaft erst seit den 70er-Jahren wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt.8 Meine Arbeit ist ohne die grundlegende Untersuchung Klaus Bergmanns zu „Agrarromantik und Großstadtfeindschaft“ von 1970 nicht zu denken. Er bespricht eingehend die verschiedenen Ausprägungen der „neuromantischen Erneuerungsbewegungen“ der Zeit und verfolgt ihre Entwicklung bis zum Nationalsozialismus. Rolf-Peter Sieferle behandelt in seinen Schriften den Heimatschutz als janusköpfigen Gegner von Technik und Fortschritt.9 Auch in dem von Edeltraud Klueting herausgegebenen Aufsatzband zu Themen rund um die deutsche Heimatbewegung ist der Titel „Antimodernismus und Reform“ Programm. Die Geschichte der Heimatbewegung wird hier in ihren unterschiedlichen Ausprägungen und facettenreichen Zusammenhängen - z.B. im Verhältnis zur Jugendbewegung - behandelt.10 Die ausführlichste Forschungsarbeit über die Heimatschutzbewegung bietet Andreas Knaut. Unter dem Titel „Zurück zur Natur! Die Wurzeln der Ökologiebewegung“ untersucht er Organisationsstrukturen der Bewegung ebenso wie ihre Theorien, Programmatik und Zielsetzungen.11 Im ersten Band des von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Werkes „Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven“ von 1990 wird der Begriff „Heimat“ unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet – eine Betrachtung der deutschen Heimatbewegung fehlt auch hier nicht. Das „Handbuch der deut- 7 8 9 10 11 Vgl. auch Knaut 1993, S. 285. Ein erstes detailreiches Werk über Leben und Werk seiner Inspiratoren bietet allerdings bereits Walter Schoenichen: Naturschutz, Heimatschutz. Ihre Begründung durch Ernst Rudorff, Hugo Conwentz und ihre Vorläufer. Stuttgart 1954. Im folgenden sollen nur wichtige Eckpunkte der Forschung genannt werden. Weiterführende Literaturangaben sind in den genannten Werken sowie dieser Arbeit enthalten. Sieferle 1984 und 1985. Klueting 1991. Knaut 1993. Einleitung 6 schen Reformbewegungen“, das die vielen Reformprojekte von 1880 bis 1933 ausführlich behandelt, nimmt auch die Themen Heimatschutz und Denkmalpflege mit auf.12 Der Kunst- und Architekturgeschichte ist die Heimatschutzarchitektur lange ein Stiefkind geblieben. Abrisse zur Architekturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts besprechen sie, wenn überhaupt, meist nur in kurzen Absätzen.13 Die meisten Autoren beschränken sich auf eine Untersuchung der sachlichen Reformbewegungen des Internationalen Stils, der zwar für die Architekturgeschichte von größerer Bedeutung ist, in der Baupraxis für das alltägliche Leben in der Wilhelminischen Zeit jedoch eine zu vernachlässigende Rolle gespielt hat.14 Grund dafür ist die Tabuisierung der Heimatschutzarchitektur als Teil des späteren nationalsozialistischen Bauprogramms.15 In den 70er-Jahren holt vor allem Joachim Petsch die Heimatschutz-Architektur wieder ans Licht der Forschung.16 Ein wichtiger Beitrag leistet ein Aufsatz von Christian F. Otto, indem er die Architekturströmung in allen ihren Ausprägungen, Vorbildern und Parallelströmungen beleuchtet.17 Ebenso beschäftigt sich Andreas Knaut in einem eigenen Kapitel ausführlich mit „Heimatschutz und Architektur“.18 Die meisten Arbeiten beschränken sich auf bestimmte Aspekte der Heimatschutzbewegung: Stefan Muthesius prüft beispielsweise den englischen Einfluß auf die deutschen Reformbewegungen in Architektur, Wohnbau und Kunstgewerbe im späten 19. Jahrhundert.19 Birgitta Ringbeck widmet in der Aufsatzsammlung „Antimodernismus und Reform“ Architektur und Städtebau unter dem Einfluß der Heimatschutzbewegung eine Untersuchung mit Schwerpunkt auf Westfalen.20 Hans-Günther Andresen beleuchtet unter dem Titel „Bauen in Backstein“ die schleswig-holsteinische Heimatschutz-Architektur.21 Auch einige Heimatschutz-Architekten erhalten mittlerweile neue Aufmerksamkeit, so z.B. in der Dissertation von Merret Sievers: „Modernes Bauen und Heimatschutz. Der lippische Architekt Gustav Meßmann (1879-1944)“.22 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 Von 1998, Herausgeber sind Diethart Kerbs und Jürgen Reulecke. Hier seien nur beispielhaft die Überblickswerke der Belser „Weltgeschichte der Architektur“; Leonardo Benevolos „Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts“ von 1964; Nikolaus Pevsners und Doris Schmidts „Der Beginn der modernen Architektur und des Design“, Köln 1971 oder Vittorio Magnano Lampugnanis „Architektur und Städtebau des 20. Jahrhunderts“ (Stuttgart 1980) genannt. Vgl. Knaut 1993, S. 283. Vgl. ebd. Noch im Jahre 1965 werden Heimatkunst- und Heimatschutzbewegung von Jost Hermand und Richard Hamann als volkhaft-nationalistische und reaktionäre „Blut- und Bodenbewegung“ beurteilt, die einem „trivialfaschistischen Ressentiment“ verfallen sei. Vgl. Hermand und Hamann 1965, S. 364-394. Verwiesen sei auf den Aufsatz: Heimatkunst – Heimatschutz in: Heim und Heimat 66/1979, S. 49-52. Otto 1983. Knaut 1993, S. 271-338. Muthesius 1974. Ringbeck 1991, S. 216-287. Andresen 1989. Dissertation Frankfurt/M., Berlin etc. 1998. Einleitung 7 Arbeiten jedoch, die sich übergreifend dem ländlichen Bauen unter dem Einfluß der Heimatschutzbewegung widmen, stehen noch aus, obwohl doch das Dorf in seiner Symbolfunktion für Heimat und Traditionsbewußtsein eine zentrale Rolle in der Heimatschutzbewegung spielt. 3. Tradition und Moderne, Krise und Reform im Deutschen Kaiserreich Mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches im Jahre 1871 entsteht in Mitteleuropa ein Nationalstaat, in dessen Innerem sich vielfältige dynamische Prozesse abspielen.23 Zu ihnen gehört in demographischer Hinsicht ein massives Bevölkerungswachstum. Von 1866 bis 1914 ist ein drastischer Anstieg der Bevölkerung von 39,8 Millionen auf 67,8 Millionen Menschen (eine Erhöhung von knapp 70%) zu verzeichnen.24 Gleichzeitig verwandelt sich das Deutsche Reich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in rasanter Geschwindigkeit von einem Agrarstaat und einer Agrargesellschaft in einen Industriestaat mit einer Industriegesellschaft.25 Der Industriekapitalismus entwickelt sich trotz konjunktureller Krisen so erfolgreich, daß Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg auf dem zweiten Platz hinter den USA und sogar vor England, dem Pionierland der Industrialisierung, liegt.26 Intensiver Flottenbau und Hochindustrialisierung korrelieren mit außenwirtschaftlicher und außenpolitischer Expansion: Unter dem „neuen Kurs“ Wilhelms II. beginnt das Deutsche Reich „Weltmachtpolitik“ zu betreiben.27 Verursacht durch Bevölkerungswachstum, wirtschaftlichen Strukturwandel und der damit einhergehenden Arbeitsplatzsuche von Millionen von Menschen setzt eine große Binnenwanderung ein, bei der die Städte, vor allem Berlin und die Städte des Ruhrgebiets und Sachsens als Auffangbecken dienen. Die Urbanisierung des Reiches läßt die ersten modernen Großstädte entstehen.28 Parallel wird das deutsche Bildungssystem ausgebaut; vor allem die 23 24 25 26 27 28 Vgl. Wehler 1995, S. 488. Vgl. Nipperdey 1991, S. 9. Vgl. zur Bevölkerungsentwicklung auch Wehler 1995, S. 493-503. Die Gründe für den Geburtenüberschuß und eine sinkende Sterblichkeit sind im Anstieg der Einkommen und Löhne zu suchen, die, relativ gesehen, zu einer besseren Ernährungs- und Wohnsituation beitragen. Dazu kommt, sicherlich zuerst in den Städten, die Entwicklung hygienischer Bestimmungen, die z.B. die Trinkwasserversorgung, Kanalisation und Abfallbeseitigung in den Städten, aber auch die Wohnungs- und Lebensmittelhygiene mit einschließen. Auch die Fortschritte in der Medizin (v.a. der Bakteriologie) und eine verbesserte Zugänglichkeit medizinischer Versorgung lassen die Sterblichkeit (vor allem bei Säuglingen) sinken. Vgl. Nipperdey 1991, S. 14. Vgl. Bergmann 1970, S. 12. Vgl. zur Industrialisierung des Reiches Wehler 1995, S. 488, 547-685 und Nipperdey 1991, S. 227-291. Die wichtigsten Produktionszweige sind die Kohle-, Eisen- und Stahlindustrie, zu denen seit den 1890erJahren auch die Großchemie, die Elektrotechnik und der Maschinenbau kommen. Vgl. Vondung 1976, S. 20. Vgl. zu Binnenwanderung und Urbanisierung Wehler 1995, S. 503-543. Einleitung 8 fortschrittlichen Hochschulen avancieren nach preußischem Vorbild zu Musteranstalten von Forschung und Lehre; die modernen Wissenschaften erzielen weitreichende Erfolge.29 Die angerissenen Themenbereiche verdeutlichen, daß das Deutsche Reich am Ende des 19. Jahrhunderts ein optimistisches, prosperierendes und fortschrittsgläubiges Land ist. Deshalb entstehen in dieser Zeit vielfältige neoromantische und retrospektive Reformbewegungen, die sich von den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Umbrüchen im neuen Reich verunsichert fühlen, die den Modernisierungsprozeß als Bedrohung sehen und den Verlust aller haltgebenden Traditionen fürchten.30 Unterschiedliche Gründe führen zu einer solchen Gegenwarts- und Modernisierungskritik: So leidet die unterprivilegierte Mehrheit der Bevölkerung in den Städten unter katastrophalen Lebensbedingungen. Vor allem die Arbeiterklasse31 der Städte muß unter einer extremen Wohnungsnot und damit einhergehenden hygienischen Unzulänglichkeiten in dunklen und kalten „Mietskasernen“ mit unzureichender Ernährung und grassierenden Epidemien leben.32 Dazu kommen die ungewohnten Arbeitsprozesse, Angst vor Invalidität und eine erzwungene Mobilität. Mit der Expansion der Städte wird auch die Bauwirtschaft Teil des industriellen Prozesses. Neue industriell hergestellte Baumaterialien ersetzen die althergebrachten Baustoffe, die die Eisenbahn überregional verfügbar macht: Eine homogene Architektursprache ersetzt mehr und mehr die regionalen baulichen Eigenheiten.33 Gleichzeitig werden Städte und Landschaften verkehrsgerecht umgeplant – Großbahnhöfe und breitere Straßen zerstören ganze Stadtviertel und verändern das Gesicht der Städte. Große Schneisen zerschneiden auch die Landschaft für Schienen und Straßenverkehr. In Bezug auf die Landschaft setzt eine erste, durch die Industrialisierung hervorgerufene Umweltverschmutzung ein – vor allen Dingen eine Belastung von Wasser und Luft im Bereich der Industriezentren.34 Landschaft wird zum reinen Nutzraum für die Wirtschaft, was sich z.B. in umfangreichen Flurbereinigungsmaßnahmen, Waldaufforstungen, Durchsetzung von Fichtenmonokulturen, Flußbegradigungen oder der Anlage von Talsperren äußert. Die Städte verlieren mit der Urbanisierung ihren geschlossenen Charakter und beginnen, sich ins Umland ausbreitend, die Landschaft zu zersiedeln und ganze Dörfer in sich aufzunehmen.35 29 30 31 32 33 34 35 Vgl. zu Bildungswesen und Wissenschaften Nipperdey 1991, S. 531-691. Vgl. Wehler 1995, S. 1066. Die städtische Gesellschaft ist Ende des 19. Jahrhunderts von großen Klassenunterschieden geprägt. Im Durchschnitt stehen dort vier bis fünf Prozent der wirtschaftsbürgerlichen Oberklassen 0,75 bis ein Prozent des Bildungsbürgertums und zehn bis fünfzehn Prozent des Mittel- und Kleinbürgertums der großen Zahl von 75 bis 85 Prozent der arbeitenden Klasse gegenüber. Vgl. Wehler 1995, S. 1268. Vgl. Krabbe 1974, S. 16-26. Vgl. Sieferle 1985, S. 39. Vgl. Morris-Keitel 1994, S. 40 und Sieferle 1985, S. 39. Vgl. Sieferle 1985, S. 39. Einleitung 9 Wenn auf dem Land auch keine konkrete Wohnungsnot herrscht, so ist das ländliche Bauwesen doch ebenfalls durch Mängel, besonders im hygienischen Bereich, gekennzeichnet.36 Auch hier hinterläßt die Industrialisierung ihre Spuren. Die Landwirtschaft als bislang größte Produktionseinheit wird von der Industrie überholt.37 Der Bauer als Selbstversorger wird mehr und mehr zum Agrarproduzenten in einer rationalisierten Landwirtschaft. Er reiht sich als Glied ein in die neue arbeitsteilige Maschinerie und verliert dadurch den Bezug zu seiner tradierten Lebensweise. Mit den Fortschritten in den Landwirtschaftswissenschaften und landwirtschaftlichen Produktionstechniken wird das Land zur reinen Nutzfläche, fallen Hecken und Bäume und werden Bäche begradigt, um eine größere Quadratmeterzahl Land zu erhalten. Durch die Verkoppelung werden zusätzlich Felder, Wiesen und Wälder geometrisch aufgeteilt, das Land nach neuen Vermessungsmethoden erfaßt.38 Neu entwickelte, billige Baustoffe lösen auch auf dem Lande die traditionellen Bauweisen ab, während neue Produktionsmethoden die Erträge steigern und landwirtschaftliche Maschinen hinzukommen, um die schwere Handarbeit abzumildern.39 Durch die chemische Industrie werden künstliche, vor allem mineralische Düngemittel entwickelt. Revolutionierend ist seit dem Ende der 60er-Jahre der jetzt überall erhältliche Kunstdünger Kali.40 Dazu kommt die wissenschaftlich-systematische Züchtung ertragreicherer Pflanzen (Intensivsorten) und die planmäßige Tierzüchtung, die durch eine Einführung von Leistungsprüfungen große Erfolge erzielt.41 Die Landgemeinden verlieren durch die Urbanisierung jedoch mehr als ein Drittel an Einwohnern. Die Tatsache, daß jeder fünfte Deutsche nun in der Stadt lebt, macht den tiefgreifenden Strukturwandel plastisch: „Kein Zweifel: Das Deutsche Reich beherbergte 1914 eine hochurbanisierte, hochmobile Bevölkerung, deren Lebenszuschnitt durch eine tiefe Zäsur von jener Agrargesellschaft geschieden war, die noch vor wenigen Jahrzehnten dominiert hatte.“42 Die Kluft zwischen den sozialen Klassen im Reich ist unvermindert groß. Mit der fortschreitenden Industrialisierung steigt auch die Zahl der Industriearbeiterschaft stark an und gewinnt 36 37 38 39 40 41 42 Vgl. Krabbe 1974, S. 16 und 18. Vgl. zur Entwicklung der Landwirtschaft und der ländlichen Gesellschaft ausführlich Abel, Wilhelm: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, Hamburg und Berlin 1966, S. 243-264; Nipperdey 1991, S. 192-225 und Wehler 1995, S. 685-700. Vgl. Sieferle 1984, S. 182-185. Vgl. Knaut 1993, S. 15. Dazu gehören z.B. moderne Landmaschinen wie Pflüge, Häckselmaschinen, Schrotmühlen und Dreschmaschinen. Unterstützend wirkt die fortschreitende Elektrifizierung des Landes, die eine rasche Motorisierung gerade der Individualbetriebe ermöglicht. Der Strom treibt etwas Dreschund Futterschneidmaschinen, Wasser- und Jauchepumpen, Milchzentrifugen und Buttermaschinen, Höhenförderer und Kreissägen an. Vgl. Haushofer 1963, S. 194f. Vgl. Nipperdey 1991, S. 193. Vgl. Haushofer 1963, S. 196 und 201 sowie Nipperdey 1991, S. 192f Wehler 1995, S. 513. Vgl. dazu auch ebd., S. 1254. Einleitung 10 nach und nach an Geschlossenheit zur Durchsetzung der eigenen Interessen.43 In Konkurrenz zur traditionellen Führungsschicht der Großgrundbesitzer entsteht das mit dem anwachsenden Wirtschaftskapitalismus größer werdende Wirtschaftsbürgertum.44 Daneben stellt das Bildungsbürgertum den zweiten Kern des Bürgertums dar.45 Obwohl sich die bürgerlichen Klassen im kaiserlichen Deutschland ausbreiten, halten beide Formationen in den letzten Friedensjahren nur etwa sechs Prozent der Bevölkerung.46 Trotzdem ist laut Wehler erstaunlich, welche „Ausstrahlungs- und Prägekraft“ von diesen sechs Prozent der Reichsbewohner auf die Gesellschaft insgesamt ausging.47 Obwohl sich im neu gegründeten Großstaat für das Bildungsbürgertum viele neue Arbeitsmöglichkeiten auftun und auch die Bildungsidee in dieser Zeit attraktiv bleibt,48 erlebt gerade dieser literate Bevölkerungsteil die skizzierten Wandlungen als besonders krisenhaft.49 Das liegt vor allem an der eigenen Statusunsicherheit und dem zunehmenden Bedeutungsschwund des Bildungsbürgertums in der Wilhelminischen Gesellschaft.50 Man sieht sich in zunehmender Distanz zur „Industriebourgeoisie“, fühlt sich vom Adel und der politischen Emanzipation des Proletariats bedroht. Die genannten negativen Begleiterscheinungen von Industrialisierung und Urbanisierung werden als „Kulturkrise“ wahrgenommen.51 Die Fortschrittseuphorie wandelt sich in eine Zivilisationsskepsis, die die Nachteile von Technikvertrauen, wissenschaftlichem Rationalismus und materialistischer Leistungsethik erkennt. Die moderne Entwicklung wird als pathologische, sich bald notwendigerweise überschlagende Übergangsphase gesehen, die zwangsläufig in einer Katastrophe enden müsse.52 Verstörungen 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 Vgl. Vondung 1976, S. 20. Vgl. zum Industrieproletariat auch Nipperdey 1991, S. 291-334. Wehler 1995, S. 713. Vgl. auch ebd., S. 716-730 und Nipperdey 1991, S. 389-395. Es besteht aus akademisch gebildeten Bürgern wie höheren Beamten, Lehrern und Pfarrern, Ärzten und Juristen, Künstlern oder Literaten. Vondung merkt jedoch an, daß eine einheitliche Definition des „Bildungsbürgertums“ nur schwer möglich ist. Vondung 1976, S. 22-25. Vgl. dazu auch Nipperdey 1991, S. 382-389. Vgl. Wehler 1995, S. 712f. Hier ist das Kleinbürgertum aus Handwerkern, Krämern, Gastwirten etc. nicht mit eingerechnet. Vgl. ebd., S. 713. Vgl. ebd., S. 730 und 732. Vgl. Vondung 1976, S. 20f. Es darf jedoch nicht ausgeblendet werden, daß alle Teile der Bevölkerung von den rapiden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen betroffen sind und, teilweise existenziell, unter den Strukturkrisen leiden. Eine weitere Ursache für eine als krisenhaft begriffene Situation sind die rasanten ökonomischen und sozialen Entwicklungen im Kontrast zur starren politischen Struktur. Hervorgerufen wird dieser z.B. durch den Ausbau der Hochschulen, durch den der Anteil der akademischen Aufsteiger aus anderen Schichten steigt. Diese Konkurrenz wird im elitären Selbstbewußtsein der Gebildeten als bedrängend und degradierend empfunden. Vgl. Wehler 1995, S. 734f und 749. Dazu kommt, daß das Generalisten-Ideal der Gebildeten zugunsten des Spezialistentums aufgesplittert wird. Dies wird vom Bildungsbürgertum als „Fachidiotentum“ beklagt. Vgl. ebd., S. 735-744. Die Tatsache, daß immer mehr wesentliche Entscheidungen von Parteien, Interessenverbänden und Berufspolitikern getroffen werden, führt auch zu einem politischen Bedeutungsschwund des Bildungsbürgertums. Ebd., S. 749. Vgl. Achleitner 1989, S. 165 und zum Krisenkomplex des Bildungsbürgertums ausführlich Vondung 1976, S. 25-33. Zum Begriff der Kulturkrise Wehler 1995, S. 745. Vgl. Sieferle 1984, S. 155 und Bergmann 1970, S. 85. Karl Marx erstellt im „Kapital“ bekanntlich eine ähnliche Prognose. Einleitung 11 und Angst herrschen innerhalb einer Gesellschaft, die in dem überstürzten Wandel kein stabilisierendes „Weltbild“ mehr erkennt, die sich in einem Strudel von wirtschaftlichen Neuerungen und gesellschaftlichen Veränderungen der eigenen Wurzeln beraubt sieht und für den Aufstieg Deutschlands zur Wirtschafts- und Politmacht einen hohen kulturellen Preis zu entrichten hat. Die Flucht aus der Bildungswelt führt zur Suche nach neuer kultureller Stabilisierung und Sinnstiftung. Daraus entwickelt sich eine Flut an ideologischen Bewegungen, die ein neues, Sicherheit bietendes Weltbild, eine Handlungsanleitung für die zerrissene Gegenwart verheißen.53 Wehler nennt an divergierenden Weltanschauungen beispielhaft Marxismus, Nationalismus, Antisemitismus, Sozialdarwinismus, Pangermanismus und Militarismus.54 Im folgenden wird vor allem die Ideologie des Kulturpessimismus55 behandelt, zu der auch die Heimatschutzbewegung gehört. Der Kulturpessimismus speist sich aus einem von Thomas Nipperdey nach Fritz Stern so genannten unpolitischen „Vulgär-Idealismus“, der ein Bekenntnis zu rein idealistischen Normen und Zielen impliziert.56 Abgelehnt werden alle materiellen Interessen ebenso wie die Parteipolitik und der gesamte zivilisatorische Fortschritt. Damit ist immer auch eine Kritik des „Westens“ verbunden, der als Ursache für Materialismus und den alles nivellierendem Internationalismus gesehen wird. Eine elitäre Distanz zu den Massen gehört ebenso dazu wie eine Abneigung gegen alles Pragmatische. Stattdessen neigen die Kulturpessimisten zu einer weltanschaulichen, quasi-religiösen Überhöhung ihrer Positionen.57 Diese können auch als „neoromantisch“ beschrieben, werden, da sie in vielerlei Hinsicht an die Tradition der romantischen Kritik an Aufklärung und Kapitalismus anknüpfen.58 Sie enthalten die Neigung zu einem Vorrang von Gefühl, das zur Gefühligkeit werden kann, die Neigung zum Antiintellektualismus, zum Irrationalismus, zu Seele und Ganzheit, zu Gemeinschaft und allem „Organischen“. Dazu kommt die rein ästhetische Betrachtung der Welt, die auch einen Rückzug aus der Wirklichkeit, eine eskapistische Tendenz beinhaltet.59 Beispielhaft sei der Kulturkritiker Julius Langbehn genannt, der mit einem anonym im Jahre 1890 erscheinenden Werk Aufsehen erregt: „Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen“ bündelt die Kritik an der Moderne und setzt ihr eine Erneuerung der schöpferischen 53 54 55 56 57 58 59 Vgl. Wehler 1995, S. 745 und 1066. Vgl. ebd., S. 1066f. Vgl. dazu: Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland. Bern, Stuttgart und Wien 1963. Vgl. auch Wehler 1995, S. 746-749. Von Sieferle wird dafür der Begriff „konservative Zivilisationskritik“ gebraucht. Vgl. Sieferle 1984, S. 158. Vgl. Nipperdey 1991, S. 818. Vgl. ebd. 1991, S. 818f. Vgl. Sieferle 1984, S. 159. Vgl. Nipperdey 1991, S. 819. Einleitung 12 Lebenskraft, der Spontaneität und Intuition, der Einfachheit und Ursprünglichkeit entgegen. Nur die Kunst könne eine Erneuerung des Lebens erreichen, wobei alle Kunst rückgebunden sei an Natur, Landschaft an Heimat und damit auch an das einfache Volk. Langbehn ist ein völkischer Ideologe insofern, als das Volk bei ihm immer das „deutsche“, das „germanische“ Volk bedeutet.60 Langbehns „Rembrandt als Erzieher“ wird das einflußreichste Buch der zeitgenössischen Reformbewegungen, erlebt 22 Auflagen und wird zur „Bibel der Jugendbewegung“.61 Zu den beschriebenen Kulturpessimisten gehört auch eine große Zahl von gesellschaftspolitischen Gegenbewegungen, die mit oftmals skurrilen Zielen und fanatischem Sendungsbewußtsein62 versuchen, die Menschen zum Umdenken zu bewegen und möglichst viele „Jünger“ auf ihre Seite zu ziehen. Als bekannteste Bewegung sei hier die Lebensreformbewegung genannt, die personell und organisatorisch oft eng miteinander verflochtene Heilslehren vereint. Sie sollen „einer neuen, wahrhaftigeren Lebensführung, einer Abkehr von der Äußerlichkeit und dem Protzentum der Gründerjahre“63 dienen. Gleichzeitig ist hier immer auch eine Großstadtkritik impliziert, die man für den körperlichen, aber auch moralischen Verfall ihrer Bewohner verantwortlich macht.64 Zu den verschiedenen Teilbewegungen zählen beispielsweise der Vegetarismus, der Antialkoholismus, eine Ernährungs- und Kleidungsreform, das Impf- und Vivisektionsgegnertum, Körperpflege, Naturheilkunde, Sport und Nacktkultur.65 Die Lebensreformbewegung wird von vielen Zeitschriften begleitet und unterstützt, von denen die bedeutendste der 1887 gegründete „Kunstwart“ von Ferdinand Avenarius (1856-1923) ist. Alle Schlüsselpersonen der Bewegung publizieren hier zu allen relevanten Fragen der Lebensreform, später auch des Heimatschutzes. Aus dem „Kunstwart“ geht im Jahre 1902 der „Dürerbund“ hervor, eine Gemeinschaft von Personen, die sich auch eng mit 60 61 62 63 64 65 Vgl. ebd., S. 826f. Vgl. Knaut 1993, S. 16f und Sieferle 1984, S. 156. Neben Langbehn veröffentlicht auch sein Zeitgenosse Paul de Lagarde etwas früher seine kulturpessimistischen „Deutschen Schriften“ (1878-1881). Vgl. zu Langbehn, de Lagarde, Moeller van den Bruck und die Gefahren des Kulturpessimismus, die bis an die Schwelle des Dritten Reiches führt: Stern, Fritz: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland. Bern, Stuttgart und Wien 1963. Zur Kulturkritik im wilhelminischen Deutschland, zu Lagarde, Langbehn und Rudolf Hildebrand auch: Pankau, Johannes G.: Wege zurück. Zur Entwicklungsgeschichte restaurativen Denkens im Kaiserreich. Eine Untersuchung kulturkritischer und deutschkundlicher Ideologiebildung. Frankfurt/M., Bern, New York 1983. Vgl. Hepp 1987, S. 75. Vgl. Sieferle 1984, S. 156. Vgl. Hermand 1991, S. 92f. Zur Lebensreformbewegung vgl. die umfassende Studie von Krabbe 1974, das Handbuch der deutschen Reformbewegungen von 1998, hier besonders S. 73-154; Hepp 1987; Hermand 1991 oder Rothschuh, Karl E.: Naturheilbewegung, Reformbewegung, Alternativbewegung. Darmstadt 1983. Die Lebensreformbewegung überdauert das Kaiserreich und reicht rudimentär bis in die Gegenwart. Der Begriff der „Lebensreform“ ist Mitte der 1890er Jahre entstanden, erstmals nachzuweisen 1896, und bis 1910 einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Vgl. Krabbe 1974, S. 12. Die Tradition dieser Ideen wurzelt in der Kulturkritik des „Rousseauismus“ des 18. Jahrhunderts und seiner Losung vom „Zurück zur Natur“. Vgl. z.B. Krabbe 1974, S. 48f. Einleitung 13 dem Heimatschutz verbunden fühlt. Durch kulturelle Aufklärungs- und Publikationstätigkeit wollen sie eine bodenständige Ausdruckskultur fördern – mit dem deutschen Handwerk als Vorbild.66 Daneben entsteht auch eine erste Frauenbewegung, eine Siedlungsbewegung67 und die Reformpädagogik, Bodenreform- und Jugendbewegung68, Wohnungsreform- und Gartenstadtbewegung69. Alle Reformbewegungen mit ihren teilweise kontroversen Zielen sind oft nur als „Subkultur“ ausgeprägt und schlecht oder nur sektenhaft organisiert. Lebensreformerisches Denken, eher noch Empfinden, kann sozialistische, anarchistische und pazifistische ebenso wie in spiritistisch-okkultistische und völkisch-antisemitische Richtungen in sich aufnehmen.70 Gemein jedoch ist allen Bewegungen eine tiefgreifende Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen und der Drang nach Veränderung, nach Umwälzung, nach Reform des Lebens. Dies ist auch die immanente und erklärte Absicht der Heimatschutzbewegung. Bevor diese einflußreichste und langlebigste aller kulturreformerischen Strömungen im nächsten Kapitel untersucht wird, muß zum besseren Verständnis zunächst der Begriff „Heimat“ geklärt werden.71 4. Die Idee der „Heimat“ Der Begriff „Heimat“ bezeichnet ursprünglich und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in rechtlicher Hinsicht das Territorium, das Land bzw. das Eigentum eines Bauern oder Adeligen.72 Im späten 18. Jahrhundert wurde er als gegenrevolutionärer Entwurf dem aufklärerischen Programm der Verwirklichung einer universellen Vernunft und des Kosmopolitismus gegenüber- 66 67 68 69 70 71 72 Vgl. Knaut 1993, S. 18f. Vgl. zu Kunstwart und Dürerbund die Publikation von Kratzsch 1969. Vorbild hierfür ist die englische „Arts and Crafts“-Bewegung. Vgl. Andresen 1989, S. 24 zur „ästhetischen Volksmission“. Vgl. Linse, Ulrich (Hg.): Zurück, o Mensch, zur Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890-1933. München 1983. Vgl. Giesecke, Hermann: „Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend: Jugendarbeit zwischen Politik und Pädagogik“. München 1981. Zur Wohnungsreform vgl. Clemens Zimmermann: „Von der Wohnungsfrage zur Wohnungspolitik. Die Reformbewegung in Deutschland 1845-1914. Göttingen 1991 und zur Gartenstadtbewegung vgl. Hartmann 1976 und Schollmeier 1990 oder Krückemeyer 1997. Vgl. Frecot, Janos: Die Lebensreformbewegung. In: Vondung 1976, S. 139. Vgl. Ringbeck 1991, S. 1. Das „Deutsche Wörterbuch“ der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm nennt drei Bedeutungen für den Begriff „Heimat“: 1. Das Land oder auch nur den Landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden Aufenthalt hat. 2. Den Geburtsort oder ständigen Wohnort. 3. Das elterliche Haus und Besitztum. Vgl. ebd., Hg.: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Band IV, Abteilung II, Lieferung 4, Leipzig 1962, Spalte 865f. Einleitung 14 gestellt.73 „Heimat“ war jetzt das Singuläre und Charakteristische – der Ausdruck für alles Gewachsene, Vertraute und Gewohnte, für die geschlossene Lebenswelt der Menschen in einem selbstverständlichen Zusammenhang mit der umgebenden Natur. Damit wurde die „Heimat“ zum Sammelbecken für all jenes, was mit der Aufklärung zu verschwinden droht.74 Johann Gottfried von Herder (1744-1803) und Justus Möser (1720-1794) waren die ersten Schriftsteller, die verschiedene Völker im kausalen Zusammenhang mit ihrer räumlichen Umgebung untersuchen, ihre kulturellen Ausprägungen in Kunst, Kleidung und Brauch beschreiben. Möser ging sogar bereits so weit, dem Landmann kulturbegründende und -erhaltende Züge zuzuschreiben und dessen schöpferische Primitivität dem degenerierten Stadtmenschen gegenüberzustellen.75 So entstand der Begriff „Heimat“ erst durch den Verlust angestammter und vertrauter Lebensverhältnisse und wurde zum Schlüsselbegriff der Romantik, wie emotional aufgeladene Begriffe wie „Heimweh“ unterstreichen. Die umgebende Natur bezeichnet darin nicht nur Landschaft im biologisch-geographischen Sinne, sondern bildet mit dem Menschen zusammen eine Einheit als feststehendes Ordnungsprinzip. Als Landschaft umfaßt sie deshalb nicht nur natürliche Erscheinungen wie Wiesen, Wälder und Flüsse, sondern die historisch gewordene Verbindung von Natur und Kultur und somit auch kulturelle Errungenschaften wie menschliche Bauten, Dörfer und Städte bis zu Bräuchen oder Volkskunst.76 „Natur“ als Gesamtorganismus begriffen ist ein Ideal, das von den Romantikern im frühen 19. Jahrhundert als „wahr“, „schön“ und „gut“ empfunden wurde.77 Sieferle formuliert diesen Zusammenhang folgendermaßen: „Natur, Staat und Gesellschaft bilden einen gewachsenen Körper, der nicht in seine Bestandteile zerlegt werden kann, ohne daß das Leben aus ihm entwiche.“78 Heimat vereint das Individuum, das gesamte Volk und die Natur in einer organischen Einheit. Ein Bauer beispielsweise kann nicht ohne sein Land gedacht werden (das für ihn mehr ist als eine Produktionsgrundlage) und sein soziales Umfeld (seine Familie und die anderen Dorfbewohner). In diesem Sinne kann z.B. der Architekt und Heimatschützer Ernst Kühn über die moderne dörfliche Bauweise klagen: „Zu oft 73 74 75 76 77 78 Was „Heimat“ bedeutet, ist bis in die heutige Zeit schwer zu beantworten und findet verschiedene Zugangsweisen, auf die an dieser Stelle nicht umfassend eingegangen werden kann. Vgl. dazu besonders die Aufsätze in dem von Klueting herausgegebenen Band „Antimodernismus und Reform“ sowie das doppelbändige Werk „Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven“, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung. Vgl. Sieferle 1985, S. 38 und Knaut 1993, S. 11. Vgl. Knaut 1993, S. 11f. Vgl. dazu auch Speitkamp 1996, S. 38f. Vgl. Knaut 1993, S. 12. Sieferle 1985, S. 38. Einleitung 15 noch werden die geheimen Fäden, die ein Bauwerk mit der Scholle verbinden, nicht aufgesucht...“79 „Heimat“ ist seit dem frühen 19. Jahrhundert (und ,verstärkt, nach der Reichsgründung) deckungsgleich mit „Vaterland“ und schürt eine emotionale Bindung des Individuums an seinen Staat, seine Nation. Thomas Nipperdey nennt dies den „romantischen Nationalismus“, der alle Kultur als national versteht und eine Nation durch die Gemeinsamkeit ihrer Kultur definiert sieht.80 Jede Nation ist danach geschichtlich geprägt – weniger als Werdendes, sich Veränderndes, sondern als ein bereits „Gewordenes“. Da es also um die historisch-kulturelle Herkunft der Nation geht, verpflichtet auch das Kulturgut als Erbe zu Bewahrung und Weiterführung, mithin zur Treue zum eigenen nationalen Charakter.81 So extrapoliert z.B. der Heimatschützer Clemens Wagener im Jahre 1913 seine Liebe zur „Heimat“ auf die „Nation“: „Mehr als je haben wir Veranlassung, das Heimatgefühl, die Liebe zur angestammten Scholle, im weitern Sinne zum Vaterlande, wachzuhalten und zu pflegen.“82. Vor dem Hintergrund der Bedrohungen von Industrialisierung und Verstädterung erhält der Begriff „Heimat“ erneute Aktualität. Und wieder wird er zur Gegenprojektion, diesmal gegen den Traditionsverlust, die gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen, die Naturzerstörung, den proletarischen Internationalismus. Die Industrielle Revolution als historischer Zivilisationsprozeß hat einerseits den Bestand hergebrachter sozialer Strukturen grundlegend verändert. Andererseits schärfen aber erst diese weitreichenden Veränderungen den Blick für das Erhaltenswerte, für tradierte Gefüge – dafür, daß Heimat schützenswert sei. Heimat wird zum Sinnbild für eine heile, idyllische Welt, in der Mensch, Siedlung und Natur als harmonischer Organismus zusammenklingen und althergebrachte Lebensgefüge intakt sind: Das Konzept der „Kulturlandschaft“ erhält hier also operative Bedeutung. So wird die Suche nach Heimat zu einer Inventur dessen, was dem heimatlichen Erbe an Natur, Volkskultur und Geschichte zuzurechnen ist. Das ist immer positiv konnotiert mit Begriffen wie Bodenständigkeit, Naturnähe/Natürlichkeit, Ländlichkeit, Tradition, Traulichkeit. Heimat in konservativ-bewahrendem Sinne integriert alles Schöne, Vertraute, Geordnete und Gesunde. Sie bietet sich dem entwurzelten Menschen als Ort der Geborgenheit an, als ideale Welt aus vorindustrieller Zeit. Es wird noch zu sehen sein, wie die Sehnsucht nach historisch Gewachsenem, Ländlichem in die vorbildhafte Dorfgemeinschaft projiziert wird, in der sich geordnete Strukturen offenbar erhalten haben: „Heimat war ländlich“83 und soll es auch in den neu 79 80 81 82 83 Kühn, Bd. 2, 1915, S. 6. Vgl. zum romantischen Nationalismus den Aufsatz von Nipperdey 1986, S. 110-123. Vgl. ebd., S. 114f. Wagener 1913, S. 7. Vgl. auch Speitkamp 1996, S. 39. Vgl. Knaut 1993, S. 13. Einleitung 16 zu errichtenden Dorfanlagen sein. Den Bauern wird daher in vielen Dörfern eine strenge Bauberatung zur Seite gestellt, die den Neubau kontrollieren und dafür sorgen soll, daß ein als ländlich und traditionell begriffenes Bild vom Dorf erhalten bleibt. Der Heimatbegriff wird gerade für das gehobene städtische Bürgertum zum Sinnbild für den Kampf gegen die Gefährdung von Land und Bauerntum und damit zum Gegenpol alles Städtischen.84 Während sich in der Stadt althergebrachte Strukturen nivellieren und einer egalisierenden Weltsicht unterworfen werden, bezeichnet die Heimat etwas Individuelles, Besonderes, Unverwechselbares. Bausinger nennt die Heimat „Besänftigungslandschaft“85 – einen Hort des Rückzugs in einer als kalt und rational empfundenen Welt. Der Begriff „Heimat“ ist spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine vielgebrauchte Vokabel. Es entstehen bildungsbürgerliche Heimatvereine, die im Vergleich zu den schon im frühen 19. Jahrhundert existierenden Altertums- und Geschichtsvereinen einen universaleren Ansatz haben und die überkommenen kulturellen Leistungen einer Region oder eines Ortes in Geschichte, Architektur, Natur, Brauchtum und Volkskunst in neoromantischer Manier zu erhalten und wissenschaftlich zu untersuchen trachten. Sie intendieren u.a. die Gründung von Heimatmuseen mit Schriftquellen und ausgestellten Objekten aus Kultur, Natur und Geschichte, die dem Laien die Besonderheiten seiner Heimat näherbringen sollen.86 Bezeichnend ist, daß unmittelbar vor Beginn der Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs ein neues Schulfach namens „Heimatkunde“ in die Lehrpläne aufgenommen wird. Auf Erlaß des Preußischen Kultusministeriums vom 15. April 1914 soll der Gedanke des Heimatschutzes in den Fächern Deutsch, Heimatkunde, Geschichte, Naturkunde, Erdkunde und Zeichnen stärker berücksichtigt werden.87 Diese erneute nationale Inanspruchnahme der „Heimat“ illustriert die Karriere des Begriffes vom empfindsamen Romantizismus zum staatstragenden Schlagwort, das als solches ganz in den Dienst seelischer Ertüchtigung zur „Verteidigung“ des „Vaterlandes“ gestellt wird. 84 85 86 87 Vgl. Heimat 1990, S. 40. Vgl. Bausinger 1990, S. 79. Durch die Entwicklung der Methodik und der Ausbildung der historischen Wissenschaften an den Universitäten sammeln sich nach und nach hier die Experten, während in den Heimatvereinen vermehrt Laienwissenschaftler arbeiten. Deren Aufgabe entwickelt sich dahin, den Universitäten das nötige Material zu beschaffen. Die Vereine popularisieren wiederum diese Ergebnisse und machen sie dadurch bis in die Mittelschichten hinein bekannt. Vgl. Ditt 1990, S. 140. Vgl. Bausinger 1990, S. 82 und Ditt 1990, S. 142. Zum Heimatkundeunterricht vgl.: Goebel, Klaus: Der Heimatkundeunterricht in den deutschen Schulen in Klueting 1991, S. 90-111. 17 II. Heimatschutz und Bauerndorf 1. Die Heimatschutzbewegung 1.1. Protagonisten, Aufgaben, Organisation Im „Lexikon der Kunst“ wird der Begriff „Heimatschutz“ als der „1897 von Ernst Rudorff geprägte Begriff für Bestrebungen und Maßnahmen zur komplexen Erhaltung der durch die Industrialisierung und ihre vielen Auswirkungen seit dem 19. Jahrhundert gefährdeten natürlichen, geschichtlichen und kulturellen Reichtümer und Eigenarten eines Landes.“ verwendet.1 Begründer der Heimatschutzbewegung ist Ernst Rudorff (1840-1916), Komponist und Lehrer an der Berliner Musikhochschule.2 Erstmals bekannt wird er einem größeren Publikum mit dem Aufsatz „Über das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur“ im Jahre 1880, in dem er die Landschaftsveränderungen und Naturzerstörungen als Negativseite der Industrialisierung anprangert.3 Begriffprägend und programmatisch für die Bewegung ist sein Aufsatz „Heimatschutz“, der 1897 in den „Grenzboten“ erscheint.4 Ausgangspunkt seiner Argumentation ist immer wieder der Gegensatz zwischen Stadt und Land - „Scholle gegen Asphalt“.5 Er wendet sich gegen die wachsende Großstadt mit deren negativen Begleiterscheinungen wie Pauperismus, Landflucht und Umweltverschmutzung. Ebenso äußert er sich gegen den Materialismus, die politische Zentralisierung und soziale Nivellierung, der mit den Wertvorstellungen und Idealen auch lokale und regionale Traditionen zum Opfer fallen. Eisenbahnen, Fabriken, Steinbrüche, Flußregulierungen, Talsperren und Flurbereinigung seien verantwortlich für die „Ausbeutung aller Schätze und Kräfte der Natur“6 – wie übrigens auch der Tourismus, die „Fremdenindustrie“ sowie verunstaltende Reklameschilder.7 Aber nicht Natur und Landschaft allein sind es, die Rudorff vor den gewaltsamen Eingriffen der technisierten Welt schützen will, sondern ebenso die architektonischen Werke der deutschen Landschaften: „Die übermächtige Strömung der Gegenwart aber, wenn sie nicht aufgehalten wird, treibt rücksichtslos einer Zeit entgegen, wo die Kirchen des Mittelalters und einige andere Reste der Vergangenheit [...] des Zusammenhangs mit einer solchen Umgebung beraubt, in einer fremdartigen 1 2 3 4 5 6 7 „Heimatschutz“. In: Lexikon der Kunst 1971, Bd. 2, S. 245. Vgl. zu Rudorffs Wirken z.B. Schoenichen 1954 und Knaut 1993, S. 27-39. Rudorff, Ernst: „Über das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur.“ In: Preußische Jahrbücher 45/1880, S. 261-276. Vgl. Hermand 1991, S. 84. Rudorff, Ernst: „Heimatschutz.“ In: Grenzboten 56/1897, Nr. 2, S. 401-414 und S. 455-468. Achleitner 1989, S. 165. Vgl. Rudorff 1897, Neudruck 1994, S. 14. Vgl. Morris-Keitel 1994, S. 45. Heimatschutz und Bauerndorf 18 Welt ein einsames und wunderliches Dasein fristen, wo die ehemals so reiche Fülle wundervoller Straßenbilder und Städtelandschaften, die Deutschland sein eigen nannte, vernichtet und verschwunden sein wird.“8 Rudorff sieht eine vermeintlich vergangene Idylle nur noch in der Kleinstadt und vor allem auf dem Lande erhalten9: Es wird zusammen mit seinen Bewohnern als „Bewahrer der völkischen Lebenskraft“ verklärt.10 Land und ländlichem Leben werden in ihrer „Beschaulichkeit“, „Naivität“ und „Reinheit“ besondere Aufmerksamkeit gewidmet – ihr Schutz und ihre Erhaltung gelten als besonders dringlich.11 So beschwört Rudorff das Bauerntum: „Daher ist die Mahnung, die alten Eigentümlichkeiten des Standes: Sitten und Gebräuche, Tracht und Schnitt, Hausrat und Hauszier zu wahren, viel wichtiger und weiter reichend, als man auf den ersten Blick meint. Der Stand, der seinen Stolz einbüßt, der keine Freude an sich hat, ist im Niedergang begriffen. Wer also die Kennzeichen des Standesstolzes und so das Standesbewußtsein wahrt, der wehrt damit dem Niedergang des Standes.“12 Spätestens hier zeigt sich seine sozialkonservative Haltung, die nicht nur die ökonomisch bedingte Zerstörung ländlicher Idylle bekämpft, sondern auch das entwurzelte Individuum zurückbinden will an Heimat und Stand, implizit die erodierenden historischen Strukturen, Traditionen und gesellschaftlichen Gefüge des Staates bewahren will: „Zur harmonischen, schönen Landschaft, zur unberührten oder traditionell heilen, landwirtschaftlich gestalteten Natur gehörten auch Menschen, die in patriarchalischen, geordneten und auf den Betrachter anheimelnd wirkenden Beziehungen leben.“13 Rudorff ist weder von sozialkritischen oder ökologischen, sondern von ästhetischen Bedenken angetrieben: dem „Verlust der Poesie“ der Heimat.14 Der Anklang, den Rudorffs Schriften in der Öffentlichkeit finden, macht bewußt, wie viele andere Teile der Bevölkerung die Kulturkritik Rudorffs befürworten. Der Architekt Paul Schultze-Naumburg gilt als bekanntester Vertreter der Bewegung, als Wegweiser vor allem für die neu entstehende Baukunst und Denkmalpflege.15 Er begründet die „Saalecker Werkstätten GmbH“ bei Bad Kösen und ist Mitglied im Deutschen Werkbund, der Gartenstadtgesellschaft und im Gesamtvorstand des Dürerbundes. Aufsehen erregte er mit seinen „Kulturarbeiten“, die auf der Grundlage seiner Aufsätze in Ferdinand Avenarius‘ 8 9 10 11 12 13 14 15 Rudorff 1897, Neudruck 1994, S. 25f. Als Idyll kann die Landschaft nur von den Menschen betrachtet werden, die nicht auf dem Lande leben und arbeiten: „Es sind daher Angehörige einer differenzierten Hochkultur, Fremde, Städter, letztlich ‘Touristen’, also Personen, zu denen auch Rudorff gehört, die die Schönheit der Natur um ihrer selbst willen aufsuchen.“ Sieferle 1984, S. 163. Knaut 1993, S. 31. Bergmann 1970, S. 126: „Es war die aus der Projektion eines Tagtraumes gewonnene heile Welt, die mit der Wirklichkeit nichts gemein hatte; es war die Fiktion eines utopischen Paradieses, geboren aus dem Ressentiment und romantischen Sehnsüchten: eine von ihrem Autor für real existierend gehaltene Kontrastwelt, in der alle als ideal empfundenen Werte realisiert waren.“ Vgl. Knaut 1993, S. 31. Rudorff 1897, Neudruck 1994, S. 62. Sieferle 1984, S. 162. Vgl. Knaut 1993, S. 31, 33 und Klueting 1998, S. 48. Vgl. Ringbeck 1991, S. 218f. Vgl. zu Schultze-Naumburg „vom Kulturreformer der Jahrhundertwende zum Kulturpolitiker im Dritten Reich“ die Publikation von Borrmann 1989. Heimatschutz und Bauerndorf 19 „Kunstwart“ in neun Bänden (von 1901-1917), erscheinen. Darin widmet er sich, neben im weitesten Sinne ökologischen Fragen, vor allem der Architektur der Gründerzeit, den Problemen des Städtebaus und der Gebäudekunde.16 Offensiv nutzt er die Mittel der Fotografie (er stellt positive und negative Bildbeispiele gegeneinander), um seinen Lesern gravierende „Verunstaltungen“ vor Augen zu führen. Wie kein zweiter hat er die Reformbewegungen der Zeit zusammengefaßt und breiten Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht. Eindringlich formuliert er seine Ziele in dem Buch „Die Entstellung unseres Landes“ von 1905, in dem er gegen die „kapitalistisch durchseuchte“ Industriegesellschaft eine „ländlich-bäuerische Schlichtheit“ empfiehlt – als Vorbild für eine naturverbundene Zukunft.17 Seine vielfältige Arbeit macht ihn nicht nur in Heimatschutzkreisen populär, sondern gilt aufgrund seiner Architekturtheorie bis 1918 als den Heimatschutzstil prägend. Mit Rudorff und der Heimatschutztheorie geht er darin konform, daß in vorindustrieller Zeit Mensch und Natur noch einen Organismus bildeten. Das künstlerische Schaffen des Menschen sei kraft seines Instinktes harmonisch und schön gewesen. So paßte sich auch die Architektur wie selbstverständlich der Landschaft an, war zweckhaft, einfach und schön. Nicht die Reflexion, sondern allein der Instinkt könne die Architektur also aus der Krise befreien.18 Schultze-Naumburg wie Rudorff polemisieren gegen „das internationale Weltschema, welches in seiner rationellen Nacktheit über unser Land verbreitet worden ist“19. Nicht von ungefähr etabliert sich schon zu Schultze-Naumburgs Zeiten der Begriff der „Amerikanisierung“ für Tendenzen zur Oberflächlichkeit, schablonenhafter Lebenswelt und Materialismus. Die Krise um die Jahrhundertwende sei nicht einem politischen Mißstand geschuldet, sondern wird als allgemeiner moralischer Niedergang begriffen. Seine Symptome: Verfall von Geschmack, Stil, Kultur und Geschichtsbewußtsein.20 Schultze-Naumburg beschränkt sich jedoch nicht, wie Rudorff, auf den restaurativen Rückschritt in die „Poesie“21 früherer, besserer Zeiten. Im Gegenteil akzeptiert er zwangsläufig den wirtschaftlichen und technischen Fortgang der Gegenwart. Wichtig sei aber, die kulturelle Entwicklung auf die Basis der vorindustriellen Tradition zu stellen und bei einer kontinuierlichen Entwicklung die eigene Kultur und Geschichte nicht zu verleugnen. Heimatschutz und Moderne müßten also miteinander konfrontiert werden, damit sie sich gegenseitig durch- 16 17 18 19 20 21 Vgl. Morris-Keitel 1994, S. 47 und Knaut 1993, S. 55. Vgl. Hermand 1991, S. 86. Vgl. Knaut 1993, S. 56. Zit. beiBergmann 1970, S. 132. Vgl. Speitkamp 1996, S. 35. Vgl. Bergmann 1970, S. 126. Heimatschutz und Bauerndorf 20 dringen könnten.22 Auch in architektonischer Hinsicht dürften sich wirtschaftliches Wachstum und natürliche Schönheit nicht widersprechen: Dann nämlich, wenn die zu errichtenden Bauten – seien es Wohnhäuser, Gärten, öffentliche Bauten oder gar Fabriken – in die umgebende Landschaft eingepaßt werden.23 Sein Ziel ist es, auf Basis der heimatlichen Traditionen dem Fortschritt den richtigen – d.h. ästhetischen – Weg zu weisen. Unterschiedliche Auffassungen über den „Schutz der Heimat“ spalten auch die Heimatschutzbewegung in zwei große Flügel: Gibt sich der eine Flügel, wie Rudorff, eher protektionistisch, bewahrend und reaktionär, so will der andere, wie Schultze-Naumburg, Rationalität und Gefühl, Verstand und Gemüt, Tradition und Moderne miteinander versöhnen.24 Kein Wunder, daß sich Klaus Bergmann der Heimatschutz insgesamt als „janusköpfig“ darstellt.25 Obwohl ein Teil der Bewegung die modernen Entwicklungen als unvermeidlich akzeptiert und bestrebt ist, zumindest ihre Konsequenzen zu mildern, liegt trotz dieses Reformwillens das Heimatschutz-Ideal immer in vorgründerzeitlicher, biedermeierlicher Kultur. Einer Zeit also, in der laut Heimatschutz Sozialstruktur, Lebenswelt, Handwerk und Baukunst noch auf dem festen Grund der Tradition fußten. Damit begreift sich der Heimatschutz nicht als einfacher Anwalt von Natur, Architektur oder Volkskunst, sondern als Kulturbewegung für die „Heimat“ – die natürlich die deutsche Heimat meint – im umfassenden Sinne. Alles Bäuerliche, Ländliche, Handwerkliche, das Dorf wie die Kleinstadt fügt sich zu einem romantischen Wunschbild der Heimatschützer. Oskar Schwindrazheim nennt diesen Sehnsuchtsort „Deutschhausen“.26 Die Vergangenheit wird als Zukunftsperspektive reproduziert, wobei das zwangsläufig neu zu Gestaltende sich nur harmonisch in das schon Bestehende einfügen muß.27 Die Heimatschutzbewegung zeigt sich im Grunde also als antimodernistisch und rückwärtsgewandt. Im Jahre 1904 wird auf Anregung Paul Schultze-Naumburgs und unter Mitwirkung Rudorffs auf dem Dresdner Tag für Denkmalpflege der „Deutsche Bund für Heimatschutz“ gegründet. Damit sind erstmals alle Heimat- und Traditionsvereine mit ihren verschiedenen 22 23 24 25 26 27 Vgl. Knaut 1993, S. 59 und Speitkamp 1996, S. 41. Vgl. Morris-Keitel 1994, S. 48. Vgl. Knaut 1993, S. 64. Vgl. Bergmann 1970, S. 133 (auch Sieferle 1984, S. 157). Vor den reaktionären Momenten des Heimatschutz warnt auch der österreichische Denkmalpfleger Max Dvorák: Er sei der letzte, der die Bedeutung des Heimatschutzes für die Denkmalpflege verkenne, aber „hüten wir uns, daß unsere Begeisterung, unsere Pietät, nicht bei einer efeuumsponnenen Mauer stehen bleibt, hüten wir uns, daß der Heimatschutz, die Heimatkunde, nicht auf das Niveau der alten Altertumskunde herabsinkt“. Zitat nach dem Wiederabdruck in dem Dvorák gewidmeten Sonderheft der Österreichischen Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 1974 (H. 3) S. 135, zit. nach Huse 1984, S. 158f. Vgl. Schwindrazheim, Oskar: Eine Deutschhausen-Ausstellung. In: Kunstwart 13,3/1899, S. 116f, zit. nach Kratzsch 1969, S. 226. Vgl. Knaut 1993, S. 63. Heimatschutz und Bauerndorf 21 Ausprägungen in einem gemeinsam agierenden, institutionalisierten Verband zusammengefaßt. Geschäftsführer des Verbandes ist der Schriftsteller und Redakteur der Zeitschrift „Heimat“, Robert Mielke; Paul Schultze-Naumburg wird zum Ersten Vorsitzenden ernannt.28 Daneben schließen sich auch die Architekten Theodor Fischer, Hermann Muthesius und Richard Riemerschmid sowie die Kunst- bzw. Bauhistoriker Justus Brinckmann, Paul Clemen, Alfred Lichtwark und Cornelius Gurlitt dem Bund an. Die Spannweite der Aufgaben wird in der Satzung des Bundes deutlich:29 § 1. Der Zweck des Bundes ist, die Deutsche Heimat in ihrer natürlichen und geschichtlich gewordenen Eigenart zu schützen. Das Arbeitsfeld des Bundes teilt sich in folgende Gruppen: a) Denkmalpflege. b) Pflege der überlieferten ländlichen bürgerlichen Bauweise; Erhaltung des vorhandenen Bestandes. c) Schutz des Landschaftsbildes einschließlich der Ruinen. d) Rettung der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt sowie der geologischen Eigentümlichkeiten. e) Volkskunst auf dem Gebiete der beweglichen Gegenstände. f) Sitten, Gebräuche, Feste und Trachten. Jede dieser Gruppen hat einen eigenen Leiter, etwa den Architekten, Siedlungs- und Städtebauer Theodor Fischer für die „Denkmalpflege“ oder Paul Schultze-Naumburg für die „Ländliche Bauweise“30. Die Aufgaben des Bundes reichen vom Kampf gegen die Landschaftsverschandelung und -verschmutzung über die Förderung von Heimatmuseen bis zur Bauberatung und pädagogischen Aufklärung.31 Seine Mitglieder rekrutieren sich aus allen nennenswerten Bereichen des Bildungsbürgertums, sind Politiker ebenso wie Lehrer oder Museumsfachleute. Ausgerechnet ländliche Berufsgruppen – vor allem die Bauern, um deren Architektur die Heimatschutzbewegung doch so besorgt ist – sind allerdings unterrepräsentiert.32 Das verdeutlicht wiederum, daß ein Bewußtsein über eine „Kulturkrise“ und ein daraus resultierender Reformwille vor allem im gehobenen Bürgertum vorhanden ist. Landwirte oder Arbeiter werden von sehr viel gravierenderen Krisennöten rund um die eigene Existenz bedrängt. Freundschaftliche Verbindungen und personelle Verflechtungen pflegt der Bund Heimatschutz mit dem noch jungen „Bund Deutscher Architekten“ (BDA), dem älteren „Verein Deutscher Ingenieure“ und dem 1907 gegründeten „Deutschen Werkbund“ (DWB), der gegen die gründerzeitliche Kunstauffassung eine Veredelung der gewerblichen Erzeugnisse durch 28 29 30 31 32 Vgl. ebd., S. 67-73. Da auf weitere Details zur Gründung und Organisation des Bundes Heimatschutz nicht eingegangen werden kann. Siehe dazu aber sehr ausführlich ebd., S. 65-126. Vgl. „Mitteilungen des Bundes Heimatschutz 1, 1904/05, S. 1, zit. nach Sieferle 1984, S. 167. Vgl. Knaut 1993, S. 91. Dies gilt für den Zeitraum von 1904-1908. Vgl. Sieferle 1984, S. 167f. Vgl. Knaut 1993, S. 198. 1904 waren insgesamt 636 Einzelpersonen und Korporationen als Mitglieder des Bundes verzeichnet, im Jahre 1916 sind es 1230 Mitglieder. Ebd., S. 197. Heimatschutz und Bauerndorf 22 Zusammenwirken von Kunst, Industrie, Handwerk und Technik anstrebt. Besonders dessen einflußreichster Vertreter, Hermann Muthesius, und der Hamburger Stadtbaumeister Fritz Schumacher stehen dem Heimatschutz nahe.33 Bei Behörden, Vereinen und anderen Institutionen bemüht sich der Bund um intensive Öffentlichkeitsarbeit – soweit es seine schlechte finanzielle Lage erlaubt.34 Um erfolgreich zu sein, muß der Bund aufklären und die Zeitgenossen zum eigenverantwortlichen Heimatschutz anhalten. Als offizielles Presseorgan gelten die „Mitteilungen des Bundes Heimatschutz“, die ab 1905 vom Pressereferenten Robert Mielke herausgegeben werden. Daneben fließt der Hauptteil des Etats in kleinere Veröffentlichungen und Flugschriften: In den Landesverbänden kursieren weitere unzählige lokale Publikationen,35 zahlreiche Heimatschutz-Beiträge erscheinen in Ferdinand Avenarius‘ „Kunstwart“. Es gelingt sogar, in verschiedenen Fachzeitschriften regelmäßige Heimatschutzrubriken zu etablieren. Anhand der Schultze-Naumburgschen Methode von Beispiel und Gegenbeispiel wird besonders die Fotografie zum wichtigsten Instrument der Öffentlichkeitsarbeit, u.a. durch sogenannte Heimatschutzpostkarten. Nicht zuletzt sind alle Mitglieder des Bundes angehalten, gegen Erstattung der Reisekosten in ganz Deutschland Vorträge zu halten.36 Diese intensive Öffentlichkeitsarbeit bewirkt, daß der Heimatschutz im gesamten Deutschen Reich bis in ländliche Regionen hinein schnell bekannt und äußerst populär wird.37 Zwar ist der Bund Heimatschutz ein deutschlandweiter Dachverband. Organisiert ist er aber in zahlreichen Landesverbänden und Ortsgruppen, die es teilweise schon vor Gründung des Bundes gab. Sie sind jeweils dezentral geleitet und selbständig. Während der Bund sich – besonders nach 1908 – zunehmend auf die Organisation und Propaganda der Bewegung beschränkt, bleibt die praktische Arbeit vor Ort den Landesvereinen und Ortsgruppen vorbehal- 33 34 35 36 37 Vgl. Andresen 1989, S. 33. Paul Schultze-Naumburg ist die prominenteste Person, die in beiden Vereinigungen engagiertes Mitglied ist. Der Deutsche Werkbund bietet auch Architekten wie Ludwig Mies van der Rohe, Walter Gropius, Hans Poelzig oder den Brüdern Max und BrunoTaut ein Forum. Vgl. zur Geschichte des Werkbundes Campbell, Joan: Der Deutsche Werkbund 1907-1934. Stuttgart 1981. Vgl. Knaut 1993, S. 157. Vgl. Scarpa 1983, S. 33. Ab 1908 werden die „Mitteilungen“ in den griffigeren Titel „Heimatschutz“ umgetauft. Vgl. Knaut 1993, S. 149. Vgl. zur Öffentlichkeitsarbeit des Bundes bis 1913 Knaut 1993, S. 159-162. All dies scheint so hohe Wellen geschlagen zu haben, daß sich im Jahre 1911 der „Bund der Industriellen“ genötigt fühlte, eine „Kommission zur Beseitigung der Auswüchse der Heimatschutzbestrebungen“ einzusetzen. Vgl. Ditt 1990, S. 142. Interessanterweise ist die Heimatschutzbewegung nicht nur national, sondern auch international organisiert – weil Industrialisierung und Verstädterung auch in anderen Staaten negative Begleiterscheinungen zeitigen. Noch vor dem Ersten Weltkrieg finden zwei internationale Kongresse für Heimatschutz statt, 1909 in Paris und 1912 in Stuttgart, wo Teilnehmer aus Deutschland, Frankreich, Italien, Schweiz, England, Japan, Holland, Dänemark, Österreich, Belgien und Norwegen zusammenkommen. Vgl. Sieferle 1984, S. 168. Heimatschutz und Bauerndorf 23 ten.38 Diese Dezentralisation entspricht den Zielen der Bewegung, regionale Eigenarten und landschaftliche Besonderheiten nicht durch egalitäre Behandlung zu verwischen. Jegliche Kultur existiert für den Bund zwar nur vereint mit einer ganz bestimmten Umwelt.39 In den Blick geraten dabei dennoch weniger Einzelobjekte, sondern große und immer größere Einheiten. Die „Kulturlandschaft“ ist – wenn auch unausgesprochen – Ziel des Heimatschutzes.40 Unterschiedlich stark engagiert sind die Heimatschutzorganisationen in den Regionen, in denen die zu untersuchenden Dörfer liegen. In der Provinz Posen z.B. (in der das Ansiedlungsdorf Golenhofen liegt) sowie in West- und Ostpreußen existieren überhaupt keine eigenen Provinzialverbände für Heimatschutz.41 Das mag daran liegen, daß diese Landstriche von der Industrialisierung noch weitgehend verschont sind und ihre agrarische Prägung intakt ist. Ein als akut empfundener Reformbedarf zum Schutz der Heimat ist also nicht vorhanden – verglichen mit anderen Regionen werden hier durch die Innere Kolonisation Landwirtschaft und Bauerntum sogar spürbar unterstützt. Auch in dem industriell wenig entwickelten Fürstentum Waldeck gründet sich erst im Mai 1909 ein „Verein Naturdenkmalschutz in Kurhessen und Waldeck e.V.“ Zwei Jahre später trennen sich beide Länder und erweitern auf Bitten des Bundes Heimatschutz ihre Aufgabenstellung von dem reinen Naturschutz auf den allgemeineren Heimatschutz. Seitdem existiert auch in Waldeck ein selbständiger „Waldeckischer Bund für Heimatschutz“ mit Sitz in Arolsen und dem Arbeitsschwerpunkt auf Naturschutz und Bauwesen.42 Einflußreicher dagegen ist „Der Bund für Heimatschutz in Württemberg und Hohenzollern“. Im Königreich Württemberg liegt das zu untersuchende Dorf Böhmenkirch. Der Bund wird am 12. März 1909 gegründet, um „den Eingesessenen wie den Zugewanderten die landschaftlichen Schönheiten und vielseitigen Kulturschätze der Heimat nahezubringen“43. Für eine erfolgreiche Arbeit sorgt hier der enge Schulterschluß mit der Staatsregierung, bei der ohnehin die meisten Mitglieder angestellt sind. Daneben pflegt der Bund enge Kontakte mit der amtlichen Beratungsstelle für das Baugewerbe und dem Landesausschuß für Natur- und Heimatschutz. Unterstrichen wird die Konzentration auf Fragen des Bauwesens mit der Er38 39 40 41 42 43 Vgl. Knaut 1993, S. 158. Dies ist auf eine Satzungsänderung auf Bundesebene von 1908 zurückzuführen. Sie verwandelt auf zunehmenden Druck einzelner Bundesmitglieder und der Landesvereine den autoritär und hierarchisch geführten Bund in eine zunehmend föderalistische Organisation, bei der den Landesvereinen größeres Gewicht eingeräumt und das Schwergewicht von oben nach unten verlagert wird. Ebd., S. 88. Vgl. Scarpa 1983, S. 34. Vgl. Knaut 1993, S. 63. Sie umfaßt im 19. Jahrhundert nicht nur die Gesamtheit der natürlichen Umgebung, sondern auch die vom Menschen hergestellten Häuser, Straßen, Alleen, Brücken, Dörfer oder Städte. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 123 (Tabelle). Dagegen existieren in den Provinzen Schlesien und Pommern seit 1910 Landesvereine für Heimatschutz. Vgl. Knaut 1993, S. 181. Im Jahre 1913 verzeichnet der Verein 160 Mitglieder. Zuhorn 1954, S. 32. Heimatschutz und Bauerndorf 24 nennung von Paul Schmohl zum Vorsitzenden des Bundes; er ist Direktor der Stuttgarter Baugewerbeschule und Leiter der Bauberatungsstelle.44 Wie in Württemberg zeigt sich auch in anderen Ländern oder Regionen des Deutschen Reiches, daß der Heimatschutz umso einflußreicher wird, je enger er mit den jeweiligen Regierungen zusammenarbeitet, je großzügiger er von ihnen finanziert wird. Das zeigt sich z.B. im Königreich Sachsen, in dem im Jahre 1913 auf der Internationalen Baufachausstellung in Leipzig die sogenannte „Dorfanlage mit Beispielsgehöft“ präsentiert wird. In Sachsen wird 1908 der „Sächsische Heimatschutz. Landesverein zur Pflege heimatlicher Natur, Kunst und Bauweise“ gegründet. Der Verein ist direkt dem Bund Heimatschutz untergeordnet und unterhält beste Kontakte zur sächsischen Regierung – dem Finanz- und Innenministerium.45 Dadurch ist der Verein finanziell sehr gut gestellt und erhält seit 1907 eine hauptamtlich besetzte Geschäftsstelle, ab 1912 sogar einen Etat für die Einrichtung einer Zentralstelle für Wohnungsfürsorge und für eine Bauberatungsstelle. Die Vereinsarbeit ist geteilt in die drei Abteilungen Bauberatung, Volkskunst und Naturschutz, wobei auch hier ein besonderer Schwerpunkt auf Architektur gelegt wird. Die im Verein angestellten Architekten beraten Privatpersonen sowie Behörden über neu zu errichtende Gebäude und planen Alternativentwürfe, zuerst ehrenamtlich, später in der vereinseigenen Bauberatungsstelle. Sehr eng ist die Kooperation auch mit der sächsischen Kommission zur Erhaltung der Kunstdenkmäler. Zwar hat der Verein offiziell nur beratende oder begutachtende Funktion, doch nutzt er diese Schlüsselfunktion zur Ausweitung seines Einflusses, vor allem auf staatliche Bauvorhaben. Gerade in Sachsen oder im Rheinland sind die Heimatschutzvereine nicht ohne Grund so engagiert: In beiden Ländern zeigte die rapide Industrialisierung schnell ihre Schattenseiten, veränderte sich die agrarische Prägung innerhalb von wenigen Jahren. Die Umwälzungen führen dort zu entsprechend starken Reformbewegungen, die für den Schutz von Natur und Architektur kämpfen. Das wird besonders anschaulich in der Rheinprovinz, in der in Köln auf der „Deutschen Werkbund-Ausstellung“ 1914 das „Neue Niederrheinische Dorf“ errichtet wird. Der „Rheinische Verein für Denkmalpflege und Heimatschutz“ ist nach Andreas Knaut der bedeutendste Landesverband für Heimatschutz auf dem Gebiet des preußischen Staates.46 Er wird am 20. Ok44 45 46 Vgl. Knaut 1993, S. 182. Im Jahr 1913 führt der Bund 3.000 bis 3.500 Mitglieder bei einem Etat in Höhe von 9.000 DM. Vgl. ebd., S. 186 und 315. Während der Verein im Jahre 1904 noch 80 Mitglieder zählt, sind es im Jahre 1913 bereits 3.649 Mitglieder. 1909 beträgt sein Gesamtetat ca. 21.700 M. Vgl. Knaut 1993, S. 175. Im Jahre 1906 zählt der Verein 263 Mitglieder, während es zehn Jahr später bereits 1774 Mitglieder (Einzelpersonen und Vereinigungen) sind. Dazu gehören sämtliche Stadt- und Landkreise der Provinz und 149 Gemeinden und Landbürgermeistereien. Der Verein ist, u.a. durch staatliche Zuwendungen, recht wohlhabend: Während sein Budget 1906/7 57.723 M beträgt, steigert er sich bis 1915 Heimatschutz und Bauerndorf 25 tober 1906 in Köln von Clemens Freiherr von Schorlemer-Lieser gegründet, dem Oberpräsidenten der Rheinprovinz und späterem preußischen Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten. Das Ziel: „Jeden Rheinländer zum besorgten Konservator seiner engeren städtischen oder ländlichen Heimat heranzubilden“47. Durch diese enge Verbindung mit der Provinzialverwaltung treten alle rheinischen Regierungspräsidenten und zahlreiche Oberbürgermeister dem Bund bei, u.a. auch bekannte Persönlichkeiten wie der Architekt Peter Behrens. 1909 wird in Düsseldorf die Rheinische Bauberatungsstelle gegründet. Der Schwerpunkt des Vereins liegt – mitbegründet auch durch den rheinischen Provinzialkonservator und Kunsthistoriker Paul Clemen, Mitinitiator des Vereins – auf Architektur und Denkmalschutz. Aktiv kümmert sich der Verein um die „Bewahrung der Landschafts- und historischen Ortsbilder und die Weiterbildung der rheinischen Bauweise“ und organisiert im Jahre 1908 eine Konferenz gegen die bauliche Verunstaltung von Stadt- und Dorfbildern in der Rheinprovinz.48 1.2. Gesetzgebung und Denkmalpflege im Spiegel des Heimatschutzes Es entspräche nicht ihrem Selbstverständnis, wäre die Heimatschutzbewegung nur propagandistisch tätig. Die kulturpolitische Mission des Bundes zielt konkret auf eine gesetzliche Verankerung ihrer Forderungen: „Wir halten die Gesetzgebung nicht für die beste und vornehmste Waffe des Heimatschutzes. Diese wird stets Beratung und Belehrung bleiben. Aber im Ernstfalle, wo alles gute Zureden versagt, ist der Zwang des Gesetzes immerhin das stärkste und letzte Mittel.“49 Zumal eine unsichere Rechtslage und eine auf wirtschaftliche Interessen ausgerichtete Bauwirtschaft ohnehin einer Revision bedurfte. Zwar greifen von staatlicher Seite schon vor 1900 in verschiedenen deutschen Staaten ästhetische Bestimmungen in das private Nutzungsrecht ein.50 Diese einzelnen Auflagen gehen dem Heimatschutz jedoch nicht weit genug – er fordert eine flächendeckende Gesetzgebung. Die Forderungen des Heimatschutzes gründen in ästhetischen Fragestellungen: 47 48 49 50 auf 70.328 M. Der Verein tritt erst im Jahre 1922 dem Bund Heimatschutz als Landesverband bei. Vgl. ebd., S. 123 (Tabelle). Zuhorn 1954, S. 30. Vgl. zur Chronik des Vereins auch Ruland, Josef: Kleine Chronik des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Landschaftsschutz. In: Erhalten und Gestalten. 75 Jahre Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Heimatschutz. Neuss 1981, S. 13-56. Vgl. Knaut 1993, S. 176. Bredt 1912, S. 9. Als damaliger Amtsrichter ist er der Heimatschutzbewegung verpflichtet und Mitbegründer und erster Schriftführer des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Heimatschutz. Nach Hartung 1989, S. 178. Vgl. Knaut 1993, S. 242. In Bayern, Württemberg und Hessen wurden bereits für die Bau- und Fassadengestaltung ästhetische Auflagen gemacht. Dazu kam das preußische Landrecht von 1794, daß die Errichtung von Bauten verbot, die grob verunstaltend waren. Heimatschutz und Bauerndorf 26 „Deshalb muß eben heutzutage in den ästhetischen Fragen, wenn nicht weiter völlige Anarchie herrschen soll, eine gewisse aufgeklärte Bevormundung bestehen, bis die Menschen auch auf diesem Gebiete lediglich durch freie Selbstbestimmung das Höchstmögliche an Gewinn für die Kultur schaffen können, was natürlich auch hier zu erstreben ist.“51 Zu den Forderungen des Heimatschutzes gehören Verordnungen, die nicht allein Einzeldenkmäler, sondern auch ganze Straßenzüge, Orts- und Landschaftsteile unter Schutz stellen; ferner eine listenmäßige Erfassung von Bau- und Naturdenkmälern, die deren Eigentümer uneingeschränkt zu bewahren haben. Eine Baupolizei soll darüber wachen, ob Neubauten sich in den Altbestand harmonisch einpassen.52 Seine Vorschläge fließen in die preußischen „Verunstaltungsgesetze“ von 1902 und 1907 ein.53 Während sich das erste „Gesetz gegen die Verunstaltung landschaftlich hervorragender Gegenden“ auf ein Verbot von „Reklameverschandelungen" und den Schutz besonders schützenswerter landschaftlicher Flächen beschränkt, ist das zweite „Gesetz gegen die Verunstaltung von Ortschaften und landschaftlichen Gegenden“ viel weitreichender.54 Der Bund Heimatschutz befindet das Gesetz – trotz der Mitarbeit zweier Heimatschützer – als unzureichend, obwohl erstmals in Preußen auf dem Gebiet der Architektur umfassende Neuerungen erzielt werden.55 Reklame wird genehmigungspflichtig, Neubauten und bauliche Veränderungen werden verboten, wenn sie Straßen, Plätze oder Ortsbilder „gröblich“ verunstalten oder die Eigenart einer Landschaft zerstören. Veränderungen an Bauwerken künstlerischer oder geschichtlicher Bedeutung oder Neubauten bzw. bauliche Veränderungen in deren Umgebung können verboten werden, wenn diese die Eigenart oder den Eindruck des Gebäudes beeinträchtigen. Bedeutender als das Gesetz selbst sind jedoch die Ministerialerlasse, die diesem folgen. Besonders der erste von 1908 ruft dazu auf, „wieder anzuknüpfen an die gesunde Überlieferung früherer Zeiten mit dem Ziel, den Bauten in mittleren und kleinen Städten ein schlicht bürgerliches Gepräge zu geben und auf den Dörfern so zu bauen, wie es das bäuerliche Selbstbewußtsein vereint mit weiser Sparsamkeit unter Benutzung heimischer Bauweise und in Anpassung an die Landschaft […] früher verstanden hat“56. Hier wird eindrücklich auf empfundene Mißstände im Bauwesen hingewiesen wie z.B. die Übertragung der städtischen Bauweise auf das Land oder eine Überladung von Bauten mit Zierformen. Der Erlaß empfiehlt weiterhin den Organen der Staats-, Provinzial- und Ortsbe51 52 53 54 55 56 Vgl. Heyer 1912, S. 7. Heyer ist Rechtsreferendar in Kassel und Heimatschützer. Vgl. Knaut 1993, S. 241f. Vgl. Scarpa 1983, S. 34. Die Verunstaltungsgesetze sind abgedruckt und kommentiert bei Bredt 1912, S. 1-28 und Heyer 1912, S. 108-113. Bei der Ausführung des Verunstaltungsgesetzes von 1907 stellt auch der Rheinische Verein für Heimatschutz zahlreiche Sachverständige und beteiligt sich an der Formulierung von Ortsstatuten. Vgl. Knaut 1993, S. 176. Zit. nach Ringbeck 1991, S. 220f. Heimatschutz und Bauerndorf 27 hörden, die bauliche Entwicklung ihrer Ortschaften mit Aufmerksamkeit zu verfolgen und eine belehrende, aufklärerische Wirkung hinsichtlich des landschaftstypischen Bauens zu entfalten. Als Mittel dafür werden Vorträge, Zeitschriften und Wettbewerbe zur Erlangung mustergültiger Entwürfe vorgeschlagen. Die enge Verbindung von Staat und Bund, die in den gesetzlichen Eingriffen ihren Niederschlag findet, verhilft dem Heimatschutz zur reichsweiten Wirkung.57 Die preußischen Gesetze halten auch andere deutsche Länder dazu an, sich um Schutz und Erhalt von Bauwerken, Ensembles und der Landschaft zu bemühen. Eine besonders weitreichende, über Preußen hinausreichende Gesetzgebung gelingt dem Königreich Sachsen mithilfe des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz. In Sachsen können die Verunstaltungsgesetze direkt, d.h. ohne Zwischenschaltung von Ortsstatuten etc. umgesetzt werden. Über das preußische Gesetz hinaus ahnden die Sachsen jegliche Verunstaltung, ungeachtet der künstlerischen und geschichtlichen Qualität von Gebäude oder Landschaft. „Nach der sächsischen Auffassung entspricht es dem Grundgedanken des Heimatschutzes besser, wenn jedes, auch das schlichte und einfache Landschaftsbild, geschützt wird und damit dem Volke ein Ansporn gegeben wird, die Wertung der Heimat nicht nur davon abhängig zu machen, daß sie etwa lockende in die Augen fallende Reize besitzt.“58 Verunstaltende Reklame kann so grundsätzlich und ohne Ortsstatut verboten werden. Weiterhin rückt das sächsische Gesetz das Ensemble in den Mittelpunkt, ohne graduell zwischen seinen Bestandteilen zu unterscheiden. Auch Bebauungs- und Fluchtlinienpläne können verboten werden, wenn diese das Straßen-, Orts- oder Landschaftsbild verunstalten. Anders als in allen anderen deutschen Staaten haben hier die sächsischen Kreishauptmannschaften mit dem Kreisausschuß das Recht, den jeweiligen Ortsbehörden den Erlaß von Ortsgesetzen anordnen. Die Anhörung von Sachverständigen aus der Denkmalpflege oder der Heimatschutzbewegung wird dabei verbindlich miteinbezogen. 59 Im Königreich Württemberg existiert kein Verunstaltungsgesetz. Hier sind Vorstellungen des Heimatschutzes ein Teil der Bauordnung, die im Juli 1910 verabschiedet wird und im Juli 1911 in Kraft tritt. Die Voraussetzung für eine Neuregelung wird erreicht, indem man den Gemeinden größere Befugnisse auf Erlaß von eigenen Ortsvorschriften bzw. Ortsbausatzungen einräumt. Die Gemeinden werden dadurch befähigt, über den Rahmen der Bauordnung hinausgehende Beschränkungen der Baufreiheit durch Ortsbausatzungen festzusetzen. Die Bauordnung besagt, daß neue und alte Ortsbaupläne oder Baulinien so zu wählen sind, daß künstlerisch oder geschichtlich wertvolle Bauten, Naturdenkmäler, Friedhöfe oder schöne 57 58 59 Vgl. zu der Verbindung von Heimatschutz und Staat Knaut 1993, S. 251. Bredt 1912, S. 37.Das Gesetz ist abgedruckt auf den Seiten 33-35. Vgl. zum Gesetzeskommentar ebd., S. 35-42, Heyer 1912, S. 93-103 und Knaut 1993, S. 255 und 257. Heimatschutz und Bauerndorf 28 Straßen- und Landschaftsbilder erhalten bleiben oder daß solche Bilder neu geschaffen werden können. Laut Bauordnung sollen auch Baudenkmale in ihrem Bestand und Gesamtbild möglichst erhalten werden, wobei hier allerdings nur die äußere Gesamterscheinung zählt, nicht das Innere des Gebäudes. Über eine wesentliche Beeinträchtigung entscheidet die Baupolizeibehörde nach Anhörung staatlich bestellter Kunstverständiger. Als Baudenkmäler gelten Gebäude, die in ein Denkmalverzeichnis eingetragen sind, daneben sollen jedoch auch eigenartige Orts-, Straßen- oder Landschaftsbilder vor (wie im preußischen Gesetz) gröblich verunstaltenden Neubauten oder baulichen Veränderungen geschützt werden. Ortsbausatzungen können zudem fordern, daß gut sichtbare Außenfassaden in Material, Baustoff, Form und Farbe ein gefälliges und der Umgebung entsprechendes Äußeres bekommen. Verunstaltende Reklame kann verboten werden.60 Im Fürstentum Waldeck existieren keine besonderen Verunstaltungs- oder Reklamegesetze. In einzelnen Fällen würde jedoch, wie der dortige Landesdirektor beteuert, „das Erforderliche gegen die Verunstaltung des Straßen- oder Landschaftsbildes auf Grund der Baupolizeiordnung verfügt“.61 Laut Heyer hat sich das Fürstentum Waldeck zumindest hinsichtlich der Naturdenkmalpflege der preußischen Organisation angeschlossen.62 Heimatschutz und Denkmalpflege sind um die Jahrhundertwende personell, institutionell sowie ideengeschichtlich eng miteinander verflochten.63 Die ältere Denkmalpflege hat dem Heimatschutz die argumentative Grundlage geliefert und erstmals auf die Bedeutung von Vergangenheit und Tradition hingewiesen. Obwohl der Heimatschutz viel weitreichendere Ziele hat (die Denkmalpflege ist nur eines seiner sechs Arbeitsgebiete), indem er auch auf die Gegenwart gestaltend einwirken will, begegnen sich beide Bewegungen in der Sorge um die Zerstörung von Kulturgütern und beim Aufruf zu ihrer Rettung.64 Schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts gab es zwar denkmalpflegerische Verordnungen zum Schutz von Baudenkmälern, gab es Inventarisationen und Konservatorenstellen. Doch erst um die Jahrhundertwende bildet sich, auf Initiative der Altertums- und Geschichtsvereine, die Denkmalpflege als autarke und staatlich institutionalisierte Disziplin heraus. Im Jahre 1899 wird das Zentralorgan „Die Denkmalpflege“ gegründet, als deren Chefredakteur im Auftrag des preußischen Ministeriums der öffentlichen Bauten der Architekt, Baubeamte und 60 61 62 63 64 Vgl. zur Württembergischen Bauordnung Bredt, S. 93-102. Vgl. Bredt 1912, S. 109f. Vgl. Heyer 1912, S. 173. Umfassend und detailreich zu Denkmaltheorie und praktischen Denkmalpflege von den Anfängen bis 1933 s. Speitkamp 1996, S. 82-113 und zur Denkmalpflege um die Jahrhundertwende Wohlleben 1989. Vgl. Hofer 1998, S. 59. Heimatschutz und Bauerndorf 29 Publizist Oskar Hoßfeld ernannt wird. Im selben Jahr verständigt man sich über die Einrichtung eines „Tages für Denkmalpflege“, der erstmals am 24. und 25. September 1900 in Dresden abgehalten wird und jährlich bis zum Ersten Weltkrieg stattfindet. Er führt alle an der Denkmalpflege Interessierten, Laien wie Fachleute und Behörden zwanglos an einem Tisch zusammen, um Erfahrungen auszutauschen und öffentlichkeitswirksam Werbung für die Ziele der Denkmalpflege zu machen. Hier wird die Herausgabe eines Handbuches initiiert, das alle Kunstdenkmale des Reiches aufführt und beschreibt. Dieses „Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler“ wird von Georg Dehio in den Jahren 1905 bis 1912 geschrieben und bis heute weitergeführt. Gleichzeitig werden seit 1891 auf Genehmigung Wilhelms II. Provinzialkommissionen für die Denkmalpflege eingerichtet, jeweils von einem Provinzialkonservator beraten und dem preußischen Konservator in Berlin unterstehend.65 Noch im 19. Jahrhundert wurde die Denkmalpflege ausschließlich von Architekten geführt. Die Objekte mußten im Sinne nationalstaatlicher Kriterien besonders geschichtsträchtig und repräsentativ sein, um des Denkmalschutzes würdig zu sein, was parallel zu sehen ist mit der historistischen Architekturauffassung in der Gründerzeit. Dies ändert sich nun grundlegend. Die neue Generation der Verantwortlichen – Kunsthistoriker wie Cornelius Gurlitt, Georg Dehio, Alois Riegl und Eugen Gradmann – nehmen wichtige Korrekturen vor und stellen die Denkmalpflege erstmals auf einen soliden theoretischen Sockel. Am deutlichsten wird dies an der Frage: „Konservierung oder Restaurierung?“ Noch für die Architekten des 19. Jahrhunderts stand das Bauen an erster Stelle, mit der Forderung nach Stilreinheit wurden Gebäude purifiziert, ergänzt oder sogar frei rekonstruiert, um einen idealen Bauzustand zu erzielen.66 Mit der reformierten Denkmalpflege erhält das Gebäude einen neuen Eigenwert: Das Ensemble, in das es eingebettet ist ebenso wie Alterungsspuren, stilistische Vermengungen oder „Unvollkommenheiten“ werden als konstitutiv für seine Identität einbezogen. Wie stark die Heimatschutzbewegung an der Formulierung dieser Kernsätze mitgewirkt hat, verdeutlicht ein Zitat Rudorffs. Schon 1897 schreibt er: „Es ist eben nicht genug, wie es jetzt so vielfach geschieht, etwa eine einzelne gotische Kirche zu erhalten und herauszuputzen, rings um sie her aber sich ungescheut im ‚Freilegungswahn‘ (nach Sittes Ausdruck) und in der Errichtung von modernen Phrasenbauten jedes Schlages und Stiles zu ergehen. Sondern man muß sich bemühen, wo Erhaltung oder Wiederherstellung des Alten tatsächlich unmöglich geworden ist, von den gedankenreichen, gemütvollen, wahrhaft schöpferischen Werken unserer Vorfahren zu lernen, sodaß auch in ihre Nähe nichts anderes kommt, als was ohne Stilnachbetung ihrem Geist und Sinn gemäß ist.“67 65 66 67 Vgl. Knaut 1993, S. 339. Verschiedene Beispiele sind nachzulesen bei Hanselmann, Jan Friedrich: Die Denkmalpflege in Deutschland um 1900. Zum Wandel der Erhaltungspraxis und ihrer methodischen Konzeption. Frankfurt/ M., Berlin, Bern u.a. 1996. Rudorff 1897, Neudruck 1994, S. 26. Heimatschutz und Bauerndorf 30 Im Jahre 1900 erklärt Oskar Hoßfeld, daß etwa die Dorfkirche den Geist ausstrahle, den das Volk brauche, „wenn es den Halt nicht verlieren will, den es zur Sicherung eines stetigen ersprießlichen Culturfortschrittes nicht entbehren kann“68. Beeinflußt von der Heimatschutzbewegung hebt sich auch die regionale Stilnivellierung zusehends auf. Gebäuden wird, ergänzend zu allgemein künstlerischen oder geschichtlichen Kriterien, auch ein lokaler Denkmalwert zuerkannt.69 Hier hat sich ein erweiterter Denkmalbegriff durchgesetzt, der sich von der Kulturlandschaft bis hinab zu Objekten der Volkskunst erstreckt. Denkmalwürdig ist nicht mehr allein das Einzelbauwerk, sondern auch seine Umgebung, d.h. das Ensemble eines Straßen-, Orts- oder Landschaftsbildes. Leitsätze für die zuständigen Behörden werden auf dem 5. Tag für Denkmalpflege in Mainz 1904 formuliert. Sie unterwerfen auch die Umgebung von bedeutenden Bauten sowie Straßen und Plätzen, Neu- und Umbauten der baupolizeilichen Genehmigung.70 Besonders die „Denkmalpflege auf dem Lande“ gewinnt in den Jahren nach der Jahrhundertwende sehr an Bedeutung, wobei es auch hier mehr auf das Ensemble als auf das Einzelbauwerk ankommt. Das Ensemble bildet in der Summe seiner Einzelteile ein kulturgeschichtlich wertvolles Zeugnis.71 An all diesen Fragen ist die Heimatschutzbewegung von Anfang an beteiligt, sie bereitet der Denkmalpflege einen anerkannten Platz in der Gesellschaft und verhilft ihr zu den Konzepten, die für sie auch heute noch konstituierend sind. 1907 wird erstmals der „Tag für Denkmalpflege“ parallel und in Verbindung mit der Jahresversammlung des „Bundes Heimatschutz“ in Mannheim abgehalten. Da viele Teilnehmer beiden Organisationen gleichermaßen angehören, entscheidet man sich für eine Verschmelzung beider Veranstaltungen in der „Gemeinsamen Tagung für Denkmalpflege und Heimatschutz“, die erstmals im September 1911 in Salzburg stattfindet.72 Mit den Jahren zeigt sich, daß die umfassende Schutz-Konzeption des Heimatschutzes in der Praxis kaum zu erfüllen ist. Im Gegensatz zu Ernst Rudorff setzt der Bund im Verlauf seiner Tätigkeit den Schwerpunkt mehr und mehr auf die Architektur und das Bauwesen. Interessanterweise sind bis 1907 allein sechs von elf Mitgliedern des ersten Vorstandes Architekten und Denkmalpfleger.73 68 69 70 71 72 73 Hoßfeld, O.: Unsere Dorfkirchen. In: Die Denkmalpflege, 2.1900, S. S. 41, zit. nach Speitkamp 1996, S. 89. Vgl. Speitkamp 1996, S. 99. Vgl. Knaut 1993, S. 342f. Vgl. Speitkamp 1996, S. 94. Vgl. Hartung 1989, S. 178. Vgl. Knaut 1991, S. 48. Heimatschutz und Bauerndorf 31 1.3. Heimatschutz und Architekturkritik Die Gründerzeit zeichnet sich in der Baukunst durch eine Wiederaufnahme und gleichzeitige Neuinterpretation historischer Stile aus – sie sind die Quelle der Inspiration. Dies kann als Ausdruck des wirtschaftlichen Wohlstands sowie der ökonomischen und sozialen Emanzipation des Industriebürgertums verstanden werden.74 Im Gegensatz zum Klassizismus des frühen 19. Jahrhunderts geht die Tendenz seit den 50er-Jahren hin zu komplexeren Grundrissen und einer Formenvielfalt, die jede klare Geometrie vermissen lässt. Vielmehr wird mit Asymmetrie, plastischen und skulpturalen Effekten sowie mit Farben und Eigenschaften von Materialien experimentiert.75 Der Heimatschutzbewegung erscheint diese Entwicklung jedoch als architektonischer Tiefpunkt. Für sie tritt im Zuge der Industrialisierung an die Stelle der vorindustriellen, handwerklichen Bautradition eine grenzenlose Beliebigkeit von Formen und Materialien – und eine scheinbar beliebige Abfolge von Stilmoden, die sich an Formen übernationaler „Hochkunst“ orientieren.76 Daher gilt ihnen der gründerzeitliche Historismus77 nicht als eigenständige Architektursprache, sondern als Universalstil – unabhängig von der Umgebung und individuell im Entwurf. An Stuckapplikationen, Ziergiebeln, Balkonen, Erkern oder aufgesetzten Türmchen wollen Kritiker „Protzentum, die Pseudoherrschaftlichkeit, aber auch die überregionale Homogenität, die Massenhaftigkeit und die Standardisierung der stilistischen Elemente“78 erkennen. Unter dem Einfluß des gründerzeitlichen Kunstgewerbes entwickelt sich das Prinzip der Dekoration, das in der Baukunst vor allem an Fassaden zu einer überbordenden Formanhäufung führen kann. Das Ornament wird jedoch - sofern es nicht an einen speziellen Ort und eine bestimmte Tradition gebunden ist – in Kritikerkreisen 74 75 76 77 78 Vgl. Sieferle 1984, S. 175. In Bezug auf die Kritik am gründerzeitlichen Historismus und dessen stilistischer Beliebigkeit gehen die Heimatschützer mit den Pionieren des Neuen Bauens konform. Vgl. ebd., S. 177f. Vgl. Aman, Anders: Architektur. In: Die Kunst des 19. Jahrhunderts. Propyläen Kunstgeschichte, Hg.: Rudolf Zeitler, Frankfurt/M. und Berlin 1990, S. 178. Vgl. zum gründerzeitlichen Historismus Brix, Michael und Monika Steinhauser: „Geschichte allein ist zeitgemäß.“ Historismus in Deutschland. Gießen 1978 und Pelt, R.J. van and C.W. Westfall: Architectural Principles in the Age of Historicism. London 1991. Vgl. Andresen 1989, S. 18. Es sind Schultze-Naumburgs „Kulturarbeiten“, die diese „Verschandelungen“ erstmals im Foto als „Gegenbeispiel“ dokumentieren. Der Begriff „Historismus“ taucht um die Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst als Begriff der Philosophie und Wissenschaftstheorie, dann als Methodenbegriff der Nationalökonomie und der Geschichtswissenschaft auf. Die Kunstgeschichte hat den Begriff seit den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts übernommen. Hier wird er häufig als epochenspezifischer Begriff gewählt, obwohl die gesamte Architekturgeschichte bis in die Gegenwart aus Eklektizismen und Historismen besteht. In dieser Arbeit wird der Begriff „Historismus“ daher mit dem Adjektiv „gründerzeitlich“ auf die Epoche von 1871-1914 festgelegt.Vgl. zum Begriff „Historismus“ Michael Brix und Monika Steinhauser (Hg.): Geschichte allein ist zeigemäss. Historismus in Deutschland. Lahn-Gießen 1978 und zu Entstehung und Geschichte des Begriffes besonders die Aufsätze von Heinrich Dilly, S. 11-16 und Wolfgang Hardtwig, S. 17-27. Vgl. Sieferle 1984, S. 177. Heimatschutz und Bauerndorf 32 als bloß imitierender, identitätsloser Tand, als „Stuckseuche“ bekämpft, die jedem Wunsch nach Zweckhaftigkeit und Materialgerechtigkeit Hohn spreche. Zur modischen Neorenaissance schreibt beispielsweise der Kunsthistoriker und Denkmalpfleger Cornelius Gurlitt: „Was ist nicht alles seit etwa 1875 in Berlin in deutscher Renaissance geschaffen worden! Die alle Tage sich mehrende Zahl von Aufmessungen alter Giebel und Tore, Erker und Türmchen wurde rasch verarbeitet, von den bescheidenen Häusern und Schlössern des 16. Jahrhunderts auf die riesigen Geschäfts- und Mietskasernen übertragen, die Gliederungen übertrieben, die Schwingungen und malerischen Wirkungen ins Derbste überboten, die Gedanken einer bescheidenen bürgerlichen Kunst ins aufdringlich Laute übersetzt...“79 Mit dieser als flächendeckende Uniformisierung empfundenen baulichen Entwicklung geht nach Ansicht der Architekturkritiker ein Verlust traditioneller handwerklicher Methoden und baulicher Organisationsformen einher. Grundsätzlich wird die gründerzeitliche Trennung von Baukünstler und Bauingenieur kritisiert – etwa vom Publizisten Hans Schliepmann, derschon 1891 polemisiert, daß kein gebildeter Stand ästhetischen Fragen so fern stünde wie der Bauingenieur: „Und der Architekt rächt sich, indem er in Formen schwelgt, die mit dem vom Ingenieur gelieferten Gerippe möglichst wenig zu tun haben.“80 Das ästhetische Moment wird vorwiegend dort vermißt, wo die Arbeit der Architekten darauf reduziert wird, nach bloßen verkehrspolitischen, ökonomischen oder technischen Prinzipien Mietskasernen für die Massenunterbringung, Straßen oder ganze Städte am Reißbrett schablonenmäßig zu planen. Als „öde“, „charakterlos“ oder „häßlich“ geißeln Zeitgenossen diese rein rationalistische und utilitaristische Entwicklung. Das Bauwesen – vorher im Kosmos handwerklicher Produktion integriert – wird mit der Industrialisierung autonom. „[…] einzelne Gebäude wurden tendenziell zum Produkt des einzelnen Architekten, der sich nicht mehr, wie der handwerkliche Baumeister vor ihm, an Tradition, Brauch und Gewohnheit orientierte, sondern dem die gesamte Geschichte der Baustile ebenso zur Plünderung verfügbar war, wie ihm Statik, Mathematik und Baustoffindustrie alle Materialien und Formen bereitstellten.“81 Die schleichende Verwandlung von „Bauerndörfern in Proletariervorstädte“ ist der Heimatschutzbewegung ganz besonders ein Dorn im Auge: „Der glückliche Zusammenklang von Architektur und Landschaft“ gehe dabei verloren. Wo Bauernhäuser abgerissen und durch „häßliche charakterlose Rohziegelkästen“ ersetzt werden, dort fühle man sich „der tausendjährigen Vernunft“ überlegen.82 Technische Vernunft nämlich, wie sie sich in den Städten durchgesetzt hat, strahle inzwischen auch auf das Land ab: 79 80 81 82 Gurlitt, Cornelius: Zur Befreiung der Baukunst. In: Bauwelt Fundamente Bd. 22, Berlin 1968, S. 88f, zit. nach Andresen 1989, S. 19f. Schliepmann, Hans: Stuckseuche. In: Der Kunstwart 1892, S. 57, zit. nach Andresen 1989, S. 26. Sieferle 1984, S. 179. Vgl. Rebensburg 1913, S. 96f und 192f. Heimatschutz und Bauerndorf 33 „Wurde so in den Städten der Nachahmungstrieb des kleinen Mannes geweckt, so konnte es nicht ausbleiben, daß auch das Land von dieser Großmannssucht befallen wurde. Auch der Landmann vergaß so zu bauen, wie es die Vorfahren taten, d.h. nach Stammesart und Charakter, oder mit anderem Worte: bodenständig.“83 Der Wille der Bauern, sich den modernen technischen und hygienischen Neuerungen der Landwirtschaft anzupassen, sich in dieser Krisenzeit den modernen Entwicklungen zu stellen, um überlebensfähig zu sein, wird von den Heimatschützern nicht honoriert. Stattdessen konstatiert Schultze-Naumburg, daß man mit dem zeitgenössischen „Zuchthausstil“ Perlen gegen Plunder und Trödel eingetauscht habe und begründet diese Entwicklung nicht mit einem rationalen Argument, sondern mit einem Mangel an Gefühl: „Nur die eben nicht zu entbehrenden konstruktiven Kenntnisse sind übernommen, im übrigen ist alles öde Gedankenarmut. Auf das Gestalten haben sie von vorneherein verzichtet, weil sie gar nicht mehr fühlten, was das ist. Bei ihnen verkehrt sich alles nur in die Begriffe billig und teuer und danach in die Anschauung: einfach – oder verziert. Die Raumgliederung, die Grundrißlösung, die Hauptsache am ganzen Bau, wird gemacht ohne Verständnis fürs Leben und ohne Gefühl für das Behagen des Lebens.“84 Mit einer reformierten Formen- und Materialsprache soll die Krise des zeitgenössischen Bauens überwunden werden. Heimatschutz, Deutscher Werkbund oder Jugendstil empfinden gleichermaßen die historisierende Gründerzeit als Sackgasse – so unterschiedlich diese und andere engagierte Reformbewegungen auch sein mögen. Ihre Suche nach Auswegen weist sie bereits als Vertreter der anbrechenden Moderne aus. Während die einen aber nach der eklektizistischen Überfrachtung der vorangegangenen Jahrzehnte jede Tradition ablehnen, setzen andere auf ein Anknüpfen an vorindustrielle baukünstlerische Traditionen. Die Heimatschutzbewegung will mithilfe einer reformierten Architektursprache die bedrohte kulturelle Identität unterschiedlicher Regionen des Reiches wahren.85 Weg von einer historistischen „Traditionsaneignung in der scheinbar beliebigen Abfolge der Stilmoden“86 soll die Aufmerksamkeit wieder zurück auf eine „heimatliche“, eine „regionaltypische“ Architektursprache gelenkt werden. Es ist nicht verwunderlich, daß auch die internationale Sachlichkeit der Moderne in den Augen der Heimatschutzbewegung keinen Gefallen findet. Verglichen mit den „gefühligen“ Heimatschützern arbeiten Architekten wie Peter Behrens (mit seiner Arbeit für die AEG) oder Walter Gropius (mit seiner Begeisterung für Fabrikgebäude)87 an einer Entmystifizierung des Bauens. In der selbständigen „Industriekultur“ folgt die Form der Funktion, werden die Prin83 84 85 86 87 Pinkemeyer 1910, S. 2. Schultze-Naumburg 1909a, S. 74f. Vgl. Andresen 1989, S. 18. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. Otto 1983, S. 149 und Buddensieg, Tilmann: Industriekultur. Peter Behrens und die AEG, 1907-1914. Berlin 1978. Heimatschutz und Bauerndorf 34 zipien ihrer industriellen Herstellung und die verwendeten Materialien sichtbar gemacht. Wo zweckrational gebaut wird, ist für regionale Traditionen kein Platz mehr: Schultze-Naumburg ist dieser Bruch zu radikal. Er verweist darauf, „daß die Stile der Vergangenheit nicht durch absichtliches Verleugnen des Gewesenen entstanden seien, sondern daß die verschiedenen Zeiten immer eine neue Nuance hinzugefügt hätten...“88 Der „Heimatschutzstil“ oder „Heimatstil“ will in seinen lokalbedingt verschiedenen Heimatschutzarchitekturen dem „genius loci“, dem physischen Kontext der Umwelt wieder zur Geltung verhelfen.89 Architektur soll weniger „Kunstwerk“ als vielmehr „gebaute Umwelt“ sein.90 Die daraus resultierende Forderung, auch größere Einheiten insgesamt unter Schutz zu stellen, hat vor allem Schultze-Naumburg vehement vorgebracht. Was wir heute als „Ensemble“ für schützenswert erachten, dafür hat er seine Zeitgenossen maßgeblich sensibilisiert.91 Auch dem notwendigen Übel der Großstadt treten Heimatschützer entgegen: Die wuchernden Metropolen sollen sich wandeln und zu Kleinstädten „entballen“, wie es auch die Gartenstadtbewegung vorsieht. Die Mietskasernen der großen Städte sollen bestenfalls Kleinhäusern mit Garten weichen und durch die damit wiederhergestellte „Heimatbindung“ einen Ausgleich zwischen Stadt und Land schaffen.92 Generell muß ein Gebäude zweckmäßig und der Lebensführung seiner Bewohner angepaßt sein: „So töricht es wäre, dem einfachen Bürgerhause oder dem Bauernhause […] mit im verkleinerten Maßstabe ausgeführten Architekturstücken eines Schlosses oder eines Palastes ein parvenühaftes Kleid zu geben, ebenso geschmacklos wäre es, würde man einem für Aufbewahrungszwecke bestimmten Gebäude die Formen eines Wohngebäudes geben.“93 88 89 90 91 92 93 Vgl. Knaut 1993, S. 57. Schultze-Naumburg, Paul: Aufgaben des Heimatschutzes. München 1908. In: Dürerbund. 39. Flugschrift zur Ausdruckskultur. Zit. nach Knaut 1993, S. 57. Auch Joseph August Lux schreibt in „Ingenieur-Aesthetik“, München 1910, S. 3f: „Es ist einfach unwahr, daß […] das reine Skelett eines Hauses das letzte Wort von Schönheit ist. […] Dies kann meinen Verstand zufriedenstellen, nie jedoch mein Herz.“ Vgl. Otto 1983, S. 151. Vgl. Ringbeck 1991, S. 219. Zur Diskussion um die Bedeutung der Begriffe „Heimatstil“, „Heimatschutzstil“ etc., vgl. Achleitner, Hajós und Lehne 1989, zusammenfassend Knaut 1993, S. 271f. Achleitner und Hajós bezeichnen als „Heimatstil“ oder „Laubsägestil“ im Gegensatz zum „Heimatschutzstil“ die im Verlauf des 19. Jahrhunderts als Teil der gründerzeitlichen Stilvielfalt entstandenen Bauten, die z.B. als „Schweizerhaus“ oder „Tirolerhaus“ in einen willkürlichen landschaftlichen Rahmen gesetzt werden, um einer großstädtischen Oberschicht als „volkstümliches“ ländliches Refugium zu dienen. Kritik daran bei Lehne, S. 164. Vgl Scarpa 1983, S. 34. Der vierte „Kulturarbeiten“-Band „Der Städtebau“ befaßt sich durchgängig mit dem Ensemble. Vgl. Petsch 1979, S. 51. Vgl. Kühn 1905, Vorwort (ohne Seitenangabe). Neben Schultze-Naumburgs „Kulturarbeiten“ kritisieren auch andere namhafte Kunsthistoriker und Architekten wie Alfred Lichtwark den Eklektizismus in dem Buch „Palastfenster und Flügeltür“ von 1899 und setzen sich für heimatliche Bautraditionen ein. So z.B. in seinem Buch von 1908: „Der Städtebau und die Grundpfeiler der heimischen Bauweise“. Heimatschutz und Bauerndorf 35 Fortschritt und Tradition sollen sich laut Heimatschutz jedoch nicht widersprechen: Industriell gefertigtes Material, hygienische Neuerungen oder moderne Bautechnologien sind den Heimatschützen willkommen, solange sie sich an heimattypische Traditionen rückbinden lassen. „Nicht veralteten Idealen soll gehuldigt werden, sondern die Wiederanknüpfung an gute Überlieferungen soll gefördert werden, nicht um eine Weiterentwicklung überflüssig zu machen, sondern um die Weiterentwicklung auf einem festen Baugrunde überhaupt erst wieder recht zu ermöglichen. Ein Volk, das sich seiner ganzen Vergangenheit beraubt, ist das unvornehmste der Welt.“94 Wie in den folgenden Untersuchungen zu zeigen ist, wird eine vermeintlich liberale Haltung hinsichtlich moderner Entwicklungen nur dann gezeigt, wenn z.B. neuartige Baustoffe das gewünschte Bild eines regionaltypisch geplanten ländlichen Gehöftes nicht stören und unsichtbar bleiben. Solange sie regionaltypischen Bautraditionen verpflichtet bleiben, können auch Bauaufgaben wie Kraftwerke, Staudämme oder Fabriken diskutiert werden.95 Auch wenn die Bewegung Industriekomplexe oder den Villenbau nicht vernachlässigen wollte, galt ihr Hauptaugenmerk dem alltäglichen Bauschaffen. „Sein Ziel war die Erhaltung und Bewahrung der heimatlichen Umgebung für jedermann.“96 Dementsprechend ist auch der Ansprechpartner der Heimatschutzbewegung nicht der hohe „Künstler“, sondern der einfache Baumeister – er hat darauf zu achten, daß funktional, qualitativ, materialgerecht und ästhetisch anspruchsvoll gebaut wird. Inspiriert ist der Heimatschutz besonders von der englischen „Arts and Crafts“-Bewegung und deren Hauptvertretern John Ruskin und William Morris, die schon Mitte des 19. Jahrhunderts industrielle Herstellungsmethoden ablehnten, um den Bezug des Schaffenden zum Herstellungsprozeß und dem künstlerischen Endergebnis zu bewahren. Angestrebt ist eine Wiedervereinigung von Kunst und Kunsthandwerk, wobei eine künstlerische Produktion oder Architektur nur akzeptiert wird, wenn sie in Handwerk und manueller Arbeit wurzelt. Kunst solle im Volk entstehen und ihm dienen: Zweckmäßigkeit und Klarheit des herzustellenden Objekts oder Bauwerks erhalten dabei in klarer Abgrenzung zur historistischen Stilvielfalt oberste Priorität.97 94 95 96 97 Schultze-Naumburg 1909a, S. 75. Vgl. dazu auch Schultze (Oberpfalz) 1911, S. 3: „Gewiß soll der modernen Zeit, auch auf dem Lande, Rechnung getragen werden; Gesundheit und Lebensführung der Bewohner haben ein Recht auf Licht und Luft, auf Bequemlichkeit und auf Zweckmäßigkeit ihrer Wohnräume, auf Anwendung hygienischer Grundsätze und der technischen Errungenschaften bei ihren Bauten. Die Aufgabe ist nur, diese Anforderungen in Einklang zu bringen mit dem heimischen und meist künstlerischen Charakter der alten Wohnstätten.“ Vgl. Otto 1983, S. 150 und Kratzsch 1969, S. 221. Knaut 1993, S. 284. Vgl. Knaut 1991, S. 34f. Die „Arts and Crafts“-Bewegung inspiriert nicht nur den Heimatschutz, sondern auch den Jugendstil, begründet vor allem die Arbeit des Deutschen Werkbundes und führt neben dem Einfluß von Kunstwart und Dürerbund zur Entstehung der Münchner und Dresden-Hellerauer Werkstätten. Heimatschutz und Bauerndorf 36 Dem stimmt auch der Architekt Hermann Muthesius zu, der als technischer Attaché lange in England lebt und von dort aus über die Neuerungen der englischen Architektur berichtet. Im Gegensatz zur „Arts and Crafts“-Bewegung und als Kind seiner Zeit versucht der Heimatschützer und Gründer des Deutschen Werkbundes jedoch, die vorindustriell gewährleistete, handwerkliche Typisierung von Architektur und Alltagsprodukten auf der Ebene industrieller Produktion fortzusetzen.98 Er vertritt einen malerisch-zweckmäßigen, aus der englischen Cottage-Bewegung hervorgegangenen Stil99 und weist schon im Jahre 1897 auf die „Volkskunst“ und „Traditionsgebundenheit“ bei Morris hin.100 Besonders die im „Studio“ veröffentlichten kleinen Häuser C.F.A. Voyseys und M.H. Baillie Scotts stoßen in Deutschland auf reges Interesse – Muthesius lobt deren Schlichtheit und vor allem ihren Bezug auf traditionelle englische Bauernhaus-Architektur: „Der Grundzug der englischen Kunst“, so schreibt er in einem Aufsatz über Baillie Scott, „ist ihres Wesens bäurisch“.101 Der deutsche Heimatschützer Paul Schultze-Naumburg kritisiert aber die bloße Übernahme englischer Motive in die deutsche Architektur und schlägt vor, die Methode der Engländer nachzuahmen und in Deutschland ebenfalls an das deutsche Bauernhaus bzw. das Wohnhaus vom Ende des 18. und vom Beginn des 19. Jahrhunderts anzuknüpfen: „Wäre diese Tradition mit Umwertung und Anpassung weitergeführt worden [...] so hätten wir heute das, was der Engländer hat: das nationale Haus. Wir also: das deutsche Haus.“102 Ein zweites großes Vorbild für den Heimatschutz ist daher der deutsche Biedermeier: So sieht etwa Paul Mebes „Schönheit, Maßstäblichkeit, Einfachheit und Zweckmäßigkeit“103 im Klassizismus und besonders im bis dahin verspotteten Biedermeierstil verwirklicht. In seinem Werk „Um 1800“104 fordert er, an diese Stile anzuknüpfen und sie aufgrund moderner Erkenntnisse weiterzuentwickeln. Vor Gründerzeit und Industrialisierung habe die Architektur noch in Handwerk und lokalen Traditionen gewurzelt. Ihrer Umgebung angepaßt sei sie „ins- 98 99 100 101 102 103 104 Zur „Arts and Crafts“-Bewegung vgl. z.B.: Pevsner, Nikolaus: Wegbereiter moderner Formbewegung von Morris bis Gropius. Köln 1983. Vgl. Otto 1983, S. 150. Allerdings darf das Modell der Typisierung auch keine starre Monotonie und normierte Standardisierung bedeuten, sondern wird von ihm immer in enger Verbindung mit künstlerischer Formgebung gesehen. Vgl. Hajós 1989, S. 157. Vgl. Zentralblatt der Bauverwaltung 1897, S. 5, zit. nach Muthesius 1974, S. 175. Vgl. Dekorative Kunst 5.1900, S. 5-7, zit. nach Muthesius 1974, S. 176. Vgl. Schultze-Naumburg, Paul: Kulturarbeiten 9. In: Kunstwart, 14. Jg., 2. Hälfte, 1900/01, S. 52. Zit. nach Heyden 1994, S. 179. Ringbeck 1991, S. 216f. Auch in politischer Hinsicht wird eine Hinwendung zum Biedermeier favorisiert, denn er drückt die wachsende Selbständigkeit des Durchschnittsbürgertums in einem Stadium zwischen Monarchie und Demokratie und damit auch die Entstehung des bürgerlichen Wohnhauses aus. Paul Mebes: „Um 1800. Architektur und Handwerk im letzten Jahrhundert ihrer traditionellen Entwicklung.“ München 1908. Heimatschutz und Bauerndorf 37 tinktiv“ bequem, geräumig und hell gestaltet worden.105 Der Biedermeierstil wird vor allem mit dem traditionellen, bürgerlichen Wohnhaus in Verbindung gebracht, deckt sich geradezu mit dem Bild vom sogenannten „Biedermeierhaus“106. In ihm sehen die Heimatschützer eine gute Bautradition fortwirken, die sich in handwerklicher Durchbildung und Schlichtheit (einfache Grundrisse, Geschlossenheit des Baukörpers, Wandflächigkeit, die sparsame Verwendung von Bauschmuck, hohes Dach) äußert.107 Als Archetyp des einfachen deutschen Wohnhauses gilt um die Jahrhundertwende das im zweiten Band von Paul Mebes’ „Um 1800“ gezeigte Gartenhaus in Weimar, das Goethe im Jahre 1776 bezog. Als zweigeschossiger Putzbau auf rechteckigem Grundriß, mit hohem Walmdach und Spaliergitter entlockte es Goethe selbst den kleinen Vers: „Übermütig sieht’s nicht aus, hohes Dach und niedres Haus.“108 Um dieses einfache Haus wird in den Jahren darauf nicht nur durch die Goethe-Begeisterung ein immenser Kult getrieben: Es wird zum deutschen Ur-Haus stilisiert und repräsentiert gerade für den Heimatschutz in Zeiten großen Wandels das zeitlose Haus, welches den Weg des bürgerlichen Wohnhauses in die Zukunft weisen soll. Tatsächlich beziehen sich besonders die Architekten Heinrich Tessenow und Paul Schmitthenner in ihren Wohnhaus-Entwürfen immer wieder auf diesen schlichten Bau.109 Durch den Einfluß der Heimatschutzbewegung setzt sich die auf eine vorgründerzeitliche Architektursprache gegründete, auf Einfachheit und malerische Durchbildung bedachte Bauweise durch. Bis zum Ersten Weltkrieg bestimmt sie weitgehend das architektonische Bild Deutschlands. Die wichtigsten Vertreter dieser „konservativen“ Moderne sind neben Paul Schultze-Naumburg, Richard Riemerschmid, Hermann Muthesius und Theodor Fischer auch Fritz Schumacher, Paul Mebes, Friedrich Thiersch sowie die genannten ArchitektenHeinrich Tessenow und Paul Schmitthenner. Die Verbindung zwischen Heimatschutz und den anderen Reformstilen bleibt fließend. Eine klare Grenze zwischen ihnen läßt sich nicht ziehen, da sie alle nach traditionellen architektonischen Vorstellungen arbeiten:110 Während sie alle gerade beim Kleinhaus und dem ländlichen Bauen in Anlehnung an regionale bäuerliche und bie- 105 106 107 108 109 110 Vgl. Otto 1983, S. 153. Vgl. Heyden 1994, S. 165. Vgl. zur neubiedermeierlichen Architektur, auch im Vergleich zum Neuklassizismus, Himmelheber 1988, S. 71-75 und Heyden 1994, S. 173-187. Zur Kritik an der Heimatschutzbewegung und ihrer Hinwendung zu biedermeierlichen Formen vgl. Heyden 1994, S. 187-195. Vgl. Wahl, Hans: Goethes Gartenhaus. Weimar, 1926, S. 10, zit. nach Voigt 1992, S. 245. Vgl. zu Goethes Gartenhaus und seinen Adaptionen Voigt 1992, S. 245-265 und Heyden 1994, S. 168-173. Vgl. Petsch 1979, S. 51. Heimatschutz und Bauerndorf 38 dermeierliche Hausformen planen, bevorzugen sie bei repräsentativen, städtischen Projekten den sachlich-zurückhaltenden Neoklassizismus.111 Die Heimatschutzarchitektur findet ihre Vorbilder vor allem in den Ausdrucksformen des bürgerlichen und bäuerlichen Hausbaus in Kleinstadt und Dorf, die sie strukturell erhalten und formal weiterentwickeln will. Ein Dorf z.B. müsse man nicht absichtlich malerisch gestalten: „Das letztere ergibt sich von selbst, wenn man nur bestrebt ist, die Erfahrungen unserer Voreltern nicht ganz beiseite zu schieben.“112 Die Architektur der alten Bauernhäuser biete ebenfalls eine Fülle lehrreicher, aber leider viel zu wenig gewürdigter Merkmale –weil sie landschaftsgebunden, mit einfachsten bodenwüchsigen Hilfsmitteln errichtet, dem Klima und den Gewohnheiten der Bevölkerung angepaßt und handwerklich durchgebildet seien: „So ein überliefertes Bauwerk predigt und illustriert ein ganzes Programm für unsere heutige Technikerschaft! Sie sollte einsehen, daß ein blumengeschmücktes Fensterbrett eine größere Zierde für das Haus ist als ein auf Gipskonsolen angepapptes Architekturstück, sie sollte lernen, daß das Heil einer gesunden baulichen Entwicklung im Dorfe und in der Landschaft, wo die Natur selbst den schönsten Schmuck bietet, nicht in verworrenem Architekturkram liegt, sondern in der zweckmäßigen Durchbildung des Ganzen bei Betonung größter Einfachheit und Anschmiegung an die Umgebung.“113 2. Die Beschäftigung mit Dorf und Bauernhaus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 2.1. Der Stadt-Land-Konflikt und seine Folgen Die tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandlungen im Kaiserreich treten besonders in den großen Städten zutage, wo sie das Leben ihrer Bewohner nachhaltig verändern. Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wird die Stadt zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion und pseudowissenschaftlicher Kritik, während gleichzeitig – wie Bergmann erkennt – eines der am häufigsten gebrauchten Schlagwörter am Ende des 19. Jahrhunderts „Die Erhaltung des Bauernstandes“ ist.114 Fast ein halbes Jahrhundert bevor Ernst Rudorff seine den Heimatschutz begründenden Aufsätze schrieb, trachtete bereits ein anderer Kritiker im Deutschen Reich danach, dem sogenannten Modernisierungsschub entgegenzuwirken: Wilhelm Heinrich Riehl, Vater der 111 112 113 114 Vgl. Knaut 1993, S. 277, 280. Besonders bei öffentlichen Bauaufgaben unterwerfen sie sich meist keinem traditionellen Heimatstil-Diktat. Mielke 1910a, S. 125. Schmidt 1905, S. 159. Vgl. Reulecke 1985, S. 139 und Bergmann 1970, S. 34f. Bausinger konstatiert gerade in der Literaturgeschichte eine lange Tradition, die das Land verklärt und die Stadt zum urbanen Schreckbild erklärt. In dieser Untersuchung soll jedoch nicht weiter auf die Kontinuität des Stadt-Land-Gegensatzes eingegangen werden. Vgl. Bausinger, Hermann: Dorf und Stadt – ein traditioneller Gegensatz. In: Wehling, Hans-Georg (Hg.): Dorfpolitik. Fachwissenschaftliche Analysen und didaktische Hilfen. Opladen 1978, S. 20. Heimatschutz und Bauerndorf 39 deutschen Volkskunde, Novellist, zuletzt Direktor des Bayerischen Nationalmuseums.115 Er verurteilt bereits in seinen Büchern der 50er und 60er-Jahre des 19. Jahrhunderts (z.B. in seiner vierbändigen „Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik“, 1851-1869 oder seinem „Deutsches Land und Volk“ von 1854) die Auswüchse der aus dem Westen importierten Industrialisierung, der Naturzerstörung, der Individualisierung und der Universalisierung der Lebenswelt. Er formuliert erstmals den Kontrast zwischen Stadt und Land und benennt negative Auswirkungen des Stadtlebens auf den Menschen. Während die Dörfer auf dem Lande ausbluteten, drohe in den Städten das vaterlandslose Proletariat die Macht zu erobern, internationales Gedankengut die überkommenen Traditionen und natürlichen Unterschiede zu nivellieren. Von der Großstadt gehe ein zersetzender Einfluß aus, der auch das umliegende Land infiziere.116 Im Vergleich zu den „Mächten der Bewegung“ in der Stadt propagiert er Geschlechter, Stände und Stämme als natürlichen Wurzelboden für die langsame, organische Entfaltung des Volkslebens, wobei ihm Bauern und Land als Hauptgaranten der Bewahrung, als „Mächte des Beharrens“ gelten.117 Eine Zerstörung der bäuerlichen Grundlage führe zwangsläufig zu einer „Entartung der Natur“118 und bedrohe nicht nur den Staat, sondern auch die deutsche (und europäische) Identität und Kultur. Das Bauerntum ist für ihn ein politisches Gegengewicht zur Großstadt. Er formuliert erstmals die Zusammengehörigkeit des Menschen zu der ihn umgebenden Landschaft und dessen kulturelle Wurzeln und wird damit zu einem Vater der Heimatschutzbewegung. Wichtige Ideologen von Städtefeindschaft und Bauernverherrlichung sowie Begründer einer sozialbiologischen Verstädterungstheorie sind der Münchner Statistiker Georg Hansen 115 116 117 118 Er war der bedeutsamste Antipode von Friedrich Engels und Karl Marx. Vgl. zu Wilhelm Heinrich Riehl als Begründer der Agrarromantik und Großstadtfeindschaft Bergmann 1970, S. 38-49. Vgl. Klueting 1998, S. 47. Vgl. Bergmann 1970, S. 42-45. Jean-Jacques Rousseau postulierte bereits im 18. Jahrhundert ein funktionierendes Staatssystem auf der Grundlage der natürlich gewachsenen, tradierten Sozialstrukturen von außereuropäischen Primitivvölkern. Die Errungenschaften der Zivilisation hätten den Menschen verdorben. Der Sitten- und Werteverfall, hervorgerufen durch Urbanität, Wissenschaften und Aufklärung, brachte ihn im Jahre 1755 in seiner Schrift „Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“ zu der Aussage: „Kehrt zu eurer frühen und ersten Unschuld zurück, denn es hängt von euch ab. Geht in die Wälder und vergeßt Anblick und Erinnerung der Verbrechen eurer Zeitgenossen und befürchtet nicht, ihr würdet eure Gattung erniedrigen, wenn ihr, um auf ihre Laster zu verzichten, auf ihre Kenntnisse verzichtet.“ Zit. nach und vgl. dazu Roediger-Diruf (Hg. u.a.) 1998, S. 39-41. Riehl, Wilhelm Heinrich: Vom deutschen Land und Volke. Eine Auswahl. Jena 1922, S. 147, zit. bei Knaut 1993, S. 13. Vgl. auch Zuhorn 1954, S. 41. Sieferle nennt ihn in dem Zusammenhang den „ewigen Bauern“, der quasi geschichtslos und von jeder Veränderung unberührt auf seiner Scholle hause und als Individuum kaum ausdifferenziert sei. „Volk und Heimat, Blut und Boden, Haus und Hof bilden eine untrennbare Einheit.“ Vgl. Sieferle 1984, S. 188. Vgl. Hermand 1991, S. 83. Ohne im folgenden näher darauf eingehen zu können, muß an dieser Stelle doch gesagt werden, daß dieses konservative Gedankengut dem späteren nationalsozialistischen Denken als Legitimation gedient und dessen Gesellschaftsdeutung vorgeprägt hat. Vgl. auch Reulecke 1985, S. 141. 40 Heimatschutz und Bauerndorf und der Publizist und Sozialdarwinist Otto Ammon.119 Auch ihre stereotype Großstadtkritik erhält durch eine pseudowissenschaftliche Untermauerung große Popularität. Hansens umfangreiches Buch „Die drei Bevölkerungsstufen“ erscheint 1889 und erklärt die Binnenwanderung der Bevölkerung in die Städte als naturgeschichtliches Phänomen. Seiner biologistischen Theorie zufolge befinde sich die städtische Bevölkerung in einem ständigen Prozeß des Absterbens und müsse innerhalb zweier Generationen vollständig durch Zuzug vom Lande ersetzt und regeneriert werden.120 Dementsprechend sei der Bauernstand von existenzieller Bedeutung für ein Staatswesen, denn er halte die Gesellschaft am Leben, indem er sie nicht nur mit Butter und Käse, „sondern vor allem auch mit Menschen“121 versorge. Obwohl Hansen keine Großstadkritik betreibt, ist er doch der erste, der die vermeintlich biologische Funktion des Bauernstandes beschreibt: „...so ist auch ein Volk dem Verderben geweiht, wenn es durch Vernichtung des Bauernstandes das Band zerrissen hat, welches den Menschen mit der allnährenden Mutter Erde verknüpft.“122 Otto Ammon führt diese Gedanken in noch radikalerer und, mit Blick auf den Nationalsozialismus, in beängstigender Form weiter. Auch er glaubt, daß der Bauernstand in die Großstadt abwandern müsse, um hier für eine ständige Auffrischung des Blutes zu sorgen.123 In der Großstadt jedoch müßten die Bauern wie alle anderen nach spätestens drei Generationen aussterben. Das sei notwendig, da die Gesellschaft durch das von der Natur abgekehrte Großstadtleben physisch und psychisch entartet würde. Ammon geht sogar so weit, aufgrund der Analyse körperlicher Merkmale von Städtern (Haar- und Hautfarbe, Schädelmessungen) deren Degeneration zu beweisen und eine Verkümmerung der Rasse anzuprangern.124 Die Großstadt sei letztlich das „Grab des Menschengeschlechts“ und Zentrum der destruktiven Sozialdemokratie. „Gesundes“ müsse immer wieder aus dem fruchtbaren „Urmaterial“, dem „Urquell“ des Bauerntums in die Großstadt fließen, damit eine höhere Kultur existieren könne.125 Das Bauerntum müsse also – so Ammon – in Kraft und Gesundheit und damit fruchtbar gehalten werden. Daher solle es auf dem Lande in einem unwissenden Primitivzustand gehalten werden, völlig isoliert von städtischem Leben, damit die damit verbundene Verderbnis nicht auf es überschlagen könne:126 119 120 121 122 123 124 125 126 Vgl. zu Hansen und Ammon Bergmann 1970, S. 50-62. Beide haben unabhängig voneinander gearbeitet. Vgl. Bergmann 1970, S. 51f. Hansen: Die drei Bevölkerungsstufen. Ein Versuch, die Ursachen für das Blühen und Altern der Völker nachzuweisen. München 1889, S. 329. Zit. bei Bergmann 1970, S. 54. Ebd. (bei Hansen), S. 407, zit. bei Bergmann 1970, S., 55. Vgl. Bergmann 1970, S. 58. Vgl. zu Hansen z.B. zwei seiner Aufsätze: Die Bedeutung des Bauernstandes für den Staat und die Gesellschaft. In: Das Land Jg. 2.1893/94; Und sie verzehren sie doch! In: Das Land Jg. 3.1894/95. Vgl. Reulecke 1985, S. 142. Vgl. ebd., S. 58, 60 und 61. Vgl. ebd., S. 62. Heimatschutz und Bauerndorf 41 „Man muß den Bauernstand erhalten, weil ohne ihn die Ideale der Menschheit im Fabrikrauch ersticken; weil ohne ihn die umstürzlerischen Bestrebungen überhitzter Köpfe keinen Widerpart mehr finden und der Staat nicht fortbestehen kann...“127 Großstadtfeindliche und das Bauerntum als staatstragend verherrlichende Theorien, die sich auf vulgärwissenschaftliche Erkenntnisse aus Medizin, Biologie, Psychologie oder Soziologie berufen, existieren im späten 19. Jahrhundert zuhauf und finden vor allem im Bürgertum durch ihre vermeintliche Objektivität große Zustimmung. Neben den faktischen wirtschaftlichen Krisen der Landwirtschaft nimmt es in dieser Phase der ideologischen Aufladung von „Land“ und „Bauerntum“ nicht Wunder, daß die 1893 gegründete Interessenvertretung des „Bundes der Landwirte“ einen großen Zulauf verzeichnet und nicht nur um ihren wirtschaftspolitischen Status in der wilhelminischen Gesellschaft, sondern auch für ihre gesellschaftspolitische Rolle sowie für ihre preußisch-agrarisch-konservativ bestimmten geistigen Werte kämpft.128 Die Idealisierung von Dorf und Bauernstand sichert den Agrariern dabei einen größeren Einfluß zu.129 Ein bedeutender Mitstreiter Rudorffs im „Bund Heimatschutz“ sowie einflußreichster Vertreter der agrarischen Interessen im „Bund der Landwirte“ ist der vormalige Provinzredakteur und Dorfschullehrer Heinrich Sohnrey. Er gibt im Jahre 1893 die Zeitschrift „Das Land. Zeitschrift für die sozialen und volkstümlichen Angelegenheiten auf dem Lande“ heraus, die zu dem wichtigsten Vermittlungsorgan für ländliche Fragen avanciert und in der alle relevanten Wortführer eines agrarischen Anti-Urbanismus veröffentlichen.130 Sohnrey selbst beruft sich vor allem auf Hansen und Ammon, wenn er von der Landbevölkerung als dem „dauernden“ Stand spricht und sie als Grundlage eines gesunden Staatswesens bezeichnet, als Quelle, „aus der das gesamte Volk Erfrischung und Erstarkung“ schöpfe.131 Er hebt deren Argumentation jedoch in einen politischen Kontext: Sohnrey bezieht nicht nur das Bauerntum, sondern die gesamte Landbevölkerung in seine Untersuchungen ein und betrachtet die Binnenwanderung nicht mehr nur als natürliches Phänomen, sondern als gesellschaftspolitisches und wirtschaftliches Problem der Gegenwart. So beklagt er in seinen Publikationen den Arbeitermangel auf dem Lande, die Arbeitslosigkeit in der Stadt und die umstürzlerische Sozialdemokratie. 127 128 129 130 131 Vgl. ebd., S. 61 und Reulecke 1985, S. 142. Vgl. Bergmann 1970, S. 28 und Reulecke 1985, S. 140f. Vgl. Bausinger 1978, S. 24. Vgl. Reulecke 1985, S. 141. Vgl. Sohnrey, Heinrich: Zur Einführung. In: Das Land Jg. 1/1892/93, S. 3, zit. bei Bergmann 1970, S. 66. Heimatschutz und Bauerndorf 42 Er ist der erste und engagierteste Kämpfer gegen die „Landflucht“ und entsprechend ein entschiedener Feind der Großstadt.132 Sein Buch „Der Zug vom Land und die soziale Revolution“ von 1894 beschreibt die Hintergründe für die Abwanderung besonders des ländlichen Proletariats, d.h. den Landarbeitern, in die Stadt. Diese würden auf dem Lande in sozialer, ökonomischer und kultureller Hinsicht verkümmern. Er macht erstmals deutlich, daß es nicht nur in der Stadt die „Soziale Frage“ gäbe, sondern auch auf dem Land. Schuld daran seien vor allem die Großgrundbesitzer, die den Landarbeitern grundlegende Bedürfnisse verweigerten, die doch in der Stadt so leicht zu befriedigen seien. Dagegen müßten auf dem Lande nicht nur Möglichkeiten zur Verbesserung der eigenen finanziellen und sozialen, sondern auch die Pflege und Erneuerung der kulturellen Situation und der gesamten Lebensumwelt der Landbewohner geschaffen werden.133 Neben ihrer biologistischen Funktion für das deutsche Volk sieht er die ländliche Bevölkerung in erster Linie auch als Träger des deutschen Volkstums schlechthin.134 So gründet der umtriebige Sohnrey im Jahre 1896 unter der Mitwirkung zahlreicher Landwirte und Beamter aus der Landwirtschaft, Dorfgeistlicher und Dorflehrer den „Ausschuß für Wohlfahrtspflege auf dem Lande“, der sich ab 1903 „Deutscher Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege“ nennt.135 Dessen erstes Ziel ist es, den, wie Sohnrey es nennt, „Zug vom Lande“ zu stoppen, und zwar durch eine Reform der ländlichen Zustände. Er strebt jedoch keine Änderung der Gesellschaftsordnung oder Besitzverhältnisse auf dem Lande an, die von ihm grundsätzlich als stabil und positiv gewertet werden. Im Gegenteil: Ziel ist, die bestehenden sozialökonomischen und staatlichen Systeme und die ländliche Ordnung zu erhalten. Dabei spielt das persönliche Glück der einzelnen Landbewohner eine nur untergeordnete Rolle.136 Dies deutet auf den reaktionären Wunsch hin, einen festgefügten bäuerlichen Stand zu erhalten, der sogenannte starke und gesunde, gläubige, sittenstrenge und integre Menschen in natürlicher Atmosphäre hervorbringt – weitgehend isoliert von der Stadt und eine Kontrastwelt zu ihr bildend. Sohnrey geht von einer idealen ländlichen Volksgemeinschaft aus, die Vorbild 132 133 134 135 136 Daß Deutschland durch die „Landflucht“ bedroht sei, schließt Sohnrey aus einer Veröffentlichung des Jahres 1890, nach der die Zahl der ländlichen Bevölkerung im Vergleich zum Jahr 1871 leicht zurückgegangen, die der Stadtbevölkerung dagegen stark angewachsen war. Vgl. Bergmann 1970, S. 67. Er beklagt besonders die Massenabwanderung aus den Ostprovinzen des Reiches und warnt davor, daß dieser Arbeitskräftemangel nur durch polnische Arbeiter ausgeglichen werden könne, wodurch man das „Slawentum“ im deutschen Osten stärke. Vgl. ebd., S. 69. Bergmann macht deutlich, daß der Begriff der „Landflucht“ objektiv falsch gewählt sei, da er den Abwandernden eine Flucht aus unlauteren Motiven unterstelle. Die Gründe für die Abwanderung zeigten jedoch, daß es entschiedene Notwendigkeiten für diese Binnenwanderung gab. Vgl. ebd., S. 17. Vgl. Morris-Keitel 1994, S. 51f. Hierin stimmt ihm auch Ernst Rudorff in vollem Umfang zu. Vgl. Knaut 1991, S. 35. Vgl. auch den 1900 in Berlin von Heinrich Sohnrey herausgegebenen „Wegweiser für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege“ im Auftrag des genannten Ausschusses. Vgl. Bergmann 1970, S. 92. Heimatschutz und Bauerndorf 43 für das gesamte Volksleben sein solle. Daher ist es in seinem Interesse, die Lebensumstände des Landvolkes zu verbessern. Nicht wirtschaftliche oder soziale Nöte der Landbevölkerung hat er dabei im Blick, sondern neben verbesserten Wohnverhältnissen vor allem die Pflege ihres Geisteslebens, das sich vor allem in den kulturellen und kirchlichen Traditionen widerspiegelt: So z.B. in der Volkskunst, in Volksfesten und -liedern, in der Förderung der Jugend und ihrer kulturellen Aktivitäten sowie z.B. der Anlage von Spinnstuben, Dorfchroniken und Dorfmuseen. Durch die Wiedererweckung eines ländlichen „Volkslebens“ möchte Sohnrey, den Landbewohnern ein neues Bewußtsein ihrer doch eigentlich im Gegensatz zur Stadt „privilegierten“ Stellung auf dem Lande mitgeben. Statt ihnen jedoch zu einem wirtschaftlich besseren Leben zu verhelfen, möchte er ihnen ein neues Selbstwertgefühl vermitteln und ihnen die vielen Vorteile des Landlebens im Vergleich zum „bedauernswerten“ Stadtleben bewußt machen. Stolz und ein neues Gemeinschaftsgefühl sollen das Landvolk vereinen und gegen den Einfluß der Stadt stärken: „Wir vom Lande sind nicht nervös!...Wir vom Lande dürfen noch ganze Arbeit tun!...Wir vom Lande sind noch etwas wert!...Wir auf dem Lande schauen unmittelbar in Gottes Werkstatt, in die Natur!“137 In solchen beschwörenden Texten verdichtet sich der Wunsch, die Landbevölkerung auf eine künstliche Verklärung des Landlebens einzuschwören und so vom Zug in die Stadt abzuhalten. Dazu sollen auch die von ihm herausgegebenen Publikationen beitragen, wie z.B. die „Deutsche Dorfzeitung“ und der „Dorfkalender“, Zeitschriften wie „Das Land“ oder das „Archiv für innere Kolonisation“. Besonders „Das Land“ will bei dem ländlichen Bildungsbürgertum mit stereotypen Gemeinplätzen den Haß auf die Großstadt wecken. Die katastrophalen Zustände auf dem Lande, die mühselige Arbeit der Bauern, die feudale Unterdrückung, Angst vor Krankheiten und Mißernten etc. werden dabei nicht in Betracht gezogen: „Die romantisch-poetisierende Verklärung des Landlebens offenbarte deutlich, daß hier Wunschvorstellungen zur Wirklichkeit, das Ideal zur Realität hinausgesteigert wurden. [...] Auf der anderen Seite aber wußte man, daß die Verhältnisse alles andere als idyllisch waren – Sohnrey hatte auf die ‚soziale Frage auf dem Land‘ deutlich genug hingewiesen. Nun aber wurde man fast Opfer der eigenen Verklärung der Wirklichkeit. Man steigerte sich in die Vorstellung einer noch immer gesunden Landbevölkerung und intakter sozialökonomischer, kultureller und menschlicher Verhältnisse hinein...“138 Diese idyllisierenden Schilderungen ländlichen Lebens trifft man zeitgleich auch in der sogenannten Heimatkunstbewegung an.139 Es ist kein Zufall, daß auch hier Heinrich Sohnrey ein 137 138 139 Vgl. Ziegler: Wir vom Lande. In: Das Land Jg. 16.1907/08, S. 125f. Zit. nach Bergmann 1970, S. 95. Bergmann 1970, S. 96. Vgl. hierzu ausführlich Rossbacher, Karlheinz: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende. Stuttgart 1975. Der Begriff „Heimatkunst“ ist in Thematik, In- Heimatschutz und Bauerndorf 44 besonders engagierter Streiter ist, sich vehement für eine neue heimatliche Dichtung und Kunst einsetzt und damit heute als Begründer der Bewegung gilt. Bereits 1886/87 hatte er mit dem Roman „Die Leute aus der Lindenhütte“ einige Popularität erlangt. Die Heimatkunstbewegung kann als gesamtgesellschaftliches und übernationales Phänomen gesehen werden und wendet sich wiederum gegen die als krankmachend, unästhetisch und hektisch empfundenen Großstädte – besonders gegen Berlin. Das Schlagwort „Los von Berlin“ von Friedrich Lienhard, einem Hauptvertreter der Heimatkunst, wird zum Kampfruf der Bewegung.140 Ebenso wendet diese sich gegen den Naturalismus und Realismus in den Künsten. Schriftsteller wie Emil Zola, Fjodor Dostojewski, Henrik Ibsen und August Strindberg werden kategorisch abgelehnt. Die Heimatkunst hat die Heimat zum Thema. Eine Heimat, die selbstverständlich als ländlich interpretiert wird und mit Seßhaftigkeit und Gesundheit, Geborgenheit und persönlichen menschlichen Beziehungen in Dorf und Kleinstadt gleichgesetzt wird. Dagegen wird der Großstadt von vorneherein die Möglichkeit abgesprochen, selbst eine Heimat zu sein – dementsprechend werden die Industrieproletarier als „heimatlose Gesellen“ diskreditiert. Heimatkunst beschäftigt sich mit dem Land, den regionalen Besonderheiten verschiedener Landschaften und deren „unverdorbenen“ Bewohnern. Julius August Langbehn wird mit seinem Buch „Rembrandt. Von einem Deutschen“ aus dem Jahre 1890 zu einem Propheten der Bewegung, der Lokalismus und Provinzialismus als Motor der Kunst bezeichnet und glaubt, daß wahre Kunst nur in dem einfachen Landvolke entstehen könne.141 Heimatkunst ist einzuordnen zwischen idyllisierenden Dorferzählungen und mehr oder weniger realistischen Heimatbeschreibungen. Eine Flut von sogenannten Bauernromanen ergießt sich Ende des 19. Jahrhunderts über Deutschland.142 Lienhard behauptet, eine „ungekünstelte und lebenswahre Dichtung sei nur möglich, wenn man der Vielfalt der deutschen Gaue, der deutschen Menschen, der deutschen Stämme und der deutschen Landschaft Rechnung trage und wenn man Stoffe auswähle, die der Mehrzahl der Deutschen etwas sagten statt einer degenerierten Minderheit von Literaten in Salons oder Kaffeehäusern“.143 Weitere Protagonisten der Bewegung sind der deutschtümelnde Ernst Wachler, der mit seinem 1897 erschienenen Buch „Läuterung der deutschen Dichtung im Volksgeiste“ für eine national ausgerichtete Poesie kämpft und der extrem nationalistisch und antisemitisch denkende Adolf Bartels.144 140 141 142 143 144 halt und Form heimatlichen Traditionen verpflichtet, ohne jedoch zur Volkskunst zu gehören. Vgl. Hajós 1989, S. 156. Vgl. Bergmann 1970, S. 52. Vgl. ebd., S. 106. Vgl. Sieferle 1984, S. 189. Siehe auch Zimmermann, Peter: Der Bauernroman. Antifeudalismus – Konservativismus – Faschismus. Stuttgart 1975. Bergmann 1970, S. 115. Vgl. zu den beiden Autoren z.B. Bergmann 1970, S. 110-120. Heimatschutz und Bauerndorf 45 Auch in der bildenden Kunst ist eine klare Tendenz zu erkennen, sich mit heimatlich-ländlichen, der Natur verhafteten Sujets zu beschäftigen.145 Ein bedeutendes Phänomen ist in diesem Zusammenhang die Künstlerkolonie, die etwa 1840 in Europa aufkommt.146 Künstlerkolonien siedeln sich vornehmlich in ländlichen Gegenden an. Nicht die gemeinsame Kreativität der dort lebenden und arbeitenden Künstler ist entscheidend, sondern ein gemeinschaftliches Verhältnis zum Ort und zur Landschaft der Kolonie. Gemeinsam will man dem Rationalismus und der Häßlichkeit der Städte, den Zwängen des Akademiewesens, dem Atelierbetrieb und den Kaffeehäusern den Rücken zukehren, um sich, zurückgezogen in landschaftlich ursprünglicher und beschaulicher Umgebung, nur der Kunst zu widmen. Diese präsentiert sich entsprechend oft rückwärtsgewandt und einem Ideal verpflichtet, daß sich im Kontrast zu den Realitäten der Gegenwart einer engen Bindung an die Natur hingibt und als Sujet volkstümlicher Sentimentalität gern den einfachen Bauern, dessen Haus oder Tiere wählt. Ein wesentliche Bildgattung ist die der Landschaftsmalerei.147 Bedeutende deutsche Künstlerkolonien sind Worpswede bei Bremen, Dachau bei München und das abgelegene Willingshausen in der Schwalm (Nordhessen), die durch eine noch weitgehend ursprüngliche ländliche Bevölkerung mit ihren überkommenen Häusern, Sitten, Traditionen und Festen geprägt sind. Von solchen agrarromantischen, irrationalen mit vaterländisch-konservativen Ideen gepaarten Ideen fühlen sich große Teile des Bürgertums angesprochen. Gerade beim großstädtischen Bildungsbürgertum fällt die Romantisierung und Verklärung alles Ländlichen und die Verdammung alles Großstädtischen auf „fruchtbaren Boden“. Begriffe wie „Asphaltwüsten“ und „Zementgebirge“, „Pesthöfe“ oder „Kerker“ sprechen für sich.148 Der „Moloch“ wird zum Ursprung des körperlichen und moralischen Verfalls, zur Ursache für alle negativen Entwicklungen der Gegenwart erklärt. Die Befürchtung wächst, daß wachsende Industrialisierung und Verstädterung auch das Land und seine überkommenen Strukturen verändern oder zerstören könnten. Viele Menschen organisieren sich in antizivilisatorischen und neoromantischen Bewegungen, die sich auf einem „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus eine Selbst- und Gesellschaftsreform zum Ziel gesetzt haben. Zu dieser fast enthusiastischen Aufbruchstimmung gehört die Sehnsucht, ein selbstbestimmtes und gesundes Leben als Teil der heilen Welt des Landes führen zu können. So spaziert z.B. die bürgerliche Jugendbewegung der Wandervögel regelmäßig mit Klampfe und 145 146 147 148 Wilhelm Leibl, Heinrich Vogeler, Otto Modersohn, Carl Ludwig Bantzer, Otto Ubbelohde oder Adolf Hölzel sind beispielsweise als deren Vertreter zu nennen. Sie sind stark beeinflußt von der Natursehnsucht der Romantiker, wie z.B. Caspar David Friedrich. Vgl. Wietek 1976, S. 12. Vgl. zu dem Phänomen Künstlerkolonien auch Roediger-Diruf 1998. Vgl. Wietek 1976, S. 7. Vgl. Krabbe 1974, S. 14 und Hermand 1991, S. 83f. Hier sei auch beispielhaft auf Karl Oldenburgs „Deutschland als Industriestaat“ (1897) hingewiesen. Heimatschutz und Bauerndorf 46 Knickerbockern „aus grauer Städte Mauern“ in die freie Natur.149 Neben den Künstlerkolonien streben viele Stadtmüde auch das dauerhafte Leben auf dem Lande an. Es entstehen zahlreiche bürgerliche Siedlungsprojekte mit unterschiedlichen Heilslehren und Lebensanschauungen.150 Dazu gehört auch die 1893 bei Oranienburg in der Nähe Berlins gegründete lebensreformerische Siedlungsgenossenschaft „Eden“, die sich ganz auf den Obstbau konzentriert und vegetarisch lebt; oder die Ansiedlung von „Wahrheitssuchenden“ in der „Naturheilanstalt“ Monte Verità bei Ascona am Lago Maggiore. Gemein ist den Siedlern der Wille zur Bodenreform, zur Arbeitsgemeinschaft und Genossenschaftlichkeit, ebenso wie das Prinzip der Selbstreform in Ernährung, Kleidung und Körperbewußtsein.151 Gustav Landauers Aufsatz: „Die Siedlung“ von 1909 bringt die Vorstellungen der Siedelnden auf den Punkt: „Es liegt alles brach um uns, es ist alles verfallen, es regt sich fast noch nichts da draußen; es blüht in uns und ringt sich empor, unsäglich ist die Arbeit, die auf uns wartet; [...]. Mitten im eigenen Lande, mitten unter unserem Volke wollen wir den Pflock einrammen und allen, die uns hören können, zurufen: ‚Seht alle, ein Wegweiser‘!“152 Die Gesundung durch Sonne, Erde und Natur schreiben sich die Siedler auf ihre Fahnen und nehmen mit ihren Siedlungsstrukturen eindeutig Bezug auf das traditionell dörfliche Leben. Sie planen in dörflichen Größenordnungen Siedlungen mit Kleinhäusern, die oft mit kleinem Stall zur Selbstversorgung und eigenen Gärten versehen sind. Gemeinschaftsbauten wie Geschäfte, Gasthäuser und Festsäle werden ins Zentrum der Siedlung eingebracht. Neben der Landarbeit werden auch Feste, Spiele und Tänze sowie volkskünstlerische Aktivitäten betrieben, um an vorindustrielle dörfliche Traditionen und genossenschaftliches Gemeinschaftsleben anzuknüpfen. Dazu kommen die dezidiert reformerischen Lichtbäder und die Nacktkultur, die den wilhelminischen Einschnürungen wieder den reinen und unverhängten Körper entgegensetzt. Der Landkult der städtischen Bildungsbürger und die Suche nach neuen Formen menschlichen Zusammenlebens äußert sich auch in Stadtrandsiedlungen, bei der Arbeit in Schrebergärten oder in der Planung von Gartenstädten. Die Angst, das seit der Reichsgründung erstarkende Deutschland könne scheitern, bedingt in der Gesellschaft eine vaterländisch-konservative Geisteshaltung, die schließlich die Sehnsucht nach einem idealerweise vorindustriellen Staatsgebilde weckt.153 Von der Wucht der indus149 150 151 152 153 Vgl. Giesecke 1981 und Reulecke 1985, S. 143. Der „Vater“ der Siedlungsgenossenschaften in Deutschland ist Victor Aimé Huber. Vgl. Linse 1983, S. 25. Vgl. Feuchter-Schawelka 1998, S. 232. Vgl. zum Genossenschaftswesen auch: Faust, Helmut: Geschichte der Genossenschaftsbewegung, Ursprung und Aufbruch der Genossenschaften in England, Frankreich und Deutschland sowie ihre weitere Entwicklung im deutschen Sprachraum. Frankfurt/M. 1977. Zit. nach Linse 1983, S. 29f. Daß die meisten Siedlungsunternehmen auf lange Sicht nicht erfolgreich verlaufen, liegt vor allem daran, daß die Städter in der Handarbeit und der Landwirtschaft völlig unerfahren sind und die hohe Arbeitsbelastung auf Dauer nicht verkraften. Vgl. Bergmann 1970, S. 73. Heimatschutz und Bauerndorf 47 triellen Entwicklung überrascht und überfordert, wird reflexhaft unter Schutz gestellt, was als erstes den Umwälzungen zum Opfer zu fallen droht: Die Überschaubarkeit der traditionellen Weltordnung, wie sie sich noch im Ländlichen zu spiegeln scheint, wird entweder als rückwärtsgewandte Utopie zelebriert oder fortschrittlich modifiziert. Der Schweizer Heimatschützer August Steinmann nennt das Dorf einen Ort der Sehnsucht, ein „Avalun“, weil es zu Ruhe und Menschwerdung verhelfe.154 Im scheinbar heilen Landleben akkumulieren sich die irrationalen Sehnsüchte und Wünsche nach einer harmonischen Idealwelt, nach einer Geborgenheit bietenden Sozialordnung – nach einer Heimat: „Was als Schönheit gesehen und ständig reproduziert wurde, war einfach legitimiert. Erdverbundenheit, Verwurzelung im Boden und Herkommen aus dem Volk bestimmten die Kombination von wenigen sich der Geschichte entziehenden Motiven: Volkstanz und Tracht fügten sich zum bäuerlichen Menschenschlag, Natur und Dorf ergaben landschaftsgebundenes Bauen, natürliche Materialien in kräftigen Farben führten zu lebensnahem Sein.“155 2.2. Forschungen zu Dorf und Bauernhaus Parallel zur sozialen, politischen und ideellen Aufwertung des Bauernstandes rückt auch die gesamte bäuerliche Kultur und besonders deren Behausungen näher ins Blickfeld.156 Vorwissenschaftliche Anfänge einer Erforschung des bäuerlichen Hauses lassen sich bereits vor dem Hintergrund der Aufklärung im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beobachten. Die Kameralistik beschäftigte sich erstmals mit der Kultur des einfachen Volkes, begann Land und Bewohner geographisch und ethnographisch zu erfassen. Sie betrachtete die Landwirtschaft und das bäuerliche Hauswesen nach funktionalen und ökonomischen Gesichtspunkten, nach den Erfordernissen des Marktes und der bäuerlichen Produktivität.157 Vielzitiert ist eine Verteidigungsschrift des Juristen, Ökonomen und Schriftstellers Justus Möser von 1778, der das westfälische Bauernhaus gegen einen spöttischen Essay von Voltaire in Schutz nimmt. Dieser behauptete: „In großen Hütten, die man Häuser nennt, sieht man Tiere, die man Menschen nennt und die in einträchtigster Weise vermischt mit den anderen 154 155 156 157 Steinmann, August: Schutz dem Dorfe. In: Heimatschutz (Schweiz) 7.1912, H. 5, S. 65. Vgl. Schönes Österreich 1995, S. 180. Die Volkskunde erhält früh ihre großen Impulse: Bereits in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts sammelt Justus Brinckmann bäuerliche Altertümer, um der Öffentlichkeit die Qualität des ländlichen Handwerks zu präsentieren. Ein wichtiges Dokument für das wachsende wissenschaftliche Interesse am Bauerntum bildet z.B. auch der 1892 veröffentlichte Aufsatz „Volkskunst, Hausfleiß und Hausindustrie“ von Alois Riegl (ursprünglich Berlin 1894, Nachdruck in der Reihe „Kunstwissenschaftliche Studientexte“, hg. von F. Piel, Bd. 4, Mittenwald 1978. Vgl. Lehne 1989, S. 160) oder das Buch „Deutsche Bauernkunst“, das Oskar Schwindrazheim, Professor an der Kunstgewerbeakademie in Altona, im Jahre 1903 verfaßt. Vgl. Bedal 1978, S. 12. Heimatschutz und Bauerndorf 48 Haustieren leben...“158 Möser zeigt mit seiner Apologie über das seiner Meinung nach funktionale und bequeme westfälische Bauernhaus einen ersten Ansatz zur Besinnung auf die kulturellen Werte seines eigenen Landes, wodurch er sich von den rein rationalistischen Bestrebungen der Aufklärung distanziert. 159 Eine Grundanschauung der Romantik ist, daß alle Stämme Glieder eines organischen Ganzen, eines Volkes sind und diese Vorstellung setzt sich bis ins 20. Jahrhundert hinein fort.160 Hausgebiete werden mit Stammesgebieten gleichgesetzt und die Suche nach einem „Urhaus“ für die Stämme bzw. das ganze Volk wird betrieben.161 So kommt es schon Mitte des 19. Jahrhunderts zu Begrifflichkeiten wie „Niedersachsenhaus“, „Fränkisches Gehöft“, „Alemannisches Haus“ etc. Die Entdeckung neuer geographischer und biologischer Zusammenhänge trägt dazu bei, daß die Beschäftigung mit Bauernhaustypen im 19. Jahrhundert auch naturwissenschaftlich untermauert wird.162 Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen viele Schriften, die das deutsche Bauernhaus in seinen unterschiedlichen Ausformungen kulturgeschichtlich untersuchen. Die Lehrmeinung, daß die verschiedenen Hausformen als primäre Indikatoren für die Ausdehnung der vorgeschichtlichen deutschen, „germanischen“ Stammesbereiche gelten, wird erstmals von dem Kasseler Archivar Georg Landau vertreten. In den 1850er Jahren wendet er sich der Erforschung von historischen Häusern zu und fordert deren Einbindung als bedeutsame Quellen in die Geschichtswissenschaft. Seine „Vier Ausführungen über den nationalen Hausbau“ fassen zwischen 1857 und 1862 die Forschungen zusammen und können als Beginn der wissenschaftlichen Erforschung des Hauses angesehen werden. Da die Hausforschung im folgenden von Wissenschaftlern unterschiedlicher Herkunft und Methodik verfolgt wird, beschreitet sie auch die unterschiedlichsten Erkenntniswege. Es gibt nach Josef Schepers historische, geographische und bautechnische Gruppierungen, die alle auf ihre Weise das Objekt Haus untersuchen.163 Auf dem Hintergrund des wachsenden geschichtlichen Interesses im Deutschland der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, das sich vor allem in der Gründung vieler Altertums- und Geschichtsvereine niederschlägt, forscht man in verschiedenen historischen Bereichen, so z.B. aufgrund von Schriftquellen und Bilddoku158 159 160 161 162 163 Aus dem kurzem Essay „Voyage à Berlin“ im „Cahiers de lecture No. XII, 1785“ zit. nach Weddigen 1786, S. 242: „Dans de grandes huttes, qu’on appelle maisons, on voit des animaux, qu’on appelle hommes, qui vivent le plus cordialement du monde pêle-mêle avec d’autres animaux domestiques...“ Vgl. Bausinger, Hermann: „Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse.“ Berlin und Darmstadt 1971 und derselbe: „Konservative Aufklärung - Justus Möser vom Blickpunkt der Gegenwart“. In: Zeitschrift für Volkskunde 68 (1972), S. 161-178. Es ist besonders die Heimatschutzbewegung, die sich mit ihrer Dezentralisierung wieder auf die Einteilung in Stammesgebiete beruft. Vgl. Schepers 1953, S. 10. Vgl. Hajós 1989, S. 157. Vgl. Schepers 1953. Heimatschutz und Bauerndorf 49 menten. Wichtige Wissenschaftler sind hier Moritz Heyne mit seinen „Fünf Büchern deutscher Hausaltertümer“ (1899-1903) und Rudolf Henning. Von ihm stammt eine der ersten Übersichten über die deutschen Hausformen: „Das deutsche Haus in seiner historischen Entwicklung“ von 1882. Ein weiterer Forschungszweig ist der der „Wörter und Sachen“, in dem aus Objekten im Haus oder Bezeichnungen des Hauses und seiner Teile vergleichend-überregionale Erkenntnisse geschöpft werden. Begründer dieser Richtung ist Rudolf Meringer, der eine gleichnamige Zeitschrift herausgibt. Mit der Industrialisierung und Verstädterung erhält die Erforschung des Bauernhauses großen Auftrieb: Die traditionelle Bauweise und viele historische Wohnhäuser sind nun durch moderne Verkehrserfordernisse wie Straßendurchbrüche, aber auch durch Abrisse für Neubauten in neuen Bautechniken und Baumaterialien, durch Veränderungen im gründerzeitlichen Geschmack usw. gefährdet. Konservatorische und denkmalschützerische Gesichtspunkte führen dazu, daß sich eine vornehmlich durch Architekten bestimmte baugeschichtlich orientierte Hausforschung herausbildet, die planmäßige künstlerische Inventarisationen durchführt. Aufnahmewerke erhalten so erstmals die Funktion, gefährdete Bauten zumindest zweidimensional im Abbild festzuhalten. Große Bedeutung kommt z.B. der Entdeckung zu, die der Marburger Universitätsarchitekt Carl Schäfer 1876 macht: Ein für den Abriß vorgesehenes, heruntergekommenes Fachwerkhaus in einer nicht sehr angesehenen Wohngegend Marburgs (Neustadt 3/4) erkennt er als erhaltenen gotischen Ständer-Fachwerkbau. Er fertigt Aufmaßskizzen des Hauses und seiner Details an, die für Generationen von Architekturstudenten als Anschauungsmaterial über den gotischen Holzbau dienen. Neben Schäfer und seiner Schule entwickelt sich im ausgehenden 19. Jahrhundert eine breite Hausforschungsliteratur, die nicht mehr nur forschungsorientiert ist, sondern Vorlagen für fachwerkhistoristische Neubauten bieten will. Diese Richtung mit der Tendenz zum willkürlichen Kopieren gerät in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts immer mehr in Kritik. Besonders der Schäfer-Assistent Friedrich Ostendorf formuliert viele der Gedanken, die auch der „Bund Heimatschutz“ gegen die Historisten erfolgreich anführt: Hausforschung müsse mehr sein als der Lieferant von Vorbildmotiven. In diesen Jahren des Rückbezugs auf traditionelle, als bewährt empfundene Bauten erreicht die Hausforschung auf ihren verschiedenen Gebieten einen Stand, der so bis weit nach 1945 gelten soll. Abgesehen von zahllosen regionalen Untersuchungen zu ländlichen Hausformen seien beispielhaft das groß angelegte Hauptwerk von Karl Rhamm genannt: Die „Ethnographischen Beiträge zur germanisch-slavischen Altertumskunde“ (Teil 1 von 1908) oder das für die philologisch-geographische Forschung grundlegende Werk von Wilhelm Pessler: Heimatschutz und Bauerndorf 50 „Das altsächsische Bauernhaus in seiner geographischen Verbreitung“ von 1906, das bereits die in den 20er Jahren entwickelte Kulturraumforschung der Volkskunde vorwegnimmt.164 Mit den photographischen Dokumentationen des hessischen Denkmalpflegers Ludwig Bickell (1838-1901) wird ein neues Medium in die Forschung eingeführt, das nach oft nur skizzenhaften Zeichnungen und zum Teil rekonstruierend erstellten zeichnerischen Dokumentationen der Architekten eine neue Objektivität gewährleistet. Anfang 1895 initiiert der „Verband Deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine“ eine systematische Aufnahme und Sammlung der charakteristischen deutschen Bauernhaustypen. Das ambitionierte sogenannte „Bauernhauswerk“ erscheint 1906 unter dem Namen „Das Bauernhaus im Deutschen Reich und seinen Grenzgebieten“ und enthält neben einem Textband eine Bildmappe mit umfangreichem Zeichnungsmaterial, Fotos, Rissen und Details der besprochenen Häuser. Das Bauernhauswerk, gefördert durch das Reich und die einzelnen Länder, versucht (wie die parallelen schweizerischen und österreichisch-ungarischen Ausgaben), anhand ausgewählter Beispiele einen Überblick über die ländlichen Bauten in allen Regionen des Landes zu geben.165 In der Siedlungs- und Dorfforschung ist ebenfalls August Meitzen mit seinen Werken „Die deutschen Dörfer nach der Form ihrer Anlage und deren nationaler Bedeutung“ von 1872 sowie „Siedelung und Agrarwesen der Westgermanen und Ostgermanen, der Kelten, Römer, Finnen und Slawen“ von 1895 federführend. Es ist dies der erste Versuch, die Formen ländlicher Siedlungen auf vergleichender Grundlage zu untersuchen und ihre Entstehung aufgrund wirtschaftlicher und sozialer Bedingungen zu erforschen. Daraus resultieren erstmals Bezeichnungen wie „Langdorf“, „Haufendorf“, „Waldhufendorf“, „Rundling“ oder „Marschendorf“.166 Erst im Jahre 1903 allerdings unternimmt es Otto Schlüter in seiner Dissertation „Die Siedlungen im nordöstlichen Thüringen“, eine Ordnung der dörflichen Siedlungen nach ihrem Grundriß zu unternehmen. Nicht zufällig fällt die erste Hochphase der Hausforschung auch zusammen mit der Begründung der Freilichtmuseen. Auch sie sind Zeichen dafür, daß man in Zeiten der Industrialisierung angesichts der Zerstörung von ländlichen Traditionen die Bewahrung von überkomme164 165 166 Ein entsprechendes Werk erscheint zeitgleich für Österreich-Ungarn und bereits drei Jahre vorher für die Schweiz. Ein anschließend geplantes Bürgerhauswerk kommt durch den 1. Weltkrieg über wenige Ansätze nicht heraus, wie überhaupt ab 1914 die meisten Forschungen eingestellt werden. Erst nach dem 1. Weltkrieg geht die Beschäftigung mit Dorf und Haus auf wissenschaftlicher Basis weiter. Vgl. z.B. Georg Steinmetz‘ dreibändiges Werk: Grundlagen für das Bauen in Stadt und Land. München, 2. Aufl., 1921, das einen direkten Bezug zum Wiederaufbau in Ostpreußen hat. Siehe auch das große Unternehmen des „Siedlungswerkes“, das in den Jahren 1918-1925 in drei Bänden von Gustav Langen, Gerhard Jobst und Waldemar Kuhn herausgegeben wird. Vgl. dazu: Der Deutsche Heimatschutz 1930, S. 191. Vgl. Kuhn 1915, S. 1. Heimatschutz und Bauerndorf 51 nen Kulturgütern für wichtig erachtet. Nationalromantische Gründe kommen als Motor hinzu. Freilichtmuseen werden eingerichtet, um Baudenkmale vor der Zerstörung zu bewahren und gleichzeitig die Kontinuität des bäuerlichen Lebens durch Darstellung der eigenen Vergangenheit zu konservieren: „Unter Freilichtmuseen werden wissenschaftlich geführte oder unter wissenschaftlicher Aufsicht stehende Sammlungen ganzheitlich dargestellter Siedlungs-, Bau-, Wohn- und Wirtschaftsformen in freiem Gelände verstanden.“167 In der Gründungsphase wird in ihnen vor allem die bäuerliche Welt präsentiert. Während die ersten Freilichtmuseen noch ein Nebeneinander von Einzelhäusern unabhängig von ihrer regionalen Herkunft zeigten, geht die Entwicklung hin zum Wiederaufbau ganzer Hofanlagen bis hin zur Darstellung ganzer Siedlungsformen. So kommt es auch zu den Bezeichnungen „Museums-Dorf“ oder „Dorfmuseum“.168 Erstes Freilichtmuseum ist das von Artur Hazelius 1891 gegründete auf Skansen bei Stockholm, das als Abteilung des wissenschaftlich geführten Volkskundemuseums von 1873 entsteht. Hier werden erstmals vom Abriß bedrohte Gebäude aus verschiedenen Landesteilen und mit hoher ästhetischer Qualität transloziert und gesammelt. Daneben werden jedoch in den ersten Jahren noch unter dem Einfluß der Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts auch besondere Bauten als Kopien rekonstruiert.169 Hazelius‘ Ziel ist es, ein möglichst lebendiges Bild der alten ländlichen Bau- und Wohnweisen zu zeigen. Schon im Jahre 1878 hatte er auf der Pariser Weltausstellung schwedische Interieurs in nur auf drei Seiten geschlossenen Bauernstuben eingerichtet, während die holländische Abteilung auf der gleichen Ausstellung bereits einen Schritt weiterging und die Besucher vierseitig geschlossene Räume betreten ließ. Damit waren wichtige Elemente des späteren Freilichtmuseums – der unmittelbare Raumeindruck sowie die Darstellung ganzer Interieurs – bereits vorgeprägt.170 Im Anschluß an die Eröffnung des Freilichtmuseums Skansen entwickelt sich besonders in den nordeuropäischen Ländern eine Flut von weiteren Freilichtmuseen.171 Von 1909 bis 1913 wird auch in Deutschland ein erstes überregionales Freilichtmuseum eingerichtet. Es entsteht in Königsberg – mit 19 Bauernhäusern, die jedoch größtenteils Rekonstruktionen nach Vorbildern aus Landschaften Ostpreußens und Litauens sind.172 167 168 169 170 171 172 Vgl. Tagungsberichte 1966-1972 des Verbandes europäischer Freilichtmuseen, Köln 1973, S. 107. (=Führer und Schriften des Rheinischen Freilichtmuseums und Landesmuseums für Volkskunde in Kommern Nr. 6), vgl. Zippelius 1974, S. 9. Vgl. ebd., S. 16f. Vgl. Klinke 1991, S. 49. Vgl. Zippelius 1974, S. 24. Beispielsweise 1894 in Oslo, 1901 in Lyngy/Dänemark, 1904 in Lillehammer/Norwegen, 1909 in Seurasaari/ Finnland, 1912 in Arnhem/Niederlanden oder 1914 in Aarhus/Dänemark. Vgl. Zippelius 1974, S. 27. Vgl. Schuberth 1976, S. 101. Heimatschutz und Bauerndorf 52 Am Gördensee bei Brandenburg an der Havel wird etwa zur gleichen Zeit ein „Volkstümliches Freilichtmuseum“ geplant, nämlich das sogenannte „Das Deutsche Dorf“, das jedoch – vermutlich wegen des Krieges – nicht ausgeführt wird. Die Initiatoren Konsul Heinz Bothmer und Architekt Paul Karchow intendieren die Präsentation von Bauernhäusern aus den unterschiedlichen Regionen des Reiches sowie ein märkisches Dorf mit Dorfkrug, Schulzenhaus, Pfarrhaus, Kirche, Dorfanger, Schule, Bäckerei und Schmiede. Ein komprimiertes Abbild „unseres großen Sprachenvaterlandes“ soll damit geschaffen werden.173 In der vorbereitenden Publikation wünscht Kaiser Wilhelm II. in seinem Grußwort, daß der deutsche Bauer durch das „Deutsche Dorf“ „wieder zu der guten alten Bauweise der Väter zurückkehre und bodenständig baue“.174 Die Häuser sollen in respektvollem Abstand voneinander in eine landschaftliche Umgebung eingefügt und mit historischer Einrichtung ausgestattet werden. Typische landwirtschaftliche Tätigkeiten, Bräuche und Feste sollen dargeboten werden: „So will das Dorf, ein neuer Wert im hastenden Leben, Liebe erwecken zur Scholle und gewaltig reden in schlichter Schönheit zu allen, die es besuchen von jenem Grundzug ehrlichen Bekennens, von jener reinen Naturfreude des Dörflers: ‚Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein‘.“175 2.3. Die Bauberatung – zu Erhalt und Pflege von Dorf und Bauernhaus Wie die letzten Kapitel zeigten, werden „Land“, „Dorf“ und „Bauerntum“ besonders seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter verschiedenen Gesichtspunkten umfassend thematisiert. Neben theoretischen Untersuchungen wird aber auch von praktischer Seite versucht, schützend und pflegend auf die ländliche Architektur einzuwirken. Auch hier ist die Heimatschutzbewegung federführend. Der Grund für den konkreten Handlungsbedarf wird gesehen in dem schleichenden Verlust von regionalen und handwerklichen Traditionen durch die immer zweckrationaler werdenden industriellen Produktionsweisen und die Übernahme gründerzeitlicher Stilmoden auf dem Lande. So werden einfache Bauernhäuser plötzlich mit Stuckapplikationen behängt oder Scheunen, die einst steil bedacht und mit Stroh gedeckt waren, flach angelegt und mit schwarzer Zementpappe versehen. Der völlige Abriß und Neubau von Dörfern und Bauernhöfen habe einen fast „epidemischen Charakter“ angenommen: „Insbesondere das heranwachsende Geschlecht fühlte sich immer mehr geneigt, den alten Bau als eine Art Gefängnis zu betrachten, das weder den gesteigerten Bedürfnissen der Wirtschaft noch 173 174 175 Das Deutsche Dorf. Volkstümliches Freilichtmuseum zu Brandenburg a.H. Hg.: Konsul Heinz Bothmer und Architekt Paul Karchow. Niedersedlitz um 1915, S. 3. Ebd., Titelblatt. Ebd., S. 3. Heimatschutz und Bauerndorf 53 den entwickelteren Anforderungen menschlichen Behagens genügte, und dessen man sich bei erster Gelegenheit zu entledigen hatte.“176 Die Heimatschutzbewegung und vor allem der „Kunstwart“ prangern erstmals die Entstellungen und Zerstörungen der ländlichen und kleinstädtischen Architektur an und formulieren die Gründe dafür. Dabei werden drei Hauptursachen benannt: Zum ersten seien es die baupolizeilichen Vorschriften im Deutschen Reich, die rein schematisch städtische Baumuster auf das Land übertragen, ohne dessen Eigenheiten zu beachten: „Es ist wohl kaum denkbar, daß eine Bauordnung, welche für einen Ort mit Tausenden von Einwohnern segensreich wirkt, den gleichen Einfluß bei der Anwendung auf ein 30 bis 40 Wohnstätten zählendes Dorf haben kann.“177 Zweitens sorge auch die verpflichtende Immobiliarfeuerversicherung trotz ihrer segensreichen Wirkung dafür, daß städtische Maßstäbe auf dem Lande angelegt werden und deshalb ländliche Bau- und Handwerksweisen nicht mehr in traditioneller Form ausgeübt werden dürfen: „...so muß einmal die Anschauung, daß nicht die Feuersicherheit allein, sondern auch das Aussehen der Dörfer ein öffentliches Interesse hat, viel weiter Allgemeingut werden...“178 Der dritte und entscheidende Grund liege jedoch in der Ausbildung der ländlichen und kleinstädtischen Handwerker, Bau- und Maurermeister an den Handwerker- und Baugewerkschulen. Diese erhalten nach Meinung des „Kunstwarts“ – und später auch der Heimatschutzbewegung – keine Unterweisung in den handwerklichen Bautraditionen und deren Weiterentwicklung für die Gegenwart, sondern würden durch Gebrauch von Musterbüchern nur in verschiedenen formalen Stilen und ihrer Anwendung geschult179: „Dieses richtiges Empfinden, das Gefühl dafür, was ländlich ist, was dem ländlichen Bau, dem Bauernhause und dem Dorfe frommt – versagt nun aber leider gerade bei denjenigen, die berufen sind, das Land mit Gebäuden zu schmücken, nicht nur in schwierigen, sondern auch in einfachsten Fällen; im Laufe der Zeit ist es ihnen vollständig abhanden gekommen.“180 Die Baugewerkschulen würden, wie der westfälische Vorsitzende der Kommission für Heimatschutz, Engelbert Freiherr von Kerkerinck zur Borg, es formuliert „viele Stile, aber keinen Stil“ lehren.181 Damit gehe die Einbindung in ein festes Werkstattgefüge aus überlieferten Baustoffen und überlieferter Handwerkskunst verloren. Eine baugewerkliche Richtlinie von 1891 mag dieses Dilemma beleuchten: „Den Kunstformen des engeren Vaterlandes ist nach 176 177 178 179 180 181 Vgl. Meyer 1910, S. 338. Hinz 1911, S. 21. Ebd., S. 59. Vgl. Andresen 1989, S. 26. Otto Gruner ist im Jahre 1894 der erste, der diese drei entscheidenden Ursachen darlegt. Gruner 1894, S. 9-13. Hinz 1911, S. 13. Vgl. Heimatschutz in Westfalen. In: Schulte: Der Westfälische Heimatbund, Bd. 1, S. 285. Zit. bei Ringbeck 1991, S. 228. Heimatschutz und Bauerndorf 54 Möglichkeit Rechnung zu tragen. Die Kenntnis der griechischen Bauformen erscheint hierzu unumgänglich notwendig.“182 Im Gegensatz zu einer solchen, der historistischen Kunstauffassung entsprechenden Leitlinie fordert die Heimatschutzbewegung, die heimatliche Bauweise solle in den Bauordnungen, in den Richtlinien der Versicherungen sowie auf den Schulen Anerkennung finden und behandelt werden. Handwerker sollten durch entsprechende Ausbildung und Kurse wieder alte Produktions- und Bautechniken neu erlernen, um ihre von Massenproduktion und historistischer Stilvielfalt abgestumpften Geschmäcker für Qualität, Schlichtheit und Schönheit neu zu sensibilisieren. In einem Aufsatz in der ersten Ausgabe von „Die Denkmalpflege“ wird aber auch den Bauern selbst der Vorwurf gemacht, die eigenen Häuser und Höfe nicht genug zu achten, obwohl diese praktischer, hygienischer und gesünder seien als die neuzeitlichen Gebäude: „Er [der Bauer; d.Verf.] will oder kann nicht mehr sehen, daß das Alte in vielem besser, weil auf uralten Erfahrungsgrundsätzen aufgebaut war als der kosmopolitische Tand und Flitter, den die charakterlose Neuzeit ihm aufschwatzt. Diese Neuzeit soll ja so groß, so unvergleichlich sein, alles früher Dagewesene weit in Schatten stellen! Kein Wunder, daß man das Alte verachtet, mitleidig lächelnd auf das ‚alte Gerümpel‘ und alles geschichtlich Gewordene herabschaut.“183 Die Heimatschutzbewegung muß einsehen, daß sie diesen als Übelständen empfundenen Entwicklungen in Stadt und Land nicht allein mit fachlichen Diskussionen, Fassadenwettbewerben, Vorträgen und Publikationen begegnen kann. Praktische Beratungstätigkeit vor Ort und am konkreten Bau sei notwendig, um die Architektur in Stadt und Land in wirtschaftlichtechnischer, hygienischer und ästhetischer Weise zu verbessern. Ergebnis dieser Bemühungen sind die sogenannten Bauberatungsstellen:184 „Erziehung des Volkes zu künstlerischer Kultur auch im Hausbau, lautet ihre Parole, ein Ideal, das der Sympathie weitester Kreise sicher sein darf.“185 Dieses Phänomen der Bauberatung wird auch im folgenden bei der Untersuchung der Dorfanlagen eine große Rolle spielen. Weder von Erziehung kann da jedoch die Rede sein, sondern eher von Bevormundung der ländlichen Bevölkerung. In allen Staaten Deutschlands und den Provinzen Preußens wird die Praxis der Bauberatung unterschiedlich gehandhabt und organisiert. Obschon meist von gemeinnützigen Vereinen oder engagierten Einzelpersonen betrieben, sind sie doch oft an Behörden oder Körperschaften angegliedert. Zunächst haben die Heimatschutzvereine noch keine eigenen Baube- 182 183 184 185 Richtlinie, ausgesprochen auf dem VI. Delegiertentag deutscher Baugewerkmeister 1891 in Dresden. Gruner, Otto nach einem Aufsatz im „Zivilingenieur“: Akademische Baukunst auf dem Dorfe. In: Der Kunstwart 1893, S. 121. Zit. bei Andresen 1989, S. 26. Vgl. Die Denkmalpflege 1899, S. 48f, zit. bei Huse 1984, S. 153. Vgl. zur Praxis der Bauberatung vor allem Altenrath 1914; Die Organisation und Tätigkeit der Bauberatungsstellen 1911 und Knaut 1993, S. 312-321. Die Organisation und Tätigkeit...1911, S. 1. Heimatschutz und Bauerndorf 55 ratungsstellen, stattdessen sollen Sachverständigenkommissionen die Bauherren oder Baubehörden bei der stilistischen Beurteilung ihrer Pläne unterstützen. Erst nach 1907 beginnen flächendeckend operierende Bauberatungsstellen, das Bestehende zu schützen und die Bauweise und Bauformen sowie die gesamte Siedlungstätigkeit im Sinne des Heimatstiles zu beeinflussen.186 In allen örtlichen Bauämtern und Kreisbauämtern plant man Beratungsstellen, die kostenlos arbeiten und gutachterlich bei den Genehmigungsverfahren helfen. Es ist nicht unüblich, daß in diesem Gründungsboom in Folge der Verunstaltungsgesetze von 1907 und der Ministerialerlasse von 1908 auch mehrere Büros in einer Stadt gleichzeitig wirken und das Baugeschehen kontrollieren.187 Die Erlasse empfahlen ja bereits die Bildung von Ortsausschüssen zur Hilfe und Beratung von Bauherren – wie sie auch die Staatsbaubeamten anhielten, stets zur Förderung einer „gesunden“ heimischen Bauweise beizutragen. Durch die Verunstaltungsgesetze erhalten die Bauberatungsstellen ein sehr viel größeres Gewicht, da sie als Sachverständigengremien zur Beurteilung von Verunstaltungsfällen anerkannt werden. Natürlich versucht der Bund Heimatschutz über die reichsweite Leitung der Bauberatungsstellen auch in stilistischer Hinsicht die Oberhand zu gewinnen. Diese Bemühungen werden jedoch von der Berliner Zentralstelle für Volkswohlfahrt durchkreuzt. Mit einem reichsweiten Ausschuß für Bauberatung kommt sie dem Bund zuvor und etabliert sich damit als Spitzenvertretung.188 Die Berliner Zentralstelle plant auf Anregung des Deutschen Werkbundes zur Koordinierung der beratenden Arbeit zusätzlich Zentralstellen in allen Staaten oder Provinzen Deutschlands, die auch für Propaganda und Fortbildung sorgen und Zeichnungen von Neu- und Alternativplänen übernehmen.189 Beispielhaft seien hier die bedeutendsten Bestrebungen der Bauberatung genannt. Die ersten Arbeiten zur Beeinflussung des baulichen Geschehens gehen im Jahre 1897 vom Verein für sächsische Volkskunde aus, der seit 1903 zusammen mit dem sächsischen Ingenieurund Architektenverein einen „Ausschuß zur Pflege heimatlicher Kunst- und Bauweise in Sachsen und Thüringen“ bildet: „Bei allen hierüber stattgehabten Beratungen wurde betont, daß es bei der Pflege heimatlicher Bauweise sich nicht etwa um eine antiquarische Liebhaberei, sondern vielmehr um die Wiederanknüpfung an die guten alten Überlieferungen und deren gesunde Weiterentwicklung handle.“190 186 187 188 189 190 Vgl. Knaut 1993, S. 313. Vgl. Ringbeck 1991, S. 250f. Vgl. zu den genaueren Umständen dieser Gründung Knaut 1993, S. 318f. Seit 1912 wird der Hauptausschuß vom Ministerium für öffentliche Arbeiten finanziell sowie ideell gefördert. Dazu ruft man die städtischen Baupolizei- und Hochbauämter, die Kreisbauämter, Landwirtschaftskammern, die Architekten- und Heimatschutzvereine sowie die Baugenossenschaftsverbände, die Technischen Hochschulen und Baugewerkschulen auf. Vgl. Ringbeck 1991, S. 252. Die Organisation und Tätigkeit...1911, S. 23. Heimatschutz und Bauerndorf 56 Die Zahl der zur Begutachtung und Verbesserung eingereichten Baupläne steigt so schnell, daß seit 1907 eine eigene Geschäftsstelle des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz eingerichtet wird, ehrenamtlich und unentgeltlich die Formgebung der heimischen Bauweise zu beeinflussen. Durch das Gesetz gegen die Verunstaltung von Stadt und Land vom 10. März 1909 erhält der Ausschuß den vergleichsweise weitaus größten Einfluß im Deutschen Reich. Weiterhin sei die Königliche Beratungsstelle für das Baugewerbe des Königreichs Württemberg in Stuttgart zu nennen, die 1905 gegründet wird. Auch ihre Hauptaufgabe besteht, neben mündlicher und schriftlicher Beratung, in der Überarbeitung und Anfertigung von Skizzen, Entwürfen und Bebauungsplänen sowie Gutachten. Privatleute werden jedoch nicht beraten.191 Im Rheinland entwickelt sich die Bauberatungssituation am günstigsten. 1906 wird in Düsseldorf die Bauberatungsstelle des rheinischen Vereins für das Kleinwohnungswesen eingerichtet. 1908 kommt die eigene Bauberatungsstelle des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Heimatschutz hinzu. Nach diversen Kompetenzstreitigkeiten einigt man sich schließlich auf einen organisatorischen Kompromiß. Mit dem Ergebnis, daß im Jahre 1912 die Rheinprovinz 70 bestehende und 17 geplante oder formlos geführte Bauberatungsstellen vorweisen kann und damit weitgehend flächendeckend organisiert ist.192 Die rheinischen Erfolge sind leider in Preußen generell nicht zu verzeichnen. Die Ursache dafür liegt unter anderem in dem vorsichtig formulierten preußischen Verunstaltungsgesetz, das nur durch den Erlaß eines Ortsstatutes zu größerer Wirkungsmächtigkeit führt. So findet ohne örtliche Genehmigung keine regelmäßige Überprüfung von Baugesuchen statt.193 Wiewohl die Bauberatung in allen Bereichen des Bauwesens tätig ist, so liegt ihr ganz besonders die ländliche Baukunst am Herzen: „Die Verhältnisse können es mit sich bringen, daß ein erneuter Aufschwung der Landwirtschaft bald eine besonders starke Bautätigkeit auf dem Lande zur Folge haben wird. Wieweit sind wir dazu vorbereitet, und was hat dafür die Gegenwart geleistet?“194 Die Tatsache, daß überhaupt Verunstaltungen des Landes ins Bewußtsein des Volkes rücken und sich ein Verständnis dafür entwickelt, „daß hier Wandel notwendig ist, wenn wir das noch vorhandene Schöne unserer Dörfer erhalten, und dafür sorgen wollen, daß auch das neu Hinzukommende ein, den neu erwachten Anschauungen gerecht werdendes Äeußere zeigt“195, ist vor allen Dingen eine Leistung von Heimatschutz und Bauberatung. 191 192 193 194 195 Vgl. ebd., S. 6. Vgl. Knaut 1993, S. 314. Vgl. Knaut 1993, S. 314f. Altenrath 1914, S. 69. Hinz 1911, S. 7. Heimatschutz und Bauerndorf 57 Gefordert werden besonders Bauberatungsstellen in kleinen Bezirken, damit auch in den abgelegensten Dörfern die „Wohltaten“ des Gesetzes vom 15. Juli 1907 spürbar werden.196 Johannes Altenrath beispielsweise empfiehlt eigene landwirtschaftliche Beratungsstellen, die, auch in technisch-wirtschaftlicher Hinsicht, auf die besonderen Eigenarten und Bedürfnisse des Landes und des landwirtschaftlichen Besitzes eingehen.197 Als Beispiel für das aufklärerische Engagement der Bauberatungsstellen in Form von Publikationen, Vorträgen, Kursen oder Ausstellungen sei die Bauberatungsstelle in Erkelenz im Rheinland erwähnt, die für jeden Interessenten eine Fotosammlung positiver und negativer Bauten (sog. Beispiele und Gegenbeispiele im Sinne Schultze-Naumburgs) und eine Sammlung von Zeichnungen vorbildlicher Gehöftanlagen bereithält. Dazu offeriert sie Bauunternehmern und Handwerkern Kurse in landwirtschaftlicher Baukunde, in Grundrißlösungen für ländliche Bauwerke, in der Unterhaltung und Statik ländlicher Gebäude.198 2.4. Dorf und Bauernhaus als Ideal und Vorbild für die zeitgenössische Architektur Ernst Rudorff bezieht sich auf Wilhelm Heinrich Riehl, wenn er betont, daß alle Menschen aus dem „Urgrund des Bauern“ aufgestiegen seien und zitiert ihn direkt damit, daß das Volk absterbe, „wenn es sich nicht zu den Hintersassen wenden kann, um sich bei ihnen die Kraft des rohen Volkstums zu holen“.199 Das bringt ihn in der Folge dazu, auch Dorf und Bauernhaus museal erhalten und von allem Städtischen fernhalten zu wollen.200 Wenn ihm auch in dieser radikalen Konsequenz nur wenige Heimatschützer folgen (wie z.B. Oskar Schwindrazheim, der die Bauernkunst nur für gesund hält, wenn sie unter sich bleibt),201 so sind doch alle 196 197 198 199 200 201 Vgl. Pinkemeyer 1910, S. 16. Vgl. Altenrath 1914, S. 380. Schon im Jahre 1901 wird in Bayern eine Auskunftsstelle für landwirtschaftliches Bauwesen gegründet, die sich zur sogenannten Baustelle des bayerischen Landwirtschaftsrates weiterentwickelt und als solche die Landwirte nicht nur in technisch-praktischer, sondern auch in ästhetischer Hinsicht berät. Vgl. Organisation und Tätigkeit...1911, S. 48. Vgl. ebd. Im rheinischen Erkelenz ist die Kreisbauberatungsstelle sogar an das Kreisbauamt angeschlossen. Diese Zusammenarbeit trägt besonders interessante Früchte: Auf Initiative des Landrats Dr. Reumont werden von der Bauberatungsstelle zwei ganze Dörfer als Musterdörfer instandgesetzt. Bellinhoven und Schwanenberg bieten sich dafür an, weil sie verhältnismäßig klein sind, deswegen nur wenige Kosten beanspruchen und die Bewohner wie der Rheinische Verein für Denkmalpflege und Heimatschutz finanzielle Unterstützung bieten. Dazu kommt, daß sie „bis jetzt am wenigsten durch Geschmacklosigkeiten verdorben worden“ sind. Das Dorf Schwanenberg etwa hat 60 Wohnhäuser, darunter Fachwerk- und Massivbauten aus dem 17. bis 19. Jahrhundert, die im Sinne des Heimatstiles wieder hergerichtet werden, indem Fachwerkbauten beispielsweise die Verputze abgenommen werden, da das Fachwerk nun als urtümlich deutsche Bauweise gilt. Die beiden Musterdörfer sollen als Vorbilder einer sachgemäßen Erneuerung wirken. Vgl. ebd., S. 48 und 74f und Pinkemeyer (einer der Ausführenden) 1914, S. 21. Auf S. 19 sind zwei Abbildungen eines Haus mit und später ohne Verputz gezeigt. Rudorff 1897, Neudruck 1994, S. 48, 98. Vgl. Knaut 1993, S. 35. Vgl. Schwindrazheim 1901, S. 43. Heimatschutz und Bauerndorf 58 Heimatschützer überzeugt davon, daß das Land als „Hüter der Tradition“202 eine zentrale Rolle im Staatengefüge spielt und die Dorfbilder „mit ihrem Äußern und Innern zu uns als die ehrwürdigen Zeugen der echtesten, der ursprünglichsten Heimatskunst“ reden.203 Der ländlichen Baukunst werden über ihre rein architektonische Funktion und Gestaltung hinaus auch sittlich-moralische und charakterbildende Eigenschaften zugeschrieben. Dorf und Bauernhaus, so Schultze-Naumburg, symbolisierten „unendlich wertvolle moralische Besitztümer“204 und ein gutes Bauwerk habe einen hohen sittlichen, bzw. ein Dorf einen hohen Kulturwert.205 Schultze-Naumburg geht sogar so weit zu behaupten, daß die Pflege der Bauernhäuser moralische Eigenschaften wachhalte.206 Aus der Sicht der neoromantischen Heimatschutzbewegung wird diese Position verständlich, weil für sie das volkstümliche Haus eine Verkörperung des „Volksgeistes“ und damit auch des „Nationalgeistes“ ist. Das Bauernhaus ist mit dem Volk und der Heimat zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen und ohne nicht denkbar. Daher muß es aus Verantwortung für das eigene kulturelle Erbe und die eigene Nation bewahrt und gepflegt werden. Der Blickwinkel der Bewegung ist nie sozial oder parteipolitisch, sondern immer ästhetischer und moralischer Natur: So lange das menschliche Schaffen als „schön“ begriffen wird, ist es auch „gut“ zu nennen. Wenn ein Gebäude in Außenbau und innerer Struktur zweckhaft angelegt sei, so sei es ein vollkommenes: „Und ist der Zweck selbst ein ethischer, so wird das einzelne die Harmonie eines ethischen Weltbildes zur Anschauung bringen.“207 Darüber hinaus aber wird die traditionelle ländliche Baukunst auch als „echt nationale Baukunst mit starker Hervorhebung der deutschen Charakter-Eigenschaften“ bezeichnet.208 Der Bezug zum „Völkischen“, zum explizit „Deutschen“ in der dörflichen Architektur wird in allen Heimatschutz-Texten immer wieder deutlich. Der Heimatschutz als Kulturbewegung fühlt sich daher verpflichtet, auf die gewichtige gesellschaftspolitische Aufgabe der bäuerlichen Architektur und Siedlung hinzuweisen: „In gesunder Weiterentwicklung der bodenständigen Bauformen, die in ihrer Verschiedenheit den einzelnen Ländern zu ihren Reizen verholfen haben, will der Heimatschutz das Gesamtbild der Heimat in seiner Schönheit und Eigenart erhalten und damit fördernd auf die Liebe zur Scholle, auf die staatserhaltende Anhänglichkeit zu Heimat und Vaterland einwirken.“209 202 203 204 205 206 207 208 209 Vgl. Wagener 1913, S. 78 Vgl. Hoermann 1913, S. 98. Vgl. Schultze-Naumburg 1909a, S. 54. Vgl. ebd., S. 62f und Hinz 1911, 23. Vgl. Schultze-Naumburg 1908, S. 63. Vgl. Schultze-Naumburg 1912, S. 3. Vgl. Sohnrey 1900, S. 266. Schmidt 1911, S. 4. Heimatschutz und Bauerndorf 59 Diese staatstragende Aufgabe, die die Heimatschutzbewegung sich damit stellt, beinhaltet ein sehr elitäres Selbstverständnis, das ihre Auffassung von „guter“, „schöner“ und „wahrer“ Architektur als die einzig richtige herausstellt. In der Konsequenz muß das tatsächlich bedeuten, daß die Baukunst nicht dem Geschmack des einzelnen überlassen bleiben darf, sondern nur solchen Fachleuten, die historisch und ästhetisch gebildet, d.h. letztlich aus den Reihen der Heimatschutzbewegung stammen. Praktisch mündet diese Haltung in die Verunstaltungsgesetzgebung und die Entstehung der Bauberatungsstellen.210 Zwar wird die Gefahr eines „geschmacklichen Diktats“ durchaus in Betracht gezogen, „weil es für die Ästhetik kein festes, allgemein giltiges Gesetz gibt, sondern das Urteil zumeist auf der Individualität des Urteilenden beruht“.211 Es bleibt jedoch bei der Mahnung zu größter Vorsicht und einer besonnenen Auswahl von Fachkräften. Mit der Notwendigkeit, reformierte Siedlungs- und Wohnhauskonzepte zu entwickeln, ist es wieder die Heimatschutzbewegung, die die ländliche Baukunst als Vorbildlieferant anbietet. Bereits im Jahre 1892 ist es Ernst Rudorff, der mit prophetischer Weitsicht vorschlägt, was drei Jahre später mit dem „Bauernhauswerk“ tatsächlich in die Tat umgesetzt und als Vorbildquelle für die bauliche Weiterentwicklung empfohlen wird: „In Gemeinschaft mit dem Staat wäre [...] endlich dem Gedanken einer Neubelebung vaterländischer Bauweise, zumal auf dem Lande und in kleineren Städten näher zu treten. Es müßten von Architekten in den verschiedenen deutschen Gauen die charakteristischen Züge der alten Häuser und Wirtschaftsgebäude studiert und Musterpläne entworfen werden, die das jeder Landschaft Eigenthümliche ebensowohl zu berücksichtigen als mit den Bedürfnissen und praktischen Errungenschaften der Gegenwart in Einklang zu bringen hätten.“212 Das wird in der Folgezeit durch die zahllosen Publikationen und Ausstellungen zur ländlichen Baukunst tatsächlich intensiv befördert. Es ist u.a. Robert Mielke, der im Bauernhaus „gesunde Keime“ für eine Weiterentwicklung sieht.213 Wie Schultze-Naumburg bezeichnet auch der Heimatschutz-Architekt Philipp Kahm das Bauernhaus als „Urhaus“214 und spricht sogar von der nationalen Pflicht, „in der heutigen Zeit der Verwirrung zu den einfachen und schlichten Grundformen dieses Hauses zurückzukehren“.215 210 211 212 213 214 215 Vgl. dazu auch Knaut 1993, S. 35. Vgl. Gurlitt in: Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz 1908, H. 4, S. 11. Vgl. Rudorff, Ernst: Der Schutz der landschaftlichen Natur und der geschichtlichen Denkmäler Deutschlands. Berlin 1892, Abdruck eines Vortrags vor dem Allgemeinen Deutschen Verein am 30.03.1892 in Berlin. Zit. nach Andresen 1989, S. 23. Vgl. Mielke 1907/08, S. 62, 65. Vgl. Schultze-Naumburg 1908, S. 16f. Vgl. Kahm 1914, S. 13. Heimatschutz und Bauerndorf 60 Selbst wenn die innere Einrichtung alter Häuser den neuzeitlichen Anforderungen nicht mehr entsprechen, selbst wenn sich der landwirtschaftliche Betrieb eines neu geplanten Gehöftes in anderen Bahnen bewegt, „der schaffende Landbaumeister wird die vorbildlichen Motive dieses Bauernhauses für einen Neubau doch zu verwerten verstehen“.216 Auch in der Landbaukunst versierte Architekten loben die alten Bauten und raten dringend ihr Studium an, „und zwar in bezug auf Organisation des Ganzen, auf Stellung der Bauwerke zum Gelände, auf Berücksichtigung des Klimas und der in Zusammenhang damit stehenden Verwendung der bodenwüchsigen Baumaterialien“.217 Gerade der Arbeiterwohnungsbau, die Bauten des sogenannten „traditionslosen Standes“ also, sollen an bauliche Traditionen angeschlossen werden und daher das Bauernhaus als bewährte Grundform übernehmen. Es solle jedoch nicht einfach kopiert oder imitiert, sondern für die neuzeitlichen Bedürfnisse des Arbeiterstandes abgewandelt und weiterentwickelt werden.218 Auch Landhäuser und Landwohnungen der Menschen, die auf städtische Lebensgewohnheiten nicht verzichten wollen, sollen sich die „natürlichen, schaffenden Kräfte des Bauernhauses“ zunutze machen. Auch hierbei solle jedoch der allgemeine Landschaftscharakter und die örtliche Überlieferung beachtet werden: „Diese scheinbare Beschränkung führt zum baulichen und landschaftlichen Gesamtkunstwerke der Siedlung.“219 Ebenso wie das Bauernhaus wird auch das Dorf als Urzelle bezeichnet, als „Einzelzelle, aus welchem jede, auch die größte, Ortschaft zusammengesetzt sein müßte, wenn sie auf Wohnlichkeit und Heimatlichkeit Anspruch machte“220. Bei Neuansiedlungen solle man künstlerische Anregung bei weit sich hinstreckenden Dörfern der deutschen Ebene suchen, wobei besonders bei Arbeitersiedlungen, die das Bauerndorf verdrängt haben, zu wünschen sei, daß diese in ähnlicher Weise geformt und ästhetisch durchgebildet würden, „denn beides sind Wohnstätten für einfache Leute, beide sind angewiesen auf die einfachen Materialien der Gegend und die aus ihnen hervorgehenden Konstruktionsformen; beide wollen sich nach Möglichkeit mit grünen Gärten umgeben, und auch der Industriearbeiter treibt gern in bescheidenen Grenzen etwas Landwirtschaft und Viehzucht.“221 216 217 218 219 220 221 Vgl. Pinkemeyer 1910, S. 27. Nach Schwindrazheims Ansicht beruht sogar jegliche städtische Architektur,„sehen wir einmal ab von der italienisch beinflußten säulenstrotzenden Fassade von Palästen“, auf dem „guten alten Bauernhause“. Schwindrazheim 1901, S. 491. Kühn, Bd. II, 1915, S. 18. Vgl. die Aufsätze in: Die künstlerische Gestaltung des Arbeiter-Wohnhauses. In: Schriften der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrseinrichtungen Nr. 29, Berlin 1906. Darin z.B. Muthesius, S. 7-15, Brandts, S. 16-28, Schultze-Naumburg, S. 29-47, Henrici, S. 59-71. Einzig Muthesius, S. 14, sagt offen, daß die Bewunderung der Bauernkunst eine Sache der Gebildeten sei, die von den unteren Ständen keineswegs geteilt werde. Aber das Vorbild des Bauernhauses liefere zumindest vorläufig „ein sicheres Geleite, das uns wenigstens vor groben Ausschreitungen bewahrt“. Vgl. Lange 1910, S. 14 und S. 143f. Langen 1912, S. 8. Hecker 1909, S. 53 und Schultze-Naumburg 1917, S. 181f. Heimatschutz und Bauerndorf 61 Es spricht für die Rückwärtsgewandtheit und den Antimodernismus der Heimatschutzbewegung, daß sie für neu anstehende Bauaufgaben nicht auch neue Lösungen sucht und Architekten beauftragt, Vorschläge z.B. für Arbeiterwohnungen einzureichen. Stattdessen beharrt sie ängstlich auf dem Weitergebrauch von Bauernhäusern und legt damit der Fortentwicklung und der nötigen Anpassung der Architektur an zeitgemäße Bedürfnisse Steine in den Weg. 2.5. Die zeitgenössischen Quellen zum Dorf- und Gehöftbau und ihre Sprache Dorf und Bauernhaus werden in der Literatur um die Jahrhundertwende ausführlich, wenn auch unter sehr unterschiedlichen Gesichtspunkten diskutiert.222 So gibt es Literatur, die sich unter rein technischen und hygienischen Gesichtspunkten mit dem Thema befaßt. Mit der Veränderung der landwirtschaftlichen Produktion im 19. Jahrhundert besteht eben die Notwendigkeit, die Gehöfte an die moderne Wirtschaftsweise anzuschließen. Ratgeber informieren den ländlichen Architekten und Landwirt sachlich und unemotional über neue Materialien und Bautechniken, um der Misere im ländlichen Bauwesen Einhalt zu gebieten. Als Beispiel sei Hans Issels „Landwirtschaftliche Baukunde“ genannt,223 die über alle ländlichen Architekturen (vom Gutshaus bis zum Hühnerstall) informiert und dabei auch Baudetails wie Stalllüftung oder Jaucherinnen nicht ausläßt. Trotz des betont neuzeitlichen Anspruchs beginnt seine Abhandlung mit der geschichtlichen Entwicklung von Bauernhäusern und ihrer verschiedenen Bautypen. Und mit dem Hinweis, daß der Baumeister „Verständnis für das Alterhergebrachte“ haben müsse, verurteilt er die „protzenhafte Vornehmheit des Stils“.224 Seine Sprache ist die eines pragmatischen Baugewerkschullehrers – allein in emotionalen Sätzen wie „Das Bauernhaus muss von Behaglichkeit und Wärme geradezu durchdrungen sein“225 wird offensichtlich, daß die Verklärung des Bauerntums auch bei ihm Spuren hinterlassen hat. Seine Beispiele für neuzeitliches Bauen fußen dagegen – besonders wenn es um herrschaftliche Bauten geht – noch im gründerzeitlichen Baustil, zeigen flache Dächer, Zierputze, dekorierendes Fachwerk, Erker und Türmchen. Issels Buch markiert einen Übergang vom gründerzeitlichen Historismus zum Heimatstil. In dieser Hinsicht ist es vergleichbar mit dem ein 222 223 224 225 All die vielen Texte, die sich nach der Jahrhundertwende mit verwandten Themen, wie der Wohnungsfrage in Deutschland, mit dem „deutschen Haus“ allgemein oder dem Kleinhaus, mit Arbeiterwohnhäusern, mit der ländlichen Bauweise oder Landhäusern, mit Bauordnungen und Bebauungsplänen, mit Siedlungsfragen oder dem Städtebau beschäftigen, können hier nicht eigens thematisiert werden. Sind sie für Aspekte meiner Arbeit bedeutsam, werden sie jedoch selbstverständlich bearbeitet und erscheinen entsprechend im Quellenverzeichnis. Ich beschränke mich hierbei auf die Literatur, die bis zum ersten Weltkrieg verfaßt wurde, denn danach wird die Heimatschutzbewegung und -architektur vorerst von anderen, besonders wirtschaftlichen Einflüssen bestimmt. Leipzig 1901. Als 7. Band des „Handbuch des Bautechnikers“, hg. von Hans Issel, erschienen. Issel 1901, S. 18. Ebd., S. 18. Heimatschutz und Bauerndorf 62 Jahr später in neuer Auflage erschienenen Teilbuches „Wohnhäuser“ aus dem „Handbuch der Architektur“226, das neben Bauten im Heimatstil auch auf gründerzeitliche Beispiele zurückgreift. Auch hier gilt jedoch die volkstümliche Bauweise bereits als Vorbild. Für die Gestaltung bäuerlicher Wohnhäuser empfiehlt das Handbuch eine „schlichte Derbheit“.227 Der Professor und Architekt Alfred Schubert aus Kassel hat sich besonders um das landwirtschaftliche Bauwesen verdient gemacht. In vielen Schriften versucht er seit dem späten 19. Jahrhundert, rationale Anleitungen zum zweckmäßigen und günstigen Aufbau von landwirtschaftlichen Gehöften zu geben.228 Umfassend und detailreich bespricht er alle Aspekte des Bauwesens, untersucht traditionelle und neue Materialien sowie verschiedenste Baukonstruktionen und -techniken. Er ist ein Mann der Praxis und Lehre, dessen erstes Ziel die Zweckhaftigkeit eines ländlichen Gebäudes ist: „...jedoch soll die äußere Erscheinung der Gebäude stets eine ansprechende sein und sich der nächsten Umgebung und dem Landschaftsbilde harmonisch anpassen.“229 Ganz im Sinne des Heimatschutzes hält auch er im frühen 20. Jahrhundert ästhetische Fragen im Bauwesen für unerläßlich. Entsprechend sind seine Abbildungen so gewählt, daß sie einem Paul Schultze-Naumburg als „Gute Beispiele“ dienen könnten. Fritz Schrader, ebenfalls Architekt und Baugewerkschullehrer, verfaßt im Jahre 1909 ein weiteres Lehrbuch: „Landwirtschaftliche Baukunde. Lehrbuch für Baugewerk- und Landwirtschaftsschulen, praktische Baumeister und Landwirte.“230 Auch er möchte im Vorwort „den Charakter des ‚Ländlichen‘“ betont wissen und bespricht wie Issel traditionelle Bauernhaustypen.231 Weder der Text noch die Abbildungen wenden sich jedoch im weiteren ästhetischen Fragen zu, sondern beschränken sich auf baulich-technische Probleme des Gehöftbaus. Zusammenfassend läßt sich ähnliches bei allen genannten Schriften feststellen, die als bauliche Ratgeber oder Handbücher bezeichnet werden können. Ihr Schwerpunkt liegt durch226 227 228 229 230 231 Teil IV, 2. Halb-Band, Heft 1 (darunter auch Arbeiter- und Bauernhäuser; von Karl Weißbach, Stuttgart 1902). Vgl. zu ländlichen Gebäuden auch Teil IV, 3. Halb-Band, Heft 1 (von AlfredSchubert, 3. Aufl., Leipzig 1913) . Das „Handbuch der Architektur“ beschäftigt sich seit 1881 mit allen Gebieten der Architektur und erlebt bis 1906 viele neubearbeitete Auflagen. Weißbach 1902, S. 366. Wenn er jedoch im folgenden die „ländliche Derbheit“ beschreibt durch die Verwendung von Dachfenstern, stattlichen Schornsteinköpfen, Dachreitern mit Glocke, Umgängen, Lauben, Balkonen, leichten Vorhallen auf Holzsäulen, bedachten oder nichtbedachten Freitreppen etc., wird offensichtlich, daß er nicht die „ländliche Derbheit“ meint, von der die Heimatschutzbewegung spricht, sondern noch ganz im gründerzeitlichen Historismus verhaftet ist. Als Beispiele seien erwähnt: Des Landwirts Bauberater. Ein Auskunftsbuch über die Materialien, Ausführungsarten, Reparaturen usw. im landwirtschaftlichen Bauwesen. Stuttgart 1908 (in 250 Fragen und Antworten); Engel-Schuberts Handbuch des Landwirtschaftlichen Bauwesens, 9. Aufl., Berlin 1911 oder die: Anleitung zur Ausführung ländlicher Bauten, Stuttgart 1910. Schubert, Alfred: Handbuch der Architektur Teil IV, 3. Halb-Band, Heft 1: Gebäude für die Zwecke der Landwirtschaft und der Lebensmittelversorgung, 3. Aufl., Leipzig 1913, S. 1. Leipzig 1909. Schrader 1909, S. III. Heimatschutz und Bauerndorf 63 weg bei konstruktiv-technischen und hygienischen Fragen. Gestalterische Themen werden meist gar nicht oder nur am Rande angesprochen. Deswegen vollzieht sich hier die Entwicklung zum Heimatstil so schleppend; deshalb finden sich hier noch bis zum Ersten Weltkrieg (als die Heimatschutzbewegung schon lange in voller Blüte steht) so viele Überschneidungen zwischen Gründerzeit- und Heimatstilbeispielen: Der Entwicklungsprozeß hin zu neuen Bauformen ist Nebensache. Es scheint, als zollten die Autoren der einflußreichen Heimatschutzbewegung mit einzelnen Textpassagen und Abbildungen ihren Tribut und kehrten danach zum Tagesgeschäft zurück. Neben diesen Rationalisten der Landbau-Literatur sind auch die Wissenschaftler und Architekten zu nennen, die das ästhetische Moment beim Dorf- und Gehöftbau betont wissen wollen. Diese Autoren aus dem Umkreis der Kunstgeschichte, Denkmalpflege und Heimatschutzbewegung betrachten nicht nur das historische Bauernhaus oder Dorf, um auf dessen hohe architektonische Qualitäten hinzuweisen, sondern befassen sich auch demonstrativ mit ländlichen Neubauten. Ihre Ratgeber und Vorlagenbücher zielen auf eine moderne, aber auf die vorgründerzeitliche Bautradition begründete, heimattypische Architektur. Damit soll eine „entstellende“ Gestaltung von Dorfneubauten verhindert und die althergebrachte Bautradition mit neuzeitlichen Ansprüchen verknüpft werden. Die Präsenz des Heimatschutzes im frühen 20. Jahrhundert ist nicht nur auf dem Buchmarkt (in der Literatur über Architektur, Volkskunst und Natur), sondern auch auf dem Zeitschriftenmarkt außerordentlich hoch. Der Erfolg der flächendeckenden Heimatschutz-Propaganda ist bereits angesprochen worden und wird spürbar, wo Artikel über Heimatschutz Eingang auch in Tageszeitungen und Illustrierten finden. Im Rahmen diesen Kapitels können entsprechend nur die Haupttexte zu Dorf- und Gehöftbau und deren wichtigste Autoren näher beschrieben werden. Lange vor Gründung des Bundes Heimatschutz, im Jahre 1893, verfaßt der Architekt und Regierungsbaumeister Otto Gruner aus Dresden „Beiträge zur Erforschung volkstümlicher Bauweise im Königreich Sachsen und in Nordböhmen“. Der Erfolg dieses Bändchens zieht ein Jahr später die Herausgabe „Weiterer Beiträge zur Erforschung volksthümlicher Bauweise“ nach sich, „nebst einer einleitenden Betrachtung über die Ursachen ihres Verschwindens in unseren Dörfern“.232 Er ist der erste, der die Ursachen dafür in den Baupolizeivorschriften, der Feuerversicherung und der unzureichenden Lehre an den Baugewerkschulen findet. Gruner gehört noch zu der Generation von Architekten, die mit Stift und Papier das 232 Ersteres erscheint in Leipzig 1893. Die „Weiteren Beiträge“ erscheinen in Leipzig 1894. Heimatschutz und Bauerndorf 64 Land durchstreifen, um die bäuerliche Architektur zu Forschungszwecken zu skizzieren. In einer von Heinrich Sohnrey in der Reihe „Die Zukunft der Landbevölkerung“ herausgegebenen Publikation schreibt der Architekt Otto Gruner 1896 „Über das Bauen auf dem Lande. Eine Erörterung des wie? und von wem? unter besonderer Berücksichtigung des volkstümlichen Baustils“, in dem er neben den „Urtypen“ deutscher Bauernhäuser auch auf baulichpraktische, organisatorische Fragen des Landbaus sowie auf den „Zug vom Lande“ eingeht.233 Der unbestritten wichtigste Autor für die Heimatschutzbewegung ist Paul SchultzeNaumburg. Neben unzähligen anderen Schriften äußert er sich in seinen berühmten „Kulturarbeiten“ (1901-1917) in neun Bänden umfassend und reichbebildert über alle Bereiche der Architektur sowie über Gärten, Straßen und die Landschaft im allgemeinen.234 Die „Kulturarbeiten“ dienen ihm dazu, „der entsetzlichen Verheerung unseres Landes auf allen Gebieten sichtbarer Kultur entgegenzuarbeiten [...]; ferner sollen sie auf die guten Arbeiten bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aufmerksam machen und so die Tradition, das heisst die unmittelbar fortgepflanzte Arbeitsüberlieferung wieder anknüpfen helfen.“235 Zentral für diese Arbeit ist der 1903 erstmals veröffentlichte Band „Dörfer und Kolonien“, der die These, Dörfer als Kunstform hätten in der Gegenwart keine Daseinsberechtigung mehr, anschaulich zu widerlegen sucht. Zudem gibt er Hinweise für die städtebauliche Anlage von neuen Kolonien und vergleicht diese mit alten Siedlungen. Schultze-Naumburg ist auch an dem von Heinrich Sohnrey herausgegebenen Band „Kunst auf dem Lande. Ein Wegweiser für die Pflege des Schönen und des Heimatsinnes im deutschen Dorfe“ von 1905 beteiligt, den viele namhafte Anhänger der Heimatschutzbewegung durch eigene Aufsätze mitgestalten. Abhandlungen zum Dorf und zu dörflichen Bauten, Gärten, Friedhöfen, Gemeindebauten, Volkskunst usw. sollen „in den Kreisen der Behörden und aller Personen, welche in diesen Fragen Einfluß auf dem Lande besitzen, […] den Sinn für Erhaltung der ländlichen Eigenart auf den verschiedenen Gebieten der Kunst und die Neigung zur Teilnahme an unseren Bestrebungen“ wecken und fördern.236 233 234 235 236 Gruner 1896. Im Jahre 1904 beschäftigt er sich eingehend mit sächsischen Dorfkirchen: Die Dorfkirche im Königreich Sachsen. Eine Darstellung ihrer Entstehung, Entwickelung und baulichen Eigenart. Leipzig 1904. Bd. 1: Hausbau von 1906, Bd. 2: Gärten von 1905, Bd. 3: Dörfer und Kolonien von 1903, Bd. 4: Städtebau von 1906, Bd. 5: Das Kleinbürgerhaus von 1907, Bd. 6: Das Schloß von 1910, Bd. 7: Die Gestaltung der Landschaft durch den Menschen: Wege und Straßen, die Pflanzenwelt und ihre Bedeutung im Landschaftsbilde von 1915, Bd. 8: Die Gestaltung der Landschaft durch den Menschen: Der geologische Aufbau der Landschaft und die Nutzbarmachung der Mineralien, Die Wasserwirtschaft von 1916, Bd. 9: Die Gestaltung der Landschaft durch den Menschen: Industrielle Anlagen, Siedlungen von 1917. Schultze-Naumburg 1908, Vorwort zur ersten Auflage (ohne Seitenangabe). Sohnrey 1905, S. 2. Heimatschutz und Bauerndorf 65 Auch hier also geht es darum, über den künstlerischen und ästhetischen Wert der vorgründerzeitlichen Architektur aufzuklären und sie als Vorbild für neue Bauten anzubieten. Franz Hoermann, Professor für Praktische Ästhetik, betrachtet mit Bezug auf die Schriften Paul Schultze-Naumburgs die Dörfer von ihrer künstlerischen Seite, bezeichnet sie als „die ehrwürdigen Zeugen der echtesten, der ursprünglichsten Heimatskunst“.237 Aus seinem Werk „Heimkunst und Heimatkunst. Grundzüge einer praktischen Ästhetik des Bürgerhauses, des Städtebaues und des Dorfbildes“ von 1913 wird daher vor allem auf das Kapitel „Das Dorf“ zurückgegriffen. Robert Mielke, Kunstwart-Mitarbeiter, Gründungsmitglied des Bundes Heimatschutz und Herausgeber der „Mitteilungen“, thematisiert in seinen Texten immer wieder das Thema „Dorf“ und „Dorfbaukunst“ und verfaßt mehrere Schriften zur Typologie und Geschichte des deutschen Dorfes. Dazu zählt v.a. das Werk „Das deutsche Dorf“, das im Jahre 1907 in Leipzig und Berlin publiziert wird. Mit seiner ästhetischen Seite beschäftigt sich das umfangreiche Werk: „Das Dorf. Ein Handbuch der künstlerischen Dorf- und Flurgestaltung“ aus dem Jahre 1910. Hier beschreibt er unterschiedliche Regionen Deutschlands, ihren Einfluß auf die Siedlungsentwicklung, die Dorfgestaltung allgemein sowie Vorschläge für die Anlage einzelner Bauten: „Daß es Zeit ist, auch die künstlerische Gestaltung des Dorfes einmal systematisch darzustellen, wird jedem klar sein, der die Bedeutung dieser Siedelungsform für eine nationale Kunstkultur erkennt, der mehr noch vielleicht sich die fürchterliche Entstellung unserer Dörfer vergegenwärtigt.“238 Auch die Denkmalpflege engagiert sich durch Publikationen für gefährdete Landschaften, Ortsbilder und Bauten. Eugen Gradmann, Stuttgarter Kunsthistoriker und Landeskonservator, versucht durch seine Schriften ein Bewußtsein zu schaffen für die gefährdeten Schönheiten der natürlichen Landschaft und der Architektur. Auch seine Sprache ist die eines national gefärbten Romantikers: „Die Seele des Volkes empfindet die Seele der Landschaft; und beide klingen zusammen in unserem Heimatgefühl. Sie sind die Quelle aller Poesie. [...] Die Menschen kommen und gehen, ihre Spuren verwischen, ihre Sitten ändern sich; was wir am treusten in der Erinnerung bewahren und wiederfinden, ist die Landschaft. Von der Ortschaft sind es die Kirche und der Friedhof, der Marktplatz und der beliebteste Spazierweg, an die sich die Heimatvorstellung zumeist heftet.“239 Gradmann veröffentlicht seit den 1890er-Jahren über Kunst und seit 1908 speziell auch über Heimatschutz-Themen.240 Das Zitat ist seinem in Stuttgart edierten Werk „Heimatschutz und Landschaftspflege“ von 1910 entnommen, indem er auch die Bedeutsamkeit des Bundes 237 238 239 240 Hoermann 1913, S. 98. Mielke 1910a, Vorwort S. V. Gradmann 1910, S. 1. Ebd. Vgl. Otto 1983, S. 150. Heimatschutz und Bauerndorf 66 Heimatschutz hervorhebt. Zwei Jahre später erscheint sein Buch: „Anweisungen zur Denkmalpflege“ ebenfalls in Stuttgart, indem er die Grundsätze der Denkmalpflege sowie die künstlerische Qualität von Baudenkmälern bis hin zu kunstgewerblichen Altertümern herausstellt. Über dörfliche Bauten sagt er: „Die Bauernhäuser, die gewöhnlich in jedem Dorf ein überliefertes Muster abwandeln, bringen bei aller Bescheidenheit doch ein künstlerisch befriedigendes Gesamtbild hervor.“241 Im Jahre 1913 verfaßt Dr. Clemens Wagener die in Mönchengladbach erscheinende Schrift „Natur und Heimat. Eine praktische Einführung in die Natur- und Heimatpflege“. Darin fordert er den Schutz von Landschaft und Architektur, von Sitten und Gebräuchen, bis hin zu Grabeskunst und bäuerlichem Schmuck. Ebenso informiert er über die Mittel des Heimatschutzes wie Bauberatungsstellen und Verunstaltungsgesetze. Interessant ist der Text deshalb, weil er mithin als einer der wenigen aus den Reihen der Heimatschutzbewegung nicht bei einer rein ästhetisch-moralischen Betrachtung „heimatlicher“ Kunst verbleibt, sondern stark nationalistisch und politisch reaktionär argumentiert, was sich z.B. in einer Haßtirade auf die Sozialdemokratie äußert: „Aber ein zweiter, weit gefährlicherer Feind erwächst der heimischen Eigenart, dem wirtschaftlichen Kosmopolitismus den politischen zugesellend, in der Sozialdemokratie. Was ist ihr das Vaterland? Was ist ihr Brauch und Sitte? [...] Im Bruch mit allem Althergebrachten verhöhnt und verwirft sie alle Ideale, denen wir seit Jahrtausenden nachgelebt [...], untergrub sie die Anhänglichkeit am Höchsten, was ein Volk hier hegen sollte, sie nahm ihm die Vaterlandsliebe, den opfermutigen Stolz, der dankbar für den Gemeinbesitz wirbt und stirbt.“242 Daneben fällt auch die Nähe zu Wilhelm Heinrich Riehl oder den sozialbiologischen Thesen eines Georg Hansen oder Otto Ammon auf: „Das Bewußtsein [des Bauern; d.Verf.], zu sein, wird stellenweise abgelöst durch den Wunsch, etwas zu scheinen [nämlich städtisch; d.Verf.], damit fällt die Wand, die bisher den natürlich und kraftvoll empfindenden Landmann vom vielfach der Äußerlichkeit huldigenden Städter schied. Damit hört auch das Land auf, in körperlicher und geistiger Hinsicht neubelebend auf die absterbende Energie der Stadtbevölkerung einzuwirken.“243 Ähnlich vorsichtig muß Otto Schwindrazheim gelesen werden. Als Maler, Bibliothekar, Schriftsteller und Professor an der Hamburg-Altonaer Kunstgewerbeschule,244 ist ihm gerade an der deutschen Bauernkunst gelegen, weil der Bauer im Grunde „doch wohl der verhältnismäßig 241 242 243 244 Gradmann 1912, S. 32. Er wäre jedoch nicht Denkmalpfleger, wenn er nicht auch auf die Gefahren für die bäuerliche Architektur hinweisen würde: „Es [das Bauernhaus; d.Verf.] wird gestört durch einzelne moderne Baumaterialien und Fabrikerzeugnisse, namentlich solche, die einen edleren Stoff nachahmen; durch die Spiegelscheiben, Rolläden, Blechveranden, Verblendziegel oder Zinktafeln an den Wänden, durch Zement- oder Glasurfalzziegel auf den Dächern.“ Ebd. Wagener 1913, S. 7f. Ebd., S. 90. Vgl. Andresen 1989, S. 24. Heimatschutz und Bauerndorf 67 reinste Nachkomme unserer germanischen Vorfahren, reiner im Blut als der Städter“ sei.245 Das Bauernhaus ist für ihn „rein deutscher Abkunft“246: „Gute Konstruktion, Brauchbarkeit, Betonung der Nationalität, offenes Auge gegen gutes Neues, das aber selbständig behandelt wird, überhaupt naive Selbständigkeit, Verwendung natürlicher Motive aus der heimischen Pflanzen- und Tierwelt, aus dem Leben selbst also, kecke Farbengebung.“247 Diese Charaktermerkmale der Bauernkunst hält er für die Grundlage einer den modernen Gegebenheiten angepaßten, zukunftsfähigen Bauernkunst. Mit der fortschreitenden Industrialisierung und dem erwachenden Interesse an den deutschen Landschaften, der Architektur und Volkskunst wird – nicht allein durch die Jugendbewegung der „Wandervögel“ – das Wandern sehr populär. Viele Heimatschützer, wie z.B. Ernst Rudorff, nutzen die Wanderung durch die heimische Natur, um sich mit ihren landschaftlichen und architektonischen Eigenarten vertraut, sich über die einhergehenden Zerstörungen ein Bild zu machen. Schwindrazheim verfaßt in insgesamt fünf Bänden zwischen 1907 und 1908 sogenannte „Kunst-Wanderbücher“, „Eine Anleitung zu Kunststudien im Spazierengehen“.248 Damit will er die Menschen zum besseren Beobachten und Kennenlernen der künstlerischen Werte ihrer Heimat anhalten und abschätzige Reaktionen wie die folgende verhindern: „Ach, du lieber Himmel! [...] mein Wohnort und Kunst! Du hast eine Ahnung, irrende Seele, wertgeschätzter, aber völlig auf dem Holzwege befindlicher Herr Verfasser!“249 In der regionalen Untersuchung „Volkskunst in Hessen-Nassau und Oberhessen“, die 1913 in der Reihe „Deutsche Volkskunst“ erscheint, gibt Otto Schwindrazheim für diese Landschaften konkrete „Anleitungen und Anregungen zum Kennenlernen und Beachten alter deutscher Volks- und Heimatkunst“.250 Und immer wieder formuliert er die seine zentrale Frage: „Wo ist der rechte Pfad für uns auf dem Wege zu einer neuen deutschen Heimatkunst?“251 „Mit welchen Mitteln kann Einfluß gewonnen werden auf die künstlerische Ausgestaltung privater Bauten in Stadt und Land?“252 Diese Frage stellt sich auch der umtriebige Oberbaurat Ferdinand Louis Karl Schmidt253, Leiter des einflußreichen „Landesvereins Sächsischer Heimatschutz“. Als solcher initiiert und veröffentlicht er eine große Anzahl an Entwür- 245 246 247 248 249 250 251 252 253 Schwindrazheim, Oskar: Von deutscher Bauernkunst. In: Kunstwart 14.1901, Septemberheft 1, S. 490. Ebd., S. 433. Ebd., S. 496. Bd. 1: Unsere Vaterstadt. Bd. 2: Stadt und Dorf. Bd. 3: In der freien Natur. Bd. 4: Wandern und Skizzieren. Bd. 5: Unsere Vaterstadt. Schwindrazheim Bd. 1, 1907, S. 9. Schwindrazheim 1913, Untertitel des zweiten Titelblattes. Schwindrazheim Bd. 5, 1908, S. 39. Zwei Denkschriften, Berlin 1908. Im folgenden werden die Vornamen mit F.L.K. abgekürzt. Heimatschutz und Bauerndorf 68 fen für Kleinwohnungen oder zu landwirtschaftlichen Gehöftanlagen.254 Er macht sich Gedanken „Zur Ästhetik der Baustoffe. Ein Beitrag zur Heimatschutzbewegung“, Berlin 1911, und revidiert darin die Ansicht, daß die Heimatschutzbewegung nur das Alte erhalten und Neuerrungenschaften auf dem Gebiet der Materialien und Techniken bekämpfen wolle. In anderen Schriften macht er Vorschläge zum Bau von Pfarrhäusern, Schulen, Forsthäusern oder ländlichen Kleinwohnungen.255 Neben den eher kunst- oder kulturwissenschaftlich geprägten Heimatschützern gibt es auch solche, die sich als Architekten praktisch der Landbaukunst widmen und eigene Entwürfe zur Verbesserung des ländlichen Bauwesens liefern. Als Beispiel sei Ernst Kühn, Architekt und Professor der Technischen Hochschule in Dresden, genannt, der mit seinem zweibändigen, in Leipzig veröffentlichten Entwurfswerk „Der neuzeitliche Dorfbau“ von 1903 und 1906 ein detailreiches Vorlagenwerk zum modernen ländlichen Wohnbau liefert und damit für den „Bund Heimatschutz“ eintritt, um „im einzig wahren und besten Sinne des Wortes Heimatkunst zu treiben.“256 Obwohl er als Architekt natürlich auch technische und baukonstruktive Planungen nicht außer Acht lassen darf, legt er doch besonderen Wert auf Kubatur und Gestaltung seiner Bauten im Heimatschutzstil. Neben vielen anderen Aufsätzen und kleineren Texten verfaßt er im Jahre 1915 die dreibändige Schrift: „Ländliche Bauten“,257 in der er bis in die Einzelheiten Ratschläge gibt für den Neubau auf dem Lande – mit Fotos und eigenen Zeichnungen veranschaulicht. Philipp Kahm ist ein weiterer Architekt, der die „Wiedergeburt der bodenständigen Bauweise“ anstrebt und versucht, die künstlerischen Vorstellungen Schultze-Naumburgs „gewissermaßen in die Praxis umzusetzen“.258 Unter dem Titel „Preisgekrönte Anleitung zur Ausführung ländlicher Bauten“ in der Reihe „Heimatliche Bauweise“ gibt er ein Werk heraus, daß die Vorbildhaftigkeit alter Bauernhäuser unterstreicht und in theoretischer Anleitung sowie anhand praktischer Beispiele neue ländliche Gebäude vorstellt. 254 255 256 257 258 Z.B.: Zusammen mit Ernst Kühn: Das landwirtschaftliche Mustergehöft auf der Deutschen Bau-Ausstellung Dresden 1900 und die hierzu eingegangenen preisgekrönten Wettbewerbsentwürfe. Dresden 1900; Entwürfe für Kleinwohnungen in Stadt- und Landgemeinden hervorgegangen aus einem Wettbewerbe, veranstaltet auf Anregung des Königlichen Ministeriums des Innern vom Sächsischen Ingenieur- und Architekten-Verein. Text und Atlas. Dresden 1907 oder : Gehöftanlagen und ländliche Kleinwohnungen. Hg.: Landesverein Sächsischer Heimatschutz. Text und Atlas. Dresden 1914. Z.B.: Forsthäuser und ländliche Kleinwohnungen in Sachsen. Dresden 1906; Das Pfarrhaus im Dorfbilde. Dresden 1909. In: Sächsischer Heimatschutz. 2. Flugschrift, Dresden 1909 oder: Neuere ländliche Volksschulen. Dresden 1912. Vgl. Kühn 1903, Vorwort (ohne Seitenangabe). Der erste Band des Werkes stellt öffentliche Gebäude eines Dorfes, wie Pfarrhäuser, Kirchen, Schulen, Gemeindeamtshäuser dar. Im zweiten Band sind Entwürfe landwirtschaftlicher Gehöfte vorgestellt. Leipzig und Berlin 1915. Bd. I: Kultus- und Gemeindebauten. Bd. II: Das landwirtschaftliche Gehöft der Gegenwart. Bd. III: Das Landhaus (Herrensitz, Schloß) mit Nebenanlagen, Ferienhäuser, Beamten- und Arbeiterwohnungen, Gasthöfe sowie Wohnhäuser mit gewerblichen Anlagen. Vgl. Kahm 1914, S. 5. Heimatschutz und Bauerndorf 69 „Wegweiser“ bzw. „Handbuch“ wollen auch die Werke sein, die „der Geschmacklosigkeit im Bauen auf dem Lande“ Herr werden wollen und deshalb eine „Beeinflussung der Bauweise“ anstreben.259 Dazu gehört das Buch „Neuzeitliche Baupflege. Ein Handbuch für die Bauberatung und die öffentliche Förderung der Bauweise“, das von Dr. Johannes Altenrath, dem Abteilungsvorsteher in der Zentralstelle für Volkswohlfahrt, verfaßt und in Berlin 1914 veröffentlicht wird. Ein anderes Beispiel stammt von Kreisbaumeister W. Pinkemeyer: „Ländliche Bauweise und Heimatschutz, oder: Wie bauen wir auf dem Lande zweckmäßig, billig und schön? Für ländliche Baupolizeiverwaltungen, Bausachverständige, Maurer- und Zimmermeister u.s.w.“, Mönchengladbach 1910. Die als miserabel empfundenen Lebens- und Wohnverhältnisse in der Großstadt um die Jahrhundertwende bringen es zudem mit sich, daß sich viele Menschen zum Leben auf dem Lande hingezogen fühlen. Willy Lange, Lehrer an der Königlichen Gärtnerlehranstalt in Berlin-Dahlem, liefert für diesen Interessentenkreis einen umfangreichen Aufsatzband, in dem er viele wichtige Autoren zur Mitarbeit heranzieht, so z.B. Adolf Damaschke vom Bund deutscher Bodenreformer, Johannes Altenrath, Heinrich Sohnrey, Oskar Schwindrazheim, Robert Mielke und Baurat Joseph Stübben. Willy Lange, dessen Buch „Land- und Gartensiedlungen“ 1910 in Leipzig erscheint, möchte die ländlichen Siedlungen als Ziel auch für die Gegenwart anbieten, denn: „Das Wohnen auf dem Lande in enger Verbindung mit der Natur wird in der Zukunft stets als notwendige Stärkung zur Arbeit in der Stadt erstrebt werden“. Trotzdem möchte er nicht undankbar sein gegen die Stadt: „Die Wechselwirkung von Land und Stadt ist notwendig: das eine sichert den Bestand, die andere den Fortschritt der Menschheit.“260 Die Angst vor dem Bruch mit Bindungen an genuine Tradition und der Wunsch, im Sinne des Heimatschutzes qualitätvolle und regionaltypische Neubauten zu schaffen, bezeugt auch die große Zahl an Schriften, die in den einzelnen Regionen des Landes entstehen.261 259 260 261 Zur „Geschmacklosigkeit“ Pinkemeyer 1910, S. 1 und zur „Beeinflussung“ Altenrath 1914, S. V. Lange 1910, S. V. Hier sei z.B. die Reihe „Heimische Bauweise“ genannt, die für verschiedene bayrische Regionen Vorschläge für kleinstädtische und ländliche Wohngebäude macht. Diese sind als Schriften des Bayerischen Vereins für Volkskunst und Volkskunde erschienen, z.B.: Heimische Bauweise in Oberbayern, hg. von Franz Zell. 2. Aufl., München 1905 oder Heimische Bauweise für den Kreis Schwaben und Neuburg von Joseph Bichlmeier. München 1906. Dort entstehen im Jahre 1912 auch Entwürfe für landwirtschaftliche Gebäude von der Baustelle des Bayerischen Landwirtschaftsrates, herausgegeben von Fritz Jummerspach, Architekt und Professor an der Königlich Technischen Hochschule in München und Vorstand der Baustelle des Bayerischen Landwirtschaftsrates, Stuttgart 1912. Entwürfe für niedersächsische Gehöfte und Gemeindebauten werden in „Niedersächsische Bauformen“, herausgegeben vom Verein für niedersächsisches Volkstum, einem selbständigen Zweigverein des Bundes Heimatschutz, vorgestellt: Niedersächsische Bauformen. Bearb. von K. Schaefer, Bremen 1906. Der Kieler Stadtbauinspektor Karl Meyer gibt im Auftrag des Schleswig-Holsteinischen Landesvereins für Heimatschutz 100 Musterentwürfe für ländliche Bauten in Schleswig Holstein heraus (Lübeck 1914); in Braunschweig entstehen „Gesammelte Entwürfe aus dem Preisausschreiben für den Bau von Ackerhöfen im Braunschweigischen“, bearbeitet auf Veranlassung des Landesvereins für Heimatschutz im Herzogtum Braunschweig von W. Spehr, Regierungs- und Baurat in Heimatschutz und Bauerndorf 70 Um der inneren Motivation der Heimatschützer auf die Spur zu kommen ist es unabdingbar, deren Sprache einer aufmerksamen Prüfung zu unterziehen, denn immer steht das Gefühl im Zentrum ihrer Texte. Wo ihnen weder volkswirtschaftliche oder technisch-hygienische Argu mente zu Gebote stehen, greifen sie zurück auf Metaphern der Empfindsamkeit und Spätromantik. So schreibt Schultze-Naumburg: „Denn der Schatz, der im Bauernhause als Kunstform niedergelegt ist, birgt die höchsten Werte für die Formen der menschlichen Behausung überhaupt.“262 Er macht jedoch in seinen Schriften deutlich, daß es ihm nicht nur um das Klassifizieren in „schön“ und „häßlich“ geht, sondern auch um die Kategorien „‘gut und schlecht‘ in beiderlei Sinn, nämlich ‚praktisch brauchbar und unbrauchbar‘ und ‚moralisch gut und schlecht‘“.263 Das Moralische ist hier als Chiffre zu verstehen für menschliches Maß, das in den Städten längst der Rationalisierung und Optimierung von Produktivkräften zum Opfer gefallen ist. Moralisch ist hingegen, was sich für den aus der Stadt zugereisten Beobachter als „traulich“ oder „anheimelnd“, „behaglich“ oder „herzensfröhlich“, „vornehm“ oder „ehrlich“ präsentiert – also Artekfakt einer verschwindenden Welt ist. So klingen gerade die vehementesten Vertreter der Heimatschutzbewegung wie Stadtbewohner, die die ländliche Idylle gefährdet sehen. Weil sich dergleichen nicht mit rationalen Argumenten beheben läßt, werden eben irrationale Argumente bemüht. Schultze-Naumburg vergleicht Architekturen mit Physiognomien, attestiert vorgründerzeitlichen Bauten ein „breites, gutes ehrliches Gesicht“264 oder „freundlich blinzelnde Augen“265, Feinheit und Bescheidenheit oder sogar Charakter und Wahrhaftigkeit.266 Einem gründerzeitlichen Bau dagegen sagt er z.B. nach, daß er ein Gesicht mache, „wie ein dummer Junge, der sich irgendeinen albernen Kopfputz aufgesetzt hat, die Augen aufreisst, das Maul aufsperrt und nun seiner nicht ganz sicher die Welt anstiert“.267 Begriffe wie „parvenuhafte Rücksichtslosigkeit“ oder „dummdreist und flegelhaft“268 werden ebenso für Beschreibungen benutzt wie „Charakterlosigkeit“, „Öde“ oder „Gleichgültigkeit“.269 262 263 264 265 266 267 268 269 Braunschweig, Braunschweig 1909. Daß der Heimatschutz massiven Einfluß auf die Ausbildung der Architekturstudenten hatte, zeigt auch ein letztes Beispiel der Königlichen Technischen Hochschule zu Aachen, die Hochbau-Entwürfe von Studierenden veröffentlicht und dabei auch großen Wert auf ländliche und landwirtschaftliche Bauten legt, die im Sinne des Heimatstiles umgesetzt werden: Angefertigt unter Leitung von Professor Fritz Klingholz. Die landwirtschaftlichen Gebäude werden vorgestellt im 2. Halbband, Berlin 1908. Schultze-Naumburg 1908, S. 19. Ebd., Vorwort. Er ist der erste, der dies propagiert. Schultze-Naumburg 1912, S. 19. Schultze-Naumburg 1909a, S. 19. Ebd., S. 18 und 22. Schultze-Naumburg 1912, S. 32. Schultze-Naumburg 1909a, S. 19. Ebd., S. 14f. Heimatschutz und Bauerndorf 71 Immer wieder wird der Begriff des „Künstlerischen“ bemüht, um ein Gebäude zu beschreiben. Dabei sind Schlichtheit und Zweckhaftigkeit die Charakterzüge, die ein Bauwerk zu einem Kunstwerk machen: „Alles atmet hier von der Tür bis zum Schornsteinkopf Zweckbestimmung, natürliche Wahrhaftigkeit und Daseinsbehagen, keine Spur heutiger Berechnung und Charakterlosigkeit.“270 „Schlichte Dorfhäuser“ wirkten gerade durch ihre reine Zweckbestimmung und die Einfachheit ihrer Form künstlerisch, meint Altenrath271 und Mielke fügt hinzu, daß sie zumeist „noch auf einer recht nüchternen, hausbackenen Bauweise“ beruhten, „die aber beweist, daß es keiner künstlichen und kleinlichen Steigerung bedarf, um künstlerische Wirkungen hervorzubringen“.272 Kunst aber, wie Schultze-Naumburg einräumt, sei „nichts als der sinnfällige Ausdruck von Dingen, die sich begrifflich nicht sagen lassen“.273 So wird die als heimatlich angesehene Baukunst und besonders Dorf und Bauernhof mit Begriffen umschrieben, die einer rein subjektiven und sentimentalen Sprache entnommen sind, nicht konkret interpretierbar und damit nicht kritikabel sind. Die Heimatschützer sprechen immer wieder von Gesinnungswerten, die im 19. Jahrhundert verlorengegangen seien.274 Instinktmäßige Empfindung, nicht der Verstand ist entscheidend: „Beschauen wir es uns recht. Wird uns warm ums Herz? Empfinden wir überhaupt etwas?“ fragt Schultze-Naumburg beim Anblick eines gründerzeitlichen Hauses.275 Und Richard R. Hinz meint: „Die Begriffe ‚Ländliches Bauwesen‘ und ‚ländliche Bauweise‘ lassen sich weder durch Worte noch durch Bilder genau festlegen. Man kann sich nur fragen: die Auslösung welcher Empfindungen verlangt man beim Anblick eines ländlichen Bauwerks, um davon befriedigt zu werden? – Da ist es denn eine gewisse Ruhe und Würde, eine dem Charakter des Bauern entsprechende Abgeschlossenheit und Ehrlichkeit, die uns angenehm berührt,...“276 Selbst das Neue Niederrheinische Dorf auf der Deutschen Werkbund-Ausstellung, das sich neben künstlerischen auch betont rational-neuzeitliche Ziele auf die Fahnen schreibt, wird von den Machern im Kontrast zu den anderen „mächtigen Bauwerken“ der Ausstellung betrachtet, die sich vorwiegend an den Verstand wendeten. Daneben würden „recht wohl auch einige schlichte Bauten eine Stelle verdienen, die Herz und Gemüt des Beschauers zu fesseln geeignet sind, wie dies bei einem deutschen Dorf der Fall zu sein pflegt.“277 270 271 272 273 274 275 276 277 Zitat von Schultze-Naumburg bei Kahm 1914, S. 32. Altenrath 1914, S. 30. Mielke 1910a, S. 160. Schultze-Naumburg 1908, S. 43. Vgl. z.B. Ehmig 1916, S. 91. Das ganze 4. Buch seiner Abhandlung über „Das Deutsche Haus“ ist mit „Gesinnungswerte und Ziele“ überschrieben. Schultze-Naumburg 1909a, S. 21. Hinz 1911, S. 10. Vgl. Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 4. Heimatschutz und Bauerndorf 72 Dem Bauern selbst bescheinigt man in früheren Jahrhunderten unbesehen ein „unverdorbenes Gefühl und eine lange Erfahrung für gute, zweckmäßige und ästhetische Gestaltung“, die dem 19. Jahrhundert jedoch verlorengegangen sei.278 Ihm wird eine intuitive Sicherheit für die schöne Gestaltung seiner Dörfer zugesprochen: „Schämen sollte sich, wer die Dreistigkeit hat, auszusprechen, solche Schönheiten zu erkennen hätte der Bauer keine Veranlagung gehabt. Glaubt man wirklich, dass all diese Schönheit reines Zufallswerk sei? Warum schafft denn dann unsere Zeit nicht mehr ein einziges solcher Zufallsprodukte?“279 Grundsätzlich läßt sich hier eine Intellektuellenfeindlichkeit beobachten. Die gefühlsbetonte Sprache bei der Beschreibung vermeintlich instinktbestimmter ländlicher Bauweisen ist weniger schwärmerisch als kämpferisch, da sie in erster Linie gegen einen Rationalismus gerichtet ist, der die „unmoralischen Städte“ zu verantworten habe und nun drohe, das Land zu usurpieren. Noch im Jahre 1965 beschreiben die beiden Kunsthistoriker Richard Hamann und Jost Hermand die Heimatschutzbewegung als „kryptofaschistisch“280. Wiewohl eine solche einseitige Ansicht nicht ohne Widerspruch bleiben kann,281 ist doch die Abneigung der Heimatschützer gegen die moderne Großstadt, die nivellierenden Tendenzen der westlichen Zivilisation und den Liberalismus sowie die intellektuellen Errungenschaften der Gegenwart nicht abzustreiten. Die Heimatschützer stehen mit der gefühligen Verherrlichung des Bauerntums, des Dorfes und der Volkskunst für einen neuen Provinzialismus, der die als „einfach“, „idyllisch“ und „gesund“ idealisierten Zustände auf dem Lande um jeden Preis erhalten will, sich um die wahren Probleme der Landbevölkerung jedoch nicht weiter kümmert. Diese sollen der Stadt zuarbeiten, ohne jedoch von einem eigenen Willen profitieren zu können. Im Gegenteil: Sie werden, wie die Bewohner von Neu-Bringhausen und Böhmenkirch, von Bauberatungsstellen bevormundet und quasi gezwungen, ihre eigenen Gehöfte nach deren ästhetischen Prinzipien bauen zu lassen. Es sind die Ansichten städtischer Bildungsbürger, die ein romantisches Bild vom natürlichen Landleben produzieren und entsprechend der eigenen Bedürfnisse konservieren wollen. Ein Leben auf dem Lande hat das Gros der Heimatschutz-Protagonisten jedoch nicht gewählt: Sie ziehen trotz der von ihnen propagierten Stadtfeindschaft das Leben in der Stadt dem auf dem Lande vor.282 278 279 280 281 282 Hoermann 1913, S. 87. Schultze-Naumburg 1908, S. 89. Hamann/Hermand 1965, S. 365. Daß dieses Urteil einseitig und unzureichend ist, beweist Knaut 1993 zusammenfassend auf den Seiten 232-239. Vgl. dazu Hamann/Hermand 1965, S. 364f. Heimatschutz und Bauerndorf 73 Schultze-Naumburg z.B. nennt in seinem Werk „Dörfer und Kolonien“ das deutsche Bauernhaus „den einzigen noch lebenden Vertreter einer nordisch-germanischen Bauart in Reinkultur“283. Diese, allem Rationalen so ferne Simplizität und Archaik führt in eine gefährliche Nähe zur irrationalen „Blut und Boden“-Politik der Nationalsozialisten. Das eine solche Entwicklung tatsächlich leicht zu reaktionären Abwegen führen konnte, beweist der weitere Lebenslauf Schultze-Naumburgs als Apologet des Rassismus und als Kulturfunktionär im Dritten Reich. Auch die Tatsache, daß die Heimatschutzbewegung von den Nationalsozialisten ohne Probleme in die eigene Ideologie eingepaßt, auf dieser Grundlage weiterentwickelt werden konnte und z.B. dem bäuerlichen Siedlungsbau in den 30er-Jahren als Fundament dienen kann, muß auch in einer Arbeit, die sich nur mit dem frühen Heimatschutz beschäftigt, zumindest problematisiert werden. Der Blickwinkel der Heimatschützer ist ahistorisch. Ob ein Bauernhof aus dem 15. oder 17. Jahrhundert stammt, spielt keine Rolle. Althergebrachte Architektur wird als „kultureller Besitz“ definiert, für den das Deutsche Reich als Alleinerbe zuständig sei. Um so wichtiger ist es ihnen, regionale und landschaftliche Unterschiede genau herauszuarbeiten. Damit versichert sich der Heimatschutz der baulichen Vielfalt im neu entstandenen Reich, indem er die ländlichen Güter zu bewahren und zu erhalten sucht. Dazu gehört auch, daß neu zu bauende ländliche Architektur sich in den hergebrachten Bestand einzupassen hat, ohne das Wunschbild zu stören, ja es sogar günstigstenfalls zu vervollständigen. Wie sich das realiter auf die dörflichen Bauvorhaben auf dem Lande auswirkt, soll in den folgenden Kapiteln erläutert werden. 283 Schultze-Naumburg 1908, S. 119. Das Beispiel ist auch abgedruckt bei Hamann/Hermand 1965, S. 369. 74 III. Heimatschutz im Spiegel des Dorfbaus zu Beginn des 20. Jahrhunderts 1. Das Dorf als städtebauliches Projekt 1.1. Einführung: Die Entwicklung des Städtebaus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Die Gesamtplanung der Dorfanlagen kann nicht umfassend untersucht werden, ohne auf die Entwicklung des modernen Städtebaus im späten 19. Jahrhundert einzugehen, denn aus dem Diskurs um die Grundprinzipien im Städte- und Siedlungsbau entwickeln sich auch die ästhetischen Theorien der Heimatschutzbewegung. Im späten 19. Jahrhundert werden die Probleme der anwachsenden Städte und die Notwendigkeit einer geordneten Stadtplanung im Deutschen Reich immer dringlicher. Der Boden- und Bauspekulation stehen alle Türen offen, denn das Verfügungsrecht großer Teile des städtischen Baulandes liegt – wegen der vom Allgemeinen Landrecht von 1794 zugesicherten „Baufreiheit“ – in privaten Händen. Noch in den 60er- bis 80er-Jahren fußt das frühe Planungs-Instrumentarium der Stadterweiterungs-Praxis auf der Grundlage des Feudalismus und besteht darin, wie der Berliner Stadtplaner James Hobrecht zu fragen: „Wie kann gebaut werden und wo kann gebaut werden? Ihre Beantwortung findet die erste Frage in der BaupolizeiOrdnung, die zweite im Bebauungsplan!“1 Drängende soziale und hygienische Fragen werden entsprechend noch kaum behandelt. Mit dem Preußischen Fluchtliniengesetz von 1875 ist den preußischen Gemeinden zwar die Möglichkeit gegeben, eigenständig Stadterweiterungs-Pläne aufzustellen. Grundeigentümer können jedoch weiterhin auf das nun durch Fluchtlinien abgesteckte Bauland zurückgreifen und lukrative Geschäfte mit Stadterweiterungen machen.2 Ein großer Teil der Arbeit der Städtebau-Reformer (wie Rudolf Eberstadt) beschränkt sich damit zuförderst auf die Lösung der Bodenfrage. Eine bedeutende Richtung der städtebaulichen Reform intendiert die Verbesserung der hygienischen Probleme in den Städten sowie der sozialpolitischen Gefahren einer Menschenmasse, die auf engstem Raum zusammengepfercht lebt. Diese Form des Städtebaus ist kein Thema der Architekten, so sehr er auch Ergebnis der Architektur ist. Stadtplanung und Stadterweiterung ist die Angelegenheit von Straßen- und Kanalbauern, Ingenieuren und Geometern.3 Es kommt darauf an, eine technisch gut funktionierende Maschine „Stadt“ zu entwickeln oder, wie Joseph Stübben sagt, ein 1 2 3 Vgl. Hobrecht, James: Über städtische Bebauungspläne. In: Deutsche Bauzeitung 1883, S. 579f. Zit. nach Fehl 1995, S. 29. Vgl. Fehl 1995, S. 29f. Vgl. Nipperdey 1991, S. 722. Vgl. zum „Städtebau im 19. und 20. Jahrhundert“ weiterführend z.B. Albers 1975 oder Reinborn 1996. Die Disziplin des Städtebaus bzw. der Beruf des Städtebauers entwickelt sich 75 Das Dorf als städtebauliches Projekt „ordentliches Ganzes“ zu entwickeln.4 Ausgerechnet Stübben und der Städtebauer Reinhard Baumeister (1833-1917), spätere Rationalisten im Städtebau, stören sich schon um 1870 aus ästhetischen Gründen an den Schachbrettentwürfen ihrer Zeitgenossen. Trotzdem wollen sie das Städtewachstum nicht stoppen, sondern die Reform der Stadt auf sozio-technischem Gebiet vorantreiben. Hauptziel ist die Schaffung von neuen Wohnungen und die Erleichterung des Verkehrs.5 Der erste Protagonist einer dezidiert „romantischen“6 Protestbewegung gegen den ingenieursmäßigen Städtebau ist jedoch der Wiener Architekt und Direktor der K.K. Staats-Gewerbeschule Camillo Sitte, der mit seinem 1889 in Wien erschienen Buch „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ einen Wendepunkt dieser Entwicklung herbeizuführen versucht, indem er dem Stadtplaner den Stadtbaukünstler entgegenstellt.7 Seine Schrift ist ausdrücklich als Antithese gegen Baumeisters Buch von 1876: „Stadterweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirtschaftlicher Beziehung“ angelegt.8 Sitte wendet sich „gegen den herzlosen utilitaristischen Rationalismus der Geometer, gegen die zu breiten (und geraden) Straßen, das Fehlen von Forum, Markt und Platz, die Isolierung durch Übergröße, den Auseinanderfall von Architektur und Umgebung, den Verlust des Bezugs der Architektur zu einer humanen Kontinuität, zu einem urbanen Leben.“9 Er kritisiert erstmals die ingenieursmäßige Entwicklung des Städtebaus im 19. Jahrhundert, der sich in der Festlegung von Straßenführungen und Baublocks erschöpft und in geraden Linien am Reißbrett entwirft, ohne einen Blick auf dreidimensionale Proportionen – auf das Ensemble – zu haben. Er will das Erscheinungsbild einer Stadt wieder untrennbar mit der Geschlossenheit ihrer räumlichen Wirkung verbunden wissen. Sittes Bedeutung liegt darin, auf dieses Bedürfnis nach künstlerisch gestalteten Städten erstmals hingewiesen zu haben. Im Gegensatz zum Funktionalismus seines Wiener Kollegen Otto Wagner sind seine Kriterien nicht nur, aber im wesentlichen ästhetisch-künstlerischer Natur, wobei er eine Lösung für die Probleme der modernen Stadtplanung in der Anknüpfung an die Tradition sieht.10 So favorisiert er die unregelmäßigen Stadtanlagen von der Antike bis zum Barock, die er rein kunsttechnisch und kompositorisch analysiert. Straße und Platz gelten ihm als bedeutende städtebauliche Muster und dürfen nicht nur das sein, was zwischen den Bauparzellen übrig gelassen 4 5 6 7 8 9 10 erst um die Jahrhundertwende, indem er Elemente des Baupolizisten, Stadtbauingenieurs, Wohnungsreformers und Architekten in sich vereint. Vgl. Albers 1975, S. 26. Vgl. Stübben, Joseph: Über Stadterweiterung insbesondere in hygienischer Beziehung. In: DvöG, Braunschweig 1886, S. 10-27. Zit. nach Fehl 1995, S. 31. Vgl. Albers 1975, S. 103. Vgl. Knaut 1993, S. 297. Siehe zu dem Stadtplaner Sitte auch Collins und Crasemann Collins 1986. Er gibt mit Theodor Goecke die Zeitschrift „Der Städtebau“ heraus, in der er seine Stadtanalysen entwickelt. Vgl. Otto 1983, S. 151. Vgl. Fehl 1995, S. 45. Vgl. Nipperdey 1991, S. 722. Vgl. Knaut 1993, S. 297. Das Dorf als städtebauliches Projekt 76 wird. Eine reizvolle Anlage von Straßen und Plätzen könne z.B. durch Störungen der Bauflucht, gebrochene oder gewundene Straßenzüge oder ungleiche Straßenbreiten erzielt werden. Lange, gerade Straßen blieben eintönig im Effekt und seien überdies auch aus praktischen Gründen – weil der Wind ungehindert durch sie hindurchfegen kann – oft nicht zu empfehlen. Auch das „dekorative Grün“ sei, besonders in Verbindung mit Wasser, als Teil des architektonischen Apparates, nicht als Konkurrenz zu betrachten. Sitte schreibt: „Unebenheiten des Terrains, vorhandene Wasserläufe oder Wege wären nicht gewaltsam zu beseitigen, um eine nüchterne Quadratur zu erzwingen, sondern als willkommene Ursachen zu gebrochenen Straßen und sonstigen Unregelmäßigkeiten beizubehalten.“11 Sitte wird daraufhin von vielen Städtebauern, u.a. von Albert Erich Brinckmann, kritisiert, weil er mit seinen Theorien nur ein Schema gegen ein anderes ersetze. Dabei ist sich Sitte jedoch sehr wohl darüber im klaren, daß am Reißbrett geschaffene Unregelmäßigkeiten nur „erzwungene Ungezwungenheiten“ darstellen.12 Zwar favorisiert Sitte Vorstellungen eines organischen Stadtbildes mit allen Unregelmäßigkeiten und Romantizismen, empfiehlt aber die Vorteile alter Städtebilder nur als vorbildhafte Grundsätze. Eine sklavische Nachahmung alter Stadtanlagen will er vermeiden: „Die herrlichen Musterleistungen der alten Meister müssen bei uns in anderer Weise lebendig bleiben als durch gedankenloses Copiren; nur wenn wir prüfen, worin das Wesentliche dieser Leistungen besteht, und wenn es uns gelingt, das bedeutungsvoll auch auf moderne Verhältnisse anzuwenden, kann es gelingen, dem scheinbar unfruchtbar gewordenen Boden eine neue blühende Saat abzugewinnen.“13 So betont er, daß die Errungenschaften des technischen Städtebaus auch positiv gewertet werden müßten. In einer Stadt des Industriezeitalters könnten z.B. nicht mittelalterliche Platzräume anzustreben sein. Dort seien z.B. die städtebaulichen Instrumentarien der Barockzeit geeigneter, um die monumentalen Dimensionen der modernen Zeit handzuhaben.14 Sitte will erreichen, daß die Städte Gemüt und Gefühl der Stadtbewohner ansprechen und „zur Freude der Bewohner, zur Erweckung des Heimatgefühles, zur steten Heranbildung großer edler Empfindungen bei der heranwachsenden Jugend dienen“.15 Er fügt hinzu: „Da aber der Kunst überhaupt auch ein socialer und ökonomischer Werth innewohnt, so könnte es sein, daß selbst hartherzige Stadtökonomen finden dürften, es wäre am Ende nicht schlecht, auch einmal einige Summen am Wege der Kunstpflege bei Stadtanlagen in Heimatsgefühl, Localpatriotismus und eventuell auch in Fremdenverkehr umzusetzen.“16 11 12 13 14 15 16 Sitte 1889, S. 141. Vgl. ebd., S. 119, zit. nach Kruft 1985, S. 365. Sitte 1889, S. 119. Sittes Theorien sind wie die der Heimatschützer später im Grunde völlig ahistorisch, denn die Bedingungen, denen alte Städte ihr Erscheinungsbild zu verdanken haben, werden bei ihm völlig ausgeblendet. Ihn interessieren Bilder, nicht Strukturen. Vgl. dazu Huse 1984, S. 156. Dutzi 1990, S. 64f. Vgl. Sitte 1889, S. 98, zit. nach Kruft 1985, S. 366. Vgl. zu Sitte als Volkserzieher auch Fehl 1995, S. 57-98. Sitte 1889, S. 144, zit. nach Knaut 1993, S. 297. 77 Das Dorf als städtebauliches Projekt Die von Sitte entwickelten Theorien bilden ganz offensichtlich die Grundlage für das Ideengut der Heimatschutzbewegung.17 Sittes Ziele „korrelierten zu eindeutig mit dem Heimatschutz, ja lieferten dessen ensembleorientierter Ästhetik noch einen ausdrücklich wissenschaftlichen Rahmen.“18 Bereits Ernst Rudorff lobt Sittes Buch über den Städtebau, „das die tiefe innere Öde unserer heutigen Stadtviertelanlagen, [...] mit ihren Straßen, die wie langgestreckte Löcher ziellos und endlos geradeaus laufen“ geißelt. In seiner Klage gegen den Ingenieur-Städtebau, der das ästhetische Erbe des Barock geistlos verbrauche, nimmt er Positionen von Cornelius Gurlitt, Ferdinand Avenarius, Alfred Lichtwark und auch Paul SchultzeNaumburg vorweg.19 Der vierte Band der „Kulturarbeiten“ Schultze-Naumburgs ist dem Städtebau gewidmet und im Sinne Sittes ein einziges Plädoyer für das Ensemble. Trotzdem wird die eigentliche Großstadtplanung nie vorherrschendes Thema der Heimatschutzbewegung, die lieber in ihren agrarromantischen Vorstellungen verharrt. „Zu bedrohlich und internationalistisch wirkten die Metropolen.“20 Objekt des Interesses bleiben Kleinstadt und Dorf. 1.1.1. Das Dorf im Grundriß „Ein gefälliges Ortsbild ist nicht von den einzelnen Fassadengestaltungen, sondern von der Gesamtgruppierung innerhalb des Rahmens abhängig, in den die verschiedenen Baukörper zueinander gebracht werden. Nicht der Geometer, sondern nur der denkende Architekt ist befähigt, diejenigen Bilder vorauszusehen, welche auf einem einmal entworfenen Lageplan dermaleinst erstehen werden.“21 Der Grundriß eines Dorfes ergibt sich aus dem Verhältnis von Verkehrsfläche und bebauter Fläche. Er beinhaltet das Liniengefüge von Straßen, Plätzen, Häusern und Hofstellen in ihrem Verlauf und ihrer Zuordnung und gilt als zentrales Kriterium ländlicher Siedlungsformen.22 17 18 19 20 21 22 Vgl. dazu auch Otto 1983, S. 151. Bibliographien des Bundes listeten regelmäßig Autoren auf, die von Sittes Ideen beeinflußt wurden, wie Joseph Stübben, Charles Buls, Theodor Fischer, August Endell und besonders der Aachener Professor Karl Henrici. Dieser interpretiert in zahlreichen Entwürfen das Leitbild Sittes. Vgl. zu Henrici die Arbeit „Künstlerischer Städtebau um die Jahrhundertwende. Der Beitrag von Karl Henrici“, hg. von Gerhard Curdes und Renate Oehmichen. Köln 1981. Auch der führende Architekt der englischen Gartenstadtbewegung, Raymond Unwin, entwickelt auf dessen Grundlage ein überzeugendes urbanistisches Konzept. Sein Buch „Grundlagen des Städtebaus. Eine Anleitung zum Entwerfen städtebaulicher Anlagen“ erscheint 1910 in Deutschland, beschäftigt sich aber nicht mit der Großstadt, sondern mit Kleinstädten und modernen Siedlungen. Knaut 1993, S. 298. Vgl. Rudorff, Ernst: Der Schutz der landschaftlichen Natur und der geschichtlichen Denkmäler Deutschlands. Berlin 1892, Abdruck eines Vortrags vor dem Allgemeinen Deutschen Verein am 30.3.1892 in Berlin, zit. nach Andresen 1989, S. 23. Knaut 1993, S. 299. Vgl. Schmidt 1905, S. 177. Vgl. Henkel 1995, S. 177. Hier finden sich auch viele Hinweise zum Forschungsstand und zur einschlägigen Literatur der Siedlungsgeographie. Zu den unterschiedlichen Dorfformen und ihrer Verbreitung vgl. auch Born 1977 und Ellenberg 1990, S. 160-189. Da das schwäbische Dorf Böhmenkirch nur teilweise Das Dorf als städtebauliches Projekt 78 Die Heimatschützer, mit der Gestaltung des Dorfes befaßt, verweisen immer wieder auf die Wichtigkeit des Dorfplanes. Für Robert Mielke ist das Dorf ein großer „Gesamtorganismus“23, dessen Grundriß die Grundlage bildet für „das künstlerische Dorf“, der das spätere Dorfbild wesentlich bestimmt.24 Auch Altenrath weiß, daß „ein Dorf mit enger oder weiter Bebauung, mit einer oder zwei Straßen, mit einem geschlossenen Platz oder einer offenen Kreuzung der Wege [...] auch auf die Anlage und Architektur der Höfe Einfluß ausüben“ wird.25 Die traditionellen Dorfformen des Deutschen Reiches sollen wie die Bauernhäuser als Vorbild dienen, um aus ihnen moderne Siedlungsweisen zu entwickeln: „Seit indessen hier eine Wandlung zum Besseren eingetreten ist, hat auch das Dorf als Siedlungstypus ganz unbewußt wieder Ansehen gewonnen, das sich zunächst darin äußert, bei Anlage von Landsiedlungen und Vorstädten verwandte Grundrißgestaltungen zu bevorzugen. [...] Für das Studium ländlicher Kunstwirkungen ist aber gerade das Dorf insofern ein recht geeigneter Gegenstand, weil man hier häufig noch die Grundsätze künstlerischer Wirkung unmittelbar vor Augen hat.“26 Schon die Grundrißanlage neuer Dörfer soll sich also laut Heimatschutz an bereits in der Region vorhandene Dorftypen anlehnen. Ziel ist es, ein harmonisches Einfügen des Neuen in das bereits Vorhandene und in die Landschaft zu erreichen. Deswegen werden die Dorfformen in dieser Zeit immer wieder beschrieben, ihre Herkunft erforscht und ihre Wirkung auf die umgebende Landschaft untersucht. Als Grundformen deutscher Dörfer gelten den Heimatschützern, abgesehen vom Einzelhof, das Haufendorf, Straßendorf, Angerdorf, Reihendorf und der Rundling.27 Das Haufendorf wird, wie der Name schon sagt, als haufenförmige und mehr oder minder unregelmäßige Ansammlung von Gehöften bezeichnet, während das Straßendorf eine regelmäßige Anordnung von Gehöften an zwei Seiten einer Straße beschreibt. Eine ähnliche Form zeigt das Reihendorf, bei dem sich eine lockere Reihung von Gehöften an einer Straße, einem Deich oder einem Fluß entlangzieht. Das Angerdorf wird als dem Straßendorf sehr ähnlich charakterisiert, nur daß hier die Straße im Zentrum des Ortes erweitert und beidseitig an einem dadurch entstehenden langgestreckten Dorfplatz (dem Anger) vorbeigeführt wird. Oft ist der Anger mit dem Dorfteich, der Kirche oder anderen öffentlichen Gebäuden besetzt. Der Rundling 23 24 25 26 27 wiederaufgebaut wird und sich deshalb an seinem Gesamtplan nichts ändert, wird es in der Grundrißdiskussion nicht bearbeitet. Vgl. Mielke 1907/08, S. 66. Vgl. Mielke 1910a, S. 83. Er bespricht also die verschiedenen Dorfformen in erster Linie in Bezug auf ihre künstlerische und landschaftliche Wirkung. Vgl. Altenrath 1914, S. 39. Vgl. Mielke 1913b, S. 6. Vgl. dazu z.B. Hoermann 1913, S. 94-95; Wagener 1913, S. 79-83 und z.B. Mielke 1910b, S. 29-42 oder Mielke 1913a. 79 Das Dorf als städtebauliches Projekt ordnet seine Gehöfte um einen in etwa kreisförmigen Dorfplatz an, wobei ursprünglich nur ein Zugang zum Dorfkern vorhanden ist. Bei den untersuchten Dorfanlagen fällt auf, daß sie alle (mit Ausnahme der Ausstellungsdörfer) an bereits bestehenden Wegen errichtet werden, was die Baukosten wesentlich verringert. So sind die Planer nicht völlig frei in der Wahl der Dorfplätze, sondern von wirtschaftlichen Zwängen bestimmt. Das läßt – wie in gewachsenen Dörfern auch – Mischformen entstehen, die sich nicht an etwaige dörfliche Grundformen binden lassen. Der Ort, der noch am ehesten einer dörflichen Grundform – nämlich dem Straßendorf – entspricht, ist Golenhofen. Es entsteht an einer vorhandenen Straßenkreuzung, an der vor allem eine gerade Straße streng gerastert mit sich gegenüberliegenden Gehöften bestanden ist (Abb. 1-5). An einem weiteren Weg in Richtung der alten Gutsgebäude sind ebenfalls Gehöfte gebaut – hier jedoch in weitaus lockerer Bauweise. Der Platz als Kern des Dorfes befindet sich an der Kreuzung, von öffentlichen Gebäuden und Gehöften nach außen abgegrenzt (Abb. 6-8). Der Architekt Paul Fischer hält sich dabei an die von ihm als „modern“ bezeichnete Siedlungsform, die sich bei der sogenannten „Inneren Kolonisation“ als die „typische“ herausgebildet habe, nämlich eben dem Straßen- oder Reihendorf. Die Planmäßigkeit der Kolonien Friedrichs des Großen will er damit „viel gründlicher erforscht und für jede Kolonisationstätigkeit zum Muster genommen“ wissen.28 Neben dem Vorbild der preußischen Kolonisation des 18. Jahrhunderts werden die neuen Dörfer sogar, wenn keine wirtschaftlichen Forderungen dagegen sprechen, dem Charakter der benachbarten Dörfer angepaßt.29 Und in der Provinz Posen ist das Straßendorf seit Jahrhunderten der Kolonisation die beherrschende Form, wie die Landeskunde der Provinz und die Siedlungsforschung der Region nahelegen.30 Mit seiner Anlehnung an regionaltypische Bauformen entspricht das Straßendorf Golenhofen den Prinzipien des Heimatschutzes. Fischer selbst regt im Jahre 1911 das Studium alter Dorfpläne zur Vorbildfindung an.31 Darüber dürfen auch die finanziellen Notwendigkeiten der „Inneren Kolonisation“ nicht vergessen werden. Der Heimatschützer Robert Mielke benennt die Vorteile des Straßendorfes für die landwirtschaftliche Praxis, „denn es beanspruchte für den Ort den kleinsten Bruchteil der Dorfmark und stellte ihrer Aufteilung keine weitere Schwierigkeit. Bei dem Ortsplane konnte mit möglichst gleichen Hofeinheiten 28 29 30 31 Vgl. Fischer 1918b, S. 180f. Vgl. Langen 1922, S. 76. Vgl. Schütze 1914, S. 37 und Martiny 1913, S. 23-42. Fischer 1911, S. 23. Der Bebauungsplan Golenhofens stößt auch bei Theodor Goecke auf Gefallen, denn er wird in einem seiner Artikel neben Fischers Bebauungsplan für die Deutsche Arbeiterwohnungsgenossenschaft in Dembsen bei Posen abgebildet. Vgl. Der Städtebau 11.1914, H.1, S. 20. Das Dorf als städtebauliches Projekt 80 gerechnet werden, die kettengleich aneinandergereiht sind und die häufig im örtlichen Zusammenhange mit den, bei der Aufteilung bevorzugten streifenförmigen Wald- und Königshufen bleiben.“32 Trotz seines Charakters als vorbildhaftes Musterdorf, in das mehr investiert wird als in von Ansiedlern selbst erbaute Dörfer, hat auch für den Architekten Fischer die ökonomische und praktische Seite des Dorfbaus oberste Priorität: „...der Hausbau und die Erwägung, wie derselbe angelegt und gruppiert werden soll, tritt zurück gegenüber der Frage, in welcher Größe und Lage und von welcher Bodenbeschaffenheit müssen die Stellen ausgelegt werden, um wirtschaftlich bestehen zu können.“33 Auch das begründet also die Wahl des Straßendorfes für Golenhofen. Während sich die Zeitgenossen in der finanziellen und praktischen Brauchbarkeit des Straßendorfes noch einig sind, gehen die Meinungen in künstlerischer Hinsicht auseinander. Viele Heimatschützer und allen voran Robert Mielke kritisieren das Straßendorf grundsätzlich: „Aber diese Siedlungsform hat keinen architektonischen Ehrgeiz, sie verzichtet auf die bunte Mannigfaltigkeit und auf die Selbständigkeit der Höfe und begräbt das einzelne in der Masse. [...] Das Schema gewinnt erst künstlerisches Leben, wenn das Einerlei straffster Gleichmäßigkeit durchbrochen wird.“34 Auch der Architekt Fischer schreibt später in einem selbstkritischen Artikel in der Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Ansiedlungskommission von 1911, daß bei der Inneren Kolonisation „der Besiedlungsplan des Straßen- und Reihendorfes, wie er sich jetzt ausgebildet hat, nach der künstlerischen Seite noch einer weiteren Entwicklung bedarf und fähig ist“. Wie Mielke kritisiert er Pläne, die „ohne künstlerischen Einfluß als Ergebnis geometrischer Kalkulation nach bewährtem Schema festgelegt und durch die Besitzergreifung sogleich in festen Formen erstarrt ist wie ein langweiliges Massenprodukt der Industrie“.35 Er schlägt verschiedene Dorfformen als Vorbilder vor und läßt auch das Straßendorf nicht aus, wenn nur seine Gehöfte nicht zu weit auseinandergezerrt werden und von der „öden Fluchtlinienschablone befreit“ bleiben.36 Ein Dorf wird also erst dann zu einem „schönen“ Dorf, wenn es sich wie gewachsene Dörfer durch Unregelmäßigkeiten im Plan an Landschaft und Umgebung anzupassen weiß. 32 33 34 35 36 Vgl. Mielke 1910b, S. 37f. Vgl. Fischer 1918b, S. 178. Vgl. Mielke 1910b, S. 38. Fischer 1911, S. 23. Fischer 1911, S. 24. Diese Kolonisationsdörfer, deren Gehöfte in langen Reihen und großem Abstand voneinander errichtet werden, werden auch von Langen kritisiert, da der Wind ungehindert über die Straße fegen könne und den Gehöften die Wärme nehme. Nur eine geschlossene, geschützte Dorflage sei dagegen heimatlich zu nennen. Vgl. Langen 1922, S. 101f. 81 Das Dorf als städtebauliches Projekt Obwohl auch Golenhofen an einer geraden Straße geplant ist und Fischer vielleicht auch diese meint, wenn er von „unerfreulichen Härten“ eines geraden Weges spricht,37 gilt seine Kritik doch in erster Linie der Mehrheit von Dörfern der Ansiedlungskommission, deren Gehöfte an langen Straßen und in weiten Abständen über die Gemarkung verstreut sind:38 Golenhofen zeigt sich in direktem Kontrast dazu als geschlossen angelegtes Dorf, dessen Dorfstraße vergleichsweise kurz ist und deren Gehöfte nahe aneinander gerückt sind. Es sollte in dieser Hinsicht ein Musterdorf mit Vorbildcharakter für zukünftige Dorfanlagen bilden: „Die neuere Richtung des Aufteilungsverfahrens vermeidet es glücklicher Weise, die Gehöfte weithin über die Feldmark zu verstreuen, sondern sieht bestimmte Besiedlungsstraßen vor, die strahlenförmig von dem durch den alten Gutshof gebildeten Kerne ausgehen.“39 Der sozialpolitische Hintergrund der geschlossenen Anlage von Dörfern entspricht bei der Germanisierungspolitik der „Inneren Kolonisation“ natürlich auch dem Wunsch, ein enges Zusammenschließen der deutschen Bewohner zu erreichen und gleichzeitig den Kontakt mit der polnischen Bevölkerung zu vermeiden. Fischer erhält für sein Dorf Golenhofen von unterschiedlichen Seiten großes Lob: Seine Anlage verriete den im Geiste der Neuzeit schaffenden feinfühlenden Baukünstler und zeige, sich zu Seiten einer alten Allee hinziehend, sogar den Charakter des langsam und zufällig Gewordenen.40 Selbst Mielke beurteilt Golenhofen als gleichermaßen „bodenständig“ und „modern“ und lobt, „daß ernstes theoretisches Studium einer geschichtlichen Entwicklung und Berücksichtigung moderner Bedürfnisse einander nicht ausschließen, sondern umgekehrt zu Wahrheit, Schlichtheit und Schönheit auch im Dorfbau führen.“41 Außerdem bescheinigt er dem Dorf, seinen entschiedenen Flachlandcharakter zu wahren.42 Er geht nämlich davon aus, daß Straßendörfer in ebenen Landstrichen (ursprünglich in Norddeutschland) entstanden seien, da es hier genug Platz gab, um die Gehöfte entlang einer natürlich geraden Straße zu plazieren.43 Wenn seine Theorie auch falsch ist, da Straßendörfer im Deutschen Reich in fast allen Regionen gleichermaßen vorkommen, zeigt sie doch, daß die Heimatschützer Architektur und umgebende Landschaft als Einheit begreifen, bei der das eine Element nicht ohne 37 38 39 40 41 42 43 Vgl. Fischer 1911, S. 25. Vgl. z.B. die Orte Lowin, Kensau oder Chludowo in: Langen 1922, S. 79, 81 und 83. Fischer 1911, S. 22. In Golenhofen ist im Unterschied dazu jedoch statt am alten Gutshof ein neuer Ortskern an der vorhandenen Kreuzung angelegt. Vgl. Warlich 1906, S. 533. Vgl. Mielke 1907/08, S. 68. Vgl. ebd. Vgl. Mielke 1913b, S. 16-20. Das Dorf als städtebauliches Projekt 82 das andere zu denken ist.44 Gerade in Bezug auf die Kolonisation in den Ebenen der Ostmarken befürwortet Mielke daher besonders das Straßendorf: „Da bei der Vermessung des großen Areals besondere Eigentumsrechte nicht zu beachten sind, da aber auch das flache Ebenenland keine technischen Schwierigkeiten bereitet, so ist dieses Schema um so berechtigter, als es auch der künstlerischen Gestaltung des Dorfbildes dankbare Aufgaben stellt.“45 Ganz anders als in der Provinz Posen sieht die bauliche Situation im Fürstentum Waldeck aus. Während die alten Dörfer Berich, Bringhausen und Asel regellose Haufendörfer waren und sich durch gewachsene Unregelmäßigkeiten auszeichneten, werden hier drei Dörfer neu errichtet, die sich keiner Grundform direkt zuordnen lassen. Stattdessen plant der Architekt Karl Meyer Mischformen aus Straßen-, Anger- und regelhaftem Haufendorf. Bei dem auf einem Hügelrücken errichteten Dorf Neu-Berich führt eine schon vorhandene geradlinige Straße ins Dorf und direkt auf die im Zentrum des Dorfes liegende Kirche zu. Dahinter gabelt sie sich vor dem Kirchplatz in zwei Hauptwege, die um diesen herum führen und im leichten Bogen weiterverlaufen. Der Ortsgrundriß kann mit der Gestalt einer leicht gebogenen Stimmgabel verglichen werden (Abb. 102-104, 109, 110).46 Hinter dem Kirchplatz verbindet ein weiterer Weg die beiden gegabelten Straßen wieder miteinander, sodaß sich ein dreieckig-abgerundeter Dorfplatz mit Dorflinde bildet, um den sich die Gehöfte entlang der Straßen gruppieren. Hier scheint eine Mischform aus Haufendorf und Angerdorf vorzuliegen, in dem Elemente aus beiden Dorftypen verschmelzen: Einerseits trägt die zweizeilige Anlage der Gehöfte entlang der Straßen und die stimmgabelförmige Straßenanlage mit umschlossenem Kirchplatz angerdorfartige Züge. Andererseits fehlt dem Kirchplatz die für Anger typische Längsstreckung. Ebenso vermittelt das Dorf durch seine geringe Größe, die relativ breit ausschwingende Straßengabelung, die weite Bogenführung der Bericher Straße und die zentral angelegte Dorfplatzsituation eher den Eindruck von Rundung und Geschlossenheit, als von einer langgestreckten Linearität, sodaß es einem Haufendorf ähnelt. Mit Blick auf den Grundriß wird diese Wirkung durch die sternförmig auf den zentralen Dorfplatz zulaufenden Straßen verstärkt. Das Dorf Neu-Berich kann als eine Mischform von in Hessen typischen Anger- und Haufendörfern bezeichnet werden. Nach dem Siedlungsforscher Born wird als die charakteristische Siedlungsform Hessens, besonders des westlichen Teils Nordhessens, das Haufendorf angesehen. Es ist hier stärker 44 45 Vgl. zu der Verbreitung des Straßendorfes im Deutschen Reich Henkel 1995, S. 180 und Ellenberg 1990, S. 181f. Vgl. Mielke 1913a, S. 25. 83 Das Dorf als städtebauliches Projekt verbreitet als andere Siedlungsformen, jedoch keineswegs die einzige. Weniger verbreitet als haufenförmige Dörfer – aber doch häufig vorhanden in Hessen – sind lineare Ortsformen. Zu dieser Gruppe zählen vor allem die Reihen-, Straßen- und Angerdörfer. Auch Robert Mielke weiß, daß in Hessen verschiedene Dorfformen üblich sind: „Die Häuser sind je nach den Bedingungen des Geländes bald mehr, bald weniger zusammengedrängt, häufiger in Straßen- als in Haufendorfform.“47 Einen verwandten Typ von Angerdorf findet Martin Born in Nordhessen. Es sind „Dörfer mit einer stimmgabelförmig ausgerichteten Hauptstraße und einer zweiten, senkrecht dazu verlaufenden Straße“.48 Charakteristisch für diese Ortsform ist, daß zwischen der Straßengabelung die Kirche plaziert ist.49 Besonders diese Sonderform eines Angerdorfes ähnelt eindeutig dem Neu-Bericher Dorfgrundriß. Eine ähnliche Gestaltung zeigt das Dorf Neu-Bringhausen, das auf einer sanft hügeligen Anhöhe weit über dem Edersee errichtet wird. Entlang einer bereits vorhandenen, sanft s-förmig geschwungenen Straße sowie an einem geradlinig davon abzweigenden Weg, der sogenannten Fünfseenblickstraße, reihen sich die Gehöfte (Abb. 105, 106, 114). An einem parallel dazu verlaufenden Weg wird das Gemeindehaus gebaut. Weitere schmale Wirtschaftswege sollen einer späteren Bebauung offen stehen. So hat die Siedlung viel mit einem Straßendorf gemein, da sie sich an den Leitlinien der Straßen orientiert und dadurch in die Länge streckt. Gleichzeitig erhält sie durch die kurvige Dorfstraße und die Bebauung der zwei anderen Wege eher einen „abgerundeten“ Charakter und wirkt dadurch wie eine Mischung aus Haufen- und Straßendorf. Dazu kommt, daß der Dorfmittelpunkt an einer Straßenerweiterung geplant wird, die einem Anger sehr ähnlich ist – nur, daß die Kirche hier nicht wie in Neu-Berich mitten auf dem Platz, sondern an dessen Rand plaziert ist. Eine Linde betont zusätzlich dessen Funktion als Dorfmittelpunkt. Die Dorflinde steht auch in Neu-Asel demonstrativ im Zentrum des Ortes, der nur aus zwei Straßen besteht (Abb. 107, 108, 118). Die Zufahrtsstraße ins Dorf war bereits vorhanden: An ihr reihen sich die sieben Gehöfte wie Perlen an der Schnur auf. Trotzdem ist noch eine weitere Straße entstanden, die die erste im rechten Winkel schneidet, sodaß sich ein kreuzförmiger Dorfgrundriß ergibt. An diesem Weg wird in kurzer Entfernung südwestlich der Gehöf te ein Gemeindehaus errichtet. Auch hier ist, wie in Neu-Bringhausen, die Nähe zu einem Straßendorf offensichtlich. Durch die wenigen Gehöfte im Ort, die kreuzförmige Anlage der 46 47 48 49 Vgl. Neumann 1996, S. 100. Mielke 1910, S. 23. Born 1972, S. 63. Ebd. Als Beispiele nennt er die Dörfer Battenfeld (Kreis Frankenberg), Wolfsanger (Kreis Kassel) und Reichensachsen (Kreis Eschwege). Grundrißabbildungen zu den ersteren beiden Dörfern sind zu finden bei Born 1968, Abb. 10 und 11. Das Dorf als städtebauliches Projekt 84 Straßen und den dadurch entstehenden zentralen Dorfplatz mit Linde erhält jedoch auch diese Anlage zusätzlich etwas Haufendorfförmiges und muß ebenfalls als Mischform beschrieben werden. Bei planmäßig errichteten Anlagen ist der kreuzförmige Straßengrundriß mit Mittelplatz nicht ungewöhnlich, wie bereits die streng geometrischen Grundrisse einiger bei der friderizianischen Innenkolonisation entstandenen Orte (Zinna bei Jüterbog oder Gosen bei Berlin) nahelegen.50 Mielke glaubt allerdings, daß ein kreuzförmiger Grundplan auch bei gewachsenen Straßendörfern durch die Anlage eines stark benutzten Querweges entstehen konnte.51 Interessanterweise entdeckt man beim Anblick von Plänen der alten Dörfer im Edertal große Ähnlichkeiten zwischen Alt-Bringhausen und Neu-Asel. Das alte Bringhausen liegt mit weitaus größerer Fläche im Tale der Eder – und weist einen kreuzförmigen Verlauf der beiden großen Dorfstraßen auf. Während sich eine der Straßen quasi parallel am Fluß entlang bewegt, führt die andere über ihn hinweg in Richtung Herzhausen. Und obwohl das Dorf seinen Mittelpunkt nicht an der Kreuzung findet, könnte der Architekt Meyer hierin für Neu-Asel ein Vorbild entdeckt haben. Daß sich der Architekt mit den Mischformen seiner drei Waldecker Dörfer auch an gewachsene Waldecker Dorfgrundrisse anlehnen und der Heimatschutzbewegung verbunden erklären wollte, verdeutlichen auch die Beschreibungen der „Waldeckischen Landeskunde“ von 1909: „Im Waldecker Lande ist der Bauernstand der erste Stand. Auf den Höhen und in den Tälern grüßen den Wanderer zahlreiche Dörfer. Bald ziehen sie sich in langer Reihe an der Straße hin, bald bilden sie eine unregelmäßige Gruppe oder zeigen diese beiden Formen verbunden. Hier liegen sie weithin am Flusse, mit ihren roten Ziegeldächern aus dem grünen Schmuck der Gärten und Obstbäume herauslugend (die Ederdörfer), dort verstecken sie sich in den Bergen (Upland, Ederwalddörfer).“52 Tatsächlich sind laut Siedlungsgeograph Martin Born Mischformen als Ergebnis von Jahrhunderte alten Siedlungsveränderungen durchaus üblich und tauchen auch hier in den Dorfneuplanungen wieder auf. 53 Eine weitere Begründung für Mischformen in neu angelegten Dörfern erläutert uns wiederum Mielke: Er glaubt, daß das Streben der Zeit unverkennbar dahin gehe, die Siedlungen von den Verkehrswegen abhängig zu machen. Bei einem historischen Haufendorf z.B. wären 50 51 52 53 Vgl. Kuhn 1915, Bl. 4. Mielke 1913b, S. 19. Der Forscher Chistian Meyer glaubt sogar, daß die Dorfform mit gekreuzten Straßen eine „altdänische – also reingermanische“ sei. Diese Aussage soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. Vgl. Meyer 1910, S. 311. Höhle 1909, S. 213. Vgl. dazu auch Mielke 1910a, S. 23: „Die Häuser [in Hessen; d.Verf.] sind je nach den Bedingungen des Geländes bald mehr, bald weniger zusammengedrängt, häufiger in Straßen- als in Haufendorfform.“ Vgl. Born 1972, S. 64. 85 Das Dorf als städtebauliches Projekt die Höfe von ihrem Verhältnis zur Flur abhängig, die Wege liefen von Hof zu Hof. Gegenwärtig sei jedoch ein Hauptweg, der durch die Siedlung führt, für deren Aufbau bestimmend geworden, sodaß das Straßendorf immer mehr zum Typus werde.54 An Golenhofen und den drei Waldecker Anlagen ist das nachzuweisen: Die Dorfstraße ist ursächlich und bestimmend für die Lage und Ausrichtung der Gehöfte. Gleichzeitig wird beim Anblick der Dorfanlagen deutlich, daß keiner der beiden Architekten auf den zentralen Dorfplatz oder -anger verzichten will. Obwohl Fischer mit seinem Musterdorf Golenhofen ein lineares Straßendorf plant, legt er einen großen Dorfplatz an. Da dies bei vielen seiner Dorfgründungen in den Ostmarken nicht der Fall ist, gibt er in der Festschrift von 1911 dem Angerdorf vor anderen Dorfformen selbstkritisch den Vorzug: „Der Dorfanger ist das Herz, der Mittelpunkt der Siedlung. Hier steht die von altersher berühmte und besungene Dorflinde, unter der die Dorfältesten sich zu Rat und Gericht versammelten, unter der bei Hochzeiten und Volksfesten Tanz und Spiel der Jugend geübt wurde; hier stehen der Dorfbrunnen, das Spritzenhaus, das Gemeindebackhaus, hier ist auch der Platz für das Kriegerdenkmal. Die Kirche findet ihren Platz inmitten des Angers, sehr wirkungsvoll baut sie sich aber auch an einer der Schmalseiten auf. [...] Wenn es auch in der Regel nicht möglich sein wird, alle Gehöfte der neuen Siedlung an den Anger heranzurücken, so wird doch immer ein beträchtlicher Teil dort Platz finden und so zur Schaffung eines bedeutsamen Mittelpunktes der Siedlung beitragen können.“55 Besonders bei den Siedlungen Neu-Asel und Neu-Bringhausen schafft Meyer einen solchen Dorfanger, dem auch er große Bedeutung beimißt (Abb. 116, 120): „Der Eingriff des Architekten in die Grundstücksverteilung konnte sich auf geringe Verbesserungen städtebaulichen Charakters und in der Hauptsache auf die Schaffung eines gut gelegenen Dorfplatzes, einer günstigen Lage von Kirche und Schule und einem gut wirkenden Einbau der Bauten in die Grundstücke beschränken.“56 Damit präsentieren sich die Waldecker Dörfer als Anlagen, die die ehemaligen dörflichen Strukturen wiederherstellen wollen durch eine geschlossene Zusammenstellung der Gehöfte sowie durch eine Zusammenbindung aller Einzelteile um einen Dorfmittelpunkt herum, wie ihn auch ihre Vorläufer kannten. Die beiden Ausstellungsdörfer sind als neuzeitliche Musteranlagen für den modernen ländlichen Wohn- und Wirtschaftsbau bestimmt und unterliegen nicht den gleichen Sachzwängen wie die anderen Dörfer. Wenn auch der finanzielle Rahmen der Ausstellungen begrenzt ist, so können die Architekten auf den dafür vorgegebenen Freiflächen leichter mit ihren Dorfanlagen experimentieren. Das 1913 entstandene Dorf auf der IBA Leipzig beweist mit am eindrücklichsten, wieviel Bedeutung einem Dorfplatz zugemessen werden kann: Hier gruppieren sich alle Gebäude ring54 55 Vgl. Mielke 1910a, S. 105. Vgl. Fischer 1911, S. 23f. Das Dorf als städtebauliches Projekt 86 förmig um einen länglichen, begrünten Dorfanger. Um ihn legt sich die Dorfstraße, über die die Einzelbauten erschlossen werden (Abb. 167, 169, 170). Der Anger ist das Zentrum des Dorfes, dem alle Gebäude ihre Schauseite zuwenden – Kirche und Schule als wichtigste Gemeindebauten im Ort sind jedoch direkt im Anschluß daran an einem weiteren kleinen Platz, dem sogenannten Kirchweihplatz, plaziert (Abb. 171). Nur ein Eingang führt ins Dorf. Die Dorfanlage erinnert an die Form des Rundlings. Damit nimmt sich der Architekt Raymund Brachmann den Grundriß des 1897 an gleicher Stelle errichteten „Thüringischen Dorfes“ zum Vorbild.57 Auch hier waren die Gebäude um einen Dorfanger gruppiert, den ein runder Teich zierte. Es fragt sich jedoch, ob sich der Dorfgrundriß darüber hinaus im Sinne des Heimatschutzes auch auf regionaltypische Dorfformen bezieht. Immerhin ist der Architekt Raymund Brachmann Mitglied im „Bund deutscher Architekten“, der der Heimatschutzbewegung sehr nahe steht. Gleichzeitig ist der „Landesverein sächsischer Heimatschutz“ auf der IBA präsent – in einem eigenen Haus, gebaut von Baurat Karl Schmidt aus Dresden und versehen mit einem von Paul Schultze-Naumburg entworfenen „Ehrenraum“.58 Ein Dorf mit dem Anspruch, neuzeitlich zu sein, konnte entsprechend kaum an den Forderungen des Heimatschutzes nach regionaltypischer Bauweise vorbeigehen. Tatsächlich werden im Haus des Sächsischen Heimatschutzes die charakteristischsten Dorfformen Sachsens in Modellen eigens präsentiert. Der Leiter des Sächsischen Heimatschutzes F.L.K. Schmidt aus Dresden notiert dazu: „Die Schönheit, Einheitlichkeit und Eigenart unsrer Dörfer mit ihren malerischen, charaktervollen Bauten ist es, die, gleichviel, ob es sich um einen Rundling, ein Straßen-, ein Sackgassenoder um ein Reihendorf handelt, uns so eigenartig berührt, die uns mahnt, in der Einheitlichkeit der Hausformen, der Baustoffe, Farbe, ja sogar in der Stellung der Gebäude einen künstlerischen Wert und wirtschaftlichen Vorzug zu erblicken. [...] Als Vertreter der ältesten Form, des im Flachlande häufig auftretenden Rundlings, zeigt sich zunächst das nördlich von Leipzig, nahe der preußischen Grenze gelegene Dorf Gottscheina.“59 Die Beschäftigung mit den regionaltypischen Dorfformen Sachsens ist also auch in anderen Teilen der Ausstellung angestrebt. Die Arbeiten des Siedlungsgeographen Otto Schlüter von 1903: „Die Siedelungen im nordöstlichen Thüringen“ und die Arbeit von Alfred Henning: „Die Dorfformen Sachsens“ von 1912 decken ebenfalls auf, daß der Rundling in Sachsen und Thüringen häufig anzutreffen ist.60 Brachmann will also mit der Gestaltung seiner Dorfanlage offensichtlich an die althergebrachte Form des Rundlings erinnern und diesen für neuzeitliche 56 57 58 59 60 Vgl. Meyer 1923, S. 30. Den Auftrag für die Planung eines Dorfes in Anlehnung an das „Thüringer Dörfchen“ erhält er von der Direktion der Baufach-Ausstellung mit dem Hinweis, eine explizit neuzeitliche Anlage zu schaffen. Vgl. Leipziger Neue Nachrichten Nr. 344 v. 11.12.12 in: StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 24. Vgl. Schmidt 1913, S. 55. Vgl. ebd., S. 128. Vgl. Schlüter 1903, S. 298 und 302-306 sowie Henning 1912, S. 10-26. 87 Das Dorf als städtebauliches Projekt Dorfplanungen empfehlen. Seltsam mutet jedoch seine Beschreibung des Dorfes als neuzeitliche Dorferweiterung im Anschluß an ein thüringisch-sächsisches Dorf an.61 Zwar wird mit diesem Satz Brachmanns Wunsch deutlich, das Dorf als regionaltypisch zu charakterisieren. Ein in sich abgeschlossener Rundling mit zentralem Dorfplatz ist jedoch als Dorferweiterung schlecht vorstellbar. Im übrigen macht seine bewußt unregelmäßige Form einen eher altertümlichen als modernen Eindruck. Daß ein Rundling dagegen auch als betont neuzeitliche Siedlung geplant werden kann, beweist der Leipziger Stadtbaurat Hubert Ritter 16 Jahre später. Er schafft in den Jahren 1929/30 eine Siedlung bei Leipzig, die im Stil der Neuen Sachlichkeit als regelmäßiger Kreis aus drei konzentrisch bebauten Ringen um einen runden Platz gebildet wird. Ihr offizieller Name: Rundling Lößnig.62 Der Vorentwurf zum Neuen Niederrheinischen Dorf auf der Deutschen Werkbund-Ausstellung 1914, der im Mai 1913 entsteht, ähnelt dem des IBA-Dorfes – und auch wieder nicht. Der Entwurf, für den der Architekt Georg Metzendorf bis in die Planung der Einzelhäuser allein verantwortlich zeichnet, stellt einen ebenso geschlossenen Grundriß vor, bei dem die Gehöfte um einen großen Dorfplatz sowie um einen kleineren Kirchplatz herum angelegt sind (Abb. 194). Die Plätze bilden auch hier Zentrum und Leitlinie für die Plazierung der Gebäude, wobei die wichtigsten Gemeindebauten im Dorf, Kirche und Jugendhalle, besonders ausgezeichnet sind. Sie liegen in der Dorfmitte und trennen die beiden Plätze und damit auch die Gehöfte und Arbeiterhäuser voneinander. Das Dorf ist wie das in Leipzig nur über einen Zugang zu betreten. Im Gegensatz zum IBA-Dorf allerdings herrscht hier ein sehr regelmäßiger, fast durchweg achsensymmetrischer Grundriß vor. Während das IBA-Dorf mit betont abgerundeten und unregelmäßigen Formen den Eindruck einer organischen, ja gewachsenen Siedlung hinterlassen will, ist dieses durch strenge rechte Winkel von Plätzen, Gebäuden und Gärten sowie durch die axiale Gegenüberstellung von Höfen und Häusern bestimmt. Die Bauzeitung folgert, daß die Anlage im Sinne „eines auf unbebautem ebenen Gelände neu entstandenen Mischdorfes mit einer gewissen Strenge“ entworfen sei, „um anzudeuten, daß es sich nicht um ein reines Bauerndorf handelt“. Stattdessen solle ein neuer Typus des niederrheinischen Dorfes geschaffen werden, „in dem sich ländliches und industrielles Wesen gleichsam versöhnt haben.“63 Das ist wohl auch der Grund, warum das Dorf, obwohl es haufendorfförmige 61 62 63 Vgl. Brachmann 1913, S. V. Zum Rundling Lößnig vgl.: Dehio, Georg: Handbuch der Kunstdenkmäler, Sachsen II, Regierungsbezirk Leipzig und Chemnitz. Bearb. v. Barbara Bechter, Wiebke Fastenrath, Heinrich Magirius u.a. Berlin 1998, S. 592-594. Von der Deutschen Werkbund-Ausstellung Köln 1914, 1913, S. 678. Das Dorf als städtebauliches Projekt 88 Züge hat, nicht ohne weiteres mit einer traditionellen Dorfform verglichen werden kann. Zu deutlich ist die Anlage als einheitlich entstandene Gesamtplanung herausgestellt. Dem schließlich ausgeführten Entwurf merkt man seine Heterogenität auch im Grundriß an. Metzendorf muß – sicherlich unwillig – seine Gesamtplanung mit den Einzelentwürfen von 12 Architektenbüros in Einklang bringen, sodaß von der ursprünglich einheitlichen Konzeption nicht mehr viel übrig bleibt. Die Anlage wirkt nun weniger als dörfliche Einheit als vielmehr wie eine Ausstellung vieler Einzelbauten. Nur der rechteckige Dorfplatz und die Gaststätte als Kopfbau übernimmt Metzendorf von seinem ersten Entwurf (Abb. 198). Das Dorf ist nicht mehr in sich geschlossen, sondern öffnet sich über die beiden Dorfwege bewußt den Ausstellungswegen und damit der gesamten Ausstellung (Abb. 195). Damit kann es nun auch wie das IBA-Dorf vom Besucher in einer Runde durchlaufen werden. Es ist auch nicht mehr wie der Vorentwurf in einen ländlichen und einen industriellen Bereich getrennt, sondern mischt Arbeiterhäuser und Gehöfte miteinander. Metzendorf, an die Gesamtplanung von Siedlungen gewöhnt, ist durch den Bau der vielen Individualarchitekturen nicht mehr in der Lage, sein stringentes Konzept durchzuhalten. Offensichtlich ist, daß das Dorf keiner niederrheinischen Dorfform direkt nachgebildet ist. Zwar ist es, wie am Niederrhein durchaus üblich, haufenförmig angelegt,64 doch manifestieren sich hier Metzendorfs Forderungen an eine neue Form von Mischdörfern. Das Konzept ist nach wie vor geometrisch, die Straßen werden linear geführt, der rechte Winkel bestimmt die Anlage. Hinsichtlich ihrer Regelmäßigkeit scheinen Metzendorfs Entwürfe bewußt einen Gegenpol zum ein Jahr vorher entstandenen IBA-Dorf zu bilden: Letzteres wird zwar vom Heimatschutz ausdrücklich gelobt, da es „den Tausenden der großstädtischen Besucher die künstlerische Geschlossenheit einer deutschen Dorfaue sinnfällig vor Augen stellt, weil sie dem Städter, dem die stillen Reize unserer Dorfbilder fremd geworden sind, die Augen öffnen soll für die schlichte Schönheit unserer ländlichen Bauweise.“65 Trotzdem veranschaulicht das Zitat, daß das Dorf eher in der Tradition der „Ethnographischen Dörfer“ des 19. Jahrhunderts steht (Katalog, S. 147-149), während das Neue Niederrheinische Dorf eher einen Beitrag zum modernen Dorfbau zu leisten imstande ist. 1.1.2. Bebauungspläne „Und endlich finden wir in jüngerer Zeit auch ein überraschendes Streben nach architektonischer Schönheit. Sowohl in den Bebauungsplänen als auch in der Gruppierung der Häuser und in der bescheidenen aber ansprechenden Art ihrer äußeren Gestaltung zeigt sich ein künstlerisches Empfinden, das erziehlich auf die ganze Umgebung und Lebenshaltung wirkt.“66 64 65 66 Vgl. z.B. Ellenberg 1990, S. 168, 170. Winter 1913c, S. 25. Venitz 1913, S. 3. 89 Das Dorf als städtebauliches Projekt Alle Heimatschutz-Theoretiker weisen wiederholt auf die zentrale Bedeutung von künstlerisch motivierten Bebauungsplänen hin: „Ein Bebauungsplan, der schematisch am grünen Tisch entstanden ist, kann die besten Absichten, die im Einzelbau durchgeführt werden, vereiteln.“67 Wie Sitte glauben sie, daß ein Städtebauer ein Künstler sein müsse, der den Blick immer auf das Ganze gerichtet hält. Die Stellung der Häuser zueinander und zur Straße müßte im Gesamtplan genau durchdacht sein, damit eine harmonische und malerische Wirkung erzielt wird.68 Besonders Richard Hinz weist darauf hin, wie notwendig großflächige Bebauungspläne gerade für Bauerndörfer seien, obwohl diese selten, nämlich meist nur z.B. im Falle eines Brandes, aufgestellt werden müßten. Er betont, daß die Bebauungspläne in einem solchen Fall von Sachverständigen und nicht bloß von der Gemeindevertretung entworfen werden sollten, „also wiederum einer unteren Verwaltungsbehörde, der jegliches Verständnis für die Beeinflussung des Bebauungsplanes in schönheitlicher Beziehung abgeht“.69 Hermann Hecker kritisiert übergreifende Schemata von Bebauungsplänen, die für die Regulierung einer Altstadt und die Erweiterung eines Dorfes dieselben Maßstäbe ansetzen. Er fordert eine Differenzierung der Pläne je nach Region, Klima, Geographie, Beziehungen zur Nachbargemeinde, Lage der Verkehrslinien usw. – argumentiert also, wie die Heimatschützer, für eine individuelle Beurteilung der Situation.70 Für Neuplanungen könne eine „harmonische“ Gestaltung nicht durch reguläre Schemata, sondern nur durch Asymmetrien im Grundriß des Ortsbildes erreicht werden.71 In geschlossen gebauten Orten, wie der Stadt, habe die Bauflucht zwar ihre Berechtigung. In offen bebauten Dörfern sollten diese Gleichmäßigkeiten jedoch gerade vermieden werden, um das „militärische“ Einpassen in die Bauflucht zu verhindern und Belebung in die Straßen zu bringen:72 „Rücksprünge gegen die Fluchtlinie, Vorgärten soll man dann, wenn eine künstlerische Ausbildung der anschließenden geschlossenen Straßenteile gewährleistet ist, unter allen Umständen zulassen.“73 Das Beispiel Böhmenkirch zeigt jedoch, daß hier die Baufluchtlinie als feste Leitlinie begriffen wird.74 Die zuständigen Planer, Bauinspektor Frost und der Landestechniker für das 67 68 69 70 71 72 73 74 Lux 1911, S. 86. Vgl. z.B. Schultze-Naumburg 1909b, S. 4 und 22f oder Venitz 1913, S. 1. Vgl. Hinz 1911, S. 34f. Vgl. Hecker 1909, S. 15, 54 und 80f. Vgl. ebd., S. 27 und 48f. Vgl. Hinz 1911, S. 37f und Schultze-Naumburg 1909b, S. 282. Hecker 1909, S. 56. Mielke 1910a, S. 142 plädiert ebenfalls für kleine Verschiedenheiten im Straßenbild: „Ob die Gehöftfluchtlinie gerade oder gekrümmt ist, ob sie durch geschlossene oder offene Bauweise bewirkt, ob sie eine einzige Linie oder durch Vor- und Zurücktreten der Höfe eine gebrochene Linie zeigt, alles dies wird die Gestaltungsmöglichkeiten bedeutend vermehren.“ Die Abstände zwischen den Baufluchtlinien betragen an der Vorderen Gasse 17,50 Meter und in den Seitenstraßen 11 Meter. Das Dorf als städtebauliches Projekt 90 landwirtschaftliche Bauwesen Friz, streben eine solche Auflockerung der Bauflucht nicht an. Alle Gebäude stehen exakt auf der Baulinie und entsprechend nahe an der Straße. Nur einige wenige Gehöfte, etwa an der Brommgasse, sind leicht zurückversetzt, sodaß Platz für einen kleinen Vorgarten bleibt (Abb. 64). Dem Wunsch der Heimatschützer nach Dörfern, die ihren Reiz durch Vor- und Rücksprung der Bauten an der Fluchtlinie gewinnen, ist hier also nicht entsprochen worden. Ein Grund dafür könnte sein, daß die abgebrannten und alle anderen Gebäude im Dorf ebenfalls direkt an die Straße gerückt sind und man sich dieser städtebaulichen Tradition anschließen wollte. Umso interessanter ist es, daß besonders regelmäßig angelegte Dörfer, deren planmäßige Gestalt demonstrativ nach außen getragen wird, sich zu diesem liberalen Umgang mit der Bauflucht bekennen. Architekt Paul Fischer z.B. legt im Jahre 1911 großen Wert darauf, daß ein künstlerisch gebildeter Architekt bei der Plananlage eines Dorfes entscheidend mitwirke und sich nicht durch die Einhaltung überflüssiger Fluchtlinien beschränken lasse.75 Das Straßendorf Golenhofen fädelt zwar alle Gehöfte der Reihe nach an der Straße entlang auf, hält deren Entfernung zur Straße jedoch variabel (Abb. 2). Während an der Kreuzung alle Gebäude eng an der Bauflucht liegen, bleibt den meisten anderen Gebäuden mehr oder weniger viel Platz für einen Vorgarten. Ebenso ist das Neue Niederrheinische Dorf gestaltet (Abb. 195). Während die Gebäude am Marktplatz direkt auf der Bauflucht liegen, diese Fläche scharf umgrenzend, sind einige Arbeiterhäuser sowie Café oder Weingasthaus bewußt in der Bauflucht zurückgesetzt. Das kleine Gehöft ist sogar noch weiter aus der Flucht zurückgerückt, um Platz für einen Wirtschaftshof zu lassen. Die Baumreihe davor zeichnet die Baufluchtlinie nach und grenzt den Hof zur Straße ab. Die Schmiede ist dagegen mit ihrem Vorbau über die Fluchtlinie hinaus in die Straße gezogen. Diese Freiheit, so Hinz, sei für ländliche Verhältnisse durchaus angebracht, da das Ortsbild „gerade durch eine wechselnde Stellung der Gebäude zur Straße und zur Bauflucht einen gewissen Reiz bekommt, auf den man nicht so leichten Herzens verzichten sollte.“76 Bei dem IBA-Dorf ist bewußt auf eine Bauflucht verzichtet worden, um den Eindruck einer gewachsenen Anlage zu verstärken. In den waldeckischen Dörfern sind die Gehöfte zwar in etwa den gleichen Abständen zur Bauflucht plaziert.77 Sie sind jedoch im Vergleich zu Böhmenkirch alle von der Bauflucht zurückgesetzt, um diese strenge Linie abzumildern und Platz für Vorgärten zu schaffen (Abb. 104, 105, 108). Solche Vorgärten wirkten, so Mielke, als auflockerndes Hindernis für die 75 76 77 Vgl. Fischer 1911, S. 23. Hinz 1911, S. 39. Hier betragen die Abstände zwischen den Baufluchtlinien etwa 12 Meter. 91 Das Dorf als städtebauliches Projekt strenge Baufluchtlinie. Einzig die Straßenflucht würde dadurch noch als Linie erscheinen78 – so wie es in den drei Waldecker Dörfern und Golenhofen der Fall ist. Schultze-Naumburg als Vertreter eines „malerischen“ Städtebaus beklagt, daß eine Straßenflucht früher durch Mauern, Torwege, Höfe und nebengelagerte Plätze ein „reichgegliedertes Bild“ ergeben hätte, während heute nur noch „Langeweile“ und „Armseligkeit“ vorherrsche.79 Damit empfiehlt er auch für den modernen Städte- und Dorfbau eine Belebung des Ortsplanes durch Unregelmäßigkeiten, Vor- und Rücksprünge der Straßenflucht, das Vorziehen von Eckhäusern als abschließenden Prospekt etc.80 Wiederum soll hier also das historisch gewachsene Dorf als Vorbild für moderne Dorfplanungen dienen, die sich damit bruchlos in das ländliche Bild einzufügen haben. Augenscheinlich ist es einzig das IBA-Dorf, das malerische Asymmetrien, wie sie vor allem Schultze-Naumburg propagiert, in die Gesamtplanung aufnimmt (Abb. 169, 170). Dazu gehören die unregelmäßige Umbauung des Angers, der unregelmäßig breite Dorfweg, die Nebenlagerung des Kirchweihplatzes und die vor- oder zurückspringenden Ecken der Dorfgebäude (z.B. der Schmiede, des abgerundeten Wirtschaftsgebäudes oder des Gasthoferkers). In einer Bauzeitschrift wird es sehr bezeichnend als „friedliches Idyll eines Dörfchens“ charakterisiert.81 Gegenüber Schultze-Naumburg vertritt Hermann Hecker dagegen einen weitaus rationaleren Standpunkt. Er glaubt, daß man im Siedlungsbau nicht immer den Plan einer malerischen Altstadt zum Vorbild nehmen dürfe: „Man wird sich vielmehr ängstlich davor hüten, in den Bebauungsplan irgend welche künstlerische Kompliziertheiten hineinzubringen, die eventuell das ganze Projekt zu Fall bringen können. Man wird sich davor hüten, malerische Verengungen, Torbogen und dergleichen vorzusehen an Stellen, an denen man nachher keinen Einfluß mehr hat auf die tatsächliche Verwirklichung des ursprünglich Gewollten.“82 Er plädiert dafür, weiträumig zu projektieren, zwischen die Häuserreihen Licht und Luft zu lassen, Höfe und Gärten zu planen. Diese Forderung nach genügend Licht und Luft entspringt den Hygiene-Vorstellungen der Zeit, die besonders auf die miserable Wohnsituation in den Mietshäusern der Städte angewendet werden. Dazu gehört ein genügender Abstand zwischen den Häusern und Häuserreihen, wie ihn vor allem Reinhard Baumeister propagiert.83 Diese Forderungen verbreiten sich jedoch langsam auch auf das Land. 78 79 80 81 82 83 Vgl. Mielke 1910a, S. 141 und 155f. Vgl. Schultze-Naumburg 1909a, S. 52. Vgl. hierzu Schultze-Naumburg 1909b, S. 279-294. Von der IBA in Leipzig, Teil 4, 1913, S. 441. Hecker 1909, S. 52. Vgl. Rodenstein 1988, S. 117. Das Dorf als städtebauliches Projekt 92 Das gewachsene Dorf bleibt jedoch Vorbild: Bei der Aufschließung von Neuland „lasse man sich lieber von einem malerisch-horizontalen Schönheitsideal leiten und man suche sich künstlerische Anregungen hierfür lieber in den weit sich hinstreckenden Dörfern der deutschen Ebene, als in engen, malerischen Felsennestern.“84 Trotz aller künstlerischen Überlegungen steht bei den untersuchten Dörfern die schlichte Zweckhaftigkeit der städtebaulichen Grundsituation an erster Stelle, wobei künstlerische Volten in Heckers Sinne schon allein aus finanziellen Gründen vermieden werden sollen. Größter Wert wird darauf gelegt, die Gebäude in gehörigem Abstand voneinander zu errichten. Das empfehlen auch die Bauhandbücher der Zeit: „Bei der Anlage ganzer Dörfer ist es ratsam, die Gebäude der einzelnen Gehöfte nicht zu eng aneinander zu legen. Genügende Abstände schützen sehr gegen Feuersgefahr, zumal, wenn die Zwischenräume mit Bäumen bestanden sind, also zu Obstbaumgärten ausgenutzt werden. Außerdem macht ein solches Dorf einen viel freundlicheren Eindruck, als wenn die Häuser wie am Schnürchen aufgezogen dicht nebeneinander stehen.“85 Vor der gesundheitlichen Schädigung durch zu eng aneinandergebaute Gehöfte wird immer wieder gewarnt.86 So sollte selbst für den Kleinbauern, so der Kasseler Architekt der landwirtschaftlichen Baukunst Alfred Schubert, ein Bauplatz nicht unter 30 Meter in jeder Richtung messen. Nur so könne genügend Licht und Luft, der nötige Verkehrsraum sowie genügend Feuersicherheit gewährleistet werden. Außerdem sei damit eine spätere Erweiterung der Gebäude möglich.87 Die Diskussion über die vorteilhafteste Stellenbreite wird auch bei der Planung von Golenhofen geführt. Nachdem man anfänglich jede Stelle auf durchschnittlich 25 bis 30 Meter Breite berechnet hatte, kritisiert ein Ökonomierat der Ansiedlungskommission, daß die Hofstellen dadurch zu eng würden: Es sei unmöglich, selbst nur einen kleinen Blumengarten anzulegen oder einen Baum neben dem Haus zu pflanzen. Man müßte mindestens auf 35 bis 40 Meter gehen, „was namentlich für die nach dem Ende des Dorfes zu liegenden Gehöfte auch im architektonischen Interesse bedenklich sein dürfte“.88 Trotz dieser städtebaulichen Kritik werden die Grundstücksbreiten letztlich mit durchschnittlich 40 Meter angelegt.89 In Neu-Berich beträgt der Zwischenraum zwischen den Gehöften jeweils 12 Meter, Eigentümer großer Höfe erhalten eine Baufront von 50 Meter, die sich bis zum kleinen Hand- 84 85 86 87 88 89 Hecker 1909, S. 53. Wagner 1907, S. 29. Vgl. z.B. Hinz 1911, S. 47. Vgl. Schubert 1910, S. 3. Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3385, Bl. 2. Vgl. dazu die Lageskizzen der Versicherungsakten im Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3386, Bl. 10-111. 93 Das Dorf als städtebauliches Projekt werker- und Tagelöhnerhaus auf 25 Meter abstuft.90 In den anderen Waldecker Dörfern verhält es sich ähnlich, je nachdem wie die Bauten zur Straße gestellt sind. Die Bauplätze sind jeweils doppelt, in Neu-Berich sogar etwa dreimal so lang wie breit – weiträumig genug also, um ausreichend Licht und Luft heranzulassen. Im Gegensatz zu den vormalig sehr eng bebauten Dörfern im Edertal sind diese bewußt im Sinne neuzeitlicher hygienischer Vorstellungen angelegt. Zwischen allen Gehöften der Dörfer bleibt genug Platz, um die Zwischenräume mit Obstbäumen zu bepflanzen. Das entspricht auch den Vorstellungen der Heimatschützer, wie z.B. dem Architekten Philipp Kahm.91 Neben dem Nutzaspekt soll die Bepflanzung von Dörfern auch dazu beitragen, die enge Verbindung des Dorfes mit der umgebenden Landschaft zu betonen. Im Dorf Böhmenkirch ist die städtebauliche Situation sehr viel schwieriger. In eine vorhandene Bebauung müssen größere Gehöfte eingepaßt werden. Infolge des früheren „engen Zusammenbaus des ganzen Gebäudekomplexes, der so kleinen Gebäude sowie der beschränkten wirtschaftlichen Anwesen“ wird nun Wert darauf gelegt, „auch für spätere Zeiten ein dem ganzen Orte und dessen Lage anpassendes, landschaftlich schönes Bild zu gewinnen“.92 Auch hier also steht der neuzeitliche Anspruch nach Licht und Luft an erster Stelle, zudem soll „auf eine den Anforderungen der Feuersicherheit genügende weiträumige Bebauungsweise besonderer Bedacht“ genommen werden.93 Durch den Wegzug einzelner Bewohner kann der zerstörte Ortsteil zwar großräumiger angelegt werden. Die Baufläche bleibt trotzdem beschränkt: Besonders entlang der Vorderen Gasse liegen die Zwischenräume der Häuser bei nur durchschnittlich 4 Meter, während in der lockerer bebauten Friedhofstraße oder in Teilen der Brommgasse durchschnittlich 14 Meter Zwischenraum zwischen den Gehöften zu messen sind. W. Pinkemeyer glaubt, eine allgemeine Verschlechterung der ländlichen Bauweise zu bemerken, da sie eine auf städtischem Vorbild beruhende Reihenbauweise entwickelt habe, die die bäuerlichen Traditionen außer Acht lasse: „Diese [die Bauern; d.Verf.] umgaben ihre Hofbauten mit Gärten; so berichten uns die überlieferten Schriften“.94 Das dies nicht stimmt, beweist uns neben vielen anderen ländlichen Beispielen das Dorf Böhmenkirch auf der Schwäbischen Alb, wo sich die kleinen Gehöfte aufgrund des rauhen Klimas in einer Reihe entlang der Straße aneinanderkauern. Hinz gibt zwar zu, daß eine solch geschlossene Bebauung „hier 90 91 92 93 94 Vgl. Staatsarchiv Marburg (im folgenden abgekürzt: StA Marburg), Best. 607, Nr. 272, Bl. 72. Vgl. Kahm 1914, S. 41. Vgl. Gemeindearchiv Böhmenkirch (im folgenden mit GA Böhmenkirch abgekürzt), B35, S. 45. Vgl. Hauptstaatsarchiv Stuttgart (im folgenden StA Stuttgart abgekürzt), E 151/07, Bü. 492, Nr. 86, S. 6. Vgl. Pinkemeyer 1910, S. 45. Das Dorf als städtebauliches Projekt 94 und da wohl einmal durch die Verhältnisse gefördert und bedingt sein“ könne. Trotzdem glaubt auch er, sie widerspräche dem „Dorfcharakter, denn sie hat etwas städtisches an sich, das uns fremd und daher an dieser Stelle unschön anmutet“.95 Immer wieder wird das Dorf als Gegenpol zur alles nivellierenden Stadt beschrieben, die städtische Bauweise sogar als Bedrohung für die ländliche Architektur erklärt. Das Ideal der Heimatschützer im Dorf ist das freistehende Kleinhaus oder Gehöft, umgeben von Grünflächen.96 Es soll jedoch keine kahlen Mauern erhalten, sondern von allen Seiten ästhetisch genossen werden können.97 Während in Böhmenkirch der Platz nur für rückwärtig gelegene Nutzgärten ausreicht, sind in Golenhofen und den Waldecker Dörfern rund um die Gebäude Zier-, Nutz- und Obstgärten angelegt.98 Selbst in den Ausstellungsdörfern wird besonderer Wert auf die Umrahmung der Gehöfte durch Gärten, Baum- und Strauchpflanzungen gelegt, um den ländlichen Charakter der Anlagen zu betonen. „Auf dem Lande ist Platz für alle. Es ist daher notwendig, daß mit allen Kräften daran gearbeitet wird, dem Landmann wieder zu seinem freistehenden Wohnhause zu verhelfen.“99 Während alle Dörfer diesem Aufruf Pinkemeyer zu folgen scheinen, bildet wieder Böhmenkirch mit einigen Gehöften die Ausnahme. Die Höfe Biegert/Ritz in der Vorderen Gasse, Biegert/Vetter in der Ledergasse und Ziegler/Schielein in der Friedhofstraße sind Doppelhäuser, d.h. jeweils giebelseitig aneinandergebaut und traufseitig zur Straße gestellt (Abb. 90-92, 9799). Wiewohl die meisten Bauern aufgrund einer geräumigeren Wirtschaftsweise freistehende Gehöfte erhalten haben, scheinen die Architekten doch mit wenigen Gehöften ästhetisch und strukturell an die dörfliche Tradition der aneinandergebauten Gehöfte erinnern zu wollen. Vielleicht haben sich auch die Bewohner selbst dazu entschlossen, wieder mit ihren alten Nachbarn Wand an Wand zu leben. Eine weitere Ausnahme von der „Einzelhaus“-Regel bilden auch die Arbeiterhäuser in den verschiedenen Dörfern. Während das Tagelöhnerhaus in Neu-Berich nur für eine Familie geplant ist (Abb. 142, 143), sind die Arbeiterhäuser in Golenhofen als Doppelhäuser ausgebildet (Abb. 54-62), und auch im niederrheinischen Dorf sind Einzel-, ein Doppel- und sogar ein Gruppenarbeiterwohnhaus für drei Familien errichtet (Abb. 227-237). 95 96 97 98 99 Vgl. Hinz 1911, S. 41-43. Auch Venitz bevorzugt das freistehende Kleinhaus mit Garten und beruft sich dabei auf das Vorbild Englands. Vgl. Venitz 1913, S. 5. Vgl. Mielke 1910a, S. 123f und 126. Vgl. zum Dorf Neu-Berich Meyer 1923, S. 34. Pinkemeyer 1910, S. 46. 95 Das Dorf als städtebauliches Projekt Die Positionierung der Gehöfte und Arbeiterhäuser im Dorf wird ganz unterschiedlich gehandhabt. „Zwischen den Bauernhäusern liegt eine Anzahl kleinerer, aber gleichfalls hübscher Arbeiterhäuser“100, so der Teilungsplan für die Ansiedlung Golenhofen. Tatsächlich sind die wenigen Arbeiterhäuser hier gleichmäßig und ebenbürtig unter die Bauerngehöfte gemischt, ohne sich von ihnen wesentlich zu unterscheiden. Da die Innere Kolonisation in Posen die ländliche Arbeiterschaft sowie das kleine und mittlere Bauerntum gegen den Großgrundbesitz stärken und zusammenschweißen will, wird hier also eine Gleichberechtigung der sozialen Gruppen auch in städtebaulicher Hinsicht angestrebt. Im Vorentwurf zum Neuen Niederrheinischen Dorf ist die Ausgangssituation eine andere. Hier werden die Häuser der Arbeiterschaft von denen der Landwirte säuberlich getrennt – Kirche und Jugendhalle im Zentrum des Dorfes separieren die beiden Gruppen. Da das Dorf einen Lösungsvorschlag für das aktuelle Problem einer gemischten ländlich-industriellen Bevölkerung am Niederrhein bieten soll, scheint Metzendorfs Entwurf in dieser Beziehung unbefriedigend (Abb. 194). Im ausgeführten Entwurf sind dagegen Arbeiterhäuser und Gehöfte in gemischter Bauweise nebeneinander plaziert. Ein Arbeitergruppenwohnhaus und das Große Gehöft erhalten sogar benachbarte Plätze direkt am Marktplatz (Abb. 195). Hier erst erfüllt sich, was die Deutsche Bauzeitung formuliert: Sie spricht von „Mischdörfern“, die gegenwärtig am Niederrhein vermehrt entstünden: „Hier gilt es nun einzugreifen und einen neuen Typus des niederrheinischen Dorfes zu schaffen, in dem sich ländliches und industrielles Wesen gleichsam versöhnt haben.“101 Erst in Metzendorfs ausgeführter Dorfanlage ist eine Versöhnung zwischen Landwirtschaft und Industrie erreicht. In Waldeck lassen sich in den Dörfern Neu-Asel und Neu-Bringhausen vornehmlich kleinere Landwirte, Handwerker und Landarbeiter nieder. Diese werden im Dorf gemischt verteilt. Die Siedlung Neu-Berich empfindet der planende Architekt als „umfangreichste und schwierigste Aufgabe“, da hier die neun größten Landwirte sowie sechs Handwerker und ein Tagelöhner untergebracht werden müssen (Abb. 104). Er kommentiert: „Die Verteilung der Gehöfte erfolgte derart, daß die größeren am Eingang des Dorfes, in seinem unteren Teil erbaut wurden, während die Handwerker und kleineren Ansiedler im oberen Teile des Dorfes angesiedelt wurden. Den Anfang macht das besonders stattliche Gehöft des Bürgermeisters...“102 Hier findet also eine ästhetische und damit auch eine soziale Segregation statt, die die ständischen Verhältnisse auf dem Dorf nicht aufbricht, sondern städtebaulich fixiert. 100 101 102 Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3385, Bl. 103. Vgl. Von der Deutschen Werkbund-Ausstellung Köln 1914, 1913, S. 678. Meyer 1923, S. 33. Das Dorf als städtebauliches Projekt 96 Während sich die Architekten bei der Anlage der Straßenzüge an die alten Wegeführungen anlehnen müssen, können sie die Zusammenstellung der Gebäude auf den Grundstücken frei bestimmen. Ob die Gehöfte nun als Einhaus oder Wohnstallhaus geplant sind, ob sie als zusammengebaute Dreiseithöfe oder mit freistehenden Wohnhäusern, Ställen und Scheunen gebaut werden: Die Architekten legen viel Wert darauf, das Gesamtbild der Dörfer vielfältig und lebendig wirken zu lassen. Damit entsprechen sie auch den Vorstellungen der Heimatschützer, die gerade in ländlichen Siedlungen ein städtebaulich ungezwungenes Bild propagieren: „Was [...] durch Vorschieben, Zurücktreten oder einen Wechsel von Lang- und Giebelfront an künstlerischer Wirkung erreicht werden kann, das erzielt in anderer Weise ein Auseinanderrücken der Häuser. In solchem Falle sucht das Auge niemals die Schauseite, sondern zugleich eine der Nebenseiten, die durch Licht- oder Schattenwirkung die Plastik des Schaubildes steigert.“103 In Neu-Asel und Neu-Bringhausen sind die Gehöfte meist Einhäuser, die traufständig zur Straße gestellt werden (Abb. 105, 108). Trotzdem legt der Architekt Meyer immer wieder Gehöfte auch giebelständig an wie in Neu-Bringhausen bzw., wie in Neu-Asel, hakenförmig oder als Dreiseithof. Besonders Neu-Berich zeichnet sich durch seine abwechslungsreiche Bebauung aus. Ein Beobachter notiert: „Bei dem einen Gehöft liegen darum alle Räume unter einem Dach, während bei dem andern Wohnhaus, Scheune und Stall getrennt sind. Dabei kann von Einförmigkeit keine Rede sein. Nach künstlerischen Grundsätzen ist die Straßenführung und Gruppierung um das erstehende Kirchlein angeordnet.“104 Bei den großen Gehöften am Ortseingang sind zwar immer die Wohnhäuser giebelseitig zur Straße gerückt. Meyer hat sich jedoch gerade in seinem Musterdorf explizit um „freundliche“ und „abwechselungsreiche“ Straßenbilder bemüht.105 Unterschiedlich zueinander und zur Straße gestellte Wohnhäuser, Höfe und Ställe ebenso wie die Mischung von trauf- und giebelständig plazierten Bauten ergeben ein aufgelockertes und zwangloses Gesamtbild. Meyer schreibt selbst: „Besondere Schwierigkeiten erwuchsen bei der Orientierung der Gehöfte am nördlichen Dorfeingang, da hier vier nahezu gleiche Gehöfte nebeneinander stehen. Soweit es sich irgend erreichen ließ, sind die Wohnhäuser gegen die Stallgebäude etwas zurückgesetzt, sodaß sich Gegensichten bilden und die Gebäude nicht nach der Schnur ausgerichtet parallel zu Straße stehen. [...] Anziehende Durchblicke bilden sich im oberen südlichen Teil des Dorfes, in dem die kleinen oder unter einem Dach erbauten Gehöfte untergebracht sind. Hier wechseln die Bilder oft und bieten eine Fülle malerischer Durchblicke und Gegensichten.“106 Auch in Böhmenkirch, wo die Einhäuser aus Platzgründen in der Regel giebelständig zur Straße stehen, wird ein gleichförmiges Bild dadurch vermieden, daß manche Gehöfte trauf103 104 105 106 Mielke 1910a, S. 108. Völker 1913, S. 16. Meyer 1913, S. 85. Meyer 1913, S. 85. 97 Das Dorf als städtebauliches Projekt ständig zur Straße gestellt oder hakenförmig um einen kleinen Hofraum angelegt sind (Abb. 64). In Golenhofen werden die Gebäude eines Gehöftes ebenfalls in unterschiedlichen Stellungen und Abständen zueinander angelegt, wobei die Wohnhäuser, die immer direkt an der Straße zu liegen kommen, giebel- oder traufseitig dazu positioniert sind und trotz der geraden Straße ein städtebaulich abwechslungsreiches Bild ergeben (Abb. 2). Obwohl die Ausstellungsdörfer nur sehr klein und die Gefahren einer städtebaulichen „Einförmigkeit“ zu vernachlässigen ist, positionieren die Architekten ihre Gehöfte in verschiedenen Stellungen zur Straße. Wo im Neuen Niederrheinischen Dorf z.B. die großen Gebäude traufseitig zur Straße stehen, sind es die kleinen Arbeiterhäuser von Camillo Friedrich und Otto Müller-Jena, die durch ihre wechselnde Stellung zur Straße für ein vielfältiges Bild sorgen (Abb.195). 1.1.3. Plätze und Straßen „Denn was hier alles fiel, Und was dann neu erstand, Es war natürlich freies Spiel, Erstarrt im kahlen Nutzgewand.“107 Trotz ihrer städtebaulichen Unterschiede ist den sieben Dörfern die Anlage von zentral liegenden Plätzen gemein, die das Zentrum dörflichen Lebens bilden sollen. Ob angerförmig angelegt wie beim IBA-Dorf, in Neu-Berich oder Neu-Bringhausen, ob rechteckig wie in Golenhofen und dem niederrheinischen Dorf oder durch die Kreuzung von zwei Straßen entstanden wie in Neu-Asel: Die Plätze werden als integraler Bestandteil des Dorfes gesehen und sind dementsprechend immer umgeben von den dörflichen Gemeinschaftsbauten wie Kirche, Schule, Gaststätte, Gemeindehaus oder Schmiede. Gleichzeitig ist es der Platz für den gemeinschaftlichen Dorfbrunnen, wie in Golenhofen oder dem Niederrheinischen Dorf. Hier sollen sich die Dorfbewohner treffen, um gemeinsam zu arbeiten, zu feiern, sich zu erholen oder dörfliche Angelegenheiten zu besprechen. Der Dorfplatz soll die neuen Siedler zu einer Gemeinschaft verschweißen, was besonders in Golenhofen mit seinen neu zugezogenen Bauern eine wichtige sozialpolitische Funktion erfüllt. Die Siedler sollen ein Zusammengehörigkeitsgefühl als Deutsche entwickeln und von der Kontaktaufnahme mit der polnischen Bevölkerung abgehalten werden. Aber auch den anderen Dörfern soll durch den zentralen Platz ein neuer dörflicher Treffpunkt gegeben werden, der die bäuerliche Gemeinschaft zusammenführt und einen auch symbolischen Mittelpunkt bildet: 107 Hempel 1918, S. 2. Das Dorf als städtebauliches Projekt 98 „Der Anger ist der Ausdruck des sozialen und politischen Gemeinsinns, wie es die Flur in wirtschaftlicher Hinsicht ist. Darum hat man früher nur die Kirche und allenfalls das Hirtenhaus geduldet, [...] während heute auch Schule, Schmiede und selbst der Gasthof auf ihm errichtet werden.“108 Im IBA-Dorf ist der Anger jedoch nicht von Gebäuden besetzt oder wie im 1897 errichteten thüringisch-sächsischen Vorläuferdorf als Teich gestaltet, sondern als von Büschen und Bäumen bestandene Grünfläche. Wie die offizielle Zeichnung im Katalog nahelegt, soll das Dorf trotz seiner faktisch städtischen Umgebung dadurch noch mehr in die Natur eingebettet wirken und das spezifisch Ländliche des Dorfes betonen (Abb. 167). Auch in städtebaulicher Hinsicht bildet der Dorfplatz das Zentrum der sieben Orte, denn auf ihn fluchten jeweils alle Dorfstraßen zu. Er ist der Knotenpunkt, der Straßen und Gehöfte zu einer geschlossenen Einheit zusammenfaßt. Die Straßen führen dabei in den meisten Orten auf einen am Dorfplatz gelegenen Zielpunkt zu. Schwindrazheim beschreibt diesen künstlerischen Kniff anhand hessischer Dörfer. „Monumental“ und „feierlich“ wirkten Straßen mit besonderem Zielpunkt, „sei’s daß eine Kirche, eine Bergkuppe, eine Burg oder ein Schloß, ein Rathaus oder sonstiges hervorstehendes Haus, vielleicht auch eine stattliche Baumgruppe, ein Denkmal oder dergleichen da sich befinden, wohin die Linien der Straßen weisen.“109 In Golenhofen führen die Ortsstraßen auf die öffentlichen Gebäude Dorfkrug und Gemeindehaus zu, während sie in Neu-Asel auf die zentrale Dorflinde zielen (Abb. 120). In den anderen Waldecker Dörfern ist die baumumstandene Kirche der Zielpunkt der Straßenplanung – so auch in Neu-Berich, wo die Kirche eine gleich beherrschende Lage mit kräftigem Baumbewuchs wie im alten Berich einnimmt, um weiterhin als dörflicher Höhepunkt zu wirken (Abb. 111). Die zentrale Stellung der Kirche auf der Anhöhe und im Dorfgrundriß läßt sie schon von weitem zum Blickfang werden. In Böhmenkirch steht das von Theodor Hiller errichtete Kaufmannshaus Blessing am Eckpunkt einer platzartig erweiterten Kreuzung. Nicht ohne Grund legt Hiller als visuellen Zielpunkt an dieser herausragenden Position einen Brunnen an (Abb. 82). Im Niederrheinischen Dorf erreicht dieses künstlerische Prinzip durch Geometrisierung der Anlage einen Höhepunkt: Bei Metzendorfs Vorentwurf ist der Dorfeingang zwischen den beiden Arbeiterhäusern direkt auf den Haupteingang der Kirche ausgerichtet, während der Dorfweg zwischen Kirche und Jugendhalle auf die zentrale Längsachse des großen Platzes und damit auf den Brunnen/Denkmal und den mittig gelegenen Eingang des großen Gasthofes fluchtet. Im ausgeführten Entwurf leiten beide Dorfstraßen zum großen Gasthof am Kopf des Platzes. Eine der beiden Straßen führt dabei direkt auf die Mittelachse von Dorfbrunnen und 108 109 Vgl. Mielke 1910a, S. 149f. Schwindrazheim 1913, S. 15. 99 Das Dorf als städtebauliches Projekt Gasthof, was der Anlage im Sinne Schwindrazheims tatsächlich eine monumentale Wirkung gibt (Abb. 197). In die andere Richtung führt die Straße den Besucher sogar direkt auf den Eingang der Gropius’schen Musterfabrik zu. Für die Anlage eines Platzes werden von den Heimatschützern städtebaulich-ästhetische Grundprinzipien gefordert. Dazu gehört ein „traulich“ und „behaglich“ umschlossener Platz, der „wie ein grosses Zimmer wirkt, dessen Wände aus Fassaden der Häuser gebildet sind“.110 Schultze-Naumburg bezieht sich mit seinen Beschreibungen ausdrücklich auf Camillo Sitte. Der Platz solle umgeben werden mit monumentalen Gebäuden und in seiner Größe beschränkt sein, um mit den sich anschließenden Bauten in einem richtigen Verhältnis zu stehen.111 Natürlich kann die räumliche Situation in Städten nicht mit der in kleinen Dörfern wie z.B. Neu-Asel oder dem IBA-Dorf verglichen werden. Eine völlige Geschlossenheit von Dorfplätzen und deren Besetzung mit „Monumentalbauten“ ist hier weder sinnvoll noch möglich. Trotzdem ist bei allen Dörfern das Bestreben erkennbar, den Platz mit Gebäuden – vor allem öffentlichen Gebäuden – zu umbauen, damit er in seiner Geschlossenheit und seiner Funktion als dörflicher Mittelpunkt erkennbar ist.112 Besonders augenfällig wird dieses Prinzip bei den beiden Entwürfen zum Niederrheinischen Dorf. Hier sind die Plätze regelmäßig und fast lückenlos mit stattlichen Gebäuden umbaut (vor allem Gasthof und Jugendhalle) (Abb. 198, 204). Die Plätze sind groß, rechteckig und mit Brunnen oder Bäumen bestanden. Sie erinnern damit an Metzendorfs „Kleinen Markt“ in der Gartenvorstadt Essen/Margarethenhöhe und erhalten ein kleinstädtisches Gepräge. Trotz ihrer Sorge um das Eindringen städtischer Vorbilder auf das Land ist jedoch keine Kritik der Heimatschützer an dem Dorfplatz bekannt. Wenn man das Mischdorf aus Bauern und Industriearbeitern im dicht besiedelten Rheinland als Kern einer im Laufe der Zeit zu erweiternden Anlage betrachtet, erhält die Größe des Platzes jedoch seine Berechtigung. Auch in Golenhofen sind die Plätze recht groß und rechteckig angelegt. Tatsächlich könnten sie sich bewußt an rechteckige Platzformen ostdeutscher Kolonialstädte anlehnen.113 Paul Fischer beschreibt im Jahre 1918 die Bedeutung des Dorfplatzes für eine geschlossene Dorfanlage. Er solle durch eine angerartige Ausweitung der Straße angelegt und „mit möglichst dicht gestellten Höfen umgeben werden. Hier ist dann auch der Platz für Kirche und Pfarrhaus und für die in jeder Kolonie vorzusehenden gewerblichen, kaufmännischen und handwerklichen Wohnstätten, zu denen in erster Linie der Krug gehört, während der Platz für die 110 111 112 113 Schultze-Naumburg 1909b, S. 80f. Vgl. Hoermann 1913, S. 82f. und Schultze-Naumburg 1909b, S. 36. Einzig in dem IBA-Dorf klafft zwischen Schule und Gasthof eine größere bauliche Lücke, die ursprünglich mit einer Kegelbahn ausgefüllt werden sollte, schließlich aber mit Schul- und Gasthofgarten gärtnerisch genutzt wird. Vgl. Schwochow 1908, S. 5f und Schütze 1914, S. 38. Das Dorf als städtebauliches Projekt 100 Schule so zu wählen ist, daß auch die entlegeneren Hofstellen bezüglich der Länge des Schulweges Berücksichtigung finden.“ Der Kern des Dorfes solle jedoch nicht gleich von einigen großen Höfen in Anspruch genommen werden, da „ein eigentlicher Dorfcharakter sich später nur schwer entwickeln“ würde. 114 Für die Anlage seines Dorfplatzes in Golenhofen wird Fischer allerdings von Gustav Langen, dem Mitinitiator des großen, nach dem Ersten Weltkrieg erscheinenden „Siedlungswerkes“, scharf kritisiert: „Der große kahle Platz ist wirtschaftlich nicht genutzt und als Marktplatz nicht durchgebildet. Die unglückliche Abzweigung der Seitenstraße links wird durch die harte Lage des Kruges an der Ecke noch unerfreulicher“115 (Abb. 6, 8). Die Kritik Langens an der Kahlheit der Fläche scheint nicht unberechtigt gewesen zu sein, wenn man bedenkt, daß die Einwohner Golenhofens schon zwei Jahre nach der Besiedlung den Marktplatz „hübsch und sauber mit kleinen Anlagen“ herrichten, den Platz also gärtnerisch bearbeiten und mit Zäunen versehen.116 Nach den Siedlungsbautheorien der Zeit soll die Straßenplanung eine Bindung aller Einzelteile der Siedlung zu einer optisch einheitlichen Gesamtwirkung erzielen: „In der Form der Dorfstraße, ihren Nebenwegen und Zufahrten und schließlich dem Verhältnis des Hauses zur Straße liegt die Wurzel für die Außenwirkung.“117 Zu breite Straßen in Dörfern werden als, so Hinz, „verhängnisvoll und von schädlichem Einfluß auf die Gestaltung des Ortsbildes“ beurteilt.118 Hauptstraßen in Dörfern sollten daher höchstens 12 Meter, Nebenstraßen maximal neun bis sechs Meter oder noch schmaler sein. Venitz beklagt, daß tatsächlich existierende ortsstatuarische Vorschriften, die Straßenbreiten von 16 Meter vorsähen, „städtebaulicher Unsinn“ und ein schlimmes Hindernis für den Kleinbau seien.119 In den Waldecker Dörfern sind die Fahrstraßen einschließlich der Kandel jeweils sieben Meter breit. In Golenhofen wird selbst für die Wirtschaftswege eine Breite von mindestens sechs Meter für nötig befunden, wobei die Hauptstraßen einschließlich der Kandel und der beidseitigen Baumreihen etwa eine Breite von 10 Metern erhalten.120 In Böhmenkirch ist die Vordere Gasse (Hauptstraße) einschließlich der Kandelung etwa 12 Meter, die Seitenstraßen mitsamt der Kandelung etwa 8 Meter breit. Obwohl die Dörfer für die Landwirt114 115 116 117 118 119 Fischer 1918b, S. 180. Vgl. Langen 1922, S. 102. Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3396, Bl. 35. Mielke 1910a, S. 83. Hinz 1911, S. 37. Kühn geht sogar nur von drei Metern Breite aus, wobei er die Breite einer normalen Droschke von 1,5-1,7 Meter Breite zugrunde legt und davon ausgeht, daß Ausweichstellen angelegt werden und kein Durchgangsverkehr die Straße passiert. Kühn 1913, S. 28. Vgl. Venitz 1913, S. 5. 101 Das Dorf als städtebauliches Projekt schaft bequem und funktional gestaltet sein sollten, sind die Straßen daher nicht zu breit oder zerreißen das Dorfbild durch große Schneisen. Die Debatte um die Anlage von gekrümmten oder geraden Straßen, die schon Sitte führte, führen die Heimatschützer in seinem Sinne unvermindert fort. Schultze-Naumburg leitet die Berechtigung der kurvigen Dorfstraße aus der Geschichte der Dörfer her: „Die gekrümmte Straßenlinie gilt bei alten Dörfern als ein Beweis ihres lebendigen Wachstums, da man sie mit der Zeit als Ideallösung für die Begehung des vorhandenen Terrains mit einem möglichst geringen Kraft- und Zeitaufwand entwickelt hat.“121 Scharfe Kritik wird damit geübt an Dörfern, deren Straßen reguliert werden, denn sie seien „nicht schematisch auf dem Papiere, sondern mit Berücksichtigung der Ortsverhältnisse entstanden. Sie haben Rücksicht auf Sonne, Regen und vor allem auf den Wind genommen und dabei Uebelstände vermieden, die in neueren Straßenanlagen oft sehr drückend empfunden werden.“122 Ein repräsentatives Beispiel für Straßenregulierungen der Zeit gibt uns das Dorf Böhmenkirch. Der Brand wird zum Anlaß genommen, die für zu eng und steil befundenen Straßen zu erweitern, zu begradigen und abzuflachen. Der ursprüngliche Ortserweiterungsplan sieht Straßenzüge vor, die gradlinig angelegt sind und zum großen Teil in rechten Winkeln zueinander liegen. Es bilden sich dadurch karréeartige Baublöcke, die nahezu städtische Züge annehmen. Und obwohl ein Teil der Planungen nicht ausgeführt wird,123 zeigt doch die Entwicklung rund um die Ledergasse, daß das Leitbild der Planer die gerade Linie ist. Auch der Architekt Hekker hält die Regulierung von Straßen für unausweichlich, um ausreichend Raum für Verkehr, Luft und Licht zu sichern. Trotzdem solle man nicht mit allen Mitteln zu begradigen suchen, sondern sich an das Bestehende anpassen und etwaige Baumbestände schonen. Er kritisiert die gegenwärtig zumeist praktizierte Anlage gerader Straßen und schlägt verschiedene städtebauliche Alternativen vor.124 Regierungsbaumeister Hinz bedauert sogar die übliche Verfahrensweise nach Dorfbränden und läßt moderne Verkehrsbedürfnisse dafür nicht gelten: „Manch ein traulicher Winkel im Dorf ist dieser Gerademacherei schon zum Opfer gefallen! [...] Selbstverständlich werden Verkehrsbedürfnisse hierfür in erster Linie ins Feld geführt, die aber 120 121 122 123 124 Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3385, Bl. 1f. Die Breite der Hauptstraßen ist nicht explizit angegeben und errechnet sich aus den Maßangaben der Zeichnungen in den Versicherungsakten. Ebd., Sign. 3386. Schultze-Naumburg 1908, S. 83. Er beschreibt die Entwicklung vom ersten zufälligen Fußpfad bis zur Fahrstraße und beklagt die gegenwärtige Straßenregulierung in alten Dörfern, die „der Denkfaulheit vor dem Reissbrett so angenehm ist.“ Ebd., S. 91f. Altenrath 1914, S. 38. Vgl. auch Rebensburg 1913, S. 165. „Die Durchführung dieser Straße wurde aber aufgegeben, weil eine große Reihe schöner Obstbäume zum Opfer gefallen wären und der Gemeinde einen sehr bedeutenden Aufwand verursacht hätte“. GA Böhmenkirch, B 35, S. 186f. Vgl. Hecker 1909, S. 34f und S. 36-46. Er schlägt z.B. bereits die Anlage von Entlastungsstraßen um den Ort vor, eine Maßnahme, die heute häufig praktiziert wird. Vgl. S. 35f. Das Dorf als städtebauliches Projekt 102 meist auch in dem alten Zustand volle Befriedigung fanden, selbst wenn sehr breit geladene Fuhrwerke vielleicht einmal einen Umweg von 5 Minuten machen mußten. Aber man schafft ja in den Städten überall breite Straßen, also verlangt der Ehrgeiz des Dorfschulzen auch in seinem Dorfe gerade, breite Straßen.“ Er fordert statt der Beteiligung von Landmessern, die nur in geraden Linien zu arbeiten gewöhnt seien, die Teilnahme von Sachverständigen bei der Aufstellung der Bebauungspläne „im Sinne einer ästhetischen Rücksichtnahme.“125 Damit kritisiert er konkret die Planungssituation in Böhmenkirch, denn auch hier wird ein Katastergeometer eingesetzt, um den Bebauungsplan anzufertigen. In dem schwäbischen Ort werden nach der Straßenregulierung sogar die „Gassennamen“ in „Straßennamen“ umgewandelt – die Kritik der Heimatschützer ändert nichts daran, daß man den neuen Ortsbauplan für die zukünftige Entwicklung des Ortes als notwendig und modern ansieht: „Möglichste Beibehaltung der alten Straßenzüge und Bauviertel einerseits, sowie Schaffung von genügendem Raum für einen geordneten landwirtschaftlichen Betrieb andererseits, waren bei Aufstellung des neuen Ortsbauplanes die leitenden Gesichtspunkte.“126 Funktional denkende Landbauarchitekten wie Alfred Schubert fordern explizit die Verbreiterung von Dorfstraßen, selbst wenn dadurch manchmal unangenehme Baufluchtlinien entstünden, da diese für den heutigen Verkehr häufig zu schmal seien.127 Dagegen romantisieren die Heimatschützer die alten Straßenbilder und möchten die gewachsenen Dorfanlagen ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Erfordernisse der Gegenwart bewahren: „Diese Straßen und Gassen sind fast regelmäßig Kurven oder gebrochene Linien, die bei alten Dörfern immer schöne, oft durch rauschende Brunnen belebte Straßenbilder ergeben.“128 Ohne die Absicht, „malerische Reize“ zu schaffen, „können wir heute doch nicht umhin, wenn wir eine gekrümmte Dorfgasse entlang schreiten, den freundlichen Rhythmus der nacheinander vor uns auftauchenden Giebellinien angenehm zu empfinden...“129 Ein weiteres ästhetisches Prinzip müsse sein, daß eine „befriedigend wirkende Straße“ einen Abschluß haben müsse.130 Zumindest Theodor Hiller zeigt durch die Gestaltung der leicht gekrümmten Brommgasse in Böhmenkirch, daß er diese Ratschläge verinnerlicht hat. Er nutzt die vorhandene Straßenbiegung, um die giebelständigen Häuser nahe an die Straße zu rücken und damit eben jene staffelförmige Wirkung zu erzielen, von der Rebensburg bei alten Dörfern spricht (Abb. 72, 75). Aber auch für Dorfneuplanungen wird die abgerundete Straße bevorzugt, wenn das Terrain es erfordert. Dazu sagt der Heimatschützer und Architekt Philipp Kahm: 125 126 127 128 129 Vgl. Hinz 1911, S. 36. Vgl. GA Böhmenkirch, B 35, S. 44f. Schubert 1910, S. 3. Hoermann 1913, S. 95. Rebensburg 1913, S. 171. 103 Das Dorf als städtebauliches Projekt „Zur Erzielung malerischer Dorfbilder müssen heute in richtiger Erkenntnis schnurgerade Straßenzüge vermieden und dieselben richtiger durch geringe Krümmungen und Kurven den örtlichen Terrainverhältnissen mehr und mehr angepaßt werden, damit das Auge im Straßenbild selbst seinen Ruhepunkt findet und nicht wie dies bei geraden Straßen der Fall ist, in die unendliche Öde zu schweifen braucht...“131 In diesem Sinne wird immer wieder die „tödliche Langeweile“ gerader Straßenzüge mit „lebensvoll“ und „abwechslungsreich“ wirkenden gebogenen Straßen kontrastiert.132 Neue Dorfanlagen sollen sich damit an alten gewachsenen Strukturen orientieren, um eine Anpassung an das als ländlich interpretierte Bild eines Dorfes zu bewirken. In Waldeck will auch der Architekt Meyer „die Straßenbilder des Dorfes freundlich und abwechselungsreich“ gestalten.133 Die geschwungene Linie der Dorfstraße ergibt sich in NeuBringhausen „in natürlichster Weise durch die Beschaffenheit des Geländes.“134 In Neu-Asel ist die bereits vorhandene Dorfstraße nur leicht gekrümmt, während die von Meyer geschaffene kreuzende Straße jedoch geradlinig angelegt wird. In der kleinen Ortslage scheint Meyer nicht die Notwendigkeit gesehen zu haben, einen weiteren geschwungenen Weg zu schaffen. In Neu-Berich jedoch sorgt sich der Architekt besonders um den „einheimischen“ Charakter, indem er „dem Zuge der Dorfstraßen eine leichte Schwingung“ gibt, um ein „abwechslungsreiches, von nüchterner Gleichmäßigkeit freies städtebauliches Bild“ entstehen zu lassen.135 In dieser Straße staffelt er auch die giebelständig zur Straße stehenden Wohnhäuser so hintereinander, daß sie die Rundung der Straße mitvollziehen und im Sinne Mielkes für ein geschlossenes Straßenbild sorgen136 (Abb. 112). Damit zeigt sich Meyer den Vorstellungen der Heimatschützer verbunden. Als perspektivischen Trick schlägt Mielke vor, den Dorfstraßen am Ein- oder Ausgang eine Biegung oder einen Knick zu verleihen, damit der Betrachter nicht unmittelbar aus dem Dorf hinausblicken kann und die räumliche Geschlossenheit erhalten bleibt. Wegen der vorgefundenen Straßenzüge hat Meyer dies in seinen Dörfern nicht umsetzen können. Das Dorf auf der IBA bezieht sich scheinbar dezidiert auf die Vorstellungen der Heimatschützer, indem es keine gerade Straßenlinie vorsieht. Der Dorfweg ist durchgehend rund geführt und selbst das Wirtschaftsgebäude paßt sich dieser Rundung an. Damit erhält das Dorf trotz seiner planmäßigen Anlage etwas bewußt Regelloses und zufällig Gewachsenes (Abb. 167). Im Gegensatz dazu ist das Dorf Golenhofen an geradlinigen Straßen errichtet, die schon zuvor vorhanden waren. Sie bilden die Leitlinien, an denen sich die Gehöfte nebeneinander 130 131 132 133 134 135 Vgl. Hoermann 1913, S. 78. Kahm 1914, S. 80. Vgl. z.B. Lux 1911, S. 86, Pinkemeyer 1910, S. 34 oder Vetterlein 1905, S. 6. Meyer 1913, S. 85. Vgl. Meyer 1923, S. 30. Vgl. Meyer in StA MR 607, 22, Bl. 16 und Meyer 1923, S. 33. Das Dorf als städtebauliches Projekt 104 aufreihen und die das Dorf als offensichtlich planmäßig entstanden ausweisen (Abb. 2). Acht Jahre später führt der Architekt Fischer bereits andere Planungsgrundlagen ins Feld. Nun glaubt er, daß ein Dorf „durchaus nicht eine regelmäßig strenge geometrische Straßenführung und Platzausbildung“ verlange: „Weder Straßenflucht noch Bauflucht sind im Dorfe notwendig. Eine befestigte Straße muß durch das Dorf führen, aber sie darf nicht die beherrschende Linie sein und das Bild bestimmen, sie soll nicht zu starr in ihrer Abgrenzung sein, sie muß, sobald sie das Dorfinnere erreicht, mit einer gewissen Freigebigkeit der Fläche ausgestattet sein., Ausbuchtungen zulassen, Raum geben für einen schönen Einzelbaum, für Brunnen und Heiligenbild, für Steinhaufen, Buschwerk und begleitende Grasstreifen.“137 Es scheint, als habe Fischer sich erst in den Jahren nach der Dorfgründung Golenhofens mit solchen „Sitteschen“ bzw. heimatschützerischen Prinzipien des Siedlungsbaus befaßt, die ihm zuvor nicht bekannt waren. Eine Bemerkung des Erforschers der friderizianischen Siedlungen von 1915, Waldemar Kuhn, bringt Licht in die Polarität zwischen „romantisierendem“ und regelhaftem Siedlungsbau. Er kritisiert, daß die friderizianische Kolonisation kaum auf allgemeines Interesse gestoßen sei, da „infolge einer romantischen Zeitströmung das Streben der Architekten dahin ging, die malerischen Reize der alten, allmählich entstandenen Dörfer künstlich nachzuahmen, gleichviel ob die Ursachen ihrer Anordnung dieselben waren wie die der alten Dörfer.“138 Damit kritisiert er bewußt die rückwärtsgewandte Heimatschutzbewegung, die angeblich für das regelmäßig geplante Dorf kein Interesse aufbringe, weil ihr Bestreben dahin gehe, ein Bewußtsein für die Schönheit alter Dorfanlagen zu schaffen und diese als Vorbilder für moderne Dorfplanungen anzubieten. Obwohl die Heimatschutz-Theoretiker organisch geprägte, unregelmäßige Dorfstrukturen mit gebrochenen Straßenzügen in Anpassung an das jeweilige Terrain bevorzugen, verschließen sie sich doch nicht grundsätzlich, wie Kuhn glaubt, einer betont sachlichen Gestaltung im Siedlungsbau. Mielke beispielsweise betont: „Die Aufgaben des Heimatschutzes, soweit sie sich mit der Förderung der Bauweise decken, kann man daher dahin umgrenzen, das Land und die Siedlungen nach Möglichkeit in ihrer geschichtlichen Erscheinung zu erhalten und dann weiter, für die Bedürfnisse einer neuen Zeit zweckmäßige Formen zu finden.“139 Laut Schultze-Naumburg soll sich eine Straße „dem Boden organisch anschmiegen, was die Benutzung natürlich und daher angenehm macht.“140 Er fügt hinzu: „Bei ebenem Terrain und für den Fall, dass man keinen vorhandenen Anlagen, etwa Alleen oder Baumgruppen folgen kann, versteht es sich von selbst, dass man den Charakter der Entsteh136 137 138 139 140 Vgl. Mielke 1910a, S. 108f und S. 124f. Fischer 1911, S. 23. Kuhn 1915, S. 1f. Altenrath 1914, S. 23. Schultze-Naumburg 1908, S. 77. 105 Das Dorf als städtebauliches Projekt ungsweise dadurch ausdrückt, indem man ähnlich verfährt, wie beim künstlich angelegten Garten, dem ein einheitlicher Plan zugrunde liegt. Die gekrümmte Dorfstrasse ohne Grund zu imitieren, ist gerade so sinnwidrig, wie die alte Dorfstrasse regulieren zu wollen.“141 Das würde nur einen neuen Schematismus hervorbringen, den man schon bei Sitte zu Unrecht gegeißelt hat. Ein moderner Dorftypus soll also zumindest laut der Schriften auch als modern erkennbar sein. Diese Grundsätze führen uns direkt in das Dorf Metzendorfs, der im Vergleich zum IBADorf Brachmanns keine einzige geschwungene Linie oder Rundung für sein niederrheinisches Dorf verwendet. Die Straßen sind exakt gradlinig angelegt und führen keilförmig auf den großen rechteckigen Platz zu (Abb. 195). Die strenge Sachlichkeit dieser Gestaltung zeigt den Willen Metzendorfs, eine demonstrativ neuzeitliche und planmäßige Anlage vorzustellen, die eben nicht – wie Kuhn es formuliert – der Gefahr erliegt, langsam gewachsene Dörfer kopierend nachzuahmen. In Anbetracht der flachen niederrheinischen Landschaft plant Metzendorf das Dorf also konsequent in seiner geometrischen Klarheit. 1.1.4. Dorfbilder „Jeder hat sein Haus einzeln für sich gebaut; und doch bilden sie zusammen eine Einheit, als ob ein grosser Künstler ein entzückendes Gesamtbild geschaffen hätte.“142 Das Bild eines Dorfes wird durch seine Gesamtanlage sowie seine Bauproportionen, Baumaterialen und seine Dachbehandlung bestimmt. Seine ästhetische Gesamterscheinung sowie die harmonierende Wirkung von Dorfbild mit umgebender Landschaft sind immer wiederkehrende Themen in den Schriften der Heimatschutzbewegung. Den Grund nennt SchultzeNaumburg: Er beklagt die Unfähigkeit der Architekten der Gegenwart, das jeweilige Gelände auszunutzen und die ganze Anlage „organisch“ zu gruppieren.143 Zwei Begriffe tauchen dabei immer wieder auf. Einmal ist es die Forderung nach „Einheitlichkeit“ eines Dorfes in Größe, Farbe und Material sowie der „Geschlossenheit“ eines Dorfes nach außen. Mielke kritisiert, daß heutzutage ohne Rücksicht auf das Ganze unharmonisch gebaut werde, daß es einen Mangel an „künstlerischer Empfindung“ gäbe.144 Häuser seien in Größe und Material sehr verschieden, Dächer hätten die unterschiedlichsten Neigungen, kahle Brandgiebel und verschiedene Dachdeckungen ergäben eine unruhige Zusammensetzung: 141 142 143 144 Ebd., S. 168. Vgl. dazu auch ebd. 1909b, S. 55. Rebensburg 1913, S. 172 formuliert sogar: „Aber mit der hohen Wertung einer krummlinigen Wegführung ist natürlich nichts gegen die vielverlästerte gerade Straße“ bewiesen! Historisch steht ihre Existenzberechtigung fest, da muß sie wohl auch ästhetisch zu Recht bestehen.“ Schultze-Naumburg 1908, S. 79. Vgl. ebd., S. 69-72. Vgl. Mielke 1910a, S. 114. Das Dorf als städtebauliches Projekt 106 „Wer heute ein modernisiertes Dorf, das er einst im unentstellten und einheitlichen Zustande geschaut, betritt, der kann sich der niederdrückendsten Gefühle nicht erwehren.“145 So wird das Dorf von allen Autoren als ein aus vielen Teilen bestehender einheitlicher Gesamtorganismus begriffen.146 Vorbild ist hierbei wieder das alte, historisch gewachsene Dorf: „Hier trägt eine Form die andere: von dem Plankenzaun zur Mauer und zum Dach und von diesem über Laubkronen zu dem in seiner ernsten Schlichtheit wirkungsvollen Kirchturm ist ein einziger wiegender Rhythmus. Dieses reife und behagliche Bild hat sich entwickelt aus den gleichen Zwecken und Wünschen, den gleichen Stoffen, Baukonstruktionen und gleichen Beschränkungen, aus deren gemeinsamem Zusammenwirken ein harmonisches Siedelungsbild erstand.“147 Bei planmäßigen Siedlungen solle ein solch einheitliches „Charakterbild“ dadurch erzielt werden, daß ein bestimmtes architektonisches Thema variiert und jede Einzelerscheinung dazu in Harmonie gebracht werde: „Diese scheinbare Beschränkung führt zum baulichen und landschaftlichen Gesamtkunstwerke der Siedelung.“148 Paul Ehmig will die Harmonie einer einheitlichen Siedlung eben nicht durch gleiche historische Stile, sondern v.a. mit gleichen Materialien erreicht sehen. Sie würden die stilistische Vielgestaltigkeit der Bauten zusammenhalten.149 Falsche Maßstäbe könnten ein Dorfbild am leichtesten zerstören, so Mielke. Dazu trügen unverhältnismäßige Größenunterschiede im Ort bei und besonders Gebäude, die zu „wahren Bauungeheuern“ würden.150 Ein „hochfahrender Geselle“ (z.B. ein Haus, daß so groß gebaut wird wie die benachbarte Kirche) könne einen ganzen Ort verschandeln und „die gute Sitte der Väter“ in Frage stellen, „mit ihren Wohnräumen möglichst auf der Erde zu bleiben, nicht aber dem Himmel zuzustreben“.151 In allen untersuchten Dorfanlagen fällt der Wille zu einer einheitlichen Gestaltung in Material und Größe auf. In den Waldecker Dörfern werden z.B. mit Ausnahme der Kirchen nur gleiche Dachneigungen angelegt und rote Ziegelpfannen verwendet, die das Ortsbild entscheidend prägen. Mit Ausnahme der Neu-Bringhäuser Fachwerkbauten, die aus dem alten Dorf übernommen sind, werden alle neuen Häuser als nur leicht variierte Hoftypen gebaut, die im Erdgeschoß massiv, im Obergeschoß aus Fachwerk errichtet sind. Kein Einzelelement stört 145 146 147 148 149 150 151 Hoermann 1913, S. 98. Vgl. Mielke 1907/08, S. 66 und Schultze-Naumburg 1908, S. 79. Das Dorf bestehe aus Häusern, die meist gar keine besonderen Kunstwerke, als große Form aber von „wundervoller Harmonie“, d.h. eine künstlerische Einheit seien. Vgl. Schultze-Naumburg 1917, S. 172f. Mielke 1910a, S. 114. Lange 1910, S. 14. Ehmig 1916, S. 70f. Vgl. Mielke 1910a, S. 116f und S. 120. Vgl. Hinz 1911, S. 60. 107 Das Dorf als städtebauliches Projekt den Gesamtcharakter.152 Auch die geforderte Maßstäblichkeit wird in den Waldecker Dörfern nicht verletzt, da die Firsthöhen der Gebäude mit Ausnahme der Kirche nur leicht und der Größe des Hofes entsprechend variieren. Etwas kleiner sind nur die eingeschossigen Kleinbauern-, Handwerker- und Tagelöhnergehöfte. Selbst Schulen, Gemeindehäuser und Gastwirtschaften als Gebäude mit öffentlichem Charakter überragen nicht die anderen Gebäude, sondern passen sich an die Gehöfte an. Der Architekt betont mehrfach, daß er die Siedlungen „wie aus einem Guß“ geplant hat und schreibt konkret über Neu-Bringhausen: „...der Anblick des Dorfes mit seinen an Umfang und Bauart so verschiedenartig gehaltenen, durch Einheitlichkeit in Material und Farbe aber doch wieder harmonisch zusammengefaßten Fachwerkgebäuden ist ein überaus freundlicher und abwechslungsreicher“153 (Abb. 115-117). Er setzt also die theoretischen Vorschläge der Heimatschutzbewegung in die Praxis um. Einheitlichkeit ist auch in Böhmenkirch oberste Maxime, was umso mehr erstaunt, da fünf regionale Architektenbüros gleichzeitig mit der Planung betraut sind. Obwohl alle Büros ihre eigene Handschrift haben und besonders Theodor Hiller mit der Anlage sehr hoher, steiler Dächer sowie verbretterter Giebel aus der Reihe tanzt (Abb. 72), hält doch auch er sich an die von der Bauberatungsstelle und Bauinspektor Friz vorgegebenen Grundsätze: Alle Gehöfte haben die Wohn- und Wirtschaftsbereiche unter einem Dach vereint, sind vorwiegend breit gelagert, eingeschossig und von ähnlicher Höhe. Die Erdgeschosse sind massiv errichtet und verputzt, Kniestöcke, Obergeschosse und Giebel aus un- oder verputztem Fachwerk gebaut. Wie in den Waldecker Dörfern wird die Einheitlichkeit der Dorfneubauten besonders durch die großen Dachflächen erreicht, die allesamt mit roten Falzziegeln gedeckt sind.154 Auch in Golenhofen tauchen – obwohl alle Gehöfte individuell gestaltet sind – immer wieder die gleichen baulichen Muster auf. Die Gehöfte sind in der Hauptsache eingeschossig, die Erdgeschosse massiv und weiß verputzt, Obergeschosse und Giebel häufig aus ausgemauertem und wahlweise verputztem oder unverputztem Fachwerk. Die Dachneigungen variieren nur leicht, die Dächer sind (mit Ausnahme einiger Scheunendächer) einheitlich mit roten Kronziegeln gedeckt. Trotz baukünstlerischer Einzelheiten wie verschiedenen Fachwerkformen, Putzgliederungen, geschlossenen Veranden, Verbretterungen oder Umgebinden kommt nie der Eindruck auf, hier seien bloße Einzelobjekte entstanden (z.B. Abb. 3-8). Fischer schreibt selbst: 152 153 154 Einzig die wiederaufgebauten Kirchen in Neu-Berich und Neu-Bringhausen stechen als steinsichtige Massivbauten und durch ihre Größe aus dem Ensemble heraus und bilden bewußt den herausragenden Mittelpunkt des Ortes. Vgl. Meyer 1923, S. 31f, 38. Vgl. Kreisarchiv Göppingen (im folgenden mit KA Göppingen abgekürzt), 714.4, Bund 8, S. 16 und S. 4. Das Dorf als städtebauliches Projekt 108 „Nicht bloß die Formen, auch die Farben sind in diesem Landschaftsbilde wesentlich. Sie ordnen sich der Gesamtstimmung unter, jeder Mißton würde störend empfunden werden. Der schwermütige Charakter der weiten Ebene verlangt einheitliche Farbgebung und zarte Übergänge.“155 Die Gebäude weisen auch keine übertriebenen oder unterschiedlichen Höhenstaffelungen auf. Mielke wiederum ist es, der gerade in Ebenendörfern niedrige Gebäude fordert, die mit der flachen Landschaft harmonieren: „Wenn das Auge den wagerechten Linien der Ebene folgt, will es nicht vor der Architektur wie vor einem Prellbock stehen bleiben.“156 Er spricht von der „ruhigen Schönheit der Horizontalen“ und glaubt, daß künstlerische Störungen im Flachland viel stärker zu empfinden seien als in den Bergen.157 In Golenhofen ist es nur das Schul- und Bethaus, das in seinen Masseverhältnissen über die anderen Gebäude hinausragt (Abb. 6). Als bedeutendstes öffentliches Gemeindezentrum im Ort ist eine solche hierarchische Größenstaffelung jedoch im Sinne des Heimatschutzes. Der Uhrenturm auf dem Bethaus läßt das Gebäude schon von weitem als Mittelpunkt des Ortes auffallen. Fischer betont: „Die Horizontale herrscht in diesem Landschaftsbilde vor. Jedes Heraustreten aus der Horizontalen fällt auf, zieht das Auge an und ruft die Wirkung der Vergrößerung hervor, eine Wirkung, die sich besonders an den Kirchtürmen beobachten läßt und zu lehrreichen Vergleichen zwischen alter Bauweise und modernen verfehlten Versuchen Anlaß gibt.“158 Beim IBA-Ausstellungsdorf ist die vereinheitlichende Wirkung besonders durch den weißen Mörtelauftrag der Gebäude gegeben159 (z.B. Abb. 171, 172, 181). Die verschiedenen Dachdeckungsarten sprechen jedoch eine andere Sprache: Sie wollen noch, in der Art der Ethnologischen Dörfer, eine Bandbreite an Materialien vorstellen: Kirchen- und Schuldach sind als öffentliche Gebäude mit Schiefer verkleidet, Jungviehstall und Schweinestall im Gehöft sind sogar strohgedeckt, was selbst die liberalen Heimatschützer aufgrund der Feuergefahr längst nicht mehr fordern. Alle anderen Gebäude sind mit roten Ziegeln gedeckt. Auch was die Gebäudegrößen angeht, ist das Dorf im Sinne des Heimatschutzes nicht „harmonisch“ durchgeplant. Während Kirche, Schule, Wirtschaftsgebäude und Gosenschänke an die Größe eines kleinen Dorfes angepaßt sind, ist das exemplarische Gehöft für die Anlage überdimensioniert (Abb. 187-190). Es enthält eine komplette landwirtschaftliche Ausstattung samt Vieh und erfordert deshalb natürlich viel Raum. Gleichzeitig gilt es als Hauptattraktion des Dörfchens: Es ist das einzige Gebäude, das es in den Katalog der landwirtschaftlichen 155 156 157 158 159 Fischer 1911, S. 21. Auch ein Beobachter lobt die Einheitlichkeit der Dorfanlage: „Obgleich kein Haus und kein Stallgebäude dem andern gleicht und die Bauweisen der verschiedenen deutschen Landschaften miteinander abwechseln, macht das Ganze doch einen durchaus einheitlichen Eindruck.“ Schwochow 1908, S. 27. Mielke 1913b, S. 7. Vgl. Mielke 1910a, S. 120f. Fischer 1911, S. 21. Winter 1913c, S.25. 109 Das Dorf als städtebauliches Projekt Sonderausstellung geschafft hat. Im Grundriß sieht man, daß das Gehöft, zumindest in der Ausdehnung, fast so groß ist wie der ganze Rest des Dorfes (Abb. 169). Extrem im Maßstab ist auch die große Gaststätte am Ortseingang. Sie ist im Grundriß fast doppelt so groß wie die Kirche. Dabei ist sie zweistöckig geplant und enthält neben den Wirtschaftsräumen einen riesigen Tanzsaal, Gaststube, Herrenstube, Gesellschaftszimmer und einen weiteren Kneipenraum. Aufgrund eines Fotos kann sogar geschätzt werden, daß die Gastwirtschaft ebenso hoch angelegt ist wie die Kirche (Abb. 168, 179-181). Dies entspricht nicht den HeimatschutzVorstellungen von Einheitlichkeit und Maßstäblichkeit einer Dorfanlage, wohl aber den gastronomischen Bedürfnissen einer Ausstellung. Im niederrheinischen Dorf wird hingegen auf die einheitliche Gestaltung sehr großen Wert gelegt: „Alles atmet gleiche Luft...“160 Obwohl 13 Architekten die Planung der Bauten unter sich aufteilen, wird jedes der Gebäude aus unverputztem Backstein errichtet. Vereinheitlichend wirken daneben besonders der weiße Fugenstrich, die weißen Fenster und Gesimse, dunkelgrüne Schlagläden und Dachrinnen sowie grau-braune Hohlpfannen auf den Dächern:161 „Und gerade die Verschiedenheit der Lösungen, welche die beteiligten Architekten für die einzelnen ihnen gestellten Aufgaben gefunden haben, wirkt außerordentlich anregend und belehrend. Beweist sie doch, daß selbst bei einer so großen Vereinheitlichung der Baustoffe, wie sie hier durchgeführt ist, für tüchtige Architekten immer noch ein genügender Spielraum verbleibt, um ihre Bauten im einzelnen reizvoll und in ihrer Gesamtheit abwechselungsreich und interessant zu gestalten. Und gerade auf diesen Punkt muß für die zukünftige Entwicklung der größte Wert gelegt werden.“162 Auch die Maßstäblichkeit der einzelnen Gebäude untereinander ist hier gewahrt. Während die einstöckigen Arbeiterhäuser die kleinsten Gebäude sind, staffeln sich Höhe und Größe der Häuser nach den Kriterien des persönlichen Bedarfs oder der landwirtschaftlichen Notwendigkeit. Zwar erreicht auch hier gerade die Gaststätte am Markt stattliche Ausmaße und ist ebenfalls im Grundriß doppelt so groß wie die Kirche (Abb. 195, 206-208). Trotzdem paßt sie sich in Kubatur und Größe den Nachbarbauten an und wird vom hohen Turm der Kirche immer noch um Längen überragt. Neben der Einheitlichkeit wird auch die Geschlossenheit von Siedlungen als grundlegend für ein harmonisches Dorfbild erachtet. Dörfer sollen nicht auseinandergezerrt wirken, sodaß sich das Ortsbild aufzulösen beginnt durch „klaffende Lücken“.163 Stattdessen soll es mit der Landschaft zu einem geschlossenen, ruhigen Gesamtbilde vereinigt werden. Gustav Langen 160 161 162 163 Behr 1914b, S. 1391. Vgl. ebd. Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 7f. Vgl. Mielke 1910a, S. 83, S. 117 und S. 120. Das Dorf als städtebauliches Projekt 110 betont, daß ein solches Zusammenhalten der Häusermengen auch für den modernen Städtebau erstrebenswert sei.164 Den in diesem Sinne geschlossensten Eindruck macht das Dorf Böhmenkirch, denn hier stehen die Gebäude eng beieinander und sind fast ausnahmslos direkt an die Baufluchtlinie gerückt: „Ganz abgesehen von den Vorteilen und Annehmlichkeiten, einen Teil des Gebäudes hart an der Strasse zu haben, bringt es eine weit grössere Geschlossenheit und Mannigfaltigkeit in das Gesamtbild.“165 Die Bebauung der anderen Dörfer (v.a. Golenhofen und die Waldecker Dörfer) kann jedoch aus den oben genannten Gründen der Licht- und Luftzufuhr sowie der landwirtschaftlichen Notwendigkeiten nicht grundsätzlich im städtischen Sinne geschlossen sein. Durchblikke aus dem Dorf heraus und in die umgebenden Felder sind hier sehr wohl möglich. SchultzeNaumburg betont auch ausdrücklich, daß das historische Dorf immer offen gebaut worden sei im Gegensatz zur ehemals befestigten Stadt. Trotzdem besäße es als „künstlerische Einheit“ eine geschlossene Erscheinung: „Selbst da, wo die einzelnen Gebäude verhältnismäßig weit gebaut sind und zwischen grossen Gärten liegen, bleibt erstaunlicherweise diese Einheit des Eindrucks vollständig bestehen, die natürlich eine Vorbedingung für die Sichtbarkeit der Gesamterscheinung bildet.“166 Trotzdem nutzen fast alle Dörfer künstlerische Kniffe, um zumindest eine optische Geschlossenheit der Anlage zu bewirken. Hier sei vor allem die sogenannte Torsituation zu nennen, eine optische Begrenzung der Ortseinfahrten durch Gebäude. Besonders beim IBA-Dorf sind Gosenschänke und Gaststätte so eng zusammengerückt, daß nur ein schmaler Durchgang und Einblick ins Dorf entsteht. Daß Kritiker das Dorf in dieser Hinsicht tatsächlich positiv beurteilen, zeigt ein Zitat in der „Bauwelt“: „Wir begrüßen diese Tat [den Bau des Dorfes; d.Verf.] vom Standpunkte der Heimatschutzbestrebungen auf das freudigste, weil sie den Tausenden der großstädtischen Besucher die künstlerische Geschlossenheit einer deutschen Dorfaue sinnfällig vor Augen stellt...“167 Im Vorentwurf zum Niederrheinischen Dorf rücken ebenfalls zwei identisch gestaltete Arbeiterhäuser so eng zusammen, daß sie eine torartige Eingangssituation schaffen. Der ausgeführte Entwurf zeigt nicht mehr die Geschlossenheit des Vorentwurfs, denn die Dorfstraßen öffnen sich dem Ausstellungsrundgang und dem Eingang zur Musterfabrik des Walter 164 165 166 167 Langen 1912, S. 12. Schultze-Naumburg 1908, S. 110. Schultze-Naumburg 1917, S. 171f. Winter 1913c, S. 25. Vgl. auch: „Es [das Dorf; d.Verf.] bildet ein in sich geschlossenes Ganzes und nichts in ihm fehlt.“ In: Leipziger Neue Nachrichten Nr. 112v. 24.4.13 in: Stadtarchiv Leipzig (im folgenden StdA Leipzig abgekürzt), Akte 75A, Nr. 71, S. 55. 111 Das Dorf als städtebauliches Projekt Gropius. Diese Nähe des Dorfes zur Fabrik wird sogar im Ausstellungskatalog beklagt.168 Trotzdem sind die Eingänge ins Dorf auch hier optisch markiert durch zwei ähnlich gestaltete Gasthäuser bzw. zwei kleine Arbeiterhäuser am anderen Dorfeingang (Abb. 196, 197). Besonders deutlich wird dieses Phänomen auch beim waldeckischen Dorf Neu-Berich, bei dem zwei bis auf Details gleich gestaltete Wohnhäuser den Ortseingang symmetrisch flankieren (Abb. 111). Ein weiteres Mittel zur Erzielung eines geschlossenen Dorfbildes läßt sich in Neu-Berich und Golenhofen beobachten. Hier grenzen die großen Scheunen bzw. Stallscheunen das Dorf traufseitig so nach außen ab, daß ein geschützter, fast wallartiger Eindruck entsteht (Abb. 2, 103). Auch Schultze-Naumburg betont die Bedeutsamkeit dieser Wirtschaftsbauten: „Das Dorfbild wird nicht allein von den bäuerlichen Wohnhäusern gebildet, sondern gerade die wirtschaftlichen Zwecken dienenden Baulichkeiten nehmen den überwiegenden Teil ein. Besonders bei grösseren Anwesen und bei Gütern werden sie fast bestimmend für den Gesamteindruck.“169 Zwar soll das Dorf geschlossen und einheitlich wirken soll, aber auch mit der umgebenden Landschaft korrespondieren: „Wie die neuen Dorfbauten unter sich nicht harmonieren, so harmoniert das Dorf nicht mit der Landschaft, nicht einmal mit den es umgebenden Sträuchern und Bäumen.“170 Dagegen fordert Mielke, daß die Landschaft die Grundlage für eine künstlerische Wirkung des Dorfes sein müsse.171 Landschaft und Umgebung sollen, wie Ehmig formuliert, nicht nur der Rahmen für das Dorf sein,172 sondern mit dem Dorf zu einer Einheit verschmelzen.173 Lange und Gradmann gehen sogar noch einen Schritt weiter. Gradmann schreibt, daß ein Bauwerk sich auch in den Verhältnissen und Maßen der Landschaft anpassen solle: „Unter Umständen soll es geradezu ihren Umrissen folgen, darf sie aber dabei mildern oder übertreiben oder im Gegensinne wiederholen.“174 Lange glaubt sogar, die Architektur solle die Formen der Landschaft zu Höhepunkten zusammenfassen: „Ein Haus auf einer Bergkuppe müßte [..] die Linie des Hügels durch Herrschaft der senkrechten Linie zur Vollendung führen.“175 Da sich die hier untersuchten Dörfer höchstens in sanft hügeligen Landschaften befinden, ist auch die Ein- bzw. Zweigeschossigkeit ihrer Bauten durchaus im Sinne des Heimatschutzes – gut nachzuvollziehen beim sanft geschwungenen Hügel Neu-Berichs: „Je niedriger ein Bau, um so leichter wird er sich dem sanft geschwungenen Hügel anschließen und um so 168 169 170 171 172 173 174 Offizieller Katalog der Deutschen Werkbundausstellung 1914, S. 231. Schultze-Naumburg 1908, S. 99. Hoermann 1913, S. 99. Vgl. Mielke 1910a, S. 116. Ehmig 1916, S. 56 und S. 168. Vgl. Schultze-Naumburg 1917, S. 144f; Hinz 1911, S. 45 oder Kühn 1906, Vorwort (ohne Seitenzahlen). Gradmann 1910, S. 131. Das Dorf als städtebauliches Projekt 112 leichter an den hinter dem Hause aufstrebenden Baumkronen einen angenehmen und kontrastreichen Hintergrund finden.“176 Von zentraler Bedeutung ist hier die Bepflanzung. So soll mit innerdörflicher Bepflanzung die Dorfarchitektur mit der umgebenden Flur, den Äckern, Wiesen und Wäldern, optisch verbunden werden. Besonders in Neu-Berich ist hinter jedem Gehöft relativ regelmäßig ein Obstgarten angelegt, der das Dorf schützend und vereinheitlichend umschließt und es mit der umgebenden Landschaft in Beziehung setzt (Abb. 103). Das war dem Architekten Meyer sehr wichtig: „..., so daß das Gesamtbild [...] ein überaus freundliches ist, zumal Blumenbeete, Sträucher und Obstbäume bald hinzukamen, um dem Ganzen noch einen einheitlichen Rahmen zu geben“.177 Auch in Golenhofen werden die Nutzgärten mit Obstbäumen bepflanzt. Dazu kommen noch die Alleebäume, deren Grün das Dorf mit der umgebenden Landschaft vereinheitlicht (Abb. 4, 5). Fischer beklagt daher Neusiedlungen, die noch nicht mit Bäumen versehen wurden: „Es fehlt meist noch das vermittelnde Grün der Laubbäume, und so bietet sich oft ein künstlerisch wenig befriedigender Anblick dar.“178 Selbst die Ausstellungsdörfer sind von Pflanzenschmuck umgeben. Ländliche Geschlossenheit wird im IBA-Dorf neben der Anlage des begrünten Angers durch die Einbettung in „Parkanlagen“ suggeriert, wie auch die Isometrie anschaulich vermittelt.179 Die Wichtigkeit einer dörflichen Bepflanzung wird besonders im Niederrheinischen Dorf deutlich. Hier wird sogar der Kölner Gartenbaudirektor Fritz Encke engagiert, um auf Straßen und Plätzen schattenspendende Bäume zu setzen und im übrigen den Planzenschmuck innerhalb der einzelnen Grundstücke anzubringen: „Die nahe den Zäunen angepflanzten Bäume ragen vielfach in die Straße hinein und beleben sie so günstiger als regelmäßige Baumreihen, welche man in der Dorfstraße möglichst vermeiden sollte.“180 175 176 177 178 179 180 Lange 1910, S. 12. Grässel, Hans: „Volkskunst und Volkskunde“ 5.1907, S. 16. Zit. nach Hoermann 1913, S. 96. Meyer 1923, S. 34. Fischer 1911, S. 21. Vgl. z.B.: Leipziger Tageblatt Nr. 394v. 4.8.12 in: StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 15 oder Krämer 1913, S. 552. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 40. 113 Das Dorf als städtebauliches Projekt 1.1.5. Exkurs: Verwandte Siedlungsplanungen der Zeit „Jede Bewegung, die die Arbeiterschaft aus den Mietskasernen der heutigen Groß- und Mittelstädte hinaus in bessere Wohnungsverhältnisse überführt, muß von ihr aufs freudigste begrüßt und mit allen Kräften unterstützt werden.“181 Eine Abhandlung über die städtebauliche Gestaltung von neuen Dörfern wäre unvollständig, wenn nicht ein Blick auf verwandte Siedlungsplanungen der Zeit geworfen würde. Eine wichtige Siedlungsform, schon vor der Industrialisierung bekannt, aber erst in Folge des Industrialisierungsprozesses nach 1850 gehäuft auftretend, ist die des Arbeitersiedlungsbaus. Besonders nach 1890 erfährt dieser einen massiven Aufschwung.182 Grund dafür sind die miserablen Wohnverhältnisse des Proletariats besonders in den überfüllten Industriestandorten des Reiches. Ein wichtiges Element des Arbeitersiedlungsbaus ist der der Werkssiedlungen – d.h. vom Arbeitgeber errichteten Wohnungen für Arbeiter, die meist in geschlossenen Siedlungen versammelt werden.183 Ihre Anlage hatte den praktischen Grund, Arbeiter anzuwerben und in der Nähe der Fabriken anzusiedeln. Erst nach 1870 kommt die sozial- und wohnungsreformerische Fürsorge des Arbeitgebers hinzu.184 Ziel ist, eine zufriedene und leistungsbereite Arbeiterschaft heranzuziehen, die aus Loyalität zu ihrem Gönner seltener den Arbeitsplatz wechselt. Die Einrichtung von Freizeitanlagen wie Bibliotheken, Sportstätten und familienbezogenen Erleichterungen wie Kinderhorten oder Wöchnerinnenheimen zeugen von diesen integrierenden und domestizierenden Absichten.185 Bereits Anfang der 60er-Jahre herrschte durch die prosperierende Gußstahlfabrik der Firma Krupp Überfüllung, Wohnungsnot und Mietpreiswucher in der Stadt Essen. Um diese Misere zu stoppen, legte der Firmenleiter Alfred Krupp Arbeiterwohnungen unter paternalistischen Vorzeichen an: Die Arbeiter hatten sich einem strengen Fabrikreglement zu unterwerfen und loyal und dankbar zu ihm zu stehen. Neben einer besseren Bezahlung wurden sie dafür bei Krisen nicht einfach entlassen und sollten unter angenehmen Bedingungen wohnen 181 182 183 184 185 Lindemann, Gustav in: Die deutsche Gartenstadtbewegung 1911, S. 90. Schollmeier 1990, S. 30. An dieser Stelle kann und soll kein vollständiger Abriß des Arbeiterwohnungsbaus im 19. Jahrhundert geliefert werden. Vgl. dazu z.B. Biecker, Johannes und Walter Buschmann (Hg.): Arbeitersiedlungen im 19. Jahrhundert. Bochum 1985 oder: Führ, Eduard und Daniel Stemmrich: Nach gethaner Arbeit verbleibt im Kreise der Eurigen. Wuppertal 1985. Vgl. Dutzi 1990, S. 35-37. Vgl. ebd., S. 38. Neben der „Cité ouvrière“ in Mulhouse, in der im ersten Bauabschnitt zwischen 1854 und 1857 300 Hauseinheiten geschaffen wurden (vgl. Zimmermann 1997, S. 575), gehören zu den frühen und vorbildhaften Beispielen die englischen Arbeitersiedlungen Bournville bei Birmingham (gegründet 1887) und Port Sunlight bei Liverpool (begonnen 1889). Das prominenteste deutsche Beispiel für Werkssiedlungen sind die Kruppschen Kolonien im Ruhrgebiet Vgl. dazu z.B. Stemmrich, Daniel: Die Siedlung als Programm. Untersuchungen zum Arbeiterwohnungsbau anhand Kruppscher Siedlungen zwischen 1861 und 1907. Hildesheim und New York 1981 oder Kastorff-Viehmann, Renate: Wohnungsbau für Arbeiter. Das Beispiel Ruhrgebiet bis 1914. Aachen 1981. Das Dorf als städtebauliches Projekt 114 können.186 Erst nach dem Krieg von 1870/71 jedoch setzt Alfred Krupp den Arbeiterwohnungsbau bewußt als Mittel der sozialen Befriedung ein und versorgt seine neu entstehenden Siedlungen mit Geschäften, Gaststätten und sozialen Einrichtungen. Nachdem die Bauten anfänglich lediglich eine Ansammlung von Wohnungen in Fabriknähe waren, gewinnen sie nach und nach durch die Anlage von Plätzen und die Stellung der Geschäftsbauten im Zentrum den Charakter einer geschlossenen Kolonie.187 Friedrich Alfred Krupp setzt nach 1887 den Siedlungsbau seines Vaters fort, wobei er als Neuerung Wettbewerbe für die Planung der Architekturen einführt und die Siedlungen als „Wohlfahrtseinrichtungen“ bereits als festen Bestandteil der Unternehmens-Präsentation ansieht.188 Diese zeichnen sich durch eine einheitliche Planidee und eine strukturierte städtebauliche Behandlung mit Plätzen, Gemeinschaftsbauten und Parks aus. Erst in der Siedlungstätigkeit nach der Jahrhundertwende jedoch setzen sich die Prinzipien des Sitteschen Städtebaus und des englischen Gartenstadtgedankens auch in den Kruppschen Arbeiterkolonien durch. Schematische Siedlungsgrundrisse und Stockwerkswohnungen werden allmählich durch gekrümmte Straßenlinien und eine flache Bebauung ersetzt.189 Gerade die kontinuierliche Entwicklung der Kruppschen Arbeitersiedlungen spiegelt ausgezeichnet auch die Geschichte des deutschen Siedlungsbaus insgesamt und seiner städtebaulichen Kriterien wider. Entscheidende Impulse dafür gibt auch die Gartenstadtbewegung, die neben der Heimatschutzbewegung eine der bedeutendsten Reformbewegungen der Jahrhundertwende ist: In dem erstmals 1898 erschienenen Buch „Tomorrow. A Peaceful Path to Real Reform“ von dem englischen Gerichtsstenographen Ebenezer Howard werden die Grundlagen der Idee niedergeschrieben. Im Gegensatz zur Großstadt und der dörflich geprägten Landsiedlung wird das Ideal der Gartenstadt favorisiert, die zwischen beiden Extremen vermittelt. Nach Howards Plänen sollen in stadtnaher Entfernung planmäßige Gartenstädte entstehen, die zum Ziel haben, die großen Städte zu entzerren, indem sie etwa für 32.000 Bewohner ausgerichtet und stark durchgrünt sind. Die Gartenstadt soll im Gegensatz zur städtischen Mietskaserne mit ästhetischen und hygienischen Einfamilienhäusern mit Garten dem Bedürfnis nach Individualität Rechnung tragen. Die Bauten sollen auf genossenschaftlicher Basis errichtet werden – in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht völlig autark sein. Daher soll die Gartenstadt unab186 187 188 189 Vgl. Kieß 1991, S. 374. Hier seien die Kolonien Nordhof, Schederhof, Baumhof oder Cronenberg genannt. Vgl. Kieß 1991, S. 379382. Unter seiner Ägide werden die Siedlungen Altenhof, Holsterhausen, Alfredshof und Friedrichshof geplant. Vgl. ebd., S. 384-390. Dazu gehören u.a. auch Prämien, Krankenbetreuung und Altersversicherung. Er zeichnet verantwortlich für die Siedlungen Margarethenhof, Dahlhauser Heide, Emscher-Lippe und besonders die Margarethenhöhe. Vgl. ebd., S. 390. 115 Das Dorf als städtebauliches Projekt hängig von der Stadt existieren und sich durch eine selbständige Verwaltung sowie durch eigene industrielle sowie landwirtschaftliche Gürtel auszeichnen. Im Gegensatz zur Großstadt ist angestrebt, sämtliche Bewohner die öffentlichen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen, Kirchen oder kulturellen Institutionen auf möglichst kurzen Wegen erreichen zu lassen. Die Entstehung von Gartenstädten soll nicht nur die Boden- und Wohnungsreform, sondern auch eine umfassende Lebensreform bewirken.190 Im Jahre 1902 wird, besonders auf Betreiben von Hans und Bernhard Kampffmeyer, die Deutsche Gartenstadtgesellschaft gegründet, die die Theorien Ebenezer Howards fast vollständig übernimmt. Vier Jahre nach der Gründung der Deutschen Gartenstadtgesellschaft entsteht in einer reizvollen hügeligen Landschaft bei Dresden die erste deutsche Gartenstadt Hellerau, die auf den Ideen ihrer geistigen Gründer aufbaut – obwohl sie nicht von der Deutschen Gartenstadtgesellschaft, sondern von den „Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst“ in Dresden und namentlich deren Leiter Karl Schmidt initiiert wird. Hellerau wird von den bedeutenden Architekten Richard Riemerschmid, Heinrich Tessenow und Hermann Muthesius nach den modernsten städtebaulichen, ästhetischen und wohnungsreformerischen Grundsätzen konzipiert. Neben lebensreformerischen Angeboten wie musikalischer Erziehung und körperlicher Ertüchtigung durch rhythmische Gymnastik liegen der Gartenstadt komplexe gestalterische Leitlinien zugrunde, orientiert an dörflichen und kleinstädtischen Strukturen.191 Wie Arbeitersiedlungen zeichnen auch die Gartenstädte die Entwicklungen, Auseinandersetzungen und Leitlinien im modernen Städtebau nach. Seit den 1890er Jahren fließen gerade die ästhetischen Theorien Camillo Sittes mehr und mehr in die Praxis des deutschen Städtebaus ein und sorgen für Differenzen zwischen der technisch-rationalen und der künstlerischen Richtung im Städtebau. Interessanterweise fallen diese Auseinandersetzungen gerade in die Formierung des Städtebaus als eigenständige Disziplin, die sich erstmals mit der Städtebauausstellung 1903 in Dresden der Öffentlichkeit stellt.192 Obwohl, wie der Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt formuliert, „kein System Alleinherrschaft beanspruchen“ dürfe und die einzige Voraussetzung für den Städtebau sei, daß „nur das Zweckmäßige wahrhaft künstlerisch, wahrhaft schön und nur das Schöne zweckmäßig“ sein könne,193 bleiben doch die Auseinandersetzungen zwischen beiden städtebaulichen Modellen bestehen.194 190 191 192 193 Vgl. Hartmann 1998, S. 290-292. Zur Gartenstadtbewegung vgl. v.a. Hartmann, Kristiana: Deutsche Gartenstadtbewegung. Kulturpolitik und Gesellschaftsreform. München 1976 und Schollmeier, Axel: Gartenstädte in Deutschland: ihre Geschichte, städtebauliche Entwicklung und Architektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Münster 1990. Vgl. Cramer/Gutschow 1984, S. 11 und Benevolo 1964, S. 409. Gurlitt, Cornelius: Der deutsche Städtebau. In: R. Wuttke (Hg.): Die deutschen Städte. Leipzig 1904, S. 44f, zit. nach Schollmeier 1990, S. 51. In der neugegründeten Zeitschrift „Der Städtebau“ ist nachzulesen: „Der Städtebau ist die Vereinigung aller technischen und bildenden Künste zu einem geschlossenen Gan- Das Dorf als städtebauliches Projekt 116 Daß beide Positionen zeitweise gleichberechtigt nebeneinander stehen, belegt die Tatsache, daß Architekten mit ganz unterschiedlichen Positionen gemeinsam im erweiterten Vorstand der Deutschen Gartenstadtgesellschaft engagiert sind, wie z.B. Paul Schultze-Naumburg, Reinhard Baumeister, Joseph Stübben, Karl Henrici, Theodor Goecke, Theodor Fischer, Peter Behrens, Richard Riemerschmid und Hermann Muthesius.195 Die Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft selbst hat in Bezug auf städtebauliche Leitlinien nie eindeutig Position bezogen. Nur wenige Bemerkungen gehen über den äußerst generellen Anspruch nach einem technisch und künstlerisch mustergültigen Bebauungsplan hinaus.196 Die erste Gartenstadt Hellerau bei Dresden wird in diesem städtebaulichen Spannungsfeld geplant. Muthesius schreibt: „In der Gartenstadt Hellerau bei Dresden ist das erste vollgültige Beispiel einer Mustersiedlung auf deutschem Boden gegeben, in der die bodenreformatorischen und künstlerischen Grundsätze, wie sie im Gartenstadtgedanken vorhanden sind, erschöpfend durchgeführt wurden. [...] Der Gedanke, ganze Siedlungen zu gründen, ist nicht neu und durch Großbetriebe, wie Krupp, schon seit Jahrzehnten verwirklicht worden.“197 Richard Riemerschmid, ein Schüler Sittes, entwirft den Gesamtplan der Gartenstadt. Die wichtigsten Kriterien sind für ihn ansprechende Straßenbilder und Platzanlagen.198 Dazu kommen auch gewundene Straßen, die wie gewachsen wirken sollen, indem sie sich individuell dem Gelände anpassen. Gleichzeitig ist neu, daß er die Straßen in Hauptverkehrs-, Zubringerund Wohnstraßen trennt. Der Plan teilt das Areal in verschiedene Viertel ein, die sozialen Gruppierungen zugeordnet werden.199 Die Arbeitersiedlung Gmindersdorf bei Reutlingen, 1903 von Theodor Fischer geplant, ist den Vorgaben Sittes nachempfunden und wird nach dem Willen seiner Bauherrschaft nicht Gminder-Siedlung, sondern Gminders-Dorf genannt.200 Grundlage der Gesamtplanung ist 194 195 196 197 198 199 200 zen [...] Der Städtebau ist eine Wissenschaft, der Städtebau ist eine Kunst.“ Fehl glaubt jedoch, daß dies eher ein Postulat von Einheit war als eine Tatsache. Goecke, Theodor und Camillo Sitte. An unsere Leser. In: Der Städtebau 1/1904, Nr. 1, S. 1-4, zit. und kommentiert in Fehl 1995, S. 44. Vgl. Krückemeyer 1997, S. 65. Vgl. Schollmeier 1990, S. 71. Vgl. dazu Krückemeyer 1997, S. 61 und Schollmeier 1990, S. 73. Neben sozialen und technischen Prinzipien fordert die Gartenstadt-Bewegung nur die Zweckhaftigkeit sowie die künstlerische Geschlossenheit und Einheitlichkeit einer Siedlung, in der sich ihr genossenschaftlicher Charakter manifestieren sollte. Schollmeier, S. 72. Schollmeier mutmaßt, daß durch eine eindeutige Stellungnahme Kampffmeyers für eine bestimmte Gestaltungsform ein Austritt vieler Mitglieder aus der Gesellschaft zu befürchten gewesen wäre. Ebd., S. 76. Muthesius, Hermann (vermutlich): Die Gartenstadt Hellerau. Maschinengeschriebenes Manuskript, 1911, zit. nach Hartmann 1976, S. 49. Vgl. ebd., S. 50. Ein weiteres Beispiel für den künstlerischen Städtebau ist die von Riemerschmid geplante Gartenstadt Nürnberg (1909), die sogar ohne Zwänge des Geländes leichte Biegungen der Wohnstraßen vollzieht, während die Verkehrsstraßen geradlinig an der Peripherie entlangführen. Kreuzungen sind aus der Flucht versetzt und ein geschlossener unregelmäßiger Platz vorgesehen. Vgl. Schollmeier 1990, S. 185. Howaldt 1982, S. 329. Zum Werk Theodor Fischers vgl. Nerdinger, Winfried: Theodor Fischer. Architekt und Städtebauer. Ausstellung der Architektursammlung der TU München. Berlin 1988. 117 Das Dorf als städtebauliches Projekt auch hier die Anlage eines Marktplatzes und kurzer übersichtlicher Straßenstücke. Diese sind zwar in einem Straßenraster organisiert, enthalten aber keine starren rechten Winkel, sondern sind mit Platzerweiterungen und Versatzsprüngen aufgelockert: Das Straßenraster folgt der Geländekubatur „in einem freien, leichten Zug [...] um einen Mittelpunkt, welcher ungefähr die Stelle eines Marktplatzes einnimmt“.201 Über das Einzelobjekt hinaus sollte auch hier die Zusammenbindung eines künstlerischen Ensembles erreicht werden, um bereits städtebaulich eine Gemeinschaft zu begründen. Das Vorbild ist – wie in Hellerau – eine ländliche Ortschaft, die sich um einen zentralen Marktplatz bildet. Daß gerade die Heimatschutzbewegung diese zwei Siedlungen als Musterbeispiele für eine auflebende Dorfarchitektur lobt, machen die zahlreichen Hinweise in den entsprechenden Publikationen deutlich.202 Die Heimatschützer und besonders Schultze-Naumburg empfehlen in dieser Zeit der Stilvielfalt bewußt Dorf und Kleinstadt als Lösung für moderne Siedlungsfragen. Willy Lange wendet sich sogar demonstrativ gegen die Intentionen der Gartenstadtbewegung, wenn er schreibt: „Das empfundene Ziel liegt vielmehr im wirklichen Landleben, in der Landsiedelung, und die geht nicht, wie die Kolonie, von der Stadt aus, sondern folgerichtig vom Dorf. Gartendörfer statt Gartenstädte! Kein Namensunterschied, sondern eine Wesensverschiedenheit in praktischer und ästhetischer und ethischer Beziehung.“203 Entsprechend ist den Heimatschützern auch der romantische Städtebau Sittes und der Bezug auf historisch-gewachsene Vorbilder näher, als eine regelhafte und sachliche Planung, die sich ganz bewußt als modern präsentiert. Es gibt städtebauliche Grundsätze, die im modernen Siedlungsbau – egal ob in Gartenstädten, Arbeitersiedlungen oder Dörfern – unstrittiges Gemeingut sind. Dazu zählen die städtebauliche und architektonische Einheit und die Geschlossenheit einer Siedlung nach außen hin. Diskussionsstoff bietet jedoch die Frage, wie eine solche Siedlung konkret gestaltet werden soll. Durch Kritik am schematischen Städtebau des späten 19. Jahrhunderts und massive Großstadtfeindschaft in Deutschland dominiert bis zum Ersten Weltkrieg die Sitte-Schule den Städtebau.204 Besonders die Städte Nürnberg und Rothenburg ob der Tauber werden von dieser Schule favorisiert. Hingewiesen wird immer wieder auf die englische Gartenstadt Hampstead von Raymond Unwin und Barry Parker, in der „die glücklichen Resultate des Studiums 201 202 203 204 Theodor Fischer im Vorwort von: Gmindersdorf – Arbeiterkolonie. Firmeneigene Publikation, Reutlingen 1908, zit. nach Howaldt 1982, S. 336. Zu Gmindersdorf vgl. z.B. neben den unzähligen Äußerungen in Quellen zum Arbeitersiedlungsbau auch Schultze-Naumburg 1909a, S. 25 und 31 oder Hecker 1909, S. 50f. Lange 1909/10, S. 57. Vgl. Dutzi 1990, S. 69. Noch die Berliner Städtebau-Ausstellung von 1910 ist von der Sitte-Schule dominiert. Vgl. Collins/Craseman Collins 1965, S. 89, 140 und Anmerkung 104, zit. nach Dutzi 1990, S. 69. Das Dorf als städtebauliches Projekt 118 von alten deutschen Städten“ zu erkennen seien.205 Immerhin hat Sittes unzeitgemäße Romantik und Liebe zum Malerischen den Städtebau dazu aufgefordert, die Stadtlandschaft als ein organisches Ganzes anzusehen.206 Damit einher geht der Einfluß der Heimatschutzbewegung, die in Anknüpfung an Sittes Theorien auf eine Renaissance der Dorf- und Kleinstadtarchitektur baut. Aber schon bald nach 1900 entsteht in Gestalt des sachlichen Frührationalismus eine Gegenbewegung zum „romantischen“ Städtebau.207 Auch die führenden Vertreter der Gartenstadtbewegung können sich nicht auf ein städtebauliches Programm einigen. Der Hagener Karl Ernst Osthaus, Mitglied und zeitweise Vorstand der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft, klagt über die Kleinstadtmentalität der Ideen Ebenezer Howards, da „die völlige Ablösung des Menschen von großen Kulturzentren allzuleicht zu jener gesättigten Kleinbürgerlichkeit führt“, die den Fortschritt hemme.208 In seine Kritik an all jenen Siedlungen, die historisch gewachsene Dörfer romantisch nachempfänden, schließt er auch die Heimatschutzbewegung ein: Solchen Entwürfen fehle „die innere Freiheit, ihren Schöpfern der Mut, eine moderne Sache auch modern anzufassen“.209 Zudem solle eine Gartenstadt „kein Rückfall in die Halbkultur der Kleinstadt, sondern eine Hinausentwicklung über die Großstadt sein“.210 Die vorgeblich angestrebte Urbanität der Gartenstädte sei mit „schattigen Dorflinden dito Angern, bemoosten Dächern, muffigen Gräben und ähnlichem Altvätertum“ keine Alternative zur Großstadt.211 Anstelle von romantischen Sentimentalitäten und bewußter Vermeidung von Regelmäßigkeiten solle „eine ideelle Regelmäßigkeit“ entstehen, ohne in öde Schemata zu verfallen.212 Hans Bernoulli schließt sich dieser Kritik an und beklagt, daß an technischen Hochschulen Grundsätze entwickelt würden, die von den „gewordenen“ Städten des Mittelalters abgeleitet seien: So gäben sich viele Neugründungen – auch die bedeutende Gartenstadt Hellerau – das Ansehen, „als ob sie im Lauf der Jahrzehnte ruckweise entstanden wären; Brüche, Bäu205 206 207 208 209 210 211 Schmidt, Paul, Ferdinand: Eine Studienfahrt zu den Gartenstädten Englands. In: Kunstchronik, N.F., 21. Jg., Leipzig 1910, S. 6f, zit. bei Hartmann 1976, S. 143. Vgl. Benevolo 1964, S. 422f. Vgl. Dutzi 1990, S. 69. In Wien ist Sittes größter Widersacher der Architekt Otto Wagner, der Sittes „Schlagworte von Heimatkunst, Einfügen in das Stadtbild, Gemüt im Stadtbild usw.“ verspottet. Vgl. dazu Wagners Schrift: Die Großstadt, eine Studie über diese. Wien 1911, S. 1. Zit. nach Schorske, Carl E.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle. Wien, 5. Aufl. 1982, S. S. 90. Vgl. Osthaus, K.E.: Gartenstadt und Städtebau. In: Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft (Hg.): Bauordnung und Bebauungsplan, ihre Bedeutung für die Gartenstadtbewegung. Vorträge, gehalten auf der Jahresversammlung der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft 1911, Leipzig 1911, S. 34, zit. nach Schollmeier 1990, S. 74. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Migge, Leberecht: Mehr Ökonomie. In: Gartenstadt, Jg. IV.1910, S. 111, zit. nach Bergmann 1970, S. 163. Vgl. zum Stadt-Land-Problem im Städtebau der letzten hundert Jahre auch Albers 1963, S. 576-584. 119 Das Dorf als städtebauliches Projekt che, ein- und ausspringende Ecken zeigen sich in den Straßen wie in mittelalterlichen Dörfern und Städten, die noch die Erinnerung an gar vielerlei Not [...] gleich Narben im Gesicht tragen.“213 Auf der Suche nach einem Städtebauideal idealisieren diese Kritiker das idealstädtische und geometrische Konzept der Stadt Karlsruhe.214 Osthaus und Bernoulli loben daher gleichermaßen den Bebauungsplan der Gartenstadt Mannheim, der von den Architekten Esch und Anke im Jahre 1911 bewußt als sachlich-rationale Neugründung geplant wird. Auf dreieckigem Grundriß entsteht dabei eine regelmäßig elliptische Anlage mit geometrischen Figuren, Achsenbezügen, rechtwinkligen Kreuzungen und Platzanlagen. Der Entwurf gebe, so Bernoulli, „den Plan einer fertigen, in sich selbst ruhenden kleinen Wohnstadt, die wohl gegen Südost und Südwest sich öffnet, um die Beziehungen zur Arbeitsstadt, zu Mannheim, herzustellen, nach Norden aber sich abschließt. Er gibt damit den bestehenden Verhältnissen einen adäquaten Ausdruck“.215 Zwei Jahre später entsteht in einer geometrischen Figur auch die Gartenvorstadt Leipzig-Marienbrunn, die sich damit ebenso als betont neuzeitliche Planung präsentiert (Abb. 166). Als Teil der Internationalen Baufach-Ausstellung in Leipzig 1913 wird sie streng symmetrisch als Kreissegment mit radial verlaufenden Straßenzügen unter der Leitung von Hans Strobel errichtet. Er selbst schreibt: „Die Gartenvorstadt liegt auf einem Hochplateau, sodaß keine Veranlassung vorhanden ist, künstlich geschlängelte Straßenzüge anzulegen. Es ist vielmehr angestrebt worden, eine klare städtebau-künstlerische Disposition mit Konsequenz durchzuführen.“216 1.1.6. Rationalität und Romantik im Dorfbau „In Deutschland kostet es viel mehr Mühe, der neuen Stadt ein neues Kleid zu verschaffen.“217 In direkter Nähe zur Gartenvorstadt Marienbrunn entsteht auf der IBA in Leipzig die „Dorfanlage mit Beispielgehöft“. Obwohl beide Siedlungen vorgeben, ein dezidiert neuzeitliches Konzept vorzustellen, sind sie in ihrer Umsetzung doch grundverschieden.218 Während Marienbrunn als vorstädtische Siedlung bewußt regelhaft und geometrisch gebaut wird und sogar 212 213 214 215 216 217 218 Vgl. Osthaus, K.E.: Die Bedeutung der Gartenstadtbewegung für die künstlerische Entwicklung unserer Zeit. In: Kampffmeyer, H.: Die deutsche Gartenstadtbewegung, o.O. (Berlin) 1911, S. 100, zit. nach Schollmeier 1990, S. 74. Vgl. Bernoulli 1911, S. 111. Siehe dazu auch Schollmeier 1990, S. 75. Vgl. Hartmann 1976, S. 83. Bernoulli 1911, S. 111f. Strobel 1912, S. 252. Bernoulli 1911, S. 111. Das Dorf ist laut Architekt Raymund Brachmann gedacht als neuzeitliche Dorferweiterung im Anschluß an ein vorhandenes sächsisch-thüringisches Dorf, um „beizutragen, daß das Land, ‘unsere Mutter’, neu verjüngt und verschönt werde...“ Vgl. Brachmann 1913, S. V. Das Dorf als städtebauliches Projekt 120 Blickachsen integriert (z.B. in Richtung Völkerschlachtdenkmal), stützt sich das IBA-Dorf auf heimische Vorbilder, indem es frei die Form eines Rundlings interpretiert. Alle Gebäude liegen rund um den Anger, der – durch seine funktionslose Begrünung – nur auf sich selbst bzw. auf seine historischen Vorgänger verweist. Sein Dorfbild ist durch unterschiedliche Größenverhältnisse und Dachdeckungen uneinheitlich, seine Gebäude bestehen in der Hauptsache aus Geschäfts- und Gasthäusern zur Erbauung des städtischen Publikums. Es lebt in romantischer Manier von seinen beabsichtigten Unregelmäßigkeiten, wogegen sich der Hauptteil der Ausstellung in geometrisch-sachlicher Anlage deutlich als „ernsthafter“ Teil der Ausstellung versteht. Dem Dorf soll ein gewachsener, organisch-runder, „idyllischer“219 Eindruck verliehen werden. Immer ist in Zeitungsartikeln davon die Rede, daß die Städter sich im Dorf von den Strapazen der Ausstellung entspannen und sich gleichzeitig über Landwirtschaft und ländliche Architektur informieren können.220 Das Dorf scheint daher mehr in seinem Vorgänger von der Sächsisch-Thüringischen Gewerbeausstellung 1897 –besonders auffällig ist der gleiche Grundriß – oder den Ethnographischen Dörfern früherer Ausstellungen zu wurzeln, die als nostalgische und malerische Erholungs- und Lernorte für die städtischen Besucher gedacht waren. Mit gegenwärtigen Wohn- und Siedlungsfragen beschäftigt sich die Anlage jedoch nicht. Das Dorf Böhmenkirch packt dagegen die unerwartete Bauaufgabe, die ihm durch die furchtbare Brandkatastrophe erwächst, mit rationalen Mitteln an. Es kommt für die Planer nicht in Frage, das Dorf mit der Wiederherstellung seiner engen Gassen und steilen Abfahrten neu zu errichten –so wie es sich viele Heimatschützer wünschen würden. Stattdessen wird die Chance wird genutzt, die Dorfgassen zu erweitern, zu begradigen und abzuflachen, um den landwirtschaftlichen Verkehr zukünftig bequemer zu gestalten und die Feuergefahr zu mindern. Begriffe „Zweckmäßigkeit“ und „Sparsamkeit“ tauchen in den Akten immer wieder auf und sollen der notleidenden Gemeinde in Zukunft bessere Voraussetzungen für eine funktionierende Landwirtschaft ermöglichen.221 Wichtigste Aufgabe ist es vor allem, die Häuser mit Zwischenräumen voneinander abzusetzen: „Daß der neue Ortsteil einen anderen Eindruck macht als der alte, wird wohl jedermann einleuchten. Ein solches Ineinanderschachteln wie bei den alten Häusern war selbstverständlich aus praktischen, gesetzlichen und hygienischen Gründen nicht angängig.“222 219 220 221 222 Vgl. z.B.: Von der IBA in Leipzig, Teil 4, 1913, S. 441. Vgl. z.B. Leipziger Neue Nachrichten Nr. 112 v. 24.04.13 in: StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 50. Z.B. in: KA Göppingen, 714.4, Bund 5, S. 16 und Bund 8, S. 4 oder S. 6. KA Göppingen, 714.4, Bund 5, S. 16. 121 Das Dorf als städtebauliches Projekt Trotz dieser vornehmlich rationalen städtebaulichen Planung, die gerade Straßen mit rechten Winkeln vorzieht, wird bewußt vermieden, dem Ort einen städtischen Charakter zu verleihen.223 Die waldeckischen Dörfer am Edersee werden von dem preußischen Regierungsbaumeister Karl Meyer geplant, der in Hannover ansässig ist. Diese mangelnde „Heimatverbundenheit“ Meyers wird von den Waldecker Mitbewerbern und Brüdern Opfermann scharf kritisiert: „Wir sind der Meinung, daß hier das meiste Gute geschaffen werden kann, wenn die Anlage von Landeskundigen geleitet wird, die waldecksche Eigenart mit der Großzügigkeit neuzeitlicher Entwicklung zu vermählen haben.“ Sie werben für sich mit dem wiederholten Bezug zum Heimatschutz: „Bodenständige Bauweise in Waldeck ist die Bauart in Anlehnung an den Charakter des waldeckschen Bauerndorfes. Nicht der schöne Fachwerksbau allein, auch die Gruppierung der Häuser und Gehöfte, die Straßenzüge und Straßenbilder, der Teich, die Gänsewiese, der Friedhof, die Hauseinrichtung, gehören hierzu. Die waldeckschen Architekten haben sich zur Aufgabe gemacht, die Bauweise im Lande mit zeitgemäßen technischen Mitteln wieder in engere Beziehung zur Heimatkunst zu bringen. [...] Bei durchaus einheitlicher Leitung würde die ganze Anlage – ohne Aufwand von Unnötigem – sich individuell künstlerisch durchführen lassen bis ins Innerste der Häuser.“224 Mit Blick auf die neuen Dörfer könnte man glauben, Meyer selbst hätte sich in dieser Weise zur Gestaltung der Siedlungen geäußert. Es ist ihm gelungen, die drei Siedlungen als geschlossene Dorfanlagen zu formieren, die im Grundriß an historisch-waldeckische Siedlungen angelehnt sind. Trotzdem schafft er es, die Siedlungen nach neuzeitlichen Forderungen weitläufig und licht zu planen und Zwischenräume für Obstgärten nutzbar zu machen. Er legt großen Wert auf ein einheitliches Dorfbild, verfällt aber trotz seines romantisch-heimatlichen Bezugs nicht in Schwärmerei: Er verwendet die gekrümmte Straßenlinie (in Neu-Berich) nur, wo sie sich dem hügeligen Gelände anschmiegen kann. Ansonsten zeigt auch er sich als zweckmäßig und sparsam denkender Architekt, indem er in allen drei Dörfern neue Straßenzüge geradlinig anlegt und vorhandene Wegeführungen aus Kostengründen beibehält. Paul Fischer, der Architekt der Ansiedlungskommission in Posen und Westpreußen, plant sein Musterdorf Golenhofen in den Jahren 1902/03, also fast ein Jahrzehnt früher als die anderen untersuchten Anlagen. Sein Dorf ist offensichtlich noch ganz in der Tradition der geometrisch-strengen friderizianischen Siedlungen und der ostpreußischen Kolonisation entstanden. Ein regelhaftes Straßendorf entlang schon vorhandener, geradliniger Straßenzüge ermöglicht die zweckmäßigste und unkomplizierteste Verteilung des Baugeländes. Noch im Jahre 1904 – die Besiedlung Golenhofens ist noch nicht abgeschlossen – zeigt er sich als rationaler 223 224 Vgl. ebd., S. 17. Vgl. StA Marburg, Best. 122, Nr. 2075, Bl. 86f. Der Brief der Architekten ist gerichtet an Landesdirektor Glasenapp. Das Dorf als städtebauliches Projekt 122 und ökonomisch denkender Städtebauer, wenn er in einer Publikation zu seinen Ansiedlungsbauten erklärt: „Man verlange darum nicht reizvolle und malerische Lösungen, architektonisch interessante Aufbauten zu sehen. Der Architekt muß hier zurücktreten gegenüber dem Volkswirt.“225 In einem Aufsatz von 1911 wird deutlich, daß er sich in den vergangenen sieben Jahren kundig gemacht hat: „Wer mit der Vorstellung mitteldeutscher geschlossener Dorfanlagen zum ersten Male das Ansiedlungsgebiet bereist, wird eine gewisse Enttäuschung beim Anblick der Ansiedlungen, besonders der älteren, kaum überwinden können. [...] Die Ausdrücke ‚bodenständig’, ‚Heimatschutz’ usw. sind Schlagworte neuester Prägung, und erst im Jahre 1906 ist das epochemachende Werk der Deutschen Architektenvereine, ‚Das Bauernhaus im Deutschen Reiche’, erschienen. Wir haben es also bei der Ansiedlung mit einem an keine Traditionen sich anschließenden plötzlichen Vorgange zu tun. Kein Wunder, daß die künstlerische Entwicklung, die durchaus der Ruhe, der Anknüpfung an die Überlieferung und der allmählichen Ausbildung von Methoden und Bauweisen bedarf, hierbei dann und wann zurückgeblieben ist.“226 Während Fischer noch vor wenigen Jahren die Arbeit des Ökonomen als vorrangig deklariert, um kostengünstig zu bauen, erhält nun die künstlerische und architektonische Planung größere Bedeutung: „Darum lasse man den Architekten nicht bloß bei der Gestaltung der einzelnen Bauten, sondern ganz besonders bei der ersten Plananlage jeder Dorfgründung entscheidend mitwirken! Gar zu oft kommt es vor, daß durch eine zu ängstliche Ausnützung des Bodens, durch die Innehaltung durchaus überflüssiger Fluchtlinien, durch die strenge Durchführung gerader Linien, durch das Fehlen aller der Zufälligkeiten, die bei natürlicher Entwicklung sich von selbst ergeben, wie Krümmungen, Vorsprünge, Winkel, Ausbuchtungen, schließlich Bilder der größten Langweiligkeit und Nüchternheit geschaffen werden...“227 Diese Zitate weisen ganz offensichtlich auf das Studium des Sitteschen Städtebaus und der Heimatschutz-Theorien hin. Hätte das Musterdorf Golenhofen, wäre es im Jahre 1911 geplant worden, vielleicht ganz anders ausgesehen? Fischers Kritik an der strengen, geraden Linie könnte zumindest dafür sprechen. Obwohl 1902 offensichtlich noch nicht mit den Sitteschen Ideen vertraut, legt Fischer schon bei der Planung Golenhofens großen Wert auf ein einheitliches Ortsbild, indem er die Gehöfte mit gleichen Größen, Dachneigungen und Dachdeckungen gestaltet und die Häuser trotz angemessener Zwischenräume für Obstgärten eng benachbart, um ein geschlossenes Dorfbild zu erhalten. Während Fischer die Theorien des Heimatschutz und des Sitteschen Städtebaus erst spät für sich entdeckt, vollzieht der Architekt Georg Metzendorf – Mitglied im Werkbund und in der Gartenstadt-Gesellschaft – eine gegenteilige Entwicklung. Die Planung seiner ersten großen Siedlung, der Kruppschen Arbeitersiedlung und Gartenvorstadt Essen/Margarethenhöhe, mag den Unterschied zum Neuen Niederrheinischen Dorf auf der Kölner Werkbund-Ausstellung 1914 verdeutlichen. Die ersten drei Bauabschnitte werden zwischen 1909 und 1912 auf 225 226 Fischer 1904, Vorwort (ohne Seitenangabe). Fischer 1911, S. 21f. 123 Das Dorf als städtebauliches Projekt einer Hügelkuppe mit nach drei Seiten steil abfallenden und von Wasserläufen durchzogenen Hängen errichtet. Dadurch werden die Straßenzüge sehr kurvig und bewegt angelegt. Er schafft immer nur kurze Straßenstücke, die als räumliche Einheiten erscheinen und damit auch kleine Nischen und Unregelmäßigkeiten, Durchblicke und Staffelungen ergeben, die sehr an dörfliche oder kleinstädtische Strukturen erinnern.228 Damit zeigt er sich den romantischen Stadtbauidealen Sittes und den sich daran anschließenden Vorstellungen der Heimatschutzbewegung eng verbunden. Schon früh haben die Rationalisten im Städtebau Kritik an dieser „kostspieligen Romantik eines sich altertümlich gebärdenden Städtchens“229 geübt: „Wozu diese gesuchte Naivität in der Nachahmung alter Stadtanlagen? [...] Es ist falsche Romantik! Es ist Künstelei, nicht aus der Notwendigkeit und dem Erfassen der Grenzen des Berechtigten gewonnen, sondern von einer anderen Kunst abgeleitet, von der Kunst, am Schreibtisch auf volksbeglückende Ideen zu sinnen.“230 Nach 1910 gerät auch Metzendorf in den Konflikt zwischen Anhängern einer volkstümlichmalerischen „Süddeutschen Schule“ um Theodor Fischer und den gegensätzlichen Verfechtern wie Karl Ernst Osthaus, Paul Mebes oder Friedrich Ostendorf.231 Seine stimmungsvollen, verspielten Planungen der ersten Bauphasen der Margarethenhöhe weichen bald einer ausgeprägten Versachlichung. Auf der Höhe mit weniger bewegten Gelände legt er geradere Straßen mit strengeren Formverbänden der Häuser an. Metzendorf hat sich, auch bei seinen anderen Siedlungsentwürfen und besonders seinen Wohnhäusern, stetig entwickelt – weg von romantisch-spielerischen zu sachlich-rationalen, ja klassizistischen Lösungen.232 Im Jahre 1920 erklärt Metzendorf in seinem Buch „Kleinwohnungsbauten und Siedlungen“, daß er schon bei der Planung der Margarethenhöhe dem sachlich-rationalen Städtebau zugeneigt war: „Als anzustrebendes Vorbild galt mir schon damals die gradlinige Straßenführung, wie sie die alten Straßenbilder des 18. Jahrhunderts zeigen. Leider konnte ich aber diesen Gedanken nicht restlos verwirklichen, denn das stark terrassenförmige Bauland ließ nur mit geschwungenen Straßen die Höhenunterschiede überwinden. Dort wo ich zur regelmäßigen Anlage übergehen konnte, geschah es.“233 Metzendorf bezieht sich hier ausdrücklich auf den absolutistischen Städtebau des 18. Jahrhunderts, den bereits Sitte für moderne Stadtplanungen der Industrialisierung favorisiert hat. Dem schließen sich auch andere Fachleute an, wie etwa der Kunsthistoriker Albert Erich Brinck227 228 229 230 231 232 Ebd., S. 23. Vgl. dazu: Margarethe Krupp-Stiftung für Wohnungsfürsorge: Margarethen-Höhe bei Essen. Darmstadt 1913, oder Metzendorf 1920, S. 3-111 oder Kallen 1984, S. 48-95. Vgl. Metzendorf 1994, S. 67. Cuerlis 1916, S. 122f. Vgl. Metzendorf 1994, S. 71. In der Gartenstadt Hüttenau bei Hattingen z.B., die etwa zur selben Zeit begonnen wurde (1910), hat Metzendorf zwar auch die Hauptverkehrsstraßen dem bewegten Gelände angepaßt, die kleineren Wohnstraßen jedoch bewußt geradlinig durchgeführt, um eine zweckmäßigere und sparsamere Parzellierung zu ermöglichen. Vgl. Metzendorf 1994, S. 142. Das Dorf als städtebauliches Projekt 124 mann, ein strenger Kritiker des romantisierenden Städtebaus: „Der moderne deutsche Städtebau möchte nach dem Tiefstand des 19. Jahrhunderts Belehrung bei der Vergangenheit suchen. Eine uns Deutschen eigentümliche, romantische Gesinnung ließ ihn die hohe Städtebaukunst des 18. Jahrhunderts übersehen.“234 Das Ideal mittelalterlicher Städte wird also durch das Ideal absolutistischer Planstädte abgelöst. Selbst Heimatschutz-Theoretiker arrangieren sich mit der Regelmäßigkeit barocker Stadtanlagen, sehen sie in ihnen doch die geforderte Einheitlichkeit und Geschlossenheit einer Siedlung verwirklicht. Wie Brinckmann glauben sie, daß im 20. Jahrhundert das städtische Gemeinwesen die Rolle des Fürsten jener Zeit zu übernehmen hätte, um harmonische und einheitliche Orte zu planen.235 Robert Mielke schreibt: „Was früher örtliche Baugewohnheit machte, wurde im 18. Jahrhundert von dem künstlerischen Verständnis und dem Selbstwillen des Herrschers bewirkt, das Zusammenstimmen architektonischer Vielheiten zu ästhetischer Einheit. Nur dadurch ist eine so klare Harmonie möglich geworden, wie sie die Anlagen der friderizianischen Zeit erkennen lassen.“236 Und Hoermann notiert: „Man hat sich seit den letzten Jahren mit einer gewissen Vorliebe und mit einem großen Rechte dem Studium des Städtebauwesens des Barocks und der anschließenden Zeit zugewandt. Die Weiträumigkeit der Barockanlagen, die streng rhythmische Gestaltung im Zopf- und Empirestil bieten dem modernen Städtebau, wenn auch kein zu kopierendes Vorbild, so doch die brauchbarsten Motive...“237 Bei dieser umfassenden Neuorientierung im deutschen Städtebau hat besonders der Deutsche Werkbund, dessen Ziel die Synthese von Funktionalität und Schönheit, von Kunst und Technik ist, großen Einfluß ausgeübt.238 Es nimmt nicht Wunder, daß Metzendorf gerade auf der Deutschen Werkbund-Ausstellung 1914 schließlich ein bewußt „Neues“ Niederrheinisches Dorf plant, das durch seine strenge, achsenbezogene Gesamtanlage eine Lösung für die moderne Mischform aus Arbeitersiedlung und Dorf bieten will. Nicht nur die weiträumige Gesamtplanung und die Geradlinigkeit der Straßen weisen auf die freie Anlehnung an städtebauliche Ideale des 18. Jahrhunderts hin. Besonders die große rechteckige Platzanlage mit dem Brunnen im Zentrum sowie die vielfältigen geometrischen Sichtachsen, die auf Höhe- bzw. Mittelpunkte im Ort hin angelegt 233 234 235 236 237 238 Metzendorf 1920, Vorwort. Vgl. Brinckmann, A.E.: Entwicklung des Städtebau-Ideals seit der Renaissance. In: Transactions of the Town Planning Conference, Oct. 1910, Bd. 1 (RIBA), London 1911, S. 160, zit. nach Hartmann 1976, S. 83. Brinckmann, A.E.: Deutsche Stadtbaukunst in der Vergangenheit. Frankfurt/M. 1911, S. 160, zit. nach Hoermann 1913, S. 93. Vgl. Mielke bei Altenrath 1914, S. 25. Hoermann 1913, S. 93. Vgl. dazu Dutzi 1990, S. 69f. 125 Das Dorf als städtebauliches Projekt sind, verdeutlichen, daß Metzendorf Elemente der barocken Stadtbaukunst frei variiert in seinem Dorf umsetzt.239 Die regelmäßig rechteckige und weiträumige Planung des Marktplatzes mit großem steinernen Brunnen und imposanten Gebäuden rundherum wirken jedoch weniger dörflich als städtisch und sind in einer kleinen ländlichen Siedlung schwer vorstellbar. Metzendorf scheint sich für seine neuzeitliche Dorfanlage tatsächlich einen kleinstädtischen Platz zum Vorbild genommen haben, um einen idyllisch-altertümlichen Eindruck – wie im IBA-Dorf – zu vermeiden. Grundsätzlich geht die starke Betonung des gemeinschaftlichen Platzes auf Sitte zurück, für den dieser durch die kunstvolle Komposition von Platzraum, Gebäuden und Monumenten die wichtigste städtebauliche Einheit ist. Die Platzwände sollten, wie hier in sehr regelmäßiger Form geschehen, geschlossen sein und dadurch malerische, d.h. beschränkte Panoramen erzeugen. In der größeren Gartenvorstadt Margarethenhöhe ist eine ähnlich geometrisch strenge Platzanlage mit steinernem Brunnen zu beobachten, der dem im niederrheinischen Dorf sehr ähnelt.240 Vom Dorf auf der IBA 1913, das bewußt an historische Dorfanlagen angelehnt ist und in der Art eines Ethnologischen Dorfes eine „idyllische Dorfaue“ darstellt, ist der qualitative Sprung zum Neuen Niederrheinischen Dorf nur ein Jahr später sehr groß. Es ist mit seinen streng angelegten Formverbänden, städtisch-regelhaften Anleihen und seinem Bezug auf barocke Idealstädte ein Kontrastprogramm und entzieht sich bewußt dem Bestreben des Vorgängers, das Bild eines gewachsenen Dorfes zu reproduzieren. 1.1.7. Öffentliches Grün, Gärten, Einfriedungen und Friedhöfe „Und da haben wir einen weiteren Weg zur Baukunst, nämlich sie in ihrem Zusammenhang mit der Natur kennen und begreifen zu lernen.“241 Öffentliches Grün und Gärten Durch Industrialisierung und Verstädterung bedroht, gelten der Heimatschutzbewegung Natur und Landschaft als unschätzbar wertvolle Güter. Der Bund nimmt sich daher neben dem Schutz der Architektur auch dem Schutz des Landschaftsbildes und der Rettung der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt an. Es nimmt daher nicht wunder, daß sich auch das Dorf als ländliche Siedlung in die Landschaft einfügen soll: „Das einen künstlerischen Wert beanspruchende Dorf muß sich [...] mit seiner landschaftlichen Umgebung in voller Harmonie befin239 240 241 Bei einem größeren Areal und einer höheren Anzahl an Häusern wäre es vorstellbar, daß die abgeknickte Straße des niederrheinischen Dorfes an der gerade auf den Platz zufluchtenden noch einmal zur anderen Seite gespiegelt wird. Damit wäre das Bild einer symmetrischen barocken Stadtanlage vervollständigt. Auch die Gaststätte als zentraler Kopfbau des Platzes scheint von hier übernommen. Ehmig 1916, S. 56. Das Dorf als städtebauliches Projekt 126 den.“242 Flur und Dorf werden also als zusammengehörig betrachtet, die Landschaft gilt als Grundlage für die künstlerische Wirkung des Dorfes.243 Wie in der Malerei werden Landschaft und Umgebung, Bäume, Felder und Seen als Rahmen für die menschliche Siedlung bezeichnet: „Wie mit Moos überwuchert und überwachsen erscheint so die Ansiedlung innerhalb ihres Rahmens von Feldern und Wiesen, überragt von dem Akzent des Kirchturms, der in tausend Variationen in immer neuer Form wiederkehrt.“244 Mit künstlerischen Begriffen, hier aus der Bildhauerei, kommentiert auch Rebensburg die Interaktion zwischen Dorf und Landschaft: „So bedeutet die Siedelung eine Sublimierung des Naturbildes, das Dorf ist der bildnerische Ausbau, die plastische Modellierung eines von der Natur selbst angegebenen Motivs.“245 Auch die dritte Kunstgattung, die Architektur selbst, wird bemüht, um die Bedeutung von Grün im Dorfbild zu erläutern. Joseph August Lux bezeichnet die Pflanze selbst als Architektur, da sie gleichsam als Architektur mitwirke und deren Gesamterscheinung entscheidend präge: „In jedem Falle ist die Vegetation von der Architektur nicht zu trennen und eine Vermehrung der Schönheit.“246 Zur landschaftlichen Umgebung des Dorfes gehört auch die Flur. In den besiedelten Dörfern wie Neu-Bringhausen, Neu-Berich und Neu-Asel, Golenhofen und Böhmenkirch liegen die zugehörigen Äcker, Wiesen und Wälder um die Siedlungen herum und haben damit für den Heimatschutz konkreten Einfluß auf die Wirkung der Dorfbilder.247 Gerade der Wald, der besonders in Waldeck große Flächen Land einnimmt und die neuen Siedlungen umringt, wird nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht als Holzlieferant und als Wetterschutz hochgeschätzt.248 Auch in künstlerischer Hinsicht schaffe er es, Siedlungen zu festen Gruppen zusammenzuschließen und ein „echtes Ortsgefühl“ zu erreichen.249 Heinrich von Salisch spricht daher von „Forstkunst“ und „Forstästhetik“, welche die Lehre von der Schönheit des Wirtschaftswaldes umfasse.250 Als Teile der Nutzgärten sind in den Waldecker Dörfern, Böhmenkirch sowie Golenhofen hinter den Gehöften Obstgärten angelegt. Diese Obstbaumgürtel umschließen die Dörfer 242 243 244 245 246 247 248 249 250 Hoermann 1913, S. 99f. Vgl. Mielke 1910a, S. 113 und 116. Schultze-Naumburg 1917, S. 173. Vgl. dazu auch Altenrath 1914, S. 30 und Ehmig 1916, S. 168. Rebensburg 1913, S. 200. Vgl. Lux 1911, S. 86. Auf die jeweiligen Flurformen kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Vgl. Pinkemeyer 1910, S. 40. Vgl. Ehmig 1916, S. 170. Vgl. Lange 1910, S. 80-85. Rebensburg glaubt sogar eine Charakterverwandtschaft zwischen Baum und Bauer festzustellen: „Stammes- und Familienart lassen genügend Spielraum für einen Individualismus, der in beiden sich oft zu knorrigem Eigensinn auswächst; tief und fest wurzeln beide in der Scholle, aus dem Boden saugen sie die Kräfte ihres Wachstums, entwurzelt siechen sie hin.“ Rebensburg 1913, S. 153. 127 Das Dorf als städtebauliches Projekt schützend und vereinheitlichend und setzen sie mit der umgebenden Landschaft in Beziehung. Durch sie wird der Bruch von den flachen oder flachhügeligen Äckern und Feldern hin zu den dörflichen Gebäuden abgemildert und angepaßt. Hinzu kommt laut Willy Lange, daß das „nackte Land“ neuer Ansiedlungen mit Bäumen und Gebüsch „heimisch“ gemacht werden könne.251 Auch praktische Gründe sollten zur Anpflanzung von Bäumen führen, da sie als Windschutz und als Blitzableiter gute Dienste leisten könnten.252 Auch im Ort selbst wird eine reichliche Durchsetzung mit Grünflächen empfohlen.253 Schwindrazheim notiert dazu: „Grün im Straßenbild hebt dessen Schönheit stets, einerlei ob es als feierliche Allee, als Baumgruppe oder charaktergebender einzelner Baum, als Efeu, Wein oder Kletterrose am Hause, als allerlei Mauer- und Zaungerank oder sonstwie auftritt – es kann einer sonst reizlosen Straße höchste Reize schenken.“254 In den Waldecker Dörfern sind (Abb. 103, 106, 107) entlang der Straßen Baumreihen eingezeichnet. Obwohl diese letztlich nie gepflanzt werden, wird doch deutlich, für wie wichtig Meyer diese bei der Gestaltung des Ortsbildes hält. Darin geht Meyer auch mit Robert Mielke konform, der den baumbewachsenen Seitenstreifen für ein Verbindungsglied hält, das von der öffentlichen Straße zum Sondereigentum „malerisch“ überleite.255 Statt einer straßenseitigen Bepflanzung werden in Neu-Bringhausen und Neu-Berich letztlich nur die Kirchplätze mit Linden umpflanzt.256 Ein solcher Baumbestand gehöre, so Mielke, zu den ästhetischen Mitteln der Dorfkirche, ohne die sie „öde und nüchtern“ scheine.257 Da der Kirchhof in Neu-Berich als Festplatz geplant ist und auch heute noch als solcher genutzt wird, dienen die mittlerweile ausgewachsenen Linden im Sommer als Schattenspender. Auch ein Straßenbrunnen an der Kirchmauer Neu-Berichs wird (zumindest im Plan) mit Bäumen umpflanzt und mit einer steinernen Sitzbank als Ruheort versehen258 (Abb. 113). 251 252 253 254 255 256 257 258 Vgl. Lange 1910, S. 22. Vgl. ebd., S. 81. Vgl. Venitz 1913, S. 5. Schwindrazheim 1913, S. 17. Vgl. Mielke 1910a, S. 159. Auf der von Meyer vor April 1911 gezeichneten Vogelperspektive sind weder Alleebäume noch Bäume rund um den Kirchhof eingezeichnet. Diese frühe Zeichnung enthält mehrere Elemente, die später anders ausgeführt wurden. Meyer scheint auf dieser Zeichnung mehr Wert auf die Baulichkeiten und das Gesamtensemble gelegt zu haben. Im Modell jedoch, daß er 1913 in Leipzig auf der Internationalen Baufachausstellung ausstellt, sind an jeder Straßenseite Baumreihen in einem Abstand von ca. 10 Metern angepflanzt. Der Kirchplatz, der im Modell im Vergleich zur endgültigen Ausführung sehr viel kleiner gestaltet ist, sind noch keine Bäume um den Kirchplatz geplant. Grund dafür ist wahrscheinlich, daß die endgültige Gestaltung der Kirche, die erst 1914 fertiggestellt wird, zum Zeitpunkt der Fertigung des Modells noch nicht festgelegt ist. Vgl. Mielke 1910a, S. 242. Heute befinden sich statt der Steinbänke Kunststoffbänke neben dem Brunnen. Die Bäume bestehen, wenn sie je gepflanzt wurden, heute nicht mehr, der Platz wird jedoch mittlerweile durch die hohen Linden des Kirchplatzes beschattet. Das Dorf als städtebauliches Projekt 128 Solch schattige Plätze hält Lange nicht nur für zweckmäßig, erquickend und höchst wirkungsvoll, sondern auch für billig, dauerhaft und „von Jahr zu Jahr schöner“.259 In Golenhofen existierte dagegen auch schon vor der Besiedlung eine regelmäßige Bepflanzung der Straßenseiten mit Schwarzpappeln (Abb. 3-5). Da der Bestand der Alleen jedoch lückenhaft ist, wird er mit Eschen und mit Pflaumenbäumen ergänzt. Eine Begrünung des Dorfes ist für den Architekten Paul Fischer in ästhetischer Hinsicht von großer Bedeutung, wie eine Bemerkung über noch nicht bepflanzte Dorfanlagen beweist. Ihnen fehle das „vermittelnde Grün der Laubbäume“, sodaß sich ein „künstlerisch wenig befriedigender Anblick“ darbiete.260 Rebensburg geht noch weiter, indem er die Baumallee mit einem Architekturelement vergleicht, das „selbst in perspektivischer Anordnung abschließende Wände nach Art baulicher Massen“ bilde.261 Der Erhalt und die Nachpflanzung der Golenhofener Alleebäume hätte dem Lehrer der Königlichen Gärtnerlehranstalt in Berlin-Dahlem, Willy Lange, sehr gefallen. Denn er plädiert dafür, bereits vorhandene Bäume im Ansiedlungsplan besonders zu berücksichtigen: „Die alten Bäume sind ein Gruß der Vergangenheit, und die jungen, die wir pflanzen, grüßen die Zukunft.“262 Dieser Satz gewinnt mit Blick auf die untergegangenen Dörfer des alten Edertals an Eindrücklichkeit, denn die Dorflinde auf der Kreuzung Neu-Asels ebenso wie eine Kastanie am südlichen Ortsausgang stammen aus dem alten Berich und werden vor der Überflutung des Tales hierher verpflanzt.263 Die Linden auf dem Dorfplatz Neu-Asels und Neu-Bringhausens erinnern darüber hinaus an historische Vorbilder (Abb. 116, 120): „Was für das norddeutsche Dorf der Anger, das bedeutet in geselliger Beziehung für das fränkische die Dorflinde, die als ehemalige Gerichtsstätte und mit Bänken umhegt und als Schattendach auf Säulen gezogen ist.“264 Auch Willy Lange empfiehlt, unter einem großen Baum einen Arbeits-, Ruhe- und Sammelplatz mit Sitzgelegenheit zu schaffen.265 Die Ausstellungsdörfer bilden in Bezug auf ihre Naturnähe eine Ausnahme, denn sie liegen nicht in einer Umgebung aus Wald, Feld und Wiesen, sondern mitten in Leipzig und Köln auf eng bebauten Ausstellungsarealen. Damit fällt der natürliche äußere Rahmen des Dorfes weg. 259 260 261 262 263 264 265 Vgl. Lange 1910, S. 122. Vgl. Fischer 1911, S. 21. Vgl. Rebensburg 1913, S. 157. Vgl. Lange 1910, S. 22 und 122. Vgl. zum Erhalt alter Vegetation auch Lux 1911, S. 86. Nach mündlichen Aussagen Herrn Wilhelm Hilles aus Neu-Asel am 23.03.1999. Gradmann 1910, S. 135. Vgl. dazu auch Rebensburg 1913, S. 155. Vgl. Lange 1910, S. 68. 129 Das Dorf als städtebauliches Projekt Gerade am IBA-Dorf ist jedoch der Wunsch abzulesen, eine „friedliche Idylle“ 266 vor den Augen des Besuchers entstehen zu lassen. Daher wird eine Trennung des Dorfes vom Rest der Ausstellung durch seine Einbettung in künstlich gepflanzte Parkanlagen erzielt.267 Ein Zeitungsartikel spricht von einer „natürlichen Schutzmauer aus Busch- und Strauchwerk“ die passiert werden muß, um ins Dorf zu gelangen268 (Abb. 167) Diese soll die Illusion eines auf dem Lande liegenden Dörfchens erwecken. Auch der Dorfanger – ebenfalls mit Bäumen und Büschen bepflanzt (alternativ hätte man ihn ja auch wie im Vorgängerdorf als Teich gestalten oder mit Gebäuden besetzen können) – verdeutlicht den Wunsch, eine enge Verknüpfung des Dorfes mit der Natur zu erreichen. Im Neuen Niederrheinischen Dorf wird eine solche Abgeschlossenheit nicht erreicht, da das Dorf direkt an den Ausstellungsrundgang und die Musterfabrik des Walter Gropius anschließt. Trotzdem wird großen Wert auf die gärtnerische Bearbeitung der Dorfanlage gelegt, wie die Anstellung des Kölner Gartendirektors Fritz Encke zeigt. Dieser betont die Lage des Dorfes, angelehnt an das „grasige Rheinufer, das ein malerischer Bestand an alten Pappeln und Weiden ziert“269 und nutzt damit, wie von Lange empfohlen, die vorhandenen Pflanzenbestände. Auf Plätzen und Straßen beschränkt er sich daher auf nur wenige schattenspendende Bäume. Der übrige Pflanzenschmuck ist allein innerhalb der einzelnen Grundstücke zu finden. Die Bäume sind hier nahe der Zäune gepflanzt und ragen so belebend in die Dorfstraßen hinein. Regelmäßige Baumreihen, wie sie in Golenhofen zu finden sind, sind seiner Meinung nach im Dorf zu vermeiden.270 Nicht nur die großen Siedlungsstrukturen, sondern auch das Einzelhaus soll mit der Landschaft harmonieren. Die alten Bauernhäuser – laut vieler Heimatschützer wie selbstverständlich in die Landschaft eingebettet und mit ihr verwachsen271 – sollen daher auch in dieser Hinsicht als Vorbilder für Neubauten gelten. Die direkte Umgebung der Häuser soll laut Schultze-Naumburg so gestaltet werden, „dass zwischen Natur und Menschenwerk eine Einheit ohne sichtbare Naht entsteht“.272 Hierzu gehören vor allem die Hausgärten, die bei einem ländlichen Gehöft von Anfang an als Teil des ganzen Entwurfes betrachtet werden sollten.273 266 267 268 269 270 271 272 273 Von der IBA in Leipzig 1913, S. 441. Vgl. dazu Leipziger Tageblatt Nr. 394 vom 04.08.1912. In: StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 15. Vgl. Leipziger Neue Nachrichten Nr. 87 vom 30.03.1913. In: StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 40. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 40. Vgl. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 40. Encke hätte jedoch als Architekt Golenhofens die Baumbestände dort sicherlich ebenfalls erhalten und ergänzt. Vgl. Schaefer 1906, S. 5. Schultze-Naumburg 1908, S. 78f spricht von Haus und Landschaft als einem „großen Organismus“ und Tegernsee 1913, S. 18 glaubt: „Ein altes volkstümliches Haus sieht eigentlich immer wie ein Stück Natur aus.“ Schultze-Naumburg 1917, S. 202. Vgl. Spehr 1909, S. 46f. Wie groß in dieser Zeit das öffentliche Interesse an Gärten ist, beweist die Flut von Literatur, von der hier einige Beispiele aufgeführt seien. Von Carl Hampel stammt das Werk: Die Das Dorf als städtebauliches Projekt 130 Damit geht eine Kritik an neuen Gärten einher, die oft nur „Öde und Mißbehagen“ zu verursachen in der Lage seien:274 „Gegenüber den trauten Gärten von einst mit Hecke oder Staket, mit ihren netten Lauben und Bänken, die langweiligen modernen Gärten mit ihren häßlichen Eisengittern, Gnomen, Rehen usw. – alles von Poesie weit entfernt.“275 Gerade für junge Siedlungen, die noch nicht über alte Bäume verfügten, seien Gärten rasch wirksame Mittel, um eine Siedlung freundlich und heimisch zu machen. Wenn aus Mangel an Freude kein Garten hergerichtet würde, so könne dies dazu führen, daß die Kinder der Siedler sich unbewußt fortsehnten, weil der Ort ihrer Geburt nicht heimisch ist. Lange empfiehlt bei Kolonisierungen daher auch, landschaftskünstlerische Berater hinzuzuziehen.276 In den neu errichteten Dorfanlagen ist mit Ausnahme des Niederrheinischen Dorfes kein Landschaftskünstler hinzugezogen worden. Die Ansiedler legen ihre Gärten nach eigenen Bedürfnissen und Wünschen an. Die Nutz- und Obstgärten bilden einen bedeutenden Teil der bäuerlichen Selbstversorgung. Da in Golenhofen, in Böhmenkirch und in den Waldecker Dörfern nur wenig Platz vor den Häusern belassen ist, kommen diese Gärten vornehmlich hinter dem Hause zu liegen. Gerade der alte volkstümliche Bauerngarten wird als Vorbild für die Gestaltung neuer Gärten anempfohlen. Er bildet laut Schultze-Naumburg einen „lieblichen Rahmen“ für das bodenständige Bauernhaus, da er die zwei Grundelemente ‚Blumengarten’ und ‚Obstgarten’ in sich vereine.277 Die Blumengärten, so Schultze-Naumburg, zeigten die Freude, die der Bauer von ehemals am Leben und an der Erde hat:278 „Obwohl Nutzgärten bisweilen mit den Blumenbeeten vereinigt sind, ist der Wunsch überwiegend, einen wirklichen Blumengarten bei dem Wohnhause zu haben. Dieser Garten ist planmäßig angelegt, mit meist farbenreichen Blumen beplanzt und in Rabatten eingeteilt. Darin steht er allerdings für sich da, daß er nicht zum Lustwandeln geschaffen ist. Nur für das Auge des Bewohners sind die Beete in Kreise und andere krumme oder gerade Linien eingeteilt…“279 Einfachheit und Zweckmäßigkeit sollen trotz dieses Gestaltungswunsches die Grundlage jeglichen Gartens bleiben. Gerade die Vorgärten seien, so schreibt selbst das rationale „Hand- 274 275 276 277 278 279 Deutsche Gartenkunst, ihre Entstehung und Einrichtung. Leipzig 1902. Der besagte Fritz Encke schreibt das Buch: Der Hausgarten. Jena 1907. Dazu kommen Meyer, Franz Sales und Friedrich Ries: Die Gartenkunst in Wort und Bild. Leipzig 1904; Schneider, Camillo Karl: Deutsche Gartengestaltung und Kunst. Zeit- und Streitfragen. Leipzig 1904; der Band 2 von Schultze-Naumburgs Kulturarbeiten: Gärten. München 1905; Lux, Joseph August: Schöne Gartenkunst. Esslingen 1907; Hausgärten. Skizzen und Entwürfe aus dem Wettbewerb der Woche. Berlin 1908. Koch, Hugo: Gartenkunst im Städtebau. Berlin 1914 oder Migge, Leberecht: Die Gartenkultur des 20. Jahrhunderts. Jena 1913. Vgl. Schultze-Naumburg 1909a, S. 39f. Schwindrazheim Bd. 5, 1908, S. 10. Vgl. Lange 1910, S. 175 und 177. Vgl. Schultze-Naumburg 1905, S. 182. Vgl. ebd., S. 182 und Mielke 1910a, S. 231. Mielke 1910a, S. 231. 131 Das Dorf als städtebauliches Projekt buch der Architektur“, an der Dorfstraße erwünscht, da sie „manches Unangenehme, was mit dem Landwirtschaftsbetrieb verbunden ist, weniger zur Erscheinung kommen“ ließen.280 Karl Meyer schreibt über Neu-Berich, daß hier jedes Grundstück mit Vorgarten sowie Gemüse- und Obstgarten ausgestattet ist und dadurch „ein abwechslungsreiches, von nüchterner Gleichmäßigkeit freies städtebauliches Bild entstand“.281 Meyer hat sich also nicht nur um Nutzgärten, sondern auch um schmückende Ziergärten vor den Gehöften mit Sträuchern und Blumenbeeten als gestalterische Elemente im Dorfbild gekümmert. Der Vorgarten des Gehöftes Peuster ist im Grundriß erhalten: Man tritt durch das Zauntor auf einen schmalen, sich verbreiternden Pfad, zu dessen Seiten die Beete unregelmäßig angelegt sind und durchquert so erst einen blühenden Bauerngarten, bevor man zur Haustür gelangt282 (Abb. 143). In Golenhofen wird jeder Hofstelle neben einem Gehöft- auch ein Gartenplan zugewiesen.283Zwischen den Gehöften und der Straße bleibt vielfach noch ein Streifen Land frei, auf dem Vorgärten angelegt sind.284 Paul Fischer hält die Bepflanzung bäuerlicher Gehöfte im Dorf- und Landschaftsbild für entscheidend: „Denn die Umpflanzung mit Baum und Buschwerk, die Berankung mit Kletterwein, Epheu und Rosen, die hohen Hecken des Vorgartens hüllen das Gehöft als Landschaftsgebilde bald in die Farbenstimmung der Feldflur ein, aus der nur das rote Dach als hübscher Farbenkontrast freundlich hervorleuchtet.“285 Im IBA-Dorf haben Gärten hinter dem Gasthaus und dem Geschäftsbau nur den Zweck, den Besuchern einen ruhigen Sitzplatz im Freien zu ermöglichen. Die Pläne des Gehöfts zeigen, daß die Pferdekoppel im Hof und die Düngerstätte von Bäumen als Sichtschutz umringt waren (oder werden sollten) (Abb. 190). Im Neuen Niederrheinischen Dorf sind aus Platzmangel nur wenige Hausgärten und zwei Restaurationsgärten entstanden.286 Einfachheit sei für die Schönheit ländlicher Hausgärten eine Hauptbedingung, weiß Fritz Encke, und Willy Lange stimmt ihm hierin zu.287 Er solle daher in erster Linie praktisch sein und den Bedürfnissen der Hausbewohner Rechnung tragen. Im Niederrheinischen Dorf haben alle Wohnungen einen eigenen Garten, der auch als Erweiterung der Wirtschafts- und Wohnräume gedacht ist. Ein Grasplatz an kann als Bleiche 280 281 282 283 284 285 286 287 Weißbach 1902, S. 363. Dazu auch Rebensburg 1913, S. 174. Meyer 1923, S. 33f. Im Modell erkennt man, daß auch andere Gehöfte wie das des Bauers Siebel einen Vorgarten (hier mit kreuzförmigen Wegen) hatten. Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3385, Bl. 32. Der Besucher Schwochow schreibt: „Überall erblicken wir junge Obstbaumanpflanzungen, sorgfältig gepflegte Blumen- und Gemüsegärten und weiter hinaus fruchtbare Felder.“ Schwochow 1908, S. 33. Vgl. dazu: Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, S. 38 und 39. Hier ist von den Vorgärten der Gastwirtschaft und der Stelle 17 die Rede. Fischer 1911, S. 26. Vgl. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 40. Vgl. ebd., S. 41 und Lange 1910, S. 184. Das Dorf als städtebauliches Projekt 132 und als Spielplatz für die Kinder benutzt werden. Der Rest des Geländes, durch Wege erschlossen, ist Nutzfläche, mit Obst und Gemüse bepflanzt. Obwohl keine hochstämmigen Obstbäume Verwendung finden sollen, da sie eine Unternutzung schwierig machen, soll laut Encke nicht völlig auf höhere Bäume verzichtet werden, „da ein größerer Baum für die malerische Wirkung des ganzen Anwesens ebenso wie für die lauschige Behaglichkeit im Garten günstig ist“.288 Blumen dürften jedoch in keinem Garten ganz fehlen, da sie einen billigen, aber nicht minder wertvollen Luxus böten.289 Die Gärten der Wirtshäuser sind in der Art der Hausgärten bepflanzt, obwohl größere Kiesflächen für Sitzplätze vorgesehen sind. Hinter der Weinschenke in Richtung Rheinufer ist der Wirtsgarten von vier Bäumen beschattet, in deren Mitte ein Maibaum errichtet ist. An beiden Seiten sind buntgemischte Blumenbeete gepflanzt, zwischen denen die Tische und Stühle angeordnet sind. Im Hof des alkoholfreien Wirtshauses sind Blumenbeete längs der Mauer und an der Hauswand angelegt. Neben Blumenbänken vor den Fenstern schmücken auch Kübelpflanzen den Wirtshof.290 „So zeigen die Gärten im niederrheinischen Dorf, wie man in einfacher Weise die ländlichen Wohnstätten und Siedelungen mit Pflanzengrün und Blumenschmuck verzieren, wohnlich und lauschig machen kann.“291 Pflanzen und Blumen gelten bei den Heimatschützern – als Ersatz für die verhaßte gründerzeitliche Dekorationslust an Gebäuden – als natürlicher Schmuck eines Hauses:292 „Der Hauptschmuck des Hauses besteht zunächst im Fehlen dessen, was man vielfach als ‚Schmuck’ anspricht. Gips- und Stuckarbeit trägt es nie. [...] Ein natürlicher Schmuck ist sodann häufig in der Verwendung von rankendem oder kletterndem Pflanzenwerk gegeben, auch können der blumenprangende Vorgarten und der am Hause gefundene Baumbestand indirekt mit zur Schmuckgabe des Hauses herangezogen werden.“ Besonders die am Haus hochrankende Spalierpflanze wird von allen Heimatschützern als „ästhetische Bereicherung“ gelobt.293 Dazu kommt die Verwendung von Blumenkästen vor den Fenstern, die zur „ländlichen Poesie“ beitragen und das „natürlich belebende Element der ganzen Fassade“ abgeben würden.294 288 289 290 291 292 293 294 Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 42. Vgl. ebd. Als am meisten geeignete Blumen nennt er Stauden. Vgl. zu den von ihm empfohlenen Blumensorten ebd., S. 43. Vgl. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 43. Ebd. Vgl. Schwindrazheim Bd. 5, 1908, S. 15. Mielke 1910a, S. 140. Pinkemeyer 1910, S. 71f schlägt besonders Spalierobst vor und empfiehlt verschiedene Obstsorten. Dazu zitiert er eine Hausinschrift: „Blühende Rosen und rankende Reben geben dem toten Gemäuer erst Leben.“ Vgl. dazu auch Maßnahmen gegen bauliche Verunstaltungen in Stadt und Land 1908, S. 57 und Gradmann 1910, S. 133. Auch als bunter Schmuck für staatliche Gebäude wie Schulen wird die Spalierpflanze dringend empfohlen. Vgl. Winter 1911, S. 77. Vgl. Kahm 1914, S. 33, aber auch Gradmann 1910, S. 133 und Hoermann 1913, S. 97. Bei Pinkemeyer 1910, S. 72 ist sogar festgehalten: „Wo die Blumen auf der Fensterbank wohlgepflegt stehen, da hat der Frohsinn seine Stätte, da waltet ein guter Geist im Hause, da kann auch der düsterste Wintertag den Glauben an den Frühling nicht rauben. Fleiß, Ordnung und Schönheitssinn sind da verkörpert.“ 133 Das Dorf als städtebauliches Projekt Mit Blick auf die Ausstellungsdörfer verwundert es, daß im IBA-Dorf, das so viel Wert legt auf ein dörflich-idyllisches Aussehen, mit Ausnahme eines Blumenkastens im Obergeschoß des Gehöftes kein weiterer Pflanzenschmuck an den Fassaden der Gebäude auftaucht (Abb. 187). Dagegen werden im Neuen Niederrheinischen Dorf am Wohnhaus des Großen Gehöftes sowie am Arbeiterwohnhaus von Müller-Jena Blumenbänke bereits in den Zeichnungen vorgesehen und auch ausgeführt (Abb. 224, 234). In den Plänen eingezeichnet sind Spalierpflanzen am Kleinen Gehöft und am Arbeiterwohnhaus von Camillo Friedrich (Abb. 217, 220). In den Waldecker Dörfern werden weder Spalierpflanzen noch Blumenbänke eingeplant, während in den Bauplänen Golenhofens zumindest eine Spalierpflanze die straßenseitige Fassade der Stelle 32 schmückt (Abb. 43). In Böhmenkirch dagegen zeigen viele Zeichnungen, daß schon in der Vorplanungsphase Blumenbänke und Spalierpflanzen als integraler Teil der Fassadendekoration begriffen werden. Sie befinden sich vornehmlich an den Giebelseiten der Gebäuden, werden damit von der Straße aus gesehen und bilden (wenn sie denn ausgeführt wurden) ein wichtiges Schmuckelement im Dorfbild (z.B. Abb. 75, 85, 87, 93, 95, 97). Einfriedungen „Garten und Hof benötigen eines abschließenden Zaunes. Zumeist ist er nur als Fortsetzung der Hofabgrenzung anzusprechen, in einzelnen Gebieten mit hoher Gartenkultur auch als Holzstaket, dann aber in Verbindung mit Hecken durchgeführt.“295 Laut Lux sind einfache Zäune oder Mauern wie der Pflanzenschmuck Teil der Architektur.296 Mielke spricht sogar von einem Dreiklang aus „Zaun (Mauer), Hof (Garten) und Haus (Häusergruppe)“, der dem Haufendorfe „architektonische Klarheit“, wie „landschaftliche Stimmung“ gebe. Ohne sie fehle dem Auge ein Stützpunkt für die Orientierung.297 Mielke glaubt, daß die öffentliche Straße als Trägerin gemeinsamer Interessen und der Hof als Ausdruck persönlicher Freiheit in einem gewissen Gegensatz stünden, der durch eine Umrahmung künstlerisch überbrückt werden müsse.298 Welche Form der Umrahmung gewählt wird, hänge vom Ortsgebrauch ab, wobei das Einfache und Materialechte den größeren künstlerischen Reiz ausübe.299 Mit Vehemenz kritisieren die Heimatschützer daher die Verwendung von eisernen Gitterzäunen sowie Maschendraht als „abscheulich“, „entsetzlich“ und als Fremdkörper im Dorf.300 295 296 297 298 299 300 Mielke 1910a, S. 231f. Vgl. Lux 1911, S. 86. Sie bilden, so Lux, einen wichtigen Bestandteil für die architektonische Gesamtgestaltung. Laut Schwindrazheim 1901, S. 432 bildet der Zaun sogar einen der „Anfänge aller Kunst“. Vgl. Mielke 1910a, S. 134 und 136. Vgl. ebd., S. 217. Vgl. ebd., S. 216. Vgl. Schultze-Naumburg 1909a, S. 40f und 73, Lange 1910, S. 165 und Pinkemeyer 1910, S. 56. Das Dorf als städtebauliches Projekt 134 Ein wunderbar reizvolles Bild ergäben dagegen dichte Hecken als natürliche Grenzen.301 Materialien aus Holz, Lehm, Ziegeln oder Haustein stehen hoch im Kurs bei künstlichen Einfriedungen und gehen laut Lange durch Pflanzenbewuchs, Moose, Algen und Verwitterung – d.h. „die Patina der Natur“ – mit dieser eine enge Verbindung ein.302 Favorisiert wird von den meisten jedoch das einfache Holzstaket303 oder eine Verbindung von Mauerwerk und Lattenzaun.304 Diese beiden Formen der Einfriedung sind in den untersuchten Dörfern immer wieder anzutreffen. Im IBA-Dorf sind nur sehr wenige Zäune errichtet. Als Vorgarten-Begrenzung des Gehöftes ist ein Lattenzaun mit eingestellten schmalen Betonpfeilern angebracht (Abb. 187). Im Neuen Niederrheinischen Dorf sind vornehmlich Holzzäune zu finden, die passend zu den Fensterrahmen weiß gestrichen werden. Die Gründstücke hinter den einzelnen Gebäuden sind dagegen von „Jägerzäunen“ begrenzt, deren Latten diagonal zueinander genagelt und entweder ebenfalls weiß gestrichen oder naturfarben belassen sind305 (Abb. 215, 219, 222, 231, 234). Der für die Einfriedungen zuständige Fritz Encke hält die lebende Hecke für die schönste Möglichkeit, Grundstücke voneinander abzugrenzen. Da sie jedoch eine gewisse Zeit des Wachstums brauche, sei der Holzzaun (aus ungeschälten Rundhölzern von etwa Bohnenstangenstärke oder aus einmal gespaltenen dickeren Hölzern) dafür am geeignetsten. Drahtgeflecht lehnt er ab, bei den erwähnten „Jägerzäunen“ brauche auf lange Haltbarkeit sowieso kein Bedacht genommen werden, da die lebende Hecke den Zaun nach einigen Jahren entbehrlich mache.306 In Böhmenkirch sind vor den Gehöften keine Zäune vorgesehen. Um die Grundstücke vom Nachbarn abzugrenzen, werden höchstens einfache Stakete aufgestellt. Auch in Golenhofen taucht der einfache Lattenzaun immer wieder auf. Obwohl mit Rücksicht auf ein harmonisches Straßenbild Einfriedungen nicht zu oft wechseln sollten,307 befinden sich hier viele verschiedene Formen, die vom einfachen Lattenzaun über eine Mischung aus Lattenzaun und Ziegelpfeilern bis hin zu massiven Mauern reichen. Vor den Stellen 36/37 ist z.B. eine mit Ziegeln abgedeckte und verputzte Mauer errichtet, die in regelmäßigen Abständen von gemauerten Pfeilern unterbrochen wird. Die Stellen 40 und 16 sind von einem einfachen Lattenzaun begrenzt, eine weiß verputzte Mauer verbindet die Stellen 16 und 17 optisch mit301 302 303 304 305 306 Vgl. Schultze-Naumburg 1905, S. 182f und Meyer 1914, S. 184 und 193. Vgl. Mielke 1910a, S. 219 und Lange 1910, S. 165. Vgl. Pinkemeyer 1910, S. 56; Dorf und Hof 1909, S. 42 und Meyer 1914, S. 193f. Meyer zeigt auf den Seiten 185-191 verschiedene Beispielabbildungen für Lattenzäune und Holztore. Vgl. Lux 1911, S. 86 und Hoermann 1913, S. 97. Encke glaubt, dieser Zaun biete den Vorteil des geringsten Materialverbrauchs und die beste Möglichkeit zum Anheften junger Heckenpflanzen. Vgl. zu den Zäunen: Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 40f. 135 Das Dorf als städtebauliches Projekt einander. Die Gastwirtschaft Golenhofens wird von einem braunen Lattenzaun begrenzt, der auf einem massiven, weiß verputzten Fundament ruht. Die Lattenreihen sind nach oben hin wellenförmig abgeschlossen und wechseln mit verputzten Pfeilern ab, die von Ziegelpfannen satteldachartig abgedeckt werden. Allgemein läßt sich feststellen, daß die Hofstellen zur Straße hin repräsentativer abgegrenzt sind als zu den Nachbarseiten, wo einfache Staketenzäune vorgezogen werden308 (Abb. 3-5, 24, 33, 37, 41, 52, 58, 61). Auch der Architekt Paul Fischer lehnt Drahtgewebe für Zäune ab, da sie die Abscheidung nicht sichtbar zum Ausdruck bringen, „wie bei Vorgärten, wo die Straße als Begriff der Öffentlichkeit sich vom Privateigentum möglichst deutlich unterscheiden soll“.309 Stattdessen sollen die Gehöfte den Eindruck eines „organischen Gesamtkörpers“ machen: „Solange die Umwehrung fehlt, stehen die Bauten unvermittelt und hart in der Feldflur, wie etwas, was nicht hingehört. Erst die Einfriedigung, die den Gegensatz zwischen Flur, Straße und Hof deutlich zur Erscheinung bringt, vollendet künstlerisch das Hofbild.“310 In den Waldecker Dörfern sind die meisten Höfe von einfachen Staketenzäunen umgeben, einige werden jedoch von massiven Pfeilern gehalten311 (Abb. 130, 132, 139, 144). Die Neu-Bringhäuser können zwischen einem gehobelten oder gestrichenen Lattenzaun, zwischen Hecke oder Mauerwerk wählen, müssen aber der Ortspolizeibehörde ihre Wahl unter Beifügung einer Grundrißskizze anzeigen.312 Während die Schule in Neu-Bringhausen einen untersockelten Lattenzaun mit unverputzten Ziegelpfeilern erhält, entscheiden sich die Bewohner vornehmlich für den praktischen und kostengünstigen Lattenzaun, der schon in den alten Dörfern üblich war. Willy Lange ist der Ansicht, daß sich im alten Dorf nichts vordränge, sondern je nach Bedeutung innerhalb des Ensembles abgestuft sei. Damit begründet er, daß die Umfriedung von Kirchen als zentrale Gebäude im Ort, meist gemauert gewesen sei.313 Auch der Architekt Golenhofens, Paul Fischer, betont, daß zur Kirche eine Umzäunung gehöre: „Es ist eine aus städtischer Bauweise übernommene Unsitte, die Kirche ohne deutlich sichtbare Einfriedigung zu lassen.“314 Er kritisiert das eiserne Gitter als „stilwidrig und unmalerisch“ und empfiehlt eine Feldsteinmauer, die der Wirkung des Bauwerks nicht im Wege stehen solle.315 307 308 309 310 311 312 313 314 315 Vgl. Meyer 1914, S. 193. Vgl. Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, S. 35 und 39. Vgl. Fischer 1911, S. 25. Vgl. Fischer 1911, S. 26. Vgl. zu Neu-Berich: Meyer 1923, S. 34. Vgl. Wenzel 1989, S. 145f. Vgl. Lange 1910, S. 166. Fischer 1911, S. 27. Vgl. ebd. Das Dorf als städtebauliches Projekt 136 Obwohl Fischer vehement eine Ummauerung fordert, bleibt sein Bethaus in Golenhofen ohne Umzäunung (Abb. 12). Entscheidet er sich durch die Verbindung der Kirche mit der Schule direkt am Dorfplatz bewußt für eine offene Stellung des Gebäudes? Auf diese Frage kann keine eindeutige Antwort mehr gefunden werden. In Neu-Bringhausen ist die Kirche zumindest mit einem Lattenzaun umgeben, der aber am Eingang zum Kirchhof durch ein Stück Bruchsteinmauer ersetzt ist. Zwei um eine Steinlage höher gemauerte Pfeiler mit dekorativen Steinkugeln als Abschluß und einer hölzernen Pforte dazwischen betonen den Eingang auf den Kirchhof zusätzlich (Abb. 116). In NeuBerich dagegen ist der Kirchhof fast durchgehend von einer etwa ein Meter hohen Mauer aus Werksteinen umfriedet, die nur an der Südostseite der Kirche durch einen Staketenzaun ersetzt wird. In die Mauer sind die von der Kirchenversetzung übrig gebliebenen Maßwerkelemente eingemauert. Ein aufwendig mit Biberschwänzen gedecktes, satteldachartig geformtes Tor mit rundbogiger Öffnung erschließt den Kirchhof und den westseitigen Kircheneingang (Abb. 124). Solch ein überwölbtes Tor gehört nach Gradmann zu einer Kirchenmauer,316 die so einfach gestaltet sein sollte wie möglich, um den Eingang zur Geltung zu bringen, „in dem nicht selten die bäuerliche Kunst einen Höhepunkt erreicht hat“.317 Während im IBA-Dorf zumindest eine Mauer zwischen Kirche und Schule gespannt ist (Abb. 171), findet sich im Neuen Niederrheinischen Dorf eine etwa 1,50 Meter hohe Ziegelmauer um den gesamten Kirch- und Friedhof (Abb. 215). Fritz Encke, der den Friedhof gestaltet, begründet die blickdichte Umzäunung mit den Vorbildern alter hegender Hecken oder Bruchsteinmauern, in die solche Gräberfelder einst eingebettet waren: „Welch andere Stätte führte den Menschen so zur Sammlung und Besinnung?“318 Friedhöfe Vor allem hygienische Gründe führen dazu, daß Friedhöfe nur noch außerhalb des Ortes angelegt werden dürfen,319 was Mielke sehr bedauert.320 Auch Gradmann macht deutlich, wie „schön“ es sei, wenn die Kirche noch vom Friedhof und der Kirchhofmauer sowie von Bäu- 316 317 318 319 320 Vgl. Gradmann 1910, S. 137. Vgl. Mielke 1910a, S. 250. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 35. Sohnrey zieht der Mauer oder dem Staket eine lebendige Hecke aus Weißdorn oder Tannen vor. Wo eine Mauer praktischer sei, da soll zumindest auf eine einfache architektonische Gliederung gesehen werden. Vgl. Sohnrey 1908, S. 329. Lange dagegen empfiehlt eine aus bodenständigem Naturstein hergestellte Friedhofsmauer. Vgl. Lange 1910, S. 89. Dazu zählt Lange gesundheitliche Gründe, Beziehungen des Grundwassers zu den Brunnen des Ortes, Bodenzustände mit ihrer physikalisch-chemischen Wirkung und die Bodenpreise. Vgl. ebd., S. 86. Vgl. Mielke 1910a, S. 247f. Vgl. Mielke 1905b, S. 57. Zur Gestaltung neuer Friedhöfe vgl. ausführlich Mielke 1905b, S. 60-66. 137 Das Dorf als städtebauliches Projekt men umgeben sei.321 Die Autoren finden sich trotzdem mit den neuen Gegebenheiten ab, und besonders Mielke sucht nach Alternativen für den nicht mehr genutzten Kirchhof. Er eigne sich zu einem „stillen Ehrenplatz“ für die Geschichte des Ortes, auf dem man neben den alten Grabdenkmälern alles aufstellen könne, was an witterungsbeständigen Denkmalen des Ortes vorhanden sei.322 Es bleibt als Problem die Gestaltung des außerhalb liegenden Friedhofs. So solle eine möglichst windgeschützte und von den Besuchern schnell und leicht zu erreichende Lage gewählt werden.323 Wo die Friedhöfe fern von der Siedlung lägen, mache die Anlage meist einen trostlosen und vernachlässigten Eindruck.324 Man müsse bei seinem Entwurf den Einfluß der Landschaft berücksichtigen. Mielke und Lange glauben, daß zumindest ein Gebiet gewählt werden solle, daß durch einen vorhandenen Baumbestand freundlich gestimmt ist. Wo möglich, solle der Friedhof an einen Wald angelehnt oder teilweise in ihn eindringend angelegt sein.325 Der Friedhof des Dorfes Neu-Berich liegt etwa 300 Meter südwestlich davon am Waldrand. Der Architekt Meyer ist mit der Plazierung des Friedhofs am Waldrand den Vorschlägen der Heimatschutzbewegung gefolgt. Der neue Friedhof in Neu-Bringhausen ist zu einer Zeit angelegt worden, als der Standort des Dorfes noch nicht endgültig festliegt. Daraus resultiere, so kritisiert ein ehemaliger Bürgermeister, die Lage des Friedhofes am Fuße des Berges, weit weg vom Dorfe. 326 Auch der Friedhof des Dorfes Golenhofen liegt nicht mitten im Ort, sondern als quadratischer Platz an der westlich das Dorf verlassenden Straße, etwa 100 Meter vom Gemeindehaus entfernt. „Die Stelle in der Feldmark, die als Ruhestätte der Toten vor den kreisärztlichen Augen Gnade findet, ist gewöhnlich ein entlegener, öder, trockener Sandhügel, auf dem alle Versuche, ihn durch Anpflanzung freundlicher zu gestalten, scheitern“, klagt der Architekt Paul Fischer. „Wie sehr werden wir in dieser Hinsicht durch die Sitte unserer Altvordern beschämt, die ihre Toten in der geweihten Erde des Platzes um die Kirche bestatteten, wo der allsonntägliche Besuch ihnen Gelegenheit bot, über Pflege und Schmuck der Grabstätten ihrer Lieben zu wachen.“327 321 322 323 324 325 326 327 Vgl. Gradmann 1910, S. 135. Vgl. Mielke 1910a, S. 146. Vgl. Sohnrey 1908, S. 329. Vgl. Lange 1910, S. 87: „...ein gemiedener Ort, der von der Siedelung abgewendet ist wie ein Kehrichthaufen, eine Stätte des Todes und Unrates, statt ein Wahrzeichen der Kultur der Lebenden“. Vgl. Mielke 1905b, S. 61f und Lange 1910, S. 88. Vgl. Münch 1989, S. 78f. Gedruckte Aktennotiz des Bürgermeisters Rottmann vom 18. November 1969. Kopie aus dem Privatbesitz des Bringhauser Heimatkundlers Klaus-Peter Wenzel. Fischer 1911, S. 27. Das Dorf als städtebauliches Projekt 138 Auch Fischer glaubt, daß keine andere Einfriedung den abgeschlossenen Charakter des Friedhofes deutlicher zur Erscheinung bringen könne als die massive Umfassungsmauer.328 Bei den Ausstellungsdörfern ist wie selbstverständlich das durchgeführt, was bei den anderen Dörfern aus hygienischen Gründen unterlassen werden muß: Hier werden die Friedhöfe im Sinne der Heimatschutz-Vorstellungen direkt an die Kirche angelehnt. Sicherlich ist bei den Zwängen einer beschränkten Ausstellungsfläche naheliegend, den Friedhof an seiner historisch gesehen üblichen Stelle anzulegen. Andererseits wirkt diese Kombination auf Ausstellungen, die dezidiert moderne Dorfanlagen zeigen wollen, altertümelnd. Im IBA-Dorf zieht sich der Friedhof nordöstlich der Kirche entlang und enthält eine Grabmals-Ausstellung. Von kurvigen Kieswegen durchzogen wechseln sich hier laut Herzog Reihengräber mit einer parkartigen Anordnung der Grabstellen ab. Für eine Trennung der Ruhestätten sorgen grüne Hekken, und Bäume beschatten den Platz. Neben dem Dorffriedhof sei auch eine städtische Friedhofsanlage zu sehen, die der Leipziger Künstler Seffner geliefert habe.329 Sie reizt zur Kritik, da sie ein nur wenig dörfliches Gepräge zeige.330 Max Krämer schreibt sogar: „Der anliegende Friedhof ist größtenteils eine Ausstellung von Grabmälern deutscher Granitlieferanten. Recht häßlich wirkt ein metallener Engel; wir sollten stolz darauf sein, daß die Zeiten solcher Symbole auf unseren Friedhöfen vorüber sind.“331 Mit dieser ‚städtischen’ Friedhofsanlage widerspricht das IBA-Dorf dem eigenen Grundgedanken, eine rein dörfliche Anlage präsentieren zu wollen (Abb. 175). Es verwundert wenig, daß auch die Heimatschützer die moderne Denkmals-Industrie mit ihren laut Mielke „undeutschen Eindringlingen“332 verachtet. Porzellan, Steingut, Zement oder Marmor werden danach als „gleichgültiger Tand“333 abgetan. In seinem Aufsatz über den Dorffriedhof im Neuen Niederrheinischen Dorf schreibt Fritz Encke ebenfalls eine lange Abhandlung über die in Massen hergestellten Industrie-Grabmale, deren hervorstechendste Merkmale die „Schablone“, „Aufdringlichkeit“ und „Scheinwesen“, „Gemütlosigkeit“ und „Flachheit“ seien. Daher lehnt er Engelfiguren, Köpfe und andere Rund- und Reliefplastik sowie alle Formen geschichtlicher Stile rigoros ab.334 Der von ihm gestaltete Friedhof soll daher ein vorbildliches Beispiel für eine wiedergewonnene Qualität zeigen, die nicht nur die Grabmale und Kreuze, sondern auch Umfriedun328 329 330 331 332 333 334 Vgl. ebd. Vgl. Herzog 1917, S. 269. Er fügt hinzu: „die häßlichen, hundezwingerartigen Eisengitter um kleine Grabstellen fehlten gänzlich...“ Vgl. Leipziger Tageblatt Nr. 229 vom 08.05.1913. In: StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 153. Krämer 1913, S. 552. Mielke 1905b, S. 64. Mielke 1910a, S. 248 und Mielke 1905b, S. 64. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 36-38. 139 Das Dorf als städtebauliches Projekt gen, Mauern und Hecken mit einbezieht. Ein Rundweg läuft hier an der Friedhofsmauer entlang, an der ebenso Grabsteine aufgestellt sind wie in der Mitte des dadurch entstehenden Platzes. An der Kirche und der Schmiede sind die Wege etwas erweitert, sodaß sich schattige Ruheplätze unter Bäumen ergeben. Jegliche Regelmäßigkeit in der Wegeführung oder bei den Anpflanzungen vermeidet er, um den bescheidenen Dorffriedhof nicht in straffer, städtischer Weise zu gliedern wie in den Städten. Der Platz ist schlicht mit Gras bewachsen, die Gräber erheben sich kaum über die Ebene, wobei auf Grottensteine, eiserne Einfriedungen oder Stein- und Zementfassungen verzichtet wird. Der Blumenschmuck soll der gleiche sein wie bei Hausgärten, anstatt Obstbäumen sollen jedoch eher Zypressenarten, Trauerweiden oder Eschen verwendet werden.335 In der Hoffnung, daß die Grundgedanken des Heimatschutzes sich durchsetzen und der „trostlosen Verödung“ der Friedhöfe entgegenwirken,336 verwendet er selbst nur Denkmäler, die aus Holz, Eisen oder Stein gefertigt und einfach gehalten sind:337 „Ein solcher ländlicher Gottesacker“, so glaubt er, „erheischt wenig Pflege und gewährt in seiner Abgeschlossenheit, mit den einfachen Denkmälern und dem bescheidenen Blumenschmuck einen feierlichen aber dabei traulichen Anblick“338 (Abb. 203). 1.1.8. Wasserleitungen, Brunnen, Baderäume und Aborte „Bis in die neueste Zeit hat es in den deutschen Dörfern wohl nicht besser betreffs der Hygieine ausgesehen, als vor einer Reihe von mehreren hundert Jahren, zu Beginn des 16. und 17. Jahrhunderts.“339 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt sich in Deutschland eine Wissenschaft von der Hygiene, die Gesundheitslehre.340 Wichtiger Protagonist ist Max von Pettenkofer, der auch die Wechselbeziehung zwischen Haus und Gesundheit untersucht.341 Städtische Mietskasernen mit ihren dunklen und schlecht zu belüftenden Seiten- und Hinterhäusern lassen die umfassende Forderung nach ausreichender Versorgung der Menschen mit Licht und Luft laut werden. Da in der Luft Krankheitskeime vermutet werden, gilt „saubere“ Luft als Voraussetzung für die Gesundheit: Ein ausreichender Luftaustausch in den Wohnungen wird daher für 335 336 337 338 339 340 341 Hier ist nicht der Platz, detailliert über verschiedene zur Anwendung gekommene Pflanzenarten zu sprechen. Vgl. dazu ebd., S. 40-43. Ebd., S. 38. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 40. Ebd., S. 41. Zur Beschreibung des Friedhofes vgl. ebd., S. 40f. Ebstein 1902, S. 6. Diese ist von Anfang an eng mit der Wohnhygiene verknüpft. Vgl. Artelt/Heischkel 1969, S. 52ff: „Der Hausbau, Einrichtung und Benutzung der Wohnräume, deren Belüftung, Beleuchtung und Heizung, die Versorgung mit Wasser und die Beseitigung der Abfallstoffe wurden Gegenstand experimenteller Forschung.“ Vgl. zu Gesundheitskonzepten im Städtebau zwischen 1870 und 1918 auch Rodenstein1988, S. 105-170. Vgl. Rodenstein/Böhm-Ott 1996, S. 458. Das Dorf als städtebauliches Projekt 140 eine gesunde Wohnung vorausgesetzt. Dem Licht wird dagegen eine keimtötende Wirkung zugeschrieben, die durch das Ozon bewirkt werde, das sich aus Sauerstoff und Sonnenlicht bilde. Daher müsse eine hygienische Wohnung auch ausreichend mit Licht versorgt werden.342 Es entsteht die experimentelle Hygiene, die über den Sauerstoffverbrauch eines erwachsenen Menschen oder die keimabtötende Wirkung des Ozons Regeln für die Anlage von Häusern und Wohnungen aufstellt.343 Sie wird, durch die Entdeckung des Tuberkelbazillus von Robert Koch 1883, durch die bakteriologische Hygiene ergänzt. Die Verbreitung der Volkskrankheit Tuberkulose wird in direkten Zusammenhang gebracht mit den katastrophalen Wohnverhältnissen.344 Wie aktuell das Thema Hygiene noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland gewesen ist, zeigt der 1911 in Dresden abgehaltene III. Internationale Kongreß für Wohnungshygiene mit einer Hygiene-Ausstellung von Karl August Lingner und Friedrich Renk.345 Diese Erkenntnisse erreichen mit einiger Verspätung auch das Land und werden auch hier auf zu dunkle und schlecht belüftete Häuser angewendet: „Den Wandel können wir täglich beobachten; er vollzieht sich in den Städten geräuschvoller, auf dem Lande stiller; überall aber brechen sich im allgemeinen die neuzeitlichen Anschauungen, die baulichen Anlagen wirtschaftlich zweckmäßiger und auch hygienischer zu gestalten, erfreulich Bahn.“346 Daß die Frage nach sanitären Anlagen wie Wasserleitungen, Waschmöglichkeiten und Abortanlagen keinen großen Raum einnimmt in den Werken der Heimatschutzautoren ist nicht verwunderlich, legen sie durch ihren rückwärtsgewandten, ästhetisch-romantischen Ansatz mehr Wert auf die Gestaltung von Dorf und Bauernhaus. Es sind daher eher die dem Heimatschutz nahestehenden Praktiker, v.a. Architekten, die sich auch den sanitären Notwendigkeiten eines Hauses widmen. Die Heimatschutzbewegung dagegen weist darauf hin, daß ältere Bauernhäuser den modernen hygienischen Anforderungen durchaus gewachsen seien und ihnen nicht weichen müßten. Schultze-Naumburg glaubt sogar, daß die alten Häuser den Ausdruck von Freundlichkeit, Gesundheit, Anmut und Stille hervorriefen, also Eigenschaften, die den Kernpunkt der Lebenshygiene ausmachten.347 Auch Hinz warnt davor, daß „die ganze großväter- 342 343 344 345 346 347 Vgl. ebd. Vgl. Rodenstein 1988, S. 127. Vgl. Rodenstein/Böhm-Ott 1996, S. 458. Vgl. Goerke 1969, S. 52f. Hier kommen Probleme des Städte- und Hausbaus, der Städtereinigung, der Wohnungspflege, Lüftung und Heizung, Beleuchtung und Wasserversorgung zur Sprache. Kühn, Bd. 2, 1915, S. 21-23. Joseph Stübben faßt die gesundheitlichen Vorschriften in den Bauordnungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts so zusammen, daß Licht und Luft die oberste Priorität hätten. Dazu komme die Wasserversorgung und Beseitigung der flüssigen und festen Abfallstoffe, dazu der Schutz gegen Belästigung durch gewerbliche Betriebe. Vgl. Stübben 1902, S. 6. Schultze-Naumburg 1908, S. 204. Er möchte jedoch nicht als „reaktionär“ bezeichnet werden und weist deshalb darauf hin, daß sein Endziel kein bloßer status quo ante sei, sondern eine Weiterentwicklung impliziere. An anderer Stelle sagt er, daß sich Bauernhäuser in Richtung Gediegenheit sowie technischer 141 Das Dorf als städtebauliches Projekt liche Poesie der Bauernstube [..] durch die nüchterne Prosa hygienischer Verfeinerung ertötet“ werde.348 Trotz dieser sozialromantischen Verklärung des Bauernhauses können auch die Heimatschützer sich nicht vor der großen Bedeutung hygienischer Neuerungen verschließen. Gerade auf dem Lande, weiß Pinkemeyer, ist die Verschlechterung der Bauweise ein noch ernsteres Problem als in der Stadt, wie auch die hohe Säuglingssterblichkeit belege.349 Tatsächlich ist eine Sanitärausstattung auf dem Lande in manchen Gegenden noch bis ins 20. Jahrhundert hinein kaum vorhanden, viele Menschen holen das Wasser noch von Brunnen.350 Die Brunnen seien jedoch, so der Mediziner Wilhelm Ebstein im Jahre 1902, häufig mit Kochsalz und organischen Bestandteilen versetzt, die aus den nahegelegenen Abort- und Mistgruben dort eindringen könnten. Er empfiehlt daher den Bau einer geschlossenen und einwurfsfreien Wasserleitung, die Verunreinigungen von vorneherein ausschließt und Krankheiten, an erster Stelle den Typhus, verhindern könne.351 Daran schließen sich nicht nur Mediziner, sondern auch dem Heimatschutz nahestehende Architekten wie Ernst Kühn und Philipp Kahm an.352 Wasserleitungen In Böhmenkirch ist das Problem des verunreinigten Wassers bis ins Jahr 1880 ein ernsthaftes Problem. Eine Denkschrift zur Wiener Weltausstellung 1873 über die Albwasserversorgung im Königreich Württemberg notiert: „Wehe dem Fremden, der in einem der primitiven Albdörfer, wo die Strohdächer überwiegen und man rein auf das Regenwasser angewiesen ist, ein Bedürfnis anwandelt nach einem Glas Wasser! Strohgelb bis kaffeebraun hat sich das Wasser gefärbt, das von den Strohdächern niederrinnt. Nur wer von Jugend auf an den Anblick dieses Wassers sich gewöhnt hat, vermag ohne Abscheu das Glas an die Lippen zu setzen. Ganz unsäglich vollends ist die Flüssigkeit, die in den Hülen [den Dorfteichen, aus denen das Vieh getränkt wird, auch Hülbe genannt; d.Verf.] sich sammelt, einer grünbraunen Jauche gleich verdient sie kaum mehr den Namen Wasser.“353 Hilfe bringt am 01.07.1878 eine in Heidenheim entwickelte Pumpwasserleitung, die im Jahre 1880 auch das Dorf Böhmenkirch mit frischem Wasser aus dem Tal versorgt.354 Daran werden auch im Jahre 1910 alle nach dem Brand neu errichteten Gehöfte direkt angeschlossen. 348 349 350 351 352 353 354 und sanitärer Vollkommenheit immer mehr verbessern sollten, ohne jedoch die wertvollste geistige Errungenschaft des deutschen Bauerntums einzubüßen. Vgl. Schultze-Naumburg 1917, S. 182f. Vgl. Hinz 1911, S. 99. Er spricht hier konkret vom Verbot der Butzenscheiben in Bauernhäusern. Vgl. Pinkemeyer 1910, S. 44f. Vgl. zum Stand der Dorf- und Stadthygiene auch Ebstein 1902, S. 1-38. Vgl. von Saldern 1997, S. 256f. Vgl. Ebstein 1902, S. 92-94. Ebstein untersucht in seinem Werk die Wechselbeziehungen zwischen Dorfund Stadthygiene. Vgl. zu Wasserversorgungsanlagen Ende des 19. Jahrhunderts auch Artelt/Heischkel 1969, S. 59f. Vgl. Kühn, Bd. 2, 1915, S. 28 und Kahm 1914, S. 41 Vgl. Lang/Oßwald Bd. 1, 1990, S. 314. Vgl. ebd., S. 315-317. Das Dorf als städtebauliches Projekt 142 Das Ansiedlungsdorf Golenhofen profitiert ebenfalls insofern von den sanitären Fortschritten, als es eine Wasserleitung erhält, die mit einem Sammelbrunnen nördlich der Arbeiterstelle 37 verbunden ist und von dort jedes einzelne Haus und den Marktbrunnen mit Grundwasser versorgt (Abb. 2). Die Wasserpumpe wird durch einen Windmotor betrieben, der bei Windstille durch ein mit Pferden in Bewegung gesetztes Göpelwerk ersetzt werden kann.355 Aus den meisten Gehöftplänen geht jedoch hervor, daß neben der Wasserleitung in jedem Hof noch ein zusätzlicher Privatbrunnen gegraben ist.356 Diese Brunnen befinden sich in der Nähe der Ställe und Dunggruben und geraten damit, wie Ebstein warnt, in Gefahr, giftige Stoffe aufzunehmen. Laut Schubert müssen Brunnen mindestens 5-10 Meter von Ställen, Düngerstätten und Aborten fern bleiben.357 Dies ist in Golenhofen nicht der Fall. Womöglich sind die Privatbrunnen nur für Wirtschaftszwecke oder als Notreserve in regenarmen Zeiten gedacht. Der Wiederaufbau der drei Waldecker Dörfer wird wesentlich dadurch bestimmt, ob es in der Nähe Quellen gibt, die die Wasserversorgung der Bewohner gewährleisten können. In Neu-Bringhausen bietet sich dazu eine ungefaßte Quelle in der sogenannten „Finsteren Höhle“ im Domanialwald an, die ergiebig ist und ausreichend hoch liegt. So wird das Wasser über eine geschlossene Wasserleitung in die einzelnen Gebäude transportiert.358 Tages- und Hausabwässer können in die am Rande der Dorfstraße vorhandenen Graben geführt werden.359 Auch Neu-Asel erhält eine Wasserleitung, die aus einer Quelle direkt oberhalb der Straße B (heute „Zum Homberger Born“) gespeist wird.360 Entscheidend für die Lage des Ortes Neu-Berich auf der ehemaligen Domäne Büllinghausen ist eine Quelle in der Nähe des Bauplatzes, von der eine Wasserleitung die Trinkwasserversorgung des Dorfes regelt. Durch diese kann dem Dorf das Wasser mit natürlichem Gefälle zugeleitet werden.361 Neben künstlerisch-ästhetischen Fragen kümmern sich auch die Planer des Neuen Niederrheinischen Dorfes Wert um eine Wasserleitung und die Entwässerung: „So wird man in manchem Arbeiterhause Einrichtungen finden, wie Heizungs- und Herdanlagen, Warmwasserversorgung u.a., welche in vielen Mittelwohnungen aus früherer Zeit vergeblich gesucht werden.“362 Die Wasserleitungen in den neu errichteten Dörfern bilden daher einen wichtigen hygienischen Fortschritt, der in vielen anderen deutschen Dörfern noch nicht die Regel ist. 355 356 357 358 359 360 361 Vgl. Schwochow 1908, S. 30f und: Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, S. 34. Der Hinweis auf Dachrinnen läßt die Vermutung zu, daß in den Brunnen Regenwasser vom Dach gesammelt wurde. Vgl. Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, S. 38 und 39. Vgl. Schubert 1908, S. 76. Vgl. Wenzel 1989, S. 157 und StA Marburg, Best. 607, Nr. 353, S. 2. Vgl. StA Marburg, Best. 607, Nr. 311, S. 2. Vgl. ebd., Nr. 147, S. 2. Vgl. ebd., Nr. 272, Bl. 45f. 143 Das Dorf als städtebauliches Projekt Brunnen Umso interessanter ist die Tatsache, daß die meisten Dörfer nicht auf repräsentative öffentliche Brunnen im Ortskern verzichten mögen. Hier muß jedoch ein Unterschied gemacht werden zwischen Brunnen, die noch in ihrer eigentlichen Funktion als Schöpfbrunnen und Viehtränke genutzt werden und solchen, die allein als schmückendes Element im Dorf vorgesehen sind. In Neu-Berich und Böhmenkirch finden sich z.B. Brunnen, die vermutlich in erster Linie zur Verschönerung des Dorfes gedacht sind. In Neu-Berich ist es der Laufbrunnen, der an der Nordwestecke der Kirchhofmauer und in direkter Ecklage am Abzweig der Mühlenfelder Straße angelegt ist (Abb. 113). Bei der Einfahrt ins Dorf ist er schon von weitem sichtbar und durch die offene Straßensituation auffällig gelegen. Über einem niedrigen halbrunden Becken ist der Brunnenstock als säulenartiger Aufbau aus Resten eines Wandpfeilers und eines Kapitells der Kirche gebildet. Aus dieser Säule strömt durch ein schmales Rohr ständig Wasser in das Becken. Wie oben bereits erwähnt ist der Brunnen von Sitzplätzen umgeben und in erster Linie als Treffpunkt und Ruheplatz im Dorf gedacht. Eine wirtschaftliche Funktion erfüllt er nicht mehr. Auch im neu errichteten Ortsteil Böhmenkirchs sind zumindest in den Plänen zwei Brunnen eingezeichnet, die vermutlich vor allem das Dorfbild schmücken sollten.363 An der Giebelseite des Backhauses ist z.B. ein Laufbrunnen eingezeichnet, der in exponierter Lage an der Ecke Friedhof- und Vorderer Gasse liegt. Er besteht aus einem einfachen Rohr in der Wand, aus dem das Wasser in ein drei- oder fünfseitiges Steinbecken fließt. Dieses ist durch viereckige Schmuckelemente im Stile des Art-Déco dekoriert. Neben seiner schmückenden Funktion im Ortskern könnte der Brunnen am Backhaus jedoch auch als Löschwasserreservoir gedacht gewesen sein (Abb. 66). Ein weiterer Brunnen ist in direkter Nachbarschaft am Kaufhaus Blessing vorgesehen – ebenfalls in repräsentativer Lage am Marktplatz364. Während eine kryptische Zeichnung in der Ansicht der Giebelfassade die Anlage eines Wandbrunnens vermuten läßt, zeigt doch die Isometrie, daß hier ein freistehender Laufbrunnen geplant ist, dessen Becken sechseckig geformt ist. Das Wasser fließt aus drei Rohren, die an einem sechseckigen steinernen Stock mit Brunnenfigur angebracht sind. Der Straßenbrunnen scheint daher nichts mehr mit einer bäuerlichen Wasserstelle zu tun haben, sondern gleicht einem städtebaulichen Schmuckelement. Trotzdem könnte der Brunnen nach Zuschüttung der zentralen Hülbe dem Vieh auch als Tränke gedient haben365 (Abb. 80, 82). 362 363 364 365 Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 9f. Die Brunnen sind nie ausgeführt worden. Hiller selbst nennt den sich vor dem Kaufhaus öffnenden Platz in seinen Plänen so. Lob erhält der Brunnen indirekt von Eugen Gradmann, der die alten öffentlichen Brunnen generell als monumental ausgebildete Laufbrunnen beschreibt, die ein großes Becken und einen dekorativ ausgebilde- Das Dorf als städtebauliches Projekt 144 So haben die Brunnen – in früherer Zeit als Wasserstellen zwangsläufig Mittelpunkte der Gemeinschaft – zumindest noch ästhetische Funktion in Dörfern, die mit einer Wasserleitung modernen sanitären Ansprüchen längst genügen. Für Mielke und Gradmann ist die Existenz eines Brunnens im Dorf von großer und vor allem malerischer Bedeutung, wobei sie seine Stellung in einem toten Winkel zwischen den Verkehrslinien empfehlen, um die Wegeflächen freizuhalten und den Brunnen trotzdem von allen Seiten einsichtig plazieren zu können – eben so, wie es in den eben betrachteten Dörfern der Fall ist.366 Mielke sieht vornehmlich den ästhetischen Reiz von Brunnenanlagen, da sie, wie er glaubt, „häufig allein nur aus künstlerischen Ursachen geschaffen“ worden seien und daher Denkmalcharakter besäßen. In diesem romantisierenden Duktus beschreibt er auch das „melodische Rieseln des immer rinnenden Wasserstrahles“, das durch die steinerne Fassung verstärkt werde.367 Ebenfalls äußerst dekorativ gestaltet ist der Brunnen des Dorfes Golenhofen, der laut Schwochow als Viehtränke fungiert und zentral auf dem Marktplatz eingerichtet ist (Abb. 7). Er bezieht sein Wasser aus dem öffentlichen Sammelbecken. Mit dieser Nutzfunktion läßt sich auch das aufwendig hergestellte Schutzdach erklären, das, von sechs Holzsäulen getragen, ein sechsseitiges rotes Ziegeldach trägt. Vier Steinfiguren aus dem ehemaligen Gutspark symbolisieren Krieg, Handel, Handwerk und Kunst. Eine Umschrift auf dem Gebälk des Brunnendaches lautet: „Behüt uns Gott vor teurer Zeit, vor Maurern und vor Zimmerleut, vor Advokat und Pfändungsgesind, vor allem, was den Bauern schind’t, vor Hagel, Wasser- und Feuersgefahr, behüt, o Herr, uns immerdar!“368. Die Aussage Mielkes, daß ein öffentlicher Brunnen den Denkmälern zuzurechnen sei, findet im Golenhofener Brunnen eine deutliche Entsprechung: Es ist ein Brunnen, der durch die Figuren des alten Gutsbesitzes auf die Vergangenheit des Dorfes hinweist, durch den Segensspruch gleichzeitig auf eine glückliche Zukunft des Ortes hofft. Trotz seiner Nutzfunktion ist der Brunnen damit ein Denkmal für das Ansiedlungsdorf schlechthin. Daß Brunnen trotz Wasserleitungen als integratives Element einer dörflichen Gemeinde gesehen werden, zeigen auch die zentralen Brunnen in den Ausstellungsdörfern. Im IBA-Dorf ist auf dem Kirchweihplatz ein Schulbrunnen angelegt, der nicht nur eine baukünstlerische, sondern auch eine schulhygienische Aufgabe erfüllt.369 Er besteht aus Stein und ist durch 366 367 368 369 ten Stock besitzen und von einem Wappenhalter oder einem Heiligenbild bekrönt werden. Vgl. Gradmann 1910, S. 146f. Vgl. Gradmann 1910, S. 146 und Mielke 1910a, S. 282. Daraus spricht Sittesches Gedankengut, das auch bei Schultze-Naumburg in seinem Kulturarbeiten-Band „Städtebau“ wieder aufgenommen wird. Vgl. Schultze-Naumburg 1909b, S. 109f. Vgl. Mielke 1910a, S. 281. Vgl. zur Beschreibung des Brunnens Schwochow 1908, S. 29. Vgl. Winter 1913c, S. 26. 145 Das Dorf als städtebauliches Projekt seine langrechteckige Trogform mit umziehendem Wulst absichtlich dörflich-einfach gehalten (Abb. 171). Aus der hinteren Trogwand erwächst ein flacher Sockel, der das Wasserrohr aufnimmt und eine männliche Aktfigur trägt – laut Winter ein Sämann: „Dadurch aber, daß dieser Sämann vor der Stätte, die der Jugenderziehung dient, Aufstellung gefunden hat, ist die Arbeit, die er leistet, in eine höhere Sphäre gerückt worden.“370 Das Bild eines kräftigen, beherzt ausschreitenden Bauern soll die Liebe der Schüler zum Landleben erwecken. Im Neuen Niederrheinischen Dorf ist der Marktbrunnen, von Georg Metzendorf selbst gestaltet, wie in Golenhofen mittig auf dem großen Dorfplatz angelegt und hält sich damit nicht an die von Mielke empfohlene Eckposition.371 Er ist aus fränkischem Muschelkalk gehauen und laut Metzendorf als Nutzbrunnen für eine ländliche Dorfgemeinde gedacht372 (Abb. 199). Eine große runde Brunnenschale mit rustizierten Blendquadern speichert das Wasser. Von dort fließt es durch vier Fratzenmäuler in kleine Becken weiter, die sich aus einem um den Fuß des Brunnenbeckens gelegten Wulst herauswölben. Ein gedrungener Rundpfeiler als Brunnenstock ist mit vier filigran verzierten Eisenrohren bestückt, aus denen das Wasser herabfließt. Der Rundpfeiler als Brunnenstock ist mit einer Halbkugel abgeschlossen, auf der ein nackter kleiner Bacchant mit Traube in der Hand plaziert ist.373 Auch Metzendorfs Marktbrunnen wirkt, ähnlich wie das Pendant in Böhmenkirch, durch seine aufwendige Gestaltung nicht dezidiert dörflich, sondern könnte ebenso auf einem städtischen Platz stehen. Das beweist auch der „Schatzgräberbrunnen“ in der Gartenvorstadt Margarethenhöhe, 1911/12 ebenfalls von Georg Metzendorf gestaltet und in Muschelkalk gefertigt.374 Trotz seiner aufwendigeren Gesamtanlage ist der vorstädtische Brunnen, der keinerlei Nutzfunktion mehr hat, gestalterisch mit dem dörflichen zu vergleichen und zeigt, daß Metzendorf bei beiden Siedlungstypen keine grundsätzlichen Unterschiede gemacht hat. Ob in einem Dorf wie dem Neuen Niederrheinischen aber, das so viel Wert legt auf neuzeitlich-moderne Ausstattung und bei Besiedlung wahrscheinlich eine Wasserleitung erhalten würde, ein Nutzbrunnen noch gerechtfertigt ist, ist fraglich. Letztlich ist doch – wie in den anderen Dörfern – seine ästhetische Wirkung als dörflicher Mittelpunkt ausschlaggebend. 370 371 372 373 374 Ebd. Nach Rainer Metzendorf befindet sich auch im Vorentwurf zum Neuen Niederrheinischen Dorf ein Brunnen auf dem Marktplatz. Vgl. Metzendorf 1994, S. 162. Es scheint sich hier jedoch eher um ein Denkmal zu handeln, das aus Treppenpodest, Postament und einer darauf gestellten Säule oder Stele besteht. Mehr ist über das Denkmal leider nicht zu ermitteln. Vgl. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 104. Diese stammt von dem Bildhauer Paul Seiler aus Frankfurt am Main. Vgl. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 104. Vgl. zur Beschreibung des Brunnens Metzendorf 1994, S. 116. Ausgeführt wird der Brunnen von dem Bildhauer Joseph Enseling. Das Dorf als städtebauliches Projekt 146 Baderäume Auch der häusliche Akt der Körperreinigung wird in den neuangelegten Dörfern thematisiert. Bis ins 20. Jahrhundert hinein ist das Waschen nicht mit bestimmten Räumlichkeiten verbunden, sondern mit dem Brunnen oder mobilen Geräten wie Schüsseln oder Wannen.375 So schreibt Eugen Lang über Böhmenkirch: „Gebadet wurde in einem Holzzuber, bei besseren Verhältnissen in einer verzinkten Badewanne.“376 Nach Aussagen der Bewohner Neu-Berichs wusch man sich in Badekübeln oder Waschschüsseln in Küche oder Futterküche. Auch bei den neu besiedelten Dörfern werden keine eigenen Baderäume angelegt. Hygienische Neuerungen sind die öffentlichen Baderäume in den Gemeindehäusern NeuBerichs und Golenhofens (Abb. 18, 131). In der Schule Neu-Bringhausens ist sogar ein Brausebad für die Schüler eingerichtet.377 Diese Anlagen machen zumindest deutlich, daß die Notwendigkeit der Körperpflege nach der Stadt auch auf dem Lande erkannt wird und in den Bau neuer Dorfanlagen einfließt. So sind im Gehöft des IBA-Dorfes sowie im Neuen Niederrheinischen Dorf im Großen Gehöft und Friedrich Beckers Arbeiterhaus eigene Baderäume eingerichtet (Abb. 191, 225, 236). Besonders Metzendorfs Essener Arbeiterwohnhaus präsentiert modernste Sanitärtechnik durch eine Spülküche, die unter anderem mit einem Spülstein und einer Badewanne mit Zulauf von kaltem und heißem Wasser ausgestattet ist (Abb. 230). Abortanlagen In den Städten wird die Beseitigung der menschlichen Exkremente mit steigender Bevölkerungsdichte ein immer drängenderes Problem.378 Auf dem Lande vollzieht sich eine Änderung der sanitären Zustände entsprechend langsamer, obwohl auch hier die Situation prekär ist. Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein befinden sich einfache Kastenaborte, gemauert oder häufiger als Bretterhäuschen auf den bäuerlichen Höfen – am Misthaufen, über der Jauchegrube oder an einem nahen Wasserlauf, so abseitig jedenfalls, wie es die Herkunft der Bezeichnung „Ab-ort“ vermuten läßt.379 Noch 1895 hätten viele Familien ihre Notdurft auf dem Mist oder im Scheunengang ihres Hofes verrichtet, heißt es z.B. vom eigentlich wohlhabenden Regierungsbezirk Magdeburg.380 Eugen Lang berichtet aus Böhmenkirch: „Das ‚Plumpsklo’ war normal, meistens war es in einem kleinen, an das Haus angebauten Anbau untergebracht, 375 376 377 378 379 380 Vgl. Großmann 1986, S. 170. Lang/Oßwald Bd. 2, 1994, S. 101. Vgl. Meyer 1923, S. 31. Vgl. Artelt/ Heischkel 1969, S. 60f. Vgl. von Saldern 1997, S. 257 und Wunderlin 1990, S. 37. Vgl. von Saldern 1997, S. 257. Das läßt uns auch Wolfgang Halfar aus der Region Wolfhagen in Hessen wissen. Vgl. Halfar 1993, S. 165. 147 Das Dorf als städtebauliches Projekt manchmal befand es sich im Garten in einem kleinen Bretterhäuschen.“381 Neue hygienische Erkenntnisse erlauben es, die Aborte so nahe wie möglich an oder im Haus unterzubringen – was auch einem zunehmenden Schamgefühl entgegenkommt.382 Die Abortanlagen werden von Dorf zu Dorf unterschiedlich behandelt. In Golenhofen beispielsweise sind sie noch nicht einmal in allen Bauplänen eingezeichnet, obwohl davon auszugehen ist, daß in oder bei jedem der Gehöfte ein eigener Abort vorhanden gewesen sein muß. Nur in der Schule, im Back- und Waschhaus und der Stelle 16 sind Aborte überhaupt im Haus angelegt – bei der Stelle 16 in direkter Nachbarschaft der Futterküche. Die Nähe zum Stall läßt vermuten, daß die häuslichen Exkremente direkt in die Dunggrube des Viehs abfließen konnten. (Abb. 10, 18, 22). Bei vielen Gehöften und den Arbeiterhäusern sind die Aborte dagegen in oder an Stall bzw. Scheune angebaut (Abb. 14, 28, 57, 60). In den Waldecker Dörfern verfügt laut Baubeschreibungen jedes Gehöft über eine eigene Abortanlage auf einer luftdicht abgedeckten Grube, die von außen gereinigt werden kann.383 Wie in Golenhofen sind jedoch auch hier bei einigen Gehöften die Aborte nicht in den Bauplänen eingezeichnet (z.B. Peuster, Siebel, Münch oder Wilke384). Gerade bei den kleineren Gehöften werden die Aborte ähnlich wie in Golenhofen am oder im Stall errichtet, sodaß die Exkremente direkt in die Dunggrube des Stalls fallen (z.B. Abb. 141, 148). Nur die großen Gehöfte besitzen eine an die Rückseite des Wohnhauses angebaute Abortanlage mit Vorraum (Abb. 164). Der Vorschlag einer Firma Leithauser aus Kassel, die Fäkalien durch Spülleitungen in gemeinschaftliche Jauchegruben abzuführen, wird von Architekt Meyer entschieden abgelehnt, da die Landwirte dann nicht nach jeweiligem Bedarf über die Dungstoffe verfügen könnten.385 Auch der Mediziner Wilhelm Ebstein macht zu Anfang des Jahrhunderts deutlich, daß in den ländlichen Ortschaften die Abfuhr der Fäkalien und Abwässer durch eine Kanalisation, wie sie in den Stadtgemeinden mehr und mehr üblich werde, nicht möglich sei, da man die Stoffe als „kostbares Gut“ für den landwirtschaftlichen Betrieb brauche.386 Wie in den Waldecker Dörfern gibt es auch in Böhmenkirch die Forderung: „Für den Abtritt ist eine wasserdichte, gehörig bedeckte, leicht und vollständig zu reinigende Grube herzustellen.“387 In Böhmenkirch ist man besonders bestrebt, die traditionellen Wohnbedürfnisse mit modernem Wohnkomfort zu vereinen, indem alle Gehöfte Aborte im Wohnhaus 381 382 383 384 385 386 387 Lang/Oßwald Bd. 2, 1994, S. 101. Vgl. Gleichmann 1977, S. 254-257. Diese Beschreibungen liegen den Bauplänen jeweils bei. Vgl. dazu auch Neumann 1996, S. 101. In Wilkes Gehöftplänen steht, daß hier der Abort vom Ansiedler selbst errichtet wird. Vgl. StA Marburg, Best. 607, Nr. 20, Bl. 35-37 Vgl. Ebstein 1902, S. 98. Vgl. dazu auch Venitz 1913, S. 8. Diese sind in den „Allgemeinen Vorschriften“ in § 16 oder 17 zu finden und jeder Bauakte beigelegt. Das Dorf als städtebauliches Projekt 148 oder im Stall eingerichtet haben, die immer von den Wohnräumen direkt zu erreichen sind (z.B. Abb. 81, 84, 88, 96). Das ist im Vergleich zu Golenhofen und den Waldecker Dörfern ein Vorteil, der auch darin begründet liegt, daß alle Wohnhäuser hier direkt an die Ställe angebaut sind und die Abwässer in dieselben Dunggruben geleitet werden können. Im IBA-Dorf sind im Geschäftsbau und den Gaststätten Toilettenanlagen für Gäste eingerichtet, im Gehöft sind jedoch nur Gesindeaborte über der Jauchegrube eingezeichnet (Abb. 180, 183, 185, 190). Ähnlich ist es im Neuen Niederrheinischen Dorf: Während das Große Gehöft einen Abort unter der Außentreppe am Stall vorsieht, ist im Kleinen Gehöft kein Abtritt eingezeichnet. Dagegen befindet sich in den meisten Arbeiterhäusern pro Wohnung ein Abort, entweder im Haus oder in einem Anbau (Abb. 228, 230, 236). Bei der Anlage von Arbeiterhäusern hat man sich anscheinend mehr Mühe gemacht, für eine moderne Gesundheitspflege zu werben. Mit Ausnahme des antialkoholischen Restaurants sind auch in den Gaststätten Gästetoiletten eingebaut (Abb. 208, 210). Gerade in Bezug auf hygienische Neuerungen in Dorf und Bauernhaus ist die HeimatschutzLiteratur nicht besonders ergiebig. Die Heimatschützer äußern sich kaum zu Abortanlagen im ländlichen Bauwesen,388 obwohl deren Wichtigkeit auf dem Lande auch nicht mehr geleugnet wird: „Es ist die Forderung eines Abortes für jede Wohnung ein Gebot der Kultur, von dem überhaupt nicht abgewichen werden sollte.“389 Auch Kühn fordert, daß der Abortanlage aus gesundheitlichen und sittlichen Gründen eine große Beachtung zuteil werde: „Eine mißlungene Anlage kann zu schweren Übelständen und manchen Verlegenheiten führen, die bei richtiger Unterbringung nicht eintreten konnten.“390 Die Aborte sollen von Blicken verborgen und von der Sonnenseite abgekehrt sein. Die Entleerung der Gruben müsse einfach, das Eindringen von Gasen in die Wohnung unmöglich sein. Der Belüftung und Belichtung wegen solle der Abort an einer Umfassungswand zu liegen kommen.391 Weitergehend beschäftigen sich die Heimatschützer jedoch nicht mit den Sanitäranlagen des Bauernhauses: Der Heimatschutz beschränkt sich auf eine ästhetische Beurteilung der ländlichen Baukunst, ohne sich für hygienische oder sanitärtechnische Fragen des Hausbaus – immerhin zentrale und umfassend diskutierte Themen der Zeit – verantwortlich zu fühlen. 388 389 390 391 Im Vergleich dazu wendet die Literatur über Arbeiterhäuser dem Thema mit Blick auf die Sanitärtechnik der Engländer mehr Aufmerksamkeit zu. Hier sei z.B. auf die Abhandlung von Weißbach/Mackowsky 1910 hingewiesen, die dem Thema auf den Seiten 38-45 eine eigene Abhandlung widmet. Vgl. auch Venitz 1913, S. 2f. Venitz 1913, S. 11 und z.B. Kahm 1914, S. 43. Kühn 1905, S. 82. Vgl. ebd., S. 82f. 149 2. Haus und Hof – die Dorfgebäude 2.1. Einführung: Wohnungsreform und Typisierung Durch die massive Zuwanderung in die Städte wächst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts der Bedarf an Wohnungen stark an. Das führt zu enormen Bodenpreissteigerungen, die letztlich zum Bau der stockwerks- und wohnungsreichen Mietshäuser, der sogenannten „Mietskasernen“ zwingen. Die hohen Kosten können von den Hauseigentümern nur durch entsprechend hohe Mieten wieder amortisiert werden.1 Nach 1870 verschärft sich die Wohnungsnot noch einmal durch eine Überbelegung der Wohnräume, die Verdichtung in den Vierteln, durch das hohe Mietenniveau und unzureichende bis katastrophale Zustände der Wohnungen.2 In der Stadt ist der Wohnungsmangel nicht nur auf die unteren Schichten – die Arbeiter – beschränkt, sondern trifft auch beträchtliche Teile des Mittelstandes und der Angestellten.3 Auf dem Lande dagegen ist zwar die Wohnungsituation in quantitativer wie qualitativer Hinsicht ebenso miserabel, jedoch nicht so spürbar wie in den überfüllten städtischen Quartieren.4 Demnach trifft das idealisierte Bild vom „gesunden“ Landleben, das gerade von der Heimatschutzbewegung als Gegenbild zur „degenerierten“ Stadt gezeichnet wird, am wenigsten auf die Landarbeiter und unteren Schichten auf dem Lande zu, denn hier sind die Wohnungen noch stärker belegt als in der Stadt, wobei durch den meist älteren Baubestand ihre Ausstattung das städtische Niveau weit unterbietet.5 In der Stadt löst die Wohnungsfrage schon früh Diskussionen und innenpolitisches Aufsehen aus, denn durch eine Verbesserung der Wohnverhältnisse der Arbeiterschaft erhofft man sich auch einen fortdauernden sozialen Frieden.6 Vorbild für wohnungsreformerische Ansätze gilt das früh industrialisierte England mit seinem „Housing of the working Classes Act“.7 Ein früher Vorläufer der Wohnungsreform in Deutschland ist seit 1840 der christlich konservative Romanistikprofessor und Publizist Victor Aimé Huber, der nach englischem 1 2 3 4 5 6 7 Vgl. Krabbe 1974, S. 17f. Vgl. Zimmermann 1997, S. 518f. Vgl. Krabbe 1974, S. 18. Vgl. Dutzi 1990, S. 11f. Vgl. Zimmermann 1997, S. 524. Vgl. dazu auch Teuteberg/Wischermann 1985, S. 5-30. Schon 1874 liegt dazu umfangreiches literarisches Material vor, das sich bis zum Ersten Weltkrieg nochmal um ein Vielfaches vermehrt. Vgl. Krabbe 1974, S. 18. Vgl. zur Wohnungsreformbewegung umfassend Berger-Thimme, Dorothea: Wohungsfrage und Sozialstaat. Untersuchungen zu den Anfängen staatlicher Wohnungspolitik in Deutschland (1873-1918), Bern 1976; Hafner, Thomas: Kollektive Wohnreformen im Deutschen Kaiserreich (1871-1918). Anspruch und Wirklichkeit, Stuttgart 1988; Zimmermann 1991. Vgl. Krabbe 1974, S. 19. Haus und Hof – die Dorfgebäude 150 Vorbild die Baugenossenschaft „Berliner gemeinnützige Baugesellschaft“ gründet.8 Das mehrstöckige Mietshaus – die „Mietskaserne“ – gilt für Huber als Ausdruck allen, durch die Industrialisierung hervorgerufenen, Übels in den Städten. Er fordert daher für Arbeiterfamilien das Einfamilienhaus bzw. das eingeschossige Haus. Die Wohnungen sollen später im Idealfall in das Eigentum der Familien übergehen.9 Erst ganz allmählich entwickelt sich ein öffentliches Problembewußtsein für die Wohnungsfrage, das sich zunächst vor allem auf bautechnische und hygienische Aspekte beschränkt. Maßnahmen zu einer Reform des Wohnungswesens bleiben vorerst regionaler Natur oder werden durch die Investitionen einzelner Arbeitgeber gefördert. Es entstehen reformerische Vereinigungen wie der „Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege“, der Verein „Reichswohnungsgesetz“ sowie der „Verein für Socialpolitik“.10 Während sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Wohnungsnot vor allem auf die städtische Situation bezieht, erhält die ländliche Misere kaum Aufmerksamkeit. Eine Ausnahme bilden die Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik über die soziale Lage der Landarbeiter, die Max Weber 1891/92 durchführt.11 Die umfassenden sozial- und bodenreformerischen Bestrebungen dekken sich bald mit denen der Heimatschutzbewegung, die das Kleinhaus und seine architektonische Gestaltung propagiert – Heimatschutz, Bodenreform, Gartenstadtbewegung und Wohnungsreform sind dadurch inhaltlich sowie personell eng miteinander verknüpft. Der Verein für Sozialpolitik entwickelt mit dem Freiburger Sozialökonomen Carl Johannes Fuchs als städtebauliche Lösung für die Städte eine zonenmäßige Abstufung der Bauordnung; mit dem Kleinhaus als Normalfall und dem Mietshaus mit verschärften baulichen Bestimmungen.12. Erst nach der Jahrhundertwende wird auch das englische Reihenhaus als Lösung für den genossenschaftlichen oder Arbeitersiedlungsbau propagiert.13 Die Heimatschutzbewegung beharrt auf ihrer Vision, möglichst jeder Familie Eigenheim und Garten zu verschaffen. Das betrifft besonders die Arbeiterfamilien, denen mit einer „Scholle“ auch ein „sittliches“ und „bürgerliches“ Leben ermöglicht werden soll.14 Noch bis ins späte 19. Jahrhundert werden Mietshäuser und Kleinwohnungen nicht von universitär ausgebildeten Architekten geplant, sondern von handwerklich geschulten und in Fachschulen ausgebildeten Bau- oder Maurermeistern, die ihre Pläne als Bauunternehmer 8 9 10 11 12 13 14 Vgl. Krabbe 1974, S. 19 und Knaut 1993, S. 303. Diesen Baugenossenschaften ist jedoch in Konkurrenz zu dem neu entstehenden privaten Bauunternehmertum kein großer Erfolg beschieden. Vgl. Knaut 1993, S. 303. Vgl. Krabbe 1974, S. 18f. Er wird 1873 gegründet. Vgl. Zimmermann 1997, S. 522. Vgl. Knaut 1993, S. 305. Vgl. Zimmermann 1997, S. 542. Vgl. Fehl 1995, S. 36. Haus und Hof – die Dorfgebäude 151 auch ausführen. Noch 1891 bemerkt Theodor Goecke, der Bau von Arbeiterhäusern sei „eine wenig verlockende Aufgabe, die kaum künstlerischen Reiz, noch sonderliche technische Schwierigkeiten“ biete.15 Obwohl sie ihre „künstlerischen“ Leistungen gegenüber der rein bautechnischen Seite der Baubeamten schon früh herausstreichen, wenden sich die meisten Architekten erst nach der Jahrhundertwende offensiv der Wohnungsreform zu und beschäftigen sich mit den neuen Bauaufgaben.16 Ziel ist, eine funktionale, bautechnisch und hygienisch optimierte Architektur zu schaffen. Der Rückbezug auf einfache, vorindustrielle – biedermeierliche – Architekturen bei Betonung der regionalen Elemente ist v.a. der Heimatschutzbewegung zu schulden. Mit der Gründung des Deutschen Werkbundes und des Bundes Deutscher Architekten erhält die ästhetische Gestaltung von Siedlungshäusern und industriellen Massenfabrikaten dann auch in größeren Bevölkerungskreisen Publizität.17 Besonders dem Einfamilienhaus wird zugeschrieben, die Bevölkerungsballung in den Städten verringern und die soziale Situation der arbeitenden Klassen verbessern zu können.18 Hermann Muthesius schreibt nach einem England-Aufenthalt über „Das englische Haus“, das er für geeignet hält, den deutschen hygienischen und baulichen Anforderungen zu genügen und bauliche Kontinuität mit Tradition zu vereinen.19 Am englischen Haus lobt er die „reine Sachlichkeit“, den Anklang „heimischer Volksbauweisen“ sowie seine Orientierung an den Bedürfnissen der Bewohner.20 Es ist das sogenannte englische „Cottage“, das kleine Haus mit Garten, das als allgemeines Wohnideal formuliert wird, weil es als Eigenheim den heimischen Rückzugsort der Familie, des Individuums bildet.21 Muthesius berichtet entsprechend positiv über die Arbeiterkolonien Port Sunlight und Bourneville, deren ländlicher Charakter das Glück der Bewohner garantieren helfe.22 15 16 17 18 19 20 21 22 Bei Neumeyer, Fritz: Zum Werkswohnungsbau der Industrie in Berlin und seine Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Dissertation, Berlin 1978, S. 134, zit. nach Schollmeier 1990, S. 47. Vgl. Zimmermann 1997, S. 541. Vgl. zur Architektenausbildung im Deutschen Reich auch Konter 1982, S. 285-308. Vgl. Zimmermann 1997, S. 548. Vgl. zur zentralen Bedeutung des Kleinhauses im modernen Siedlungsbau die Beiträge in RodriguezLores, Juan: Die Kleinwohnungsfrage: zu den Ursprüngen des sozialen Wohnungsbaus in Europa. Hamburg 1987. (=Stadt, Planung, Geschichte, Bd. 8). Hermann Muthesius: Das englische Haus. Entwicklung, Bedingungen, Anlage, Aufbau, Einrichtung und Innenraum. Bd. 1-3, Berlin 1904/05. Die meisten der von ihm präsentierten Gebäude sind jedoch große Landhäuser und Herrensitze. In ihnen glaubt Muthesius ein Ideal menschlichen Wohnens zu erkennen. Vgl. Hubrich 1981, S. 53. Vgl. dazu Muthesius, Hermann: Kunstgewerbe und Architektur. Jena 1907, S. 102ff., zit. bei Hubrich 1981, S. 106. Vgl. dazu auch Muthesius 1974, S. 94. Cottages sind freistehende Häuser, die für eine Familie gerade hinreichenden Wohnraum bieten. Eine Übersetzung des Begriffes könnte daher „Einfamilienhaus“ lauten. Vgl. Reichardt, Erwin: Die Grundzüge der Arbeiterwohnungsfrage. Dresden 1884, S. 16, zit. nach Muthesius 1974, S. 75. Vgl. Zentralblatt der Bauverwaltung 1899, S. 133-136 und 146-148, zit. nach Muthesius 1974, S. 176. Haus und Hof – die Dorfgebäude 152 „Das Haus in der Sonne“ heißt ein berühmtes zeitgenössisches Buch von Carl Larsson (1899), das dem Leben in der degenerierten Großstadt das gesunde Leben auf dem Lande entgegensetzt – auf der Grundlage des Einfamilienhauses. Die gebräuchlichste Form ist laut Ringbeck das aus Kostengründen auf quadratischem oder rechteckigem Grundriß gebaute Haus, das mit einem Sattel-, Schopfwalm- oder Mansarddach abgeschlossen ist. Je nach regionaler Tradition wird es mit Ziegelpfannen oder Schiefer gedeckt. Hinter dem Eingangsflur mit Treppenhaus liegt häufig die Küche, rechts und links vom Flur sind zwei Stuben eingerichtet. Die Umfassungsmauern sind in Fachwerk oder massiv und je nach Landschaft verputzt oder in Ziegelrohbau errichtet. Um das Haus individuell und kleinbürgerlich behaglich zu gestalten, sind bauliche Elemente wie Sprossenfenster und Fensterläden, Dachhäuser oder -gauben, kleine Veranden, Erker oder überbaute Eingangsbereiche vorgesehen.23 Für viele Heimatschützer, besonders Schultze-Naumburg, soll das deutsche Bauernhaus das ästhetische Vorbild für das moderne Kleinhaus bilden, weil es bis weit ins 19. Jahrhundert hinein den Typus für „bescheidene Wohnhäuser“ gestellt habe. Besonders das Arbeiterhaus sei auf dieser Grundlage zu gestalten: „Hier wäre ein äusserliches Mittel gefunden, den traditionslosen Stand der Zukunft mit der Vergangenheit zu verknüpfen.“24 Am Beispiel der frühen Arbeitersiedlung Gmindersdorf von 1903 wird deutlich, daß sich der Architekt Theodor Fischer für seine Arbeiterhäuser nicht nur auf englische Hausformen, sondern auch auf regionaltypische Bauernhäuser bezogen hat. Aus Kostengründen sind alle Bauten in Gmindersdorf Doppelhäuser mit maximal vier Wohnungen.25 Fischer nimmt dabei die englischen Arbeitersiedlungen Bournville und Port Sunlight zum Vorbild, die sich wiederum auf das Vorbild des einfachen ländlichen „Cottages“ stützen. Dazu gehört die Verwendung von Fachwerk (mit vielen senkrechten Hölzern) und ländlichen Holzkonstruktionen etwa für Eingänge und Lauben oder die Schindeltechnik. Das Giebeldreieck wird zu einem Hauptmotiv der Bauten.26 Gleichzeitig lehnt sich Fischer gestalterisch an deutsche, bäuerliche Vorbilder an. Er glaubt: „Viel eher liefert der uralte mittel- und süddeutsche Bauernhausgrundriß brauchbare Vorbilder, dessen Grundmotiv die quadratische Eckwohnstube ist mit 23 24 25 26 Vgl. Ringbeck 1991, S. 257. Vgl. Schultze-Naumburg 1908, S. 141-143. Ringbeck glaubt jedoch, das Vorbild für das Kleinhaus der Wohnungsreformbewegung sei das englische „Cottage“ (das kleine Haus als bürgerliche Hausform Englands) gewesen, nicht das Bauernhaus. Vgl. Ringbeck 1991, S. 257 mit Bezug auf Muthesius 1974, S. 94. Die Anlage von mehrfach verwendeten Doppelhaustypen sorgt für eine Individualisierung, die ein rein addierendes Reihenhaus nicht erreicht hätte. Vgl. Howaldt 1982, S. 330. Vgl. ebd., S. 335 und 348-350. Haus und Hof – die Dorfgebäude 153 der daran anstoßenden Küche und einer Kammer im Erdgeschoß.“27 Durch die Verwendung von hellen Putzen und dekorativem Fachwerk vor allem in den Giebeln und Giebelhäusern, den hohen Steildächern und den Fensterläden bezieht er sich formal – nicht kopierend – auf örtliche Bautraditionen. Mit einem Doppelhaustyp lehnt er sich sogar an das in Schwaben vorkommende Einhaus mit geräumigem Krüppelwalmdach an.28 Fischer prägt mit seinen Gmindersdorfer Bauten den zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommenden Heimatschutzstil.29 Ein weiteres frühes und bedeutendes Beispiel für die Entwicklung moderner Bauformen und besonders des Kleinhauses bietet die Gartenstadt Hellerau von 1906, die unter der Oberleitung von Richard Riemerschmid und der Beteiligung etwa von Heinrich Tessenow und Hermann Muthesius, Theodor Fischer oder German Bestelmeyer entsteht. Neben der Fabrik und den Gemeinschaftseinrichtungen werden hier ein Villengebiet für bürgerliche „Gartenstadtfreunde“ und ein Kleinhausviertel geplant.30 Einmalig ist, daß die Arbeiter Schmidts nach ihren Wünschen über die Art des zu bauenden Hauses befragt werden31. Riemerschmid und die anderen Architekten entwickeln daraufhin über 30 verschiedene Kleinhaus-, Reihenhaus- und Einfamilienhaustypen, die, „bei aller Verschiedenheit in der Durchführung der Details, bei allem Wechsel der Größenverhältnisse doch jene innere Verwandtschaft zeigen, welche in alten Dorf- und Stadtanlagen die Bauten so anziehend macht, weil sie alle aussehen wie ältere und jüngere Geschwister einer großen Familie“.32 Selbst ausländische Besucher erkannten darin „a free adaption of the prevailing domestic architecture in southern Germany during the middle ages, a type that persisted through the period of the Renaissance“.33 Ebenso also wie in Gmindersdorf ist auch in Hellerau der Bezug auf historische Dorf- und Kleinstadt-Architekturen gewollt.34 Trotz verschiedener Architekten wirkt die Siedlung baulich einheitlich. Schlichte Fassaden korrespondieren mit hellen Putzen, einfache Sattel-, Walm- Zelt- oder Mansarddächer werden mit Ziegeln gedeckt und mit schlichten Gauben versehen. Sichtfachwerk wird sparsam verwendet, die Fenster mit Fensterläden geschmückt. Besonders Riemerschmids Einfa27 28 29 30 31 32 33 34 Vgl. Gmindersdorf – Arbeiterkolonie, Ulrich Gminder G.m.B.H. Reutlingen. Reutlingen 1908, Vorwort von Theodor Fischer und Wilhelm Kuhn (Firmeneigene Publikation). Zit. nach Howaldt 1982, S. 337. Vgl. Howaldt 1982, S. 338f. Vgl. dazu auch Schollmeier 1990, S. 50. Vgl. Zimmermann 1997, S. 594. Vgl. Arnold 1993, S. 336. Dohrn 1908, Neudruck 1992, S. 23f. In: Architectural Record, Februar 1914, v. 35, no. 2, S. 154, zit. nach Krückemeyer 1997, S. 84. Schon im Vorwort zu den Bauvorschriften ist von „alten Dorf- und Stadtanlagen“ die Rede. Vgl. Hubrich 1981, S. 125. Selbst in Kritiken der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft tauchen immer wieder Begriffe wie „Bauernhaus“ und „Landhaus“ auf. Besonders Karl Ernst Osthaus und Hans Bernoulli kritisieren die Romantik der Hellerauer Bebauung und Walter Gropius qualifiziert die Hellerauer Fabrik als „Bauernromantik“ ab. Vgl. dazu Krückemeyer 1997, S. 84f. Haus und Hof – die Dorfgebäude 154 milienhäuser „Am grünen Zipfel“ von 1909 bilden den Kern des baulichen Reformprogramms und sind ebenfalls vom englischen Cottage-System und vom traditionellen Bürgerhausbau beeinflußt.35 Um hier möglichst kostenschonend zu bauen, werden normierte Treppen, Türen und Fenster verwendet sowie typisierte Grundrisse angelegt.36 Typisierung Im Grunde will die Heimatschutzbewegung die Rückkehr zu einer regionaltypischen, selbständigen handwerklichen Lebens- und Arbeitsweise, die durch die Industrialisierung faktisch unmöglich geworden ist. Daß die Zukunft jedoch in den Händen von Baufirmen und Großunternehmen liegt, wird von den meisten Heimatschützern nicht mehr geleugnet: So fordern sie zumindest eine bessere Schulung der Verantwortlichen. Da also ein vorindustrielles Bauhandwerk, das sozusagen „vegetativ“37 fortschreitet, nicht mehr zurückzugewinnen ist, erscheint ihnen als einzige Lösung die Einpassung der Gegenwartsarchitektur in eine einheitliche stilistische Gestaltung. Die didaktische Grundlage der Heimatschutzbewegung zielt also auf eine Typenbildung der modernen Architektur in Form, Farbe und Baustoff. Damit soll der individuellen und willkürlichen Stilvielfalt ein Riegel vorgeschoben, dem Ensemble aber als „nichtintendierter Stileinheit“38 zu neuem Leben verholfen werden. Paul Schultze-Naumburg stellt in seinen Büchern Bildprogramme vor, die sich an historischen Überlieferungen orientieren und damit übergeordnete gestalterische Elemente propagieren. Ziel ist es, eine Typisierung der modernen Baukunst zu erreichen: „Tatsächlich enthüllt sich hier, gerade wie auf dem Gebiet der darstellenden Kunst, das ganze Geheimnis der leichten und vollkommenen Ausdrucksfähigkeit der Alten. Sie hüteten sich davor, kurzer Hand aus Eigenem heraus das leisten zu wollen, was nur die Arbeitssumme von Geschlechtern sein kann: das Gestalten des Typus, den der Künstler auswendig beherrschen muss, um ihn dann der Einzelaufgabe entsprechend abzuwandeln.“39 In Bezug auf das ländliche Bauen folgert er: „Der Mann, der im Jahre 1796 den Auftrag erhielt, einen mittleren Bauernhof zu bauen, stand nicht mit einem Mal vor der ungeheuren Aufgabe, den sinnfälligen Ausdruck für den Begriff: Deutscher Bauernhof zu gestalten, sondern er wusste dank der Vorarbeit von Vielen ganz genau, wie dieser auszusehen habe, in einer Weise, die den Bedürfnissen und dem Material der Gegend auf das beste entspräche. Der Typus stand fest, er brauchte ihn nur dem Sonderfall anzupassen.“40 Die „Vorarbeit von Vielen“, die Schultze-Naumburg hier benennt, bedeutet in der Vorstellung der Heimatschützer, daß der Typus oder die Grundform des Bauernhauses weit zurückreicht in eine mythische Vergangenheit und dadurch mit Volk und Heimat untrennbar verschmolzen 35 36 37 38 39 40 Vgl. Arnold 1993, S. 344. Vgl. ebd., S. 339-340. Sieferle 1984, S. 179. Ebd. Schultze-Naumburg 1908, S. 31f. Ebd., S. 33f. Haus und Hof – die Dorfgebäude 155 ist zu einer Art „Ewigkeitsdauer des Typus“.41 August Meitzen artikuliert schon 1882 bezüglich der architektonischen Grundform: „Das Haus ist die Verkörperung des Volksgeistes. Wir ahnen in seinen ursprünglichen Zügen, wie in Mythe und Sage, Bedürfnisse und schöpferische Anforderungen des nationalen Gemütes.“42 Besonders durch die Wiederaufnahme des Bauernhaustypus soll dem schädlichen Einfluß des gründerzeitlichen Historismus und der geschichts- und traditionslosen Fortentwicklung der Architektur – besonders auf dem Lande – Einhalt geboten werden. Schultze-Naumburg hält daher eine Kontrolle im modernen Bauwesen für unerläßlich: „Immer wieder muss darauf hingewiesen werden, dass man der Menge der Bauenden nie zu viel freien Willen lassen darf, sondern dass für sie ein gefestigtes Herkommen absolut notwendig ist, das ihr genau und zweifellos sagt: so wird dies und so wird jenes gebaut. Mit einem Wort: feststehende Bautypen.“43 Die zunehmend automatisierte und massenhafte Herstellung von Fertigprodukten führt zur Entwicklung des „normierten Objekts“. Während sie völlig gleich hergestellt werden, handelt es sich bei typisierten Objekten um gestalterisch ähnliche Gegenstände: „Typus in diesem Sinne ist uns eine zweckmäßige, allseits erprobte und anerkannte Grundform, die je nach Sonderbedarf und Sondergeschmack in gewissen Grenzen abwandelbar ist, so weit, daß triftige Sonderwünsche erfüllt werden, aber zugleich auch so eng, daß eben das ‚Typische’ nicht verloren geht. Ein Typus umfaßt also viele ähnliche, aber wesensverwandte Möglichkeiten der Lösungen.“44 Die Idee des „Typus“ in Architektur und Kunstgewerbe wird um die Jahrhundertwende viel diskutiert. Bekanntester Verfechter der Typisierung ist der Architekt und Werkbundinitiator Hermann Muthesius.45 In einem Leitsatz von 1914 bringt er seine Theorie auf den Punkt: „Die Architektur und mit ihr das ganze Werkbundschaffensgebiet drängt nach Typisierung, und kann nur durch sie diejenige allgemeine Bedeutung wieder erlangen, die ihr in Zeiten harmonischer Kultur eigen war.“46 Er strebt also eine Fortentwicklung der Tradition durch eine „Einheitlichkeit im Ausdruck“ an, wobei er auf eine „nationale Baukunst“ und einen natio- 41 42 43 44 45 46 Vgl. Linse 1986, S. 53. Meitzen 1882, Vorwort, zit. nach Linse 1986, S. 53. Schultze-Naumburg 1908, S. 124. Mit diesem Wiederaufgreifen baulicher Traditionen laufen die Heimatschützer allerdings Gefahr, der Form vor der Funktion erste Priorität einzuräumen. Vgl. Hubrich 1981, S. 156. Der deutsche Heimatschutz 1930, S. 109. „Typus läßt sich vergleichen mit einer Pflanze, die sich nach den Gesetzen ihrer Gestaltung der Örtlichkeit und dem Klima anpaßt. Norm ist das in eine Form gestanzte Fabrikerzeugnis von maschineller Gleichartigkeit.“ Vgl. Gruber, Karl: „Die Gestalt der deutschen Stadt.“ München 1952, S. 194. Vgl. Hubrich 1981, S. 151. Zur Geschichte der Typenbildung vgl. ebd., S. 151-157. Mit seiner Anwaltschaft für die Typisierung sorgt Muthesius für eine konfliktreiche und lang andauernde Debatte. Vor allem Henry van de Veldes Forderung nach schöpferischem Individualismus eines jedes Architekten und Künstlers steht seiner Ansicht diametral entgegen. Vgl. dazu z.B. Kratzsch 1969, S. 217f oder Frampton 1995, S. 98-101. Muthesius’ „Leitsätze“ sowie van de Veldes „Gegen-Leitsätze“ sind nachzulesen bei Posener, Julius: Anfänge des Funktionalismus. Von Arts and Crafts zum Deutschen Werkbund. Frankfurt/M. und Wien 1964, S. 205-207. Vgl. Hubrich 1981, S. 151. Haus und Hof – die Dorfgebäude 156 nalen Stil zielt.47 Der industriell bedingte Typus gewährleistet daneben eine hohe Qualität der Objekte, auch wenn diese von weniger guten Fachleuten geplant werden.48 Bei der Herstellung von Kleinhäusern und Siedlungen sei der Typus ebenfalls ein notwendiger Beitrag zur Lösung der Wohnungsfrage: „Auch für die Häuserherstellung, die Lösung des Problems des Einfamilienhauses, wird der Großbetrieb als notwendig erachtet. Kolonien von Einfamilienhäusern werden wirtschaftlich rentabler sein, wenn nicht jedes Haus willkürlich erbaut wird, sondern wenn eine Reihe von Typen in größerer Anzahl hergestellt werden, die dann durch eine entsprechende Mischung auch ästhetisch zu einem geschlossenen und belebten Bilde helfen.“49 2.2. Die Privatgebäude 2.2.1. Gehöfte – Form, Funktion, Typisierung „Es ist höchste Zeit, daß Ihr Bewohner der Landbezirke jetzt die Unwürdigkeit Eurer Bautätigkeit einsehen lernt, ehe Euch von der Nachwelt der Vorwurf des Unvermögens gemacht wird. Rafft Euch auf und beweist, das in der trügerischen Schale noch ein alter ehrlicher Kern echten deutschen Bauern- und Bürgertums steckt, der Euch in Euern Häusern als lebendige Kraft überdauern soll und zu Euren Enkeln redend, Euch deren Anerkennung und Hochachtung in späteren Zeiten noch abzwingen muß.“50 Die Gehöfte der Waldecker Dörfer Die drei Dörfer Neu-Berich, Neu-Bringhausen und Neu-Asel liegen heute im Bundesland Hessen, dessen profane Architektur noch immer in großen Teilen durch das Fachwerk geprägt ist. Hessen gehört größtenteils zur sogenannten mitteldeutschen oder „fränkischen“ Hauslandschaft.51 Sie erstreckt sich laut Ellenberg vom Harz bis zum Schwarzwald und von der Eifel 47 48 49 50 51 Vgl. Muthesius, Hermann: Die Einheit der Architektur. Berlin 1908, S. 59, zit. nach Hubrich 1981, S. 159. Vgl. Hubrich 1981, S. 159. Breuer, Robert: Das Kunstgewerbe. In: Die Weltwirtschaft 1908, Teil II, S. 206. Zit. nach Hubrich 1981, S. 159f. Kahm 1914, S. 30. Zu Anfang muß eine kurze Begriffsklärung die Vielfalt der Bezeichnungen rund um das deutsche Bauernhaus ordnen. (Der Begriff Bauernhaus selbst beinhaltet nicht nur das Bauernhaus als Wohnhaus, sondern auch die Wohn- und Wirtschaftsbauten sowie sonstige landwirtschaftliche Nebengebäude. Damit lehnt sich diese Arbeit an die Festlegungen Gebhards 1979, S. 8 und Klöckners 1980, S. 30 an.) Die historische Hausforschung hat immer versucht, das Typische an Bauernhausformen herauszuarbeiten und diese Typen zeitlich und räumlich voneinander abzugrenzen. In der Forschung des 19. Jahrhunderts hat man daher die angenommene Kontinuität von germanischen Stämmen mit rezenten Hausformen zu verknüpfen gesucht. Es haben sich – auch in der späteren Heimatschutzliteratur – Oberbegriffe wie „niedersächsisch“, „fränkisch“ oder „alemannisch“ für die unterschiedlichen Haus- und Fachwerkformen herausgebildet. Als Beispiele seien hier Meitzen 1882, Mielke 1910a oder Meyer 1910 genannt. Die damals neue Gliederung von Haustypen in Provinzen und Herzogtümer im Standardwerk „Das Bauernhaus im Deutschen Reiche und seinen Grenzgebieten“ wird jedoch auch kritisch gesehen, da sich die Ausbreitung von Hausformen nicht unbedingt an Staats- und Verwaltungsgrenzen hält. Obwohl die Hausforschung bereits seit dem Ende der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts ethnische Beziehungen zu Hausformen widerlegt hat, werden die Begriff teilweise bis in heutige Zeit weiterverwendet. So z.B. bei Heinrich Walbes Arbeit: Das hessischfränkische Fachwerk. 2. Aufl., Gießen-Wieseck 1979 oder die Untersuchung Gerners von 1979, 4. Aufl. 1983. Vgl. eine Begründung zur weiteren Verwendung dieser Begriffe bei Gebhard 1979. Neben dieser stammesartlichen Gliederung hat sich auch eine geographische Unterteilung herausgebildet, die nach niederdeutschen, mitteldeutschen und oberdeutschen Hausformen unterscheidet. Vgl. hierzu z.B. Gläntzer 1980 oder Großmann 1986. Auch an dieser Einteilung wird jedoch Kritik geübt, da die Entstehung von Haus und Hof – die Dorfgebäude 157 bis zum Fränkischen Jura und ist trotz ihrer großen Ausdehnung in Bezug auf ihre Hausformen erstaunlich einheitlich.52 Deren Grundformen lassen sich überwiegend auf das sogenannte „mitteldeutsche Wohnhaus“ zurückführen.53 Damit ist das traufseitig erschlossene Haus mit mindestens zwei nebeneinander quer zum First liegenden Wohnzonen gemeint.54 Daran können sich in weiteren quergeteilten Zonen die Wirtschaftsgebäude wie Stall und/oder Scheune anschließen, wodurch das „mitteldeutsche Haus“ zum sogenannten „queraufgeschlossenen Einhaus“ wird (meist in der Folge Wohnteil – Stall – Scheune).55 Die Häuser sind zwei-, drei- oder sogar vierzonig angelegt und oft zweigeschossig, enthalten also auch im Obergeschoß bewohnbare Kammern.56 Aus der Grundform des „mitteldeutschen Hauses“ hat sich in Hessen und Waldeck der auch als „mitteldeutsche Hofreite“ bezeichnete Dreiseithof entwickelt.57 Er setzt sich aus einem Wohnhaus oder Wohnstallhaus zusammen, zu dessen Seiten sich die Wirtschaftsgebäude so gruppieren, daß sich ein rechteckiger Hofraum bildet. Die zum Gehöft gehörenden Gebäude können zusammengebaut sein oder getrennt voneinander stehen (geschlossener oder offener Dreiseithof).58 52 53 54 55 56 57 58 Hauslandschaften nicht unbedingt mit formalen Breitengraden zusammenfällt. Vgl. dazu Gebhard 1979, S. 9 und Gläntzer 1978, S. 108. Der Hausforscher Heinz Ellenberg ist dazu übergegangen, die Bauten entsprechend formaler und räumlicher Aufteilung zu benennen, um dieser begrifflichen Verwirrung aus dem Wege zu gehen. So bezeichnet er die verschiedenen Hausformen z.B. als Einfirsthof, Zweiseit-, Dreiseitoder Vierseithof. Vgl. Ellenberg 1990. Wenn für ihn jedoch funktionale Zusammenhänge und der Wandel der Hofformen im Mittelpunkt stehen, reichen diese formalen Bezeichnungen nicht aus, denn dann ist die Abfolge ihrer inneren Einteilung von großer Bedeutung. Daraus ergeben sich z.B. die Begriffe „Wohnstallhaus-Scheune“ oder „Wohnhaus – Stall – Scheune“. Vgl. dazu auch Gläntzer 1978, S. 108 oder Gebhard 1979, S. 10. Für die folgenden Ausführungen erweisen sich die Gehöftbezeichnungen Ellenbergs grundsätzlich als anschaulich und praktikabel, zurückgegriffen wird jedoch immer wieder auch auf die in Quellen und der Literatur gebrauchten weiteren Gliederungsbegriffe. Vgl. Ellenberg 1990, S. 355. Vgl. Gläntzer 1986, S. 108. Vgl. Schönfeldt 1973, S. 25f. Ursprünglich zweizonige, später auch dreizonige Wohnhäuser sind überall in Hessen zu beobachten Die dreizonige Hausform nennt Schönfeldt mit gebotener Vorsicht einen Standardtyp. Innerhalb der vorgegebenen Dreizonigkeit ist jedoch wiederum eine Mehrzahl an Variationen der inneren Aufteilung möglich. Beim dreizonigen Wohnhaus schließen sich beidseitig an den mittig gelegenen Flur-Küchen-Bereich zum Wohnen oder zur hauswirtschaftlichen Arbeit dienende Räume an, wodurch sich eine fast symmetrische Raumanordnung mit mittigem Eingang ergibt. Vgl. Gläntzer 1986, S. 131. Türen und Fenster liegen vorwiegend in den Traufwänden und die Diele (bzw. Flur oder Ern) verläuft quer zum First. Vgl. Ellenberg 1990, S. 572. Dazu auch Klöckner 1980, S. 31-33, mit Abbildungen verschiedener Einhaus-Grundrisse Bedal 1978, S. 89-92 oder speziell für die Region Wolfhagen im ehemaligen Fürstentum Waldeck Halfar 1993, S. 112 und 118. Der in einigen deutschen Landschaften als Ern bezeichnete Herdraum liefert für Josef Schepers das namengebende Merkmal des sogenannten Ernhauses. Schepers 1943, S. 35. Da nach 1800 der Herdraum nicht mehr Hauptwohnraum war, sondern sich aufspaltete in Küche und Hausflur, ist nach Gläntzer der Terminus „Ernhaus“ zur Beschreibung neuzeitlicher Formen jedoch problematisch. Vgl. Gläntzer 1980, S. 108. Vgl. Schönfeldt 1973, S. 16 und Gläntzer 1986, S. 139. Sind sie nicht voll zweigeschossig, so sind sie doch oft mit ausgebautem Dachraum oder Kniestock versehen. Vgl. Ellenberg 1990, S. 364 oder Klöckner 1980, S. 31-33. Die mitteldeutsche Hofreite ist im Waldecker Land seit dem 18. Jahrhundert zunehmend in Gebrauch gekommen. Vgl. Neumann 1994, S. 31. Verwandte Gehöfttypen sind z.B. der Winkelhof als rechtwinklig Haus und Hof – die Dorfgebäude 158 Schönfeldt und Gläntzer folgern daraus, daß alle „mitteldeutschen“ Hausformen als eine verwandte Familie zu betrachten sind, deren Formenvielfalt nur als Abwandlungen bzw. Erweiterungen einer Stammform zu bezeichnen sind.59 Tatsächlich stellen die unterschiedlichen Gehöfttypen meist eine Erweiterung der Einhäuser zwecks Raumvermehrung dar.60 Für den Grundtyp hat die Zahl der hintereinandergeschalteten Hausscheiben jedoch keine grundsätzliche Bedeutung.61 Durch die Trennung von Wohn- und Stallteil durch eine Scheidewand ist es im Prinzip auch nicht mehr entscheidend, ob an der Verbindung der Zonen unter einem Dach festgehalten wird oder ob der Wohnbereich als selbständiges Wohnhaus abgelöst wird.62 Das von Schönfeldt festgelegte System der additiven Zusammenstellung von Hauszonen, mit dem alle in Hessen vorkommenden Hausformen beschrieben werden können, erlaubt es auch, die in der äußeren Erscheinung so verschiedenen Formen wie Einhaus und Gehöft in dieser Hausfamilie als gleichen Typus zu verbinden.63 Bereits in den alten Dörfern Berich, Bringhausen und Asel kommen aufgesockelte, aus Lehmfachwerk bestehende queraufgeschlossene Einhäuser und verschiedene Variationen des Mehrseithofes nebeneinander vor. Genau dieses Prinzip nutzt der Architekt Karl Meyer wieder in seinen drei neuen Waldecker Dorfanlagen.64 In Neu-Asel und Neu-Bringhausen, den Dörfern, die vor allem Kleinbauern ein neues Zuhause bieten, kommt in erster Linie der Einfirsthof zur Anwendung. Aber auch in Neu-Berich werden Einfirsthöfe für die kleineren Ansiedler errichtet. Diese stehen traufseitig zur Straße und werden auch traufseitig erschlossen. So vereinen z.B. die Höfe Schlüter, Rabe, Siebel und Peuster Wohn- und Wirtschaftsgebäude quer unter einem Dach und zwar in der Reihenfolge Wohnteil – Stall – Scheune (Abb. 142-146). 59 60 61 62 63 64 abgeknicktes Haus und der T-Hof als Haus mit Querbau. Die Gebäude des Vierseithofes umschließen einen offenen oder geschlossenen Hofraum. Vgl. Ellenberg 1990, S. 574f. Vgl. Schönfeldt 1973, S. 16f. Mit jener Trennung ergibt sich auch ein bestimmter Wohnstandard, der für alle Häuser grundlegend bleibt. Vgl. Ellenberg 1990, S. 49ff. Schönfeldt weiß natürlich um die grobe und nicht vollständige Schematisierung dieser These, nimmt sie aber in Kauf zugunsten der Herausarbeitung bestimmter, das Material ordnender Grundzüge, die als Leitlinien und zur Lesbarkeit der Darstellung dienen. Sie haben eine rein funktionelle Bedeutung und bleiben notwendigerweise abstrakt. Schönfeldt 1973, S. 19. Laut Schönfeldt kann es als sicher gelten, daß mit dem 16. Jahrhundert im ober- und mitteldeutschen Bereich die endgültige Trennung von Wohnbereich und Stall vollzogen ist. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 28. Dazu zählen natürlich auch z.B. Winkelhöfe. Der Heimatschützer Robert Mielke formuliert die Varianz dieses Haustypus noch ganz im Zeichen der stammesartlichen Herkunft: „Es ist ein eignes anziehendes Kapitel, zu verfolgen, wie der Stamm der Franken sich über die mitteldeutschen Gebirge verbreitet hat, wie er bei aller Treue gegen sein Temperament, seine Sprache, seine Bauart doch unter dem Einflusse der örtlichen Verschiedenheit überall leichte Abwandlungen erlitt.“ Mielke 1910a, S. 19. Als Musterbeispiele werden sieben unterschiedliche Gehöfte aus den drei Dörfern untersucht. Neu-Berich ist hierbei sogar mit fünf Beispielen vertreten, weil hier die Varianz von Gehöfttypen am größten ist. Haus und Hof – die Dorfgebäude 159 Eine Abwandlung des „mitteldeutschen“ Einhauses findet sich teilweise in Neu-Bringhausen wieder. Hier können die Neuansiedler unter der Leitung Meyers ihre abgebauten Häuser neu aufbauen. Es handelt sich dabei zum großen Teil um sogenannte vertikale oder gestelzte Wohnstallhäuser, bei denen der Wohnteil überwiegend im ersten Stock liegt (daher der Begriff „gestelzt“). Im Erdgeschoß befinden sich die Stallungen sowie weitere Aufbewahrungsräume.65 Ein solches Beispiel ist das wiederaufgebaute Gehöft Seibel in Neu-Bringhausen, das direkt neben der Kirche liegt. Der erhöhte Sockel bzw. das Erdgeschoß bestehen aus Bruchstein und beherbergt neben den Kellerräumen zwei Zonen mit Schweine- und Kuhstall. Daneben ist die große Tenne eingerichtet (Abb. 140, 141). Während bei älteren gestelzten Einhäusern oft der Stall direkt unter dem Wohnteil liegt (um die Stallwärme auch für die Wohnräume zu nutzen), befinden sich hier in Konzession an neuzeitliche hygienische Bedürfnisse andere Kellerräume, um die Ausdünstungen des Viehs von den Wohnräumen fernzuhalten.66 Eine hohe, einläufige Treppe führt in den großen zweigeschossigen Wohnbereich. Diese Hausform ohne unter Niveau liegendem, immer aber massiven Keller oder die ebenfalls übliche Variante des nur halben Kellers (z.B. beim Bauernhaus Louis Beck in Neu-Bringhausen) könnte sich für die ehemaligen Edertalbewohner als sinnvoll erwiesen haben, um die jährliche Hochwassergefahr von den Wohnräumen und von eingetieften Kellern fernzuhalten. Auch für den Architekten Meyer ist die Wiederaufnahme dieses Haustyps von Bedeutung: „Das alte Dorf Bringhausen bestand durchweg aus Fachwerkbauten, der für das Edertal bodenständigen Bauweise. Das Untergeschoß war in der Regel massiv, aus Bruchstein errichtet. Eigentliche Keller unter Gelände fehlten meist. Das Untergeschoß diente bei den Kleinsiedlern zur Aufnahme der Stallungen und Wirtschaftsräume und war so angelegt, daß sein Fußboden in Geländehöhe lag. [...] Nach diesen Grundsätzen, die sich seit alten Zeiten als praktisch erwiesen hatten und an die sich die Siedler gewöhnt hatten, wurde auch in Neubringhausen wieder aufgebaut.“67 Eine weitere typische Gehöftform für die kleineren Bauern und für Handwerker ist der kleine Winkelhof. Durch diese Anordnung ergibt sich ein zweiseitig geschlossener Hofraum. Beispielhaft sei das Gehöft Hille in Neu-Asel genannt (Abb. 147-149). Die Gehöfte gleichen sich dadurch, daß der Wohnbereich jeweils einen giebelseitig zur Straße plazierten Flügel des Gehöfts ausmacht, sich der Stall daran über Eck anschließt, während die Scheune den zweiten Gebäudeflügel beansprucht. Mit Ausnahme der großen Gutsgehöfte in Neu-Asel und Neu-Bringhausen befinden sich große Winkel- oder Dreiseitgehöfte nur in Neu-Berich, in dem sich die wohlhabenderen Bauern ansiedeln. Der Hof Lötzerich ist ein Beispiel für solch einen Winkelhof, der zwar in 65 66 67 Vgl. zu dieser Hausform Gebhard 1979, S. 52 oder Henkel 1995, S. 185. Vgl. dazu auch Kühn, Bd. 2, 1915, S. 79. Meyer 1923, S. 31. Haus und Hof – die Dorfgebäude 160 Bezug auf die innere und äußere Struktur mit den kleinen Winkelhöfen vergleichbar ist, jedoch viel größere Ausmaße erreicht (Abb. 150-152). An das giebelständig zur Dorfstraße plazierte Wohnhaus ist in der gleichen Flucht mit niedrigerem First der langgestreckte Stall angeschlossen, der vom Wohnhaus durch eine Durchfahrt getrennt ist. An den hinteren Teil des Stalles schließen sich im rechten Winkel, den zweiten Flügel bildend, eine kurze Remise und die Scheune an, sodaß sich ein großer Hofraum ausbildet. Der Hof Münch ist dem des Bauern Lötzerich sehr ähnlich, nur daß hier an die Scheune noch ein Schuppen angebaut ist, der den Winkelhof zu einem geschlossenen Dreiseithof macht. Die Scheune ist auch hier quer an den Stall gesetzt, wobei sie nicht mit der hinteren Giebelseite des Stalls fluchtet, sodaß sich der Hofraum etwas verkürzt (Abb. 153-155). Eine weitere Variante des großen Gehöfts ist die des Hofes Zimmermann I, die hier stellvertretend stehen soll für die vier anderen, am Ortseingang entstandenen offenen Dreiseithöfe (Abb. 156-162). Hier sind Wohnhaus, Stall und Scheune getrennt voneinander angelegt und umschließen einen Hofraum. Hinter dem giebelseitig zur Straße plazierten Wohnhaus schließt die Scheune den Hofraum nach hinten ab, während der langgestreckte Stall gegenüber des Wohnhauses die dritte Seite des Hofes bildet. Diese Gehöftform wird schon in dem großen Bauernhauswerk „Das Bauernhaus im Deutschen Reiche...“ wie folgt beschrieben: „Mit den Wirtschaftsgebäuden umschließt es [das hessische Gehöft; d.Verf.] einen Wirtschaftshof. Das Wohnhaus selbst steht in der Regel mit dem Giebel nach der Straße, mit der Langseite nach dem Hofe, dessen Hintergrund die Scheuer einnimmt. Weitere Baulichkeiten stehen dem Hause gegenüber an der dritten Hofseite, bei größeren Gehöften oder knappem Gelände auch längs der Straßenseite selbst.“68 Architekt Meyer hat es durch die unterschiedlichen Spielarten der Gehöfte erreicht, daß die Dörfer und besonders Neu-Berich sehr abwechslungsreich gestaltet sind. Trotzdem kann man bei den verschiedenen Bauernhäusern von einer typisierten Hausfamilie reden. Alle Gehöfte bestehen aus Wohnhaus oder Wohnbereich, Stall und Scheune. Verbindendes Element der Gebäude ist ihre quer zum First aufgeschlossene Inneneinteilung, die die verschiedenen Funktionsbereiche fast ausnahmslos getrennt voneinander in benachbarten Zonen unterbringt. Im Prinzip kommt es deshalb nicht darauf an, ob die Bereiche in abgeschlossenen Gebäudeteilen, in rechtwinklig aneinandergebauten oder unter einem einzigen First untergebrachten Bereichen verortet werden. Die Struktur der Gebäude bleibt unabhängig von ihrer Größe und ihrer Form dieselbe. Ob ein Wohnhaus freisteht, die Scheune im rechten Winkel oder firstparallel darangelegt wird, ob sich der Stall des Gehöfts Münch in einer Linie dem Wohnhaus anschließt, an den wiederum rechtwinklig die Scheune gebaut wird, ob alle Teile unter einem First oder auch völlig getrennt voneinander stehen: Man hat es bei den Gehöften mit einzel68 Das Bauernhaus im Deutschen Reiche 1906, S. 223. Haus und Hof – die Dorfgebäude 161 nen Basiselementen zu tun, die je nach finanziellen Möglichkeiten, gewünschter Größe und Einteilung, Form des Bauplatzes und Eindruck des Dorfbildes in einer großen Spannweite an Möglichkeiten zusammengefügt werden können. Trotzdem haben wir es mit ein und demselben Haustyp zu tun – mit der Intention, eine größtmögliche Vielfalt an verschiedenen hessischen Vorbildtypen zu nutzen. Schon Otto Schwindrazheim beschreibt die hessische Hausfamilie und ihre mannigfaltigen Ausprägungen: „Die in Hessen-Nassau herrschende Form des Bauernhauses ist das meist noch sogenannte fränkische Hofhaus: Wohnung, Ställe und Scheunen getrennt, nicht unter einem Dach vereinigt. Größenverhältnisse, Zahl und Stellung der einzelnen Bauten sind verschieden. Hufeisenstellung, Winkelstellung, unregelmäßige Stellung, auch Nebeneinanderstellen derart, daß das Ganze zum Einhaus wird. Bald ist der Hof ganz offen, bald geschlossen.“69 Die Verbreitung dieser zahlreichen Formen ist vor allem sozial bestimmt. Die meisten kamen in vielen Gebieten nebeneinander, aber bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen vor.70 Schon Heßler unterscheidet das „einfache fränkische Haus“, bei dem Wohnräume mit Stall und Scheune unter einem Dach vereinigt seien und eine größere Landwirtschaft, die „selbstverständlich“ auch eine größere Hofanlage mit gesonderten Scheunen und Ställen erfordere.71 In Neu-Berich geschieht die Verteilung der Gehöfte nach sozialen und dementsprechend finanziellen Gesichtspunkten. Meyer schreibt: „Während bei den großen Bauernhöfen – mit 70 bis 75 Morgen Land – Wohnhaus, Stall und Scheune getrennt erbaut sind, hatten die mittleren und kleinen Besitzer sich entschlossen, ihre Gebäude geschlossen unter einem Dach zu errichten.“72 Das bedeutet für die Neuansiedler mit mittlerer und kleinerer Abfindung eine finanzielle Ersparnis. Der Architekt Karl Meyer erweist sich als der Heimatschutzbewegung nahestehend, indem er die neuen Gehöfte in Anlehnung an die alten Behausungen der Ansiedler plant und damit aus der in Waldeck ansässigen facettenreichen hessischen bzw. „mitteldeutschen“ Hausfamilie schöpft. So urteilen auch Besucher des Dorfes: „Mit seiner schönen Kirche und den in heimischer Bauweise errichteten freundlichen Fachwerkhäusern bildet das neue Dörfchen ein 69 70 71 72 Schwindrazheim 1913, S. 22. Vgl. Gläntzer 1980, S. 109. Vgl. Heßler 1904, S. 32. Mielke behauptet ebenfalls: „Er [der Kleinbauer; d.Verf.] kann sich mit einem Hause begnügen, in dem Stall, Scheune und Wohnung unter einem Dache, aber an der Langseite nebeneinander angeordnet waren.“ Mielke 1910a, S. 73. Meitzen beschreibt das mehrseitige Gehöft bereits 1895: „In den grösseren Höfen sind für alle diese Wirthschaftsbedürfnisse besondere, wenn auch aneinander stossende Gebäude errichtet, welche je nach dem verfügbaren Platze einen regelmässigen oder unregelmässigen Hofraum umschließen.“ Meitzen 1895, S. 213. Meyer 1923, S. 34. Haus und Hof – die Dorfgebäude 162 Musterbeispiel einer Neusiedlung und einen Anziehungspunkt für die engere und weitere Umgebung.“73 Gleichzeitig wählt Meyer zumindest für die wohlhabenderen Bauern Gehöfte, die den gewandelten Wohnbedürfnissen entsprechen. Spätestens im 19. Jahrhundert gibt es nämlich, besonders bei Hofneubauten, die Tendenz vom ganzheitlichen zum monofunktionalen Wohnhaus, das das Zusammenfallen von Wohnen und Wirtschaften beendet.74 Durch die Entwicklung freistehender Hofelemente können die Gebäude vergrößert und konzentriert werden, was der Ausweitung landwirtschaftlicher Produktion und einem gesteigerten Wohnraumbedarf entspricht.75 Dazu kommt laut Schubert, daß die Vorschriften der ländlichen Baupolizeiordnungen oft eine bestimmte Entfernung zwischen den Gebäuden vorschreiben, die dem „fränkischen Gehöft“ den Vorrang vor dem „altsächsischen“ verschafft hätten.76 Auch neue hygienische Erkenntnisse sorgen für eine weitergehende Trennung von Wohn- und Stallbereichen.77 Besonders bei den fünf offenen Dreiseithöfen oder beim Hof Lötzerich, dessen Wohnhaus vom Stall durch eine breite Durchfahrt getrennt ist (Abb. 151), hat der Architekt Meyer dieser Entwicklung Rechnung getragen. Alle anderen Höfe verbinden die Funktionsbereiche Wohnen und Stall nach wie vor in nebeneinander liegenden Wohnzonen, wobei der Stall durch einen separaten Flur, durch die Küche oder eine im Wohnbereich integrierte Futter- und Waschküche erreicht werden kann. Eine noch engere Verbindung von Mensch und Tier ist nur bei den Einfirsthöfen Schlüter und Peuster gegeben, wo Stall und Teile des Wohnraums in einer Zone zusammengefaßt sind.78 Eine enge Verbindung von Wohn- und Stallbereich wird in Heimatschutzkreisen bei kleinen Gehöften als positiv bewertet. Mielke wirbt dafür, Stall und Wohnhaus zusammenzulegen – auch bei Erweiterung der „bedürfnislosen Form“ des mitteldeutschen Einhauses. Man könne 73 74 75 76 77 78 Reinhard, G. (Präsident des Landeskulturamts in Kassel) 1921, S. 477. Vgl. Halfar 1993, S. 172. Vgl. Bedal, S. 108 und Klöckner, S. 32. Schubert 1913, S. 314. Mit dem „altsächsischen“ ist das sogenannte „niederdeutsche“ oder „niedersächsische“ Hallenhaus gemeint, das auch in Nord-Waldeck vorkommt. Es handelt sich beim Hallenhaus um ein „Einhaus“, dessen Funktionsbereiche jedoch längsseitig geteilt und giebelseitig erschlossen sind. Vgl. dazu auch Opfermann, Wilhelm: Die niedersächsische Baukunst in Waldeck. In: Das Land Waldeck. Kassel 1929, S. 31-36; Lehrke, Horst: Niedersächsisches und mitteldeutsches Erbe am Bauernhaus in Nordhessen und Waldeck. In: Hessenland 51.1940/41, S. 166-175; Lilge, Andreas: Historische Hausformen in Südniedersachsen, Ostwestfalen und Nordhessen. Sonderband aus der Zeitschrift für Heimatpflege und Kultur Südniedersachsen. 18. Jg., Herzberg am Harz-Pöhlde 1989; oder Halfar 1993. Die Abluft des Stalles sowie krankes Vieh könnten große Gefahren für die Gesundheit der Bewohner bergen, so Schmidt 1905, S. 176. Nach Gruner 1896, S. 199 würden mit der offenen Bauweise, d.h. mit dem Auseinanderrücken der einzelnen Häuser voneinander, die wichtigen gesundheitlichen Faktoren der ausreichenden Belichtung und Belüftung erfüllt. Ob die Aufteilung bei den Gehöften Rabe und Siebel ähnlich war, ist nicht mehr festzustellen. Haus und Hof – die Dorfgebäude 163 die Bereiche durch feste Mauern trennen und gelange so trockenen Fußes zum Stall.79 F.L.K. Schmidt kritisiert die mehrteilige Gehöftanlage sogar, da „die raumbildenden und wichtigsten Baukörper als: die Umfassungsmauern und Bedachungen erheblich überwiegen gegenüber dem Rauminhalt“ und diese Bauform daher „die allerungünstigste und kostspieligste“ sei. Dagegen würden Einfirsthöfe, d.h. „aneinandergereihte, Raum für Raum bis in die Dachwinkel hinein zweckmäßig ausgenutzte, den jeweiligen Boden- und Niveauverhältnissen angepaßte Bauten eine wirtschaftlichere Bauweise bedeuten.“80 Auch der Kasseler Architekt der landwirtschaftlichen Baukunst Prof. Alfred Schubert hält einen Zusammenbau der Funktionsbereiche in der Reihenfolge Wohnen – Stall – Scheune bei kleineren Höfen (3-6 Stück Großvieh) für praktisch, da der Stall so von der Küche aus unmittelbar zugänglich sei. Eine Brandmauer könne die Stalldünste sowie das Ungeziefer fernhalten. Da diese jedoch der ständigen Durchfeuchtung ausgesetzt sei, dürften nur Küche und Hausflur, nicht jedoch die anderen Wohnräume, direkt daran anschließen. Für unpraktisch, weil die direkte und bequeme Zugänglichkeit verwehrend, hält Schubert sogar die Anlage einer Tenne oder anderer Funktionseinheiten zwischen Wohnbereich und Stall.81 Der Architekt Ernst Kühn stellt neben praktischen Erfordernissen auch ästhetische Überlegungen an: „Nichts ist für eine vorteilhafte Gesamterscheinung eines Gehöftes mehr zu wünschen, als ein Zusammenziehen der Bauwerke unter ein Dach oder in geschlossene Gruppen. Es kommt der Schönheit des Baues zugute, wenn in kleineren Verhältnissen das Bauerfordernis unter ein Dach zu liegen kommt...“82 79 80 81 82 Vgl. Mielke 1910a, S. 73 und S. 224f. Schmidt bei Sohnrey 1905, S. 164. Vgl. Schubert 1910, S. 12-14. Kühn 1913, S. 24. In Bezug auf die variable Anordnung der Wohn- und Wirtschaftsbereiche zueinander sind auch die Entwürfe des Architekten Philipp Kahm von Interesse, der in seinem Werk „Heimatliche Bauweise“ eine „preisgekrönte Anleitung zur Ausführung ländlicher Bauten“ vorstellt. Er schlägt vier Musterentwürfe für Bauernhäuser vor, die Gehöftformen für unterschiedlich große Landwirtschaften vorstellen. Vgl. Kahm 1914, S. 75-100. Seine Entwürfe ähneln hinsichtlich der Grundrißdisposition der Funktionsbereiche sowie der Größenverhältnisse denen des Architekten Meyer. Auch er plant für kleine Landwirtschaften (Gehöft für drei Stück Großvieh, d.h. zu vergleichen mit dem Gehöft Schlüter) einen Einfirsthof, weil der sich für kleine Anlagen bewährt habe. Es vereint Wohnhaus und Stall unter einem Dach, um „trockenen Fußes“ von einem Bereich zum anderen zu gelangen. Hier jedoch legt der Architekt zwischen Stall und Scheune eine breite, die beiden Bereiche voneinander trennende Tenne an, um Gerüche und Schmutz vom Wohnbereich weitgehend fernzuhalten. Ein zweiter Entwurf für eine größere Landwirtschaft von etwa sechs Stück Großvieh (etwa vergleichbar mit der Größe des Gehöfts Lötzerich) entwickelt zwei giebelständig zur Straße stehende Hofgebäude, die in ihrer Mitte einen Hofraum bilden. In dem einen befinden sich Stall und Wohnhaus unter einem Dach, in dem anderen die Scheune. Diese Gebäudekonstellation ist in den Waldecker Dörfern zwar nicht zur Ausführung gekommen, hätte jedoch als mögliche Alternative sicherlich in Betracht gezogen werden können. Der dritte Entwurf für ein Gehöft von ca. neun Stück Großvieh, das etwa der Gehöftgröße der fünf offenen Dreiseithöfe Neu-Berichs entspricht, plaziert Wohnhaus und Scheune giebelständig zur Straße und den Stall rechtwinklig dahinter zurückversetzt, sodaß sich dazwischen ein Hofraum bildet. Vom Wohnhaus führt ein überdachter schmaler Verbindungsgang zum Stall, der im rechten Winkel zu Wohnhaus und Scheune steht, an letztere angebaut ist und das Grundstück nach hinten abschließt. Der Hof wird dadurch - sowie durch ein großes Hoftor an der Straßenseite zu allen vier Seiten verschlossen. Das Wohnhaus ist von den Ökonomietrakten völlig getrennt, ohne daß der Architekt jedoch auf eine wetterfeste Verbindung zwischen Wohntrakt und Stall verzichten wollte. Ein vierter Entwurf, ein ländliches Anwesen für Kleinbauern, kommt in Form und Größe dem des Gehöfts Haus und Hof – die Dorfgebäude 164 Die Gehöfte in Böhmenkirch Das Dorf Böhmenkirch auf der Grenze zwischen Ost- und Mittelalb zählt zur sogenannten „oberdeutschen“ oder stammesgeschichtlich gesehen „alemannischen“ Hausfamilie. Dieses, südlich der mitteldeutschen Hauslandschaft gelegene Gebiet umfaßt im wesentlichen den Schwarzwald, das Bodenseegebiet, Teile Württembergs, Oberschwaben, Teile Mittelfrankens, Bayerisch Schwaben und Altbayern mit Ausnahme einiger Teile der Oberpfalz.83 Allein das heutige Bundesland Baden-Württemberg jedoch hat über diese allgemeine Gliederung hinaus einen überaus reichen Bestand an verschiedenartig ausgeprägten Gehöftformen aufzuweisen.84 Ursprünglich war auf der Alb das Gehöft mit von Haus und (für die Alb bedeutsamen) Viehstall abgetrennter Scheune üblich, wie die erste württembergische Gemeindestatistik von 1769 besagt.85 Später und bis ins 20. Jahrhundert hinein dominiert jedoch das queraufgeschlossene Einhaus auf der Alb, das den Stall zum Anbau, wenn nicht zum Unterbau des Einfirsthofes werden läßt – also auch das gestelzte Einhaus weiterentwickelt.86 Der Vorteil des Einhauses besteht im Vergleich zum Gehöft auch hier darin, daß es die Arbeitswege verkürzt und gerade bei den häufigen Niederschlägen und langen Wintern auf der Alb viele Gänge ins Freie erspart.87 Im Gegensatz zu Oberschwaben und dem Schwarzwald, die einen individuellen oberdeutschen Haustyp hervorbringen, hat die Alb das queraufgeschlossene Einhaus gemein mit den sich nördlich anschließenden Hauslandschaften.88 Die Bebauung der Dörfer ist wegen des rauhen, windigen Klimas, in vielen Dörfern jedoch auch wegen des Realteilungsrechts, sehr eng und größenmäßig bescheiden:89 „Kommt man aus dem fruchtbaren Oberschwaben mit seinen reichen Höfen und Ortschaften herauf auf den schwäbischen Jura mit seinem mageren, wasserarmen Boden, so ist der Unterschied in die Augen springend. Mit den veränderten Lebensbedingungen der Bewohner ändern sich auch ihre Behausungen. Sie sind kleiner; oft mehr Hütten, die nur aus Stube, Kammer, Küche und 83 84 85 86 87 88 89 Hille in Neu-Asel sehr nahe. Es ist ein Winkelhof mit dem Wohnhaus in einem Gebäudeflügel, der Scheune in dem zweiten und einem Stallbereich, der dazwischen über Eck angelegt ist wie beim Gehöft Hille. Auch der Architekt Kahm schöpft wie Meyer in Neu-Berich aus einem Fundus an Gehöfttypen und deren Einzelelementen, die er je nach Größe der Landwirtschaft, nach Terrain und individuellen Wünschen plazieren und einrichten kann. Gleich ist der Anspruch, bei einem großen landwirtschaftlichen Anwesen die Gebäudeteile getrennt voneinander zu errichten, während für kleinbäuerliche Gehöfte die Funktionsbereiche unter einem Dach vorgesehen sind. Vgl. Gläntzer 1980, S. 152. Diese große Differenzierung der Hausformen hat jedoch die übergreifende südwestdeutsche Hausforschung eher gebremst als gefördert. Vgl. Assion/Brednich 1984, S. 9. Das Einhaus stelle, so wird angenommen, die reduzierte Form des Gehöftes dar. Vgl. ebd., S. 172. Zur Entwicklung vom Gehöft zum Einhaus auch Schröder 1963, S. 92 und Raisch, Herbert: Gehöft und Einhaus in Württemberg. Zur historisch-geographischen Hausformenforschung Südwestdeutschlands. In: Berichte zur deutschen Landeskunde 42.1969, H. 1, S. 97-146. Vgl. dazu z.B. König 1958, S. 16f, Schöck 1982, S. 114 und Ellenberg 1990, S. 468. Vgl. Assion/Brednich 1984, S. 172. Vgl. ebd. Vgl. Ellenberg 1990, S. 465. Heute ist diese Bauform jedoch fast immer zweistöckig. Haus und Hof – die Dorfgebäude 165 Schopf bestehen. Aber ein besonderer Typus hat sich aus diesen Verhältnissen heraus nicht entwickelt.“90 Die Erdgeschosse der Häuser sind meist massiv errichtet, während die Giebel aus Holzfachwerk bestehen.91 Kennzeichnend für die Dörfer der Hochalb und auch für Böhmenkirch sind niedrige und meist einstöckige, traufseitig zur Straße liegende Höfe. Die Häuser stehen in einer Reihe aneinandergebaut, um dem rauhen Klima zu trotzen. Allein die Häuser der Vollbauern sind fast immer zweistöckig.92 Die Umfassungswände der Böhmenkircher Höfe bestehen aus Kalksteinplatten, die Giebel aus Fachwerk. Brandmauern gibt es jedoch nicht und die Dächer sind größtenteils strohgedeckt, was die steile Dachform der Albhäuser bedingt. Ziegel- bzw. Schieferdächer sind selten.93 Wie die mitteldeutschen Einhäuser sind die Alb-Häuser vollständig traufseitig erschlossen und in Querrichtung aufgeteilt.94 Der Hausgrundriß ist laut Heimatkundler Eugen Lang auch in Böhmenkirch in fast allen Häusern derselbe: „Durch die Haustüre kam man unmittelbar in den mit Steinplatten ausgelegten Hausgang [Öhrn genannt; d.Verf.], dieser führte geradeaus in die Küche, die teilweise recht groß war. Die Küche hatte zudem einen Ausgang in den hinter dem Haus gelegenen Garten. Vom Hausgang aus ging es auf der einen Seite zum Wohn- und Schlafzimmer, auf der anderen Seite des Ganges oder Flures zum Stall und zur Scheuer. Es gab aber auch manchen Kleinbauern, dessen Stall sich unterhalb der Wohnung befand und einen steil abfallenden Zugang vom Hof und von der Straße her hatte. Die Dachgeschosse waren im allgemeinen nicht ausgebaut. [...] Auch der Keller war meist ein kleiner Raum, ein eher dunkles Verließ, sehr nieder. [...] Die Unterkellerung eines ganzen Hauses war absolut unüblich.“95 Auch der Heimatschützer Robert Mielke beurteilt die Hauslandschaft der Alb wenig positiv: „Die, infolge ihrer Wasserarmut wenig besiedelten, Hochflächen des schwäbischen Jura und 90 91 92 93 94 95 Das Bauernhaus im Deutschen Reich 1906, S. 294. Beim Quereinhaus bedingen laut König die tragenden Säulen des ursprünglichen Pfettendaches die Aufschließung von der Traufseite. Vgl. König 1958, S. 16f. Das steinerne Erdgeschoß rührt vermutlich noch von einer Württembergischen Bauordnung vom Jahre 1495 für Städte her. Vgl. Das Bauernhaus im Deutschen Reich 1906, S. 290. In rein konstruktiver, gerüstkundlicher Hinsicht könnten die deutschen Hausformen grob in die niederdeutschen, mitteldeutschen und oberdeutschen eingeteilt werden, so Schönfeldt. In architektonisch-funktioneller Hinsicht sei jedoch von der engen Verwandtschaft der oberdeutschen und mitteldeutschen Hausformen auszugehen. Vgl. Schönfeldt 1973, S. 17f. Dafür spricht auch die These des Forschers Erich Otremba, der (ähnlich wie Schönfeldt bei den mitteldeutschen Formen) urteilt: „Das oberdeutsche quergeteilte Einheitshaus ist nämlich im Grunde keines. Nach seiner Bauidee beurteilt sind einfach die drei Bauteile, Wohnteil, Stall und Vorratsteil, nebeneinandergesetzt.“ Vgl. Otremba, Erich: Allgemeine Agrar- und Industriegeographie. Stuttgart 1953, S. 151f., zit. nach Schröder 1963, S. 94. Vgl. Assion/Brednich 1984, S. 172. Die älteren Häuser der Alb stünden allerdings alle mit dem Giebel zur Straße und hätten den Eingang an der Traufseite, die dem Hofraum zugewendet ist. Ebd., S. 182. Vgl. zu Böhmenkirch Lang/Oßwald, Bd. 2, 1994, S. 99: „In der Klosterstraße, die vom Brand nicht betroffen war, standen um 1910 14 Gebäude. Davon waren drei zweistöckig gebaut [...]. Zwei Wohnhäuser hatten bereits einen Kniestock, neun Gebäude waren also einstöckig.“ Um 1910 hatten nur Rat- und Schulhaus, Kirche und Pfarrhaus sowie einige wenige Privathäuser Ziegeldächer. Vgl. Lang/Oßwald, Bd. 2, 1994, S. 99. Vgl. zur Einteilung des Alb-Hauses Lohß 1962, S. 172 oder Assion/Brednich 1984, S. 182. In der Hausmitte befindet sich auch hier eine Flurzone, hinter der sich die Küche anschließt. Rechts oder links davon sind Stube und Kammern angelegt, auf der anderen Seite schließt sich der Stall oder (beim gestelzten Einhaus) die Scheune an. Von hier aus gelangt man im einstöckigen Haus zu den Schlafkammern. Lang/Oßwald, Bd. 2, 1994, S. 99. Haus und Hof – die Dorfgebäude 166 der Rauhen Alb haben nur dürftige Gehöfte, während die fruchtbaren Talstraßen des Neckar und seiner Nebenflüsse viele malerische Dörfer entstehen ließen.“96 Böhmenkirch sei bis zum Brand ein „Drecknest wie viele andere auch“ gewesen, läßt uns auch Eugen Lang wissen.97 Nach dem Wiederaufbau ändert sich das jedoch gewaltig: „Daß der neue Ortsteil einen andern Eindruck macht als der alte, wird wohl jedermann einleuchten. Ein solches Ineinanderschachteln wie bei den alten Häusern war selbstverständlich aus praktischen, gesetzlichen und hygienischen Gründen nicht angängig.“98 Tatsächlich wird die traufseitige Reihenbebauung bis auf einige wenige zusammengebaute Ausnahmen zugunsten von freistehenden Einzelbauten ersetzt. Die Höfe sind hauptsächlich giebelseitig zur Straße gestellt. Sie sind durchweg größer als die alten Gebäude, was auch damit zusammenhängt, daß die „kleineren Leute“ in der Regel nicht mehr neu gebaut haben, die anderen Bauern jedoch ihre Landwirtschaft vergrößert wissen wollten.99 Die Bebauung wird damit lichter und für den landwirtschaftlichen Betrieb bedeutend geräumiger (Abb. 63, 64, 72). Fünf verschiedene Architektenteams passen die Gehöfte in gleicher Weise der örtlichen Hauslandschaft an, indem sie die Gebäude als queraufgeschlossene Einhäuser planen. In fast allen Häusern kann man vom Ern aus den Stall betreten, der sich direkt an das Wohnhaus anschließt. Darauf folgt die Scheune mit Tenne und Barn, eine Remise zur Unterbringung der landwirtschaftlichen Geräte und Maschinen kommt häufig hinzu. Ansonsten sind die Futterund Aufbewahrungsräume für Heu, Stroh und Ernte üblicherweise in den großen Dachräumen über Stall und Scheune eingerichtet100 (z.B. Abb. 70, 74, 78, 84, 94, 98). Alfred Schubert aus Kassel propagiert auch für die württembergische Region den Zusammenbau der drei Funktionsbereiche: „Die in vielen Gegenden Süddeutschlands althergebrachte, aus klimatischen und örtlichen Verhältnissen und Gewohnheiten hervorgegangene Bauweise des Aneinanderbauens von Wohnhaus, Stallung und Tenne unter einem Dach ist wegen ihrer Hauptvorteile als Billigkeit, Zusammenhalten der Wärme im Winter und möglichste Ersparung an Arbeit und Zeit auch im allgemeinen bei allen Neuanlagen beizubehalten.“101 96 97 98 99 100 101 Mielke 1910a, S. 17. Worte von Isidor Fischer, zit. in Lang/Oßwald, Bd. 2, 1994, S. 99. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 5, S. 16. Der Durchschnittspreis für einen neuen Hof beansprucht damit rund 10.500 M. Vgl. dazu KA Göppingen, 714.4, Bund 1, S. 29. Die in Anlehnung an die alte Bebauung als Doppelhäuser angelegten Gehöfte (die von Georg Wachter geplanten Höfe Biegert/Vetter oder die von Karl Philipp geplanten Höfe Ziegler/Schielein) sind letztlich in der gleichen Weise strukturiert. Auch die Winkelhöfe im Ort sind, wie die der Waldeckischen Dörfer, faktisch nur vom Einfirsthof abgewandelt, indem der Scheunenbereich nicht in derselben Flucht, sondern im rechten Winkel an den Stall angesetzt sind. Beim Hof Heinzmann, von Schenk & Dangelmaier geplant, lehnen sich Tenne und Remise rechtwinklig an Barn, Futtergang und Stall an, sodaß sich ein zweiseitig umgrenzter Hofraum bildet. Der Hof des Wagners Josef Grieser, ebenfalls von Schenk & Dangelmaier entworfen, ist einer der wenigen, die die Form des gestelzten Einhauses wieder aufnehmen. Statt der Wohnung befindet sich hier im Erdgeschoß die Wagner-Werkstatt. Vom Ern aus ist wie üblich der Stall und die darauffolgende Tenne zu erreichen. Die Wohnung befindet sich im ersten Stock direkt über der Werkstatt. Schubert 1910 (Anleitung), S. 12. Haus und Hof – die Dorfgebäude 167 Wie in den Waldecker Dörfern zeigen sich auch in Böhmenkirch die für den Wiederaufbau zuständigen Architekten der regionaltypischen Bauweise der Schwäbischen Alb vertraut und bauen im Sinne des Heimatschutzes moderne Höfe, die sich in Bauform und -struktur an die queraufgeschlossenen Einhäuser des Ortes und der Region anlehnen. Bei fünf verschiedenen Architektenbüros verwundert jedoch die allzu große Ähnlichkeit der Gehöfttypen untereinander sowie die innere Einteilung der Höfe. Tatsächlich sind es nicht die Architekten, die frei über ihre Bebauungspläne entscheiden können. Als Teil des Hilfskomitees für den Wiederaufbau wird vom Innenministerium eine staatliche Bauberatungsstelle eingerichtet, die aus einem bauverständigen Beamten der Gebäudebrandversicherungsanstalt, Bauinspektor Frost, sowie einem Landestechniker für das landwirtschaftliche Bauwesen, Inspektor Friz, besteht. Diese kontrollieren den gesamten Wiederaufbau, beraten die Bauenden und besprechen ihre Wünsche mit den ausführenden Architekten. So schreibt Friz im Mai 1910 an die Königliche Zentralstelle für die Landwirtschaft: „Die Vermögensverhältnisse der Abgebrannten sind grösstenteils ungünstig, weshalb es sich in Böhmenkirch als ganz besonders notwendig erweist, über die Gestaltung und den Umfang der Neuanlagen zu wachen, damit sich die Klagen von Ilsfeld, Binsdorf und Darmsheim nicht wiederholen. Im Hinblick auf die bestehenden Verhältnisse der Abgebrannten dürfte man fast durchweg mit einfachen Wohn- und Oekonomiegebäuden unter einem Dach auskommen, die einstockig und etwas breiter anzuordnen wären, damit im Dachraum die – außer zwei Wohnräumen und Küche im Erdgeschoß – noch nötigen Wohngelasse für Anverwandte untergebracht werden können.“102 Die beiden staatlichen Techniker stellen also ein detailliertes Bauprogramm auf, das grundlegende Zeichnungen vorbereitet und dem eine Typisierung der Bauten zugrundeliegt.103 Das bestimmt die gleichartige Bebauung Böhmenkirchs bis in Baudetails. Als Beispiel hierfür kann die Dacheindeckung dienen: Ein Ziegeleibesitzer will die Bewohner zur Verwendung von Zementziegeln veranlassen, was dem Ortsbild laut Bauinspektor Frost ein düsteres Aussehen geben würde. Obwohl das Hilfskomitee in dieser Hinsicht keinen Zwang ausüben will, soll die Bauleitung auf die Bauenden einwirken, um alternativ Falzziegel oder Biberschwänze zu verwenden.104 Daß dieser Entscheidung zum Gebrauch eines regionaltypischen Dachdeckungsmaterials vor dem Zement der Verzug gegeben wird, ist sicherlich dem Einfluß der Heimatschutzbewegung zuzuschreiben. Auch der gleiche Wandaufbau der Böhmenkircher Gehöfte läßt vermuten, daß den Architekten detaillierte Anweisungen gegeben werden: Die Erd- und gegebenenfalls ersten Geschosse der Wohnhäuser sind immer massiv aus Backstein erstellt und verputzt. Die Knie- 102 103 104 Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 8, S. 4. Inspektor Friz fertigt im Benehmen mit den Abgebrannten Skizzen für die Neubauten an, welche den Bauplänen als Vorlage dienen. Vgl. ebd. Vgl. z.B. ebd., S. 16. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 9, S. 4. Haus und Hof – die Dorfgebäude 168 stöcke bestehen dagegen ebenso wie die Giebel und Zwerchhäuser aus mit Backstein gefülltem Riegelfachwerk. In den Giebeln wird das Fachwerk entweder verputzt oder als Zierfachwerk freigestellt. Die Umfassungsmauern der Ställe sind aus verputztem Backstein aufgemauert, während die Scheunen durchgehend aus Fachwerk errichtet sind. Der Architekt Theodor Hiller ist innerhalb dieses eng gestreckten Typisierungs-Rahmens der einzige, der dem von ihm gestalteten Ortsteil ein individuelles Gesicht zu geben versucht. Zwar hält er sich wie alle anderen genau an die Vorgaben des Komitees. Er legt jedoch in Anklang an die historische Alb-Bebauung sehr steile Dächer an.105 Außerdem verkleidet er jeden Hausgiebel mit Holzbrettern, die er mit Schablonenmalereien versehen läßt. Seine moderne Interpretation historischer schwäbischer Albbauten findet entsprechend in der Heimatschutzbewegung großen Gefallen. Kein Geringerer als der deutsche Publizist Casimir Hermann Baer (1870-1942), Schriftleiter des seit 1906 erscheinenden Vereinsorgans „Heimatschutz“,106 publiziert diverse Abbildungen zu Hillers Bebauung und beurteilt sie euphorisch: (Abb. 72, 75). „Leider sind die Entwürfe auch hier nicht restlos zur Ausführung gekommen. Das muß um so mehr bedauert werden, als es dem Architekten gelang, die Grundgedanken durch verständnisvolle Materialverwendung, geschickte Anpassung an die einzelnen Aufgaben und feines Verständnis für die örtlichen Besonderheiten derart zu schöner Schlichtheit und einleuchtender Zweckmäßigkeit zu entwickeln, daß das Ergebnis durchaus als beste Kunst angesehen werden muß.“107 Um möglichst kostengünstig und schnell arbeiten zu können, holt man für das Abräumen des Brandschuttes und die Herstellung der Fundamente in Böhmenkirch Kostenvoranschläge verschiedener Unternehmen ein. Angeworben wird daraufhin die Tiefbaufirma Baresel aus Stuttgart-Untertürkheim, die das finanziell günstigste Angebot macht. Sie erstellt bei allen Häusern einheitliche Fundamente aus Beton bis zur Sockelhöhe, um trockenere Räume zu erhalten und damit die Mäuseplage einzudämmen.108 „Aus heutiger Sicht“, so der Heimatforscher Eugen Lang, „muß man die Weitsicht der Verantwortlichen loben, diese große Baufirma eingeschaltet zu haben. Am 14. April hatte es gebrannt, bereits Mitte Mai 1910 waren 50 Erdarbeiter am Werk, darunter die Hälfte Italiener, um mit dem Wiederaufbau zu beginnen. Mit zwei großen Betonierund Steinschlagmaschinen waren die Bauarbeiter fast Tag und Nacht an der Arbeit. Zwei Monate nach der Brandkatastrophe, Mitte Juni, erhoben sich in der Friedhofstraße die ersten Häuser...“109 Der Wiederaufbau des Dorfes wird damit in großen Teilen Produkt industrieller Massenfertigung und tritt aus dem Kosmos handwerklich-regionaler Herstellung heraus. Zwar wird den Bauenden letztlich freigestellt, welche Betriebe sie zum Aufbau ihrer Gehöfte heranzie105 106 107 108 109 Diese mußten wegen der Strohbedeckung so hoch sein. Vgl. Schöck 1982, S. 114. Vgl. Castellani Zahir 1997, S. 235. Kleinbauten und Siedlungen 1919, S. 180. Derselbe Text plus Abbildungen ist zu finden und in: Moderne Bauformen 11.1912, S. 434-441. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 9, S. 14f. Lang/Oßwald, Bd. 1, 1990, S. 347. Haus und Hof – die Dorfgebäude 169 hen. Sie müssen sich aber trotzdem damit einverstanden erklären, die entsprechenden Ratschläge der praktischen Techniker bis zum Abschluß der Arbeiten anzuerkennen.110 Das offizielle Bauprogramm verhindert also die völlige Baufreiheit der Landwirte, da dieses bis auf gestalterische Details die Typisierung der Bauten aus Kostengründen vorsieht. Das führt zu massiven Protesten der Bauherren, die sich besonders an den Planungen Theodor Hillers entzünden: „Von Ihren Auftraggebern (Blessing, Kolb, Knoblauch, Grieser) laufen zahlreiche Klagen darüber ein, daß sie in der Freiheit des Bauens von Ihnen beeinträchtigt werden, indem beispielsweise das Dach höher gemacht werden soll, als es der Bauherr will, indem mehr Fenster angebracht werden sollen usw.“111 Gerade der Architekt, der vom Heimatschutz gelobt wird ob seiner heimattypischen steilen Dächer, wird dafür von den Landwirten selbst so kritisiert, daß er schließlich einige der Aufträge an andere Architekten abgeben muß – ein Beweis dafür, daß sich die Intentionen des Heimatschutz in Bezug auf die ländliche Bauweise oft nicht mit den Wünschen der betroffenen Bauern übereinbringen lassen.112 Auch die Ansiedlungen Neu-Berich, Neu-Bringhausen und Neu-Asel werden nicht in Eigeninitiative der Bewohner neu errichtet. Von der Erstellung der Entwürfe, der Vergebung der Bauarbeiten, der Beaufsichtigung der Bauausführung bis zur Abrechnung mit dem Unternehmer werden Beamte des preußischen Staates betraut.113 Entsprechend werden das Dorf NeuBerich und Teile der anderen Dörfer auch nicht von heimischen Handwerksbetrieben gebaut, sondern von einer Hannoveraner Großbaufirma Finke, deren Angebot das günstigste war.114 Das stößt in den Kreisen der Waldecker Architektenschaft und besonders bei dem Architekten Wilhelm Opfermann auf Protest. Er hatte sich auch beworben und wollte bei Erteilung des 110 111 112 113 114 Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 9, S. 24f. Ebd., Bund 8, S. 17 und Staatsarchiv Ludwigsburg (im folgenden abgekürzt mit StA Ludwigsburg), E 191, Bü. 2340. Auch die Architekten Hohlbauch, Schenk & Dangelmaier sowie Wachter klagen über die eigensinnigen Ansiedler: „Ohne daß wir davon Kenntnis haben, werden die Handwerker von den Bauherren veranlaßt, nach ihren Angaben durchgreifende Änderungen vorzunehmen. Daß die Änderungen in vollständigem Widerspruch mit unseren Intentionen stehen, wird wohl nicht besonders hervorzuheben sein und es ist tatsächlich schade für unsere Zeit und Mühe, die wir darauf verwenden, den Häusern ein halbwegs anständiges Aussehen zu geben.“ KA Göppingen 714.4, Bund 8, S. 14. C.H. Baer sieht ebenfalls ein, daß Zwang allein nicht ausreicht: „So oft die Elemente dörfliche Siedelungen vernichten, wird von einsichtsreichen Leuten der Versuch gemacht, den Wiederaufbau derart zu beeinflussen, daß zugleich praktische und ästhetisch befriedigende Arbeit geleistet wird. Leider sind einwandfreie Erfolge bis jetzt nur selten erzielt worden. Mit Vorschriften, mit Zwang und polizeilichen Maßregeln ist nicht allzuviel zu erreichen. Erst wenn der Einzelne die Empfindung für das Zulässige wieder gewonnen hat, wenn er die Wege erkennt, auf denen früher mit soviel Geschick Altes und Neues zu einheitlichem Ganzen verschmolzen wurde, erst dann können aufdringliche Geschmacklosigkeiten auch beim Bauen auf dem Lande vermieden werden.“ Vgl. Baer 1912, S. 434. Vgl. StA Marburg, Best. 607, Nr. 353, S. 3 bezüglich des Dorfes Neu-Bringhausen. Vgl. ebd., Best. 122, Nr. 2075, Bl. 161 und Meyer 1923, S. 36. Haus und Hof – die Dorfgebäude 170 Auftrages ausschließlich waldeckische Bauhandwerker heranziehen: Einmal, um einen materiellen Vorteil für das Land zu sichern und zweitens, weil die Handwerker vertraut seien mit der heimattypischen Bauweise.115 In einem im gleichen Jahr gehaltenen Vortrag führt er diese allgemeine Misere näher aus: „Wir aber, die wir zum großen Teil nicht ganz unschuldig an dieser bedauernswerten Erscheinung sind [...], haben wir doch Fremdem und Großstädtischem oft selbst kritiklos den Vorzug gegeben, statt eine gute Eigenleistung vom Handwerker zu fordern, den Versandkatalog irgendeiner auswärtigen Fabrik von ihm verlangt; haben wir doch den Schreiner, den Sattler, den Schlosser damit zum Händler erziehen und ihm seine Handwerkskunst vernachlässigen helfen.“116 Wie Böhmenkirch wird auch der Bau der drei Waldecker Dörfer mit der Beschäftigung einer Großbaufirma zu einer industriellen Dienstleistung ohne Integration in handwerkliche und traditionelle Verfahrensweisen. Die Dorfgebäude werden zu einheitlich hergestellten Massenerzeugnissen. Das zeigt sich auch am Wandaufbau. Bei jedem Haus wird ein Sockel angelegt, der aus Bruchstein bzw. Bruchsandstein gefertigt ist. Die Erdgeschoßwände der Wohnbereiche und Ställe sind ausschließlich massiv aus Backstein errichtet, während die Kniestöcke, die zweiten Stockwerke sowie die Giebel und die Scheunen aus mit Backstein ausgemauertem Holzfachwerk bestehen. Im Sinne der modernen technischen Entwicklung werden also komplett durchtypisierte Gebäude errichtet, die für die Rentabilität und schnelle Umsetzung des Unternehmens sorgen (z.B. Abb. 145, 150, 153). Deutlich wird die Idee der Typisierung auch bei den Baubeschreibungen zu den Gehöften Neu-Berichs: Sie sind völlig identisch. Der Architekt Meyer erstellt die Bauzeichnungen der Gehöfte, gibt detaillierte Angaben zum Bau der Häuser und läßt nur eine Großbaufirma nach ökonomischen Grundsätzen aufbauen. So erfüllt sich in idealer Weise die Forderung Muthesius’ nach einer Verbindung von Kunst und Industrie (Architekt und Baufirma) und verdeutlicht, daß Meyer der Moderne und ihren Errungenschaften gegenüber aufgeschlossen ist. Er möchte das Bild eines modernen, aber auf regionaltypischer Basis errichteten Dorfes erschaffen. Dafür nimmt er auch die Kritik in Kauf, das heimische Handwerk zu vernachlässigen. Meyers Drängen nach Einheitlichkeit und Typisierung wird in seiner Beschreibung vom Aufbau der Ansiedlung Neu-Bringhausen deutlich und geht konform mit Paul SchultzeNaumburgs Ansicht, daß man der Menge der Bauenden nie einen zu freien Willen lassen dürfe: „Die drohende Gefahr, daß jeder Ansiedler nun für sich ‚darauf los baute’ und durch den ausführenden Unternehmer die in heimischer Bauweise gehaltenen Entwürfe des Hochbauamts vielleicht bis zur Unkenntlichkeit entstellen ließ, wurde glücklich vermieden. Das Hochbauamt übte bis in alle Einzelheiten eine dauernde Bauberatung aus und die Ansiedler […] ließen sich letzten Endes doch bewegen, die Bauausführungen so zu halten, daß eine gewisse Einheitlichkeit gewahrt wurde und Neubringhausen den Eindruck einer aus einem Guß und unter einer leitenden Hand entstandenen Siedlung macht. Leicht und bequem war diese Aufgabe manchmal nicht. Der 115 116 Vgl. StA Marburg, Best. 122, Nr. 2075, Bl. 120 und Best. 607, Nr. 272, Bl. 34. Vgl. Opfermann 1911, S. 190. Haus und Hof – die Dorfgebäude 171 Ziegelrohbau treibt bereits stark sein Unwesen in Waldeck und findet leider vielfache Nachahmung. […] Gütliches Zureden und wenn alles nicht half, Androhung der Entziehung der zahlreichen behördlichen Unterstützungen und Vergünstigungen führten aber doch schließlich zur Bekehrung der Außenseiter.“117 Wie in Böhmenkirch müssen auch hier die Landwirte sich den Wünschen der leitenden Behörde unterwerfen. Die Gehöfte in den Ausstellungsdörfern Auch für das Ausstellungsdorf der IBA in Leipzig von 1913 und die Deutsche WerkbundAusstellung in Köln von 1914 werden Gehöftanlagen geplant. Während sich im „Neuen Niederrheinischen Dorf“ ein kleines und ein großes Gehöft präsentieren, ist in der Dorfanlage Leipzigs nur ein großes Gehöft gezeigt, „das sämtliche Baulichkeiten enthält, die in der Landwirtschaft nodwendig sind. Zugleich sind diese Gebäude in Benutzung genommen und werden im Betriebe gezeigt“118 (Abb. 188-192). Das Gehöft will jedoch keine musterhafte, einheitliche Bauweise präsentieren, sondern stellt als „Beispielgehöft“ eine ganze Palette an modernen Bauweisen, -materialien und -techniken nebeneinander vor. Keine „massiven“ und „schönen“ Gehöfte sollen gezeigt werden, sondern kostengünstige und zweckmäßige Beispiele, die dem Landwirt einen Ab- oder Umbau seiner Bauten aus Gründen der Weiterentwicklung der Landwirtschaft erleichtern.119 Diese bewußte Absage an Solidität und Ästhetik beim Bau des Gehöftes läßt den direkten Einfluß der Heimatschutzbewegung erst einmal als unwahrscheinlich erscheinen. Das Gehöft stellt sich in den Katalogen der Ausstellung auch nicht als typisch sächsisch, sondern nur als „Beispielgehöft“ vor. Wenn der Architekt Bachmann nicht verdeutlicht hätte, daß sein Dorf als neuzeitliche Erweiterung eines sächsisch-thüringisches Dorf gedacht sei,,120 so hätte es auch als überregionales Beispiel für den neuzeitlichen Gehöftbau gelten können. Immerhin ist der Hof als mächtiger Vierseithof errichtet mit großem Wohnhaus, angehängter Einfahrtstenne und Wagenschuppen zur Dorfstraße hin. Ein langer Rindviehstall mit Futtertenne sowie eigenen Kälber- und Jungviehställen ist im rechten Winkel an das Wohnhaus angebaut, von dem es auch zu betreten ist. Ein einzeln stehender Schweine- und Pferdestall schließt den großen Hofraum nach hinten ab, während eine Scheune die vierte Seite des Gehöfts bildet und sich wiederum an den Wagenschuppen anlehnt. 117 118 119 120 Meyer 1923, S. 31. Besonders der Ziegel- und Kunststeinbau, sofern er nicht seine regionaltypische Berechtigung erhält, ist in den Reihen der Heimatschützer verpönt. Vgl. z.B. Hoermann 1913, S. 98f und viele der Gegenbeispiele bei Schultze-Naumburg 1908, z.B. die Abbildungen auf S. 147, 149 und 151. Vgl. Führer durch die landwirtschaftliche Sonderausstellung 1913, S. 45. Vgl. ebd., S. 46f und Offizieller Katalog 1913, S. 82. Brachmann 1913, S. V. Haus und Hof – die Dorfgebäude 172 Obwohl das Königreich Sachsen eine vielfältige Hauslandschaft aufzuweisen hat, haben gerade Mehrseithöfe in der Region Tradition. So zählt Sachsen laut Ellenberg zur „mitteldeutschen“ Hauslandschaft.121 Das Vorherrschen von Vierseithöfen in diesem Gebiet sei einmal durch das Anerbenrecht sowie durch die ertragreiche Ackerwirtschaft auf den fruchtbaren Böden begünstigt.122 Die Publikation „Das Bauernhaus im Deutschen Reich“ von 1906 konstatiert bei den sächsischen Gehöften ebenfalls die mannigfachen Verschiedenheiten in der Bauweise und Anordnung der Wohnräume, aber schließt: „...allein überall bleibt doch der fränkische Grundtypus bestehen“.123 Besonders das große Hoftor zur Straßenseite ist ein bekanntes Charakteristikum in Sachsen, das das Hofbild wesentlich prägt.124 Zwar ist die Form des Vierseithofes, wie er auf der IBA zur Verwendung kommt, im Königreich Sachsen beheimatet und weist auf die bodenständige Bauweise der Region hin.125 Trotzdem stellt das Gehöft in erster Linie rein rational moderne landwirtschaftliche Entwicklungen nebeneinander vor, ohne ein einheitliches bauliches Vorbild im Sinne der Heimatschutzbewegung anzustreben. Ein Jahr später wird im Neuen Niederrheinischen Dorf ebenfalls ein „Großes Gehöft“ geplant. Hier ist ebenfalls ein Mehrseithof, und zwar ein geschlossener und sehr regelmäßig angelegter Dreiseithof entstanden (Abb. 223-226). Eine Ziegelmauer und ein großes Hoftor, die den Hofraum zur Straße abschließen, erwecken jedoch den Eindruck, als handele es sich um einen Vierseithof. Auch hier ist das zweigeschossige, repräsentative Wohnhaus an die Dorfstraße gerückt, mit der Längsseite schaut es auf den Marktplatz hinaus. Eine Futtertenne am Wohnhaus leitet direkt zum großen Kuh- und Schweinestall über. Die hintere Seite des Hofes wird durch ein Gebäude mit überdachter Düngerstätte, Pferdeboxen und einer Knechtekammer begrenzt, während eine große Scheune mit zwei Tennen und drei Bansen sowie ein Geräteschuppen den dritten Flügel des Hofes ausmachen. Der zuständige Architekt Speckmann aus Köln schreibt: „Dieser Bestimmung entsprechend [Baukosten nicht über 30.000 Mark; d.Verf.] ist das Gehöft projektiert und zwar als ge121 122 123 124 125 Die sogenannte mitteldeutsche Hauslandschaft ist bei ihm unter Punkt 5: „Region der zweistöckigen Gehöfte und engen Haufendörfer“ zusammengefaßt. Vgl. Ellenberg 1990, S. 191-193. Vgl. Ellenberg 1990, S. 360. Auch Hans Volkmann sowie Alfred Fiedler und Jochen Helbig verzeichnen in den sächsischen Landschaften vorwiegend das Wohnstallhaus und alle Formen von Mehrseithöfen, wobei die Dreiseithöfe in der Regel von Toreinfahrten verschlossen werden. Volkmann 1925, S. 10 und Fiedler/Helbig 1967, S. 87-89. Das Bauernhaus im Deutschen Reiche 1906, S. 186. Vgl. Das Bauernhaus im Deutschen Reiche 1906, S. 186 und Schmidt 1916, S. 28-30. Abgesehen davon bedarf eine umfangreiche Ausstellung wie sie in dem Beispielshof vorgeführt wird, auch eines großen Gebäudes, wozu sich ein Vierseithof am besten eignet. Der Grundriß des Wohnhauses jedoch erinnert kaum an das „mitteldeutsche Haus“. Der Hauseingang sitzt giebelständig unter der großen Einfahrtstenne und erschließt das Haus längsseitig. Obwohl die einzige Grundrißzeichnung des Erdgeschosses durch verwirrende Überzeichnungen verunklärt ist, scheint der Flur sich längs durchs Haus zu ziehen und rechts und links die Wohnräume zu erschließen. Haus und Hof – die Dorfgebäude 173 schlossenes sogenanntes fränkisches Gehöft, bei dem die einzelnen Gebäudearten um einen geräumigen Hof gruppiert sind...“126 Im Vergleich zum IBA-Dorf soll mit dem Neuen Niederrheinischen Dorf ausdrücklich ein Beispiel für bodenständiges Bauen am Niederrhein vorgeführt werden.127 So scheinen also auch am Niederrhein Mehrseithöfe regionaltypisch zu sein. Tatsächlich beschreibt schon „Das Bauernhaus im Deutschen Reiche“ für die Rheinprovinz, daß hier in der weiten Flußebene das fränkische Hofhaus vorherrschend ist: „Bei einem Ackerland von 250 bis 700 Morgen schließen sich dem Wohnhaus entsprechend große Wirtschaftsgebäude an und umfassen meist einen rechteckigen mit Düngergrube versehenen Hof, der stattliche Einfahrtstore hat.“128 Wie in Sachsen findet auch hier die Entwicklung des großen Drei- oder Vierseithofes, oft mit überbauten Durchfahrten, in dem guten Boden und dem Anerbenrecht ihre Begründung.129 Das Wohnhaus des Großen Gehöftes ist, im Gegensatz zu dem in Leipzig, als „mitteldeutsches“ Haus konzipiert.130 Im Gegensatz zum IBA-Dorf wird im Neuen Niederrheinischen Dorf auf die künstlerische Veredelung des ländlichen Bauens hingearbeitet.131 Das machen das einheitlich gestaltete Gehöft insgesamt, aber auch seine baulichen Details wie das durchkomponierte villenartige Wohnhaus oder die Dungstätte deutlich, die u.a. um das Aussehen des Hofes nicht zu beeinträchtigen, unsichtbar in einem Flügel des Hofes untergebracht wird.132 „Das Bauernhaus im Deutschen Reich“ schreibt weiterhin über die Hauslandschaft der Rheinprovinz: „Bei kleineren Gütern sind auf beiden Seiten des Rheines die Wirtschaftsgebäude entweder dem Wohnhause niedriger angebaut, oder damit unter einem Dache vereinigt. Das Haus ist dann quer geteilt in Stuben und Küche, die unterkellert sind und einen Oberstock mit Schlafzimmern und Vorratskammern haben; daran schließen sich Ställe und Tenne, darüber Futter- und Fruchtspeicher.“133 Auch eine solche Gehöftform ist im Neuen Niederrheinischen Dorf im sogenannten Kleinen Gehöft wiederaufgenommen (Abb. 220-222). Es ist ein eingeschossiges, traufständig zur Straße stehendes Gebäude, bei dem eine Durchfahrtstenne den Wohnbereich mit den Ställen verbindet. Remise und Scheune, bestehend aus Bansen und Tenne, sind rechtwinklig daran an126 127 128 129 130 131 132 133 Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 57. Vgl. z.B. ebd., S. 7. Die Rheinprovinz umfaßt danach das Gebiet nördlich der Linie Aachen – Köln. Das Bauernhaus im Deutschen Reich 1906, S. 231. Vgl. Ellenberg 1990, S. 403f. Vgl. zu den Gehöftformen des Rheinlandes auch Bendermacher, Justinus: Das rheinische Bauernhaus nach dem heutigen Stande der Forschung. In: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 1/1950, S. 17-38, besonders S. 17, 31-33. Der Eingang ins Haus erfolgt traufseitig vom Hof und führt zu einem mittig gelegenen halben Flur mit Treppenhaus. Von hier sind links die beiden Wohnzimmer, rechts Küche und Milchküche und geradeaus ein Spülraum sowie der Balkon zu erreichen. Vgl. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 4. Vgl. ebd., S. 57. Das Bauernhaus im Deutschen Reich 1906, S. 231. Haus und Hof – die Dorfgebäude 174 gebaut, sodaß sich hinter dem Gehöft ein zweiseitig begrenzter Hofraum ergibt. Auch die Anlage dieses Gehöftes beruht auf ästhetischen Grundsätzen. So sagt sein Krefelder Architekt Biebricher: „Um die bei kleineren Gehöften oft zerrissene und aneinandergeschachtelte Wirkung der einzelnen Bauteile zu vermeiden, habe ich möglichst Wirtschafts- und Wohnräume unter ein Dach gelegt und nur den Raum für Wagenremise und Stallung von diesem Haupthaus getrennt.“134 Die Raumstruktur des „mitteldeutschen“ Hauses ist jedoch nicht aufgenommen. Der Eingang in den Wohnbereich befindet sich an der Schmalseite des Hauses und führt, ohne Flur, vorbei an einem Treppenhaus und direkt in die große Wohnküche, von dort aus in die Stube. Die Milchküche dahinter kann nur über die Durchfahrtstenne erreicht werden. Das Gehöft erreicht durch seine strenge Achsensymmetrie im Wandaufbau, die horizontale Rustizierung der Ziegelwände sowie durch Dreiecks- und Stufengiebel eine strenge, ja klassizistische Optik und erinnert damit an die von den Heimatschützern gelobte Architektur um 1800. Typisiert sind die Gebäude im Niederrheinischen Dorf jedoch trotz der gleichen Materialverwendung nicht, wie die Publikation zum Dorf sanft kritisiert: „Es mag dahingestellt bleiben, ob nicht vielleicht bei einer Ausführung auf dem Lande eine noch straffere Zusammenfassung der einzelnen Bauformen erwünscht sein würde. Mancher wird diese Frage im Hinblick auf unsere neuesten Wohnkolonien – Margarethenhöhe, Hellerau, Gronauer Wald u.a. – bejahen. Es bleibt indes zu bedenken, daß fast jeder Bau von einem anderen Architekten herrührt, und daß für die Planung und Ausführung der Bauten mit Recht die größtmögliche Freiheit gelassen wurde.“135 Die einheitliche Verwendung regionaltypischer Gehöftformen verbindet die bislang untersuchten Dörfer miteinander und läßt auf eine direkte oder indirekte Einwirkung der Heimatschutzbewegung schließen. Hierbei ist besonders die strenge Typisierung in den Waldecker Dörfern und Böhmenkirch auffallend. Die Gehöfte in Golenhofen Im Vergleich dazu haben wir es in Golenhofen mit ganz anderen Prämissen zu tun. Das Dorf wird von der Ansiedlungskommission für Posen und Westpreußen gebaut. Entwerfender und verantwortlicher Architekt für die gesamte Siedlung wie die Einzelbauten ist Paul Fischer. Im Gegensatz zu den anderen Dörfern, werden hier die Gehöfte vor der Anwerbung der Siedler geplant und gebaut, sodaß keine Absprachen mit den späteren Bewohnern nötig sind. Als Mustersiedlung und Anschauungsobjekt für an der Umsiedlung nach Posen oder Westpreußen Interessierte erfüllt sie die Aufgabe, werbend zu wirken: „Nichts scheint versäumt, um Go134 135 Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 67. Statt Remise und Stallung meint er die Scheune, die vom Haupthaus getrennt ist. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 8. Haus und Hof – die Dorfgebäude 175 lenschewo zu einem Musterdorf zu machen. Das Ganze, die Häuser, die Gärten, sie machen einen sauberen, klaren geordneten Eindruck, als handele es sich um die Vergrößerung einer Architekturmodellausstellung.“136 Da das Dorf tatsächlich als zu besiedelnde Modellausstellung konzipiert ist, wird auf die Gestaltung der verschiedenen Höfe großen Wert gelegt. Da die Interessenten an einer Ansiedlung aus allen Teilen Deutschlands bzw. als deutsche Rückwanderer sogar aus den Nachbarländern kommen, wird in Golenhofen ein Exempel für den möglichen Variantenreichtum einer solchen Siedlung geliefert: „Die Bauarten aller deutschen Provinzen treffen hier zusammen. Hier sieht man das westfälische Haus mit seinem steilen Dach; dunkler Schiefer bedeckt die Hälfte der Fassade bis zum Dache. Daneben steht ein Brandenburger Häuschen mit zwei abseits liegenden Ställen. Weiß leuchten die Mauern eines Hannoveraner Hauses, von denen sich das Pferd des hannoverschen Wappens klar abzeichnet. Selbst ungarische Bauernhäuser sind vertreten.“137 Ein anderer Beobachter urteilt: „...so schließt sich auch das thüringisch-fränkische Bauernhaus gleichsam vertraulich an das badener und dieses an das niedersächsische, und es ist, als ob alle das Dichterwort verwirklichen wollten: ‚Das ganze Deutschland soll es sein. O Gott vom Himmel, sieh darein, und gib uns rechten deutschen Mut, daß wir es lieben treu und gut!’“138 Mangels vollständigen Planmaterials und mangels detaillierter Aussagen des Architekten können die Golenhofener Gebäude nicht im einzelnen bezüglich ihrer „Herkunft“ identifiziert werden. Festzuhalten ist trotzdem, daß hier nicht im Sinne der Heimatschutzbewegung der Versuch gemacht wird, regionaltypisch, d.h. auf Grundlage von „Posener“ Hausformen zu bauen. Stattdessen sollen die Ansiedlungswilligen durch die Möglichkeit, ihre Gehöfte in heimischer Bauweise zu errichten, zu einem Neuanfang ermutigt werden. Zugleich zeugt das Dorf gerade mit seinen „deutschen“ Gehöftanlagen von der Germanisierungspolitik der Deutschen, die die in der Provinz Posen ansässigen Polen endgültig zu verdrängen sucht. Die eigenen, als „urdeutsch“ empfundenen Hausformen sollen heimisch gemacht und in der Region fest verankert werden. Eine Konzession an die Region könnte allerdings das Gehöft der Stelle 22 sein (Abb. 25, 26). Dessen Wohnraum ist im Erdgeschoß in Form eines „Umgebindes“ gestaltet, das hier aus Holzstützen mit darauf liegendem Rähm sowie aussteifenden Kopfwinkelhölzern besteht.139 Während historisch gesehen das Umgebinde mit einem Blockbau verbunden wurde, der das ganze Erdgeschoß oder nur einen Teil des Hauses einnahm, wird es hier vor den ausgemauerten und verputzten Fachwerkbau gelegt. Es soll zusammen mit seiner Giebelverbretterung 136 137 138 139 Vgl. Dietzinger 1908, S. 46. Zitat des französischen Schriftstellers Jules Huret im „Figaro“, zit. bei Dietzinger 1908, S. 45. Schwochow 1908, S. 27. Vgl. Bernert 1988, S. 10. Haus und Hof – die Dorfgebäude 176 an die weit verbreitete, im Osten Deutschlands aber auch in Polen und Ungarn vorkommende Bauweise des Umgebindes erinnern.140 Je weiter man in Deutschland von Westen nach Osten komme, umso häufiger stoße man auf „slawische“ Anlagen, bemerkt auch Robert Mielke: „Nicht nur in den auch slawischen Stämmen eigenen Straßendörfern zeigt sich dies; mehr noch kommt es in der eigenartig schönen Zimmerei des Ständerwerkes zum Vorschein, das dem Bohlenwerk vorgebaut und von Ostpreußen an bis nach Böhmen zu verfolgen ist, in Sachsen aber ganzen Landstrichen, besonders in der sächsischen Lausitz und dem höheren Erzgebirge, ein eigenartiges Gesicht gegeben hat."141 Das Umgebindehaus wird also trotz seiner Charakterisierung als „slawisch“ als ursprünglich „deutsche“ Hausform interpretiert: So behauptet Mielke an anderer Stelle, daß das „deutsche Haus mit seinen Anfängen im Walde stehe“ und der Blockbau „ein Ergebnis der Waldnatur unseres Landes“ sei.142 Auch der Erker, wie er z.B. an der Stelle 28 zu finden ist (Abb. 39-42), wird vom Heimatschutz als „urdeutsches Motiv“ gehandelt.143 Ebenso ist es mit einem zweiten Beispiel, dem Gehöft der Stelle 16 (Abb. 21-24). Dieses zeigt an der Giebelseite des Wohntraktes eine Vorlaube, die ein schmales Flugdach stützt. Die Vorlaube ist in historischen Häusern der Region oft mit dem Blockbau verbunden und wird durch eine Ausladung der Streckbalken an der entsprechenden Hausseite gebildet. Aus den Ständern, den Kopfbändern und dem waagerechten Rähm darüber ergibt sich das Bild eines Vorlaubenhauses und damit eines Stützenprinzips, das mit dem Umgebinde eng verwandt und in den gleichen Regionen beheimatet ist.144 Bei der Stelle 16 ist jedoch das Erdgeschoß aus Backstein erstellt und bietet damit nur noch das Bild, nicht jedoch die Konstruktion eines Vorlaubenhauses.145 Auch die Vorlaube wird als deutsches Element interpretiert, wie Otto Winter schreibt: „Ueberall, wo wir dieses aus urgermanischer Zeit stammende Motiv des Vordaches finden, das den Hauseingang beschirmt, wird das Gefühl der Behaglichkeit und des Geborgenseins ausgelöst. Eine schlichte Feierabendbank neben dem Eingang würde dieses Gefühl noch stärker hervortreten lassen.“146 140 141 142 143 144 145 146 Vgl. zur Verbreitung des Umgebindehauses Bernert 1988, S. 15-17. Immerhin wird die Blockbauweise von den Zeitgenossen positiv bewertet, wie der Autor Hahn mit Blick auf ein altes polnisches Bauernhaus verdeutlicht, das einen verbretterten Giebeln und Schopfwalmdach aufweist: „Die alten Landbauten der östlichen Marken zeigen ja trotz ihrer primitiven und verwahrlosten Gesamterscheinung immerhin einen zweckmäßigen ländlichen Baucharakter. Jedenfalls ist z.B. die baufällige polnische Kate, die unsre Abbildung zeigt, als Bild gesehen, immerhin noch erfreulicher als das Probestück früherer Staatsbaukunst, das sich in der Abbildung des ländlichen Schulhauses in Wyganow zeigt, und das wie ein poesieloser Backsteinkasten dem breiten, kräftigen Walmdach mit dem holzverschalten Giebel gegenübersteht.“ Hahn 1908, S. 38. Mielke 1913a, S. 80. Vgl. Mielke 1910a, S. 41f. Vgl. Hirsch 1998, S. 784 und die Zeitschrift: Volkskunst und Volkskunde von 1908. Vgl. Bernert 1988, S. 26. Vgl. aber auch Grisebach, Helmuth: Das polnische Bauernhaus. Berlin 1917, zur Vorlaube besonders S. 52-59 und Johannsen 1906 (1990), S. 42-44. Bei Paul Fischer 1907: Mittlere Bauerngehöfte, Serie II, Inhalt und Bl. 17 wird der Bau des Hauses auf pommersche Siedler zurückgeführt, was jedoch nicht den Tatsachen entspricht, da Fischer das Haus selbst geplant hat. Winter 1913c, S. 26. Haus und Hof – die Dorfgebäude 177 Mit der Aufnahme von in der Region typischen Bauformen sollen auch Ansiedler aus den ostdeutschen Provinzen sowie aus Ungarn und Südrußland angelockt werden, um sich in den Provinzen Posen und Westpreußen eine neue Existenz aufzubauen. Gleichzeitig stellen der Architekt Fischer und die Ansiedlungskommission diese Hausformen als typisch deutsch heraus und visualisieren damit den historischen Anspruch des Deutschen Reiches auf die gesamte Region und vor allem die Provinz Posen. Bei den anderen Golenhofener Bauten ist nicht festzustellen, ob es sich z.B. um ein „Hannoveraner“, „Brandenburger“ oder „westfälisches“ Haus handelt. Von dem Gehöft der Stelle 26 wird immerhin mit Blick auf den Grundriß gesagt, es sei eine „niedersächsische Fortbildung“147 (Abb. 36). Dem Haus ist zunächst nicht anzusehen, daß es einem „niedersächsischen“ Fachhallenhaus nachempfunden ist. Weder haben wir es hier mit einem Einhaus zu tun, noch findet sich der für das Fachhallenhaus typische längsaufgeschlossene Grundriß mit Deele und Deelentor wieder.148 Auch der Grundriß des Wohnhauses ist mit seinem halben Flur und seiner Dreizonigkeit eher am „mitteldeutschen“ Haus orientiert. Einzig die Längsaufstellung des Viehs und der mittige, deelenartige Durchgang im Stall erinnern an das Hallenhaus.149 Ein als längsaufgeschlossenes Fachhallenhaus durchgeplantes Gehöft ist im Sinne norddeutscher Vorbilder jedoch nicht geplant worden. Einordnungen in regionaltypische Kategorien sind in Golenhofen sehr spekulativ, da nie konkret ausgesprochen wird, was ein Gehöft zu einem „niedersächsischen“, „westfälischen“ oder „hannoverschen“ macht. Bei der Untersuchung der Gehöfte wird dagegen deutlich, daß sie nicht konkrete Gehöftformen aus verschiedenen Hauslandschaften des Deutschen Reiches nachahmen wollen, sondern vielmehr verschiedene Bauweisen deutscher Gehöftbauten, verschiedene Kombinationen von Baukörpern eines Hofes ebenso wie unterschiedliche Bauele147 148 149 Vgl. Zwanzig Jahre deutscher Kulturarbeit 1907, S. IV. Vgl. zum Hallenhaus Schepers, Josef: Das Bauernhaus in Nord-Westdeutschland. Münster 1943 und Ellenberg 1990, S. 242-321. Wenn man von der Längsaufstellung des Viehs auf eine „niedersächsische“ Fortbildung schließen will, so müssen auch die Stellen 23, 28 und 32 (Abb. ??) als solche bezeichnet werden, denn auch hier sind die Ställe längsaufgeschlossen, bei den Stellen 28 und 32 ist sogar eine Stalltür an der Giebelseite des Ställe angebracht, die an Deelentore erinnern. Außerdem sind an dem straßenseitigen Stallgiebel der Stelle 28 zwei geschnitzte Zierbretter angebracht, die an stilisierte Pferdeköpfe erinnern, wie sie laut Issel in unterschiedlichen Ausprägungen an „sächsischen“ Bauernhäusern vorkommen. Vgl. Issel 1901, S. 18. Einen weiteren Hinweis zur Herkunft der Bauten gibt nur ein Aufsatz von Heinrich Sohnrey von 1897, der auf Grundlage einer Wanderfahrt in die deutschen Ansiedelungsgebiete in Posen und Westpreußen die Herkunft der jeweiligen Ansiedler mit deren selbstgebauten Gehöftanlagen vergleicht. Hieraus können jedoch keine grundsätzlich vereinheitlichenden Gesichtspunkte zwischen Herkunft der Ansiedler und Bauweise der Gehöfte geschlossen werden. Sohnrey definiert die völlige Trennung von Wohnhaus, Stall und Scheune als „fränkische“ Anlage, während die „sächsische“ Anlage [er meint vermutlich die „niedersächsische“ oder „niederdeutsche“ Anlage; d.Verf.] für ihn aus dem unter einem Dach zusammengefaßten Wohnhaus und Stall besteht, dessen Scheune abseits plaziert ist. An anderer Stelle bezeichnet er auch die komplette Vereinigung von Wohnhaus, Stall und Scheune – das Einhaus also – als „sächsische“ Anlage. Vgl. Sohnrey 1897, S. 56f und 61. In Bezug auf die Stelle 26 scheint seine Definition zu passen. Bei anderen Gehöften ist sie dagegen nicht ausreichend. Haus und Hof – die Dorfgebäude 178 mente und Materialien so variieren, daß jedes Haus sehr erfindungsreich und individuell geplant und mit ganz unterschiedlichen Baudetails und Zierformen (Fachwerk, Zierputz, Giebelverbretterungen, verschiedene Gauben und Erker, Veranden etc.) versehen ist. Allenfalls Zitate erinnern also an bestimmte Bauernhaustypen des Deutschen Reiches.150 Da das große Standardwerk „Das Bauernhaus im Deutschen Reiche...“, das erstmals eine systematische Beschreibung der verschiedenen deutschen Hauslandschaften liefert, erst im Jahre 1906 veröffentlicht wird, kann auch vermutet werden, daß Fischer während der Planungen die verschiedenen deutschen Haustypen noch nicht sehr gut kennt und seine Gehöftformen daher nur in Anlehnung an bestimmte Hofstrukturen oder Bauelemente diverser deutscher Bauernhöfe kreiert. Auch in der Juxtaposition der Wohn- und Wirtschaftsbauten zeigen die Gehöfte eine große Varianz. Wohnhäuser, Ställe und Scheunen können zusammengebaut sein, aber auch völlig getrennt voneinander stehen. Meist jedoch lehnen sich Wohnhäuser und Ställe aneinander an, während die Scheunen einzeln plaziert sind.151 Nur geschlossene Dreiseithöfe kommen in Golenhofen nicht vor. Die Stelle 40 würde Sohnrey als „fränkische Gehöftanlage“ bezeichnen, denn hier stehen Wohnhaus, Stall und Scheune getrennt voneinander152 (Abb. 47-52). Bei den Stellen 26, 28 und 32 sind Wohnhaus und Stall nur an den Häuserecken (an Futterküche und Stall) aneinandergebaut, sodaß hakenförmige Grundrisse entstehen (Abb. 36, 40, 44). Diese Wohnstallhäuser mit Scheune werden auch in der zeitgenössischen Landbauliteratur immer wieder in Vorschlag gebracht. Sie seien aus einer Mischform von „altsächsischer“ und „fränkischer“ Bauweise entstanden, so Schubert, und bei mittleren Bauernhöfen (5 bis 20 ha) die gebräuchlichste.153 Kühn fügt hinzu, als hätte er dabei die Golenhofener Gehöfte im Sinn: „Auch bei dem mittelgroßen Gehöfte lassen sich zwei oder mehrere Häuser zu einer Gruppe zusammenziehen, und die Einzelstellung der verschiedenen Bauwerke läßt sich vermeiden, wenn die unter einem rechten Winkel zusammenstoßenden Bauwerke Verbindungsräume erhalten, die wirtschaftlich benutzt werden können.“154 150 151 152 153 154 Es ist bezeichnend für die künstlerische Gestaltung und Wirkung der Gehöfte, daß das Dorf unter dem Titel „Neue Dorfbaukunst“ im „Jahrbuch der bildenden Kunst 1907/08, S. 68 besprochen wird und auch Heinrich Sohnrey euphorisch anmerkt, in welch „liebevoller und schöner Weise“ hier die Bauern- und Arbeiterstellen angelegt seien. Vgl. Sohnrey 1908, S. 473. Das entspricht der Einschätzung Sohnreys für das gesamte Ansiedlungsgebiet Posen und Westpreußen. Vgl. Sohnrey 1897, S. 52. Der massive Teil des Wohnhauses steht giebelständig zur Straße, während ein Anbau aus Fachwerk sich daran traufständig anschließt. Das Wohnhaus zeigt einen dreizonigen, (im Prinzip queraufgeschlossenen) Aufbau ebenso wie der Stall. Dieser beherbergt unter einer Abschleppung eine eigene Futterküche. Die Scheune schließt sich dahinter an. Vgl. Schubert 1913, S. 314f und Schrader 1909, S. 8f. Kühn 1913, S. 24. Haus und Hof – die Dorfgebäude 179 Diese nur schmale Verbindung von Wohnhaus und Stall ist einer Kritik am völligen Zusammenbau von Stall- und Wirtschaftsgebäuden mit dem Wohnhaus zu schulden, da die Wohnräume unter Stalldunst zu leiden hätten und die Trennungswand zwischen Wohnteil und Stall stets feucht sei.155 Gleichzeitig lasse sich damit der Stall unabhängig von der Witterung trokkenen Fußes erreichen. Trotz ihrer ähnlichen Gesamtanlage sind die genannten Gehöfte sehr unterschiedlich. Während das Wohnhaus der Stelle 32 giebelseitig zur Straße steht, sind die Häuser der Stellen 26 und 28 traufseitig positioniert (Abb. 37, 41, 45). Dahinter schließen sich üblicherweise die Ställe an, während die Scheunen in der Regel in Längsrichtung die Rückseite des Hofes begrenzen und damit das Dorf nach außen hin optisch abschließen. Bei den Gehöften der Stellen 16, 22 und 24 sind Wohnhaus und Stall direkt aneinandergebaut (Abb. 21-24, 25-26, 30-34). Bei allen drei Gehöften ergibt sich die Queraufschließung und eine Innenraumstruktur, die mit den Grundrissen „mitteldeutscher“ Gehöfte ohne Scheunenanbau verglichen werden können. Alle drei Funktionsbereiche unter einem Dach vereint dagegen das Gehöft der Stelle 23: Scheune und Wohnhaus sind firstparallel und traufseitig zur Straße errichtet, während der dazwischenliegende Stall im rechten Winkel dazu steht (Abb. 27-29). Der mittige Durchgangsflur des zweigeschossigen Wohnhauses führt damit im Gegensatz zu den sogenannten Mittelflurhäusern direkt in den sich an der hinteren Traufseite anschließenden, längs aufgeschlossenen Stall. So bedeutsam dem Architekten die Variabilität der Hausformen ist, so entscheidend ist auch das Zusammenfassen der Hofgebäude zu einem festen Ensemble: „Ungemein wichtig ist es, stets das Haus mit dem Hofe zu einer Einheit zusammenzufassen. Der Bauernhof soll baulich den Eindruck eines organischen Gesamtkörpers machen. Ebenso wie Stall und Scheune, gehören Hof und Garten zum Bauernhause, und die Einfriedigung faßt das Ganze zu einem Körper zusammen.“156 Unter die wenigen Gemeinsamkeiten der Golenhofener Gehöfte fällt auch die Materialverwendung. Ebenso wie in den Waldecker Dörfern und in Böhmenkirch finden sich hier ausschließlich Mischformen aus massivem Backstein und Fachwerk. Die ersten Geschosse der Häuser ebenso wie die Ställe werden auch hier in der Regel aus verputztem Backstein errich- 155 156 Vgl. Brenning 1909, S. 130. Er schlägt vor, zwischen Stall und Wohnteil Räume untergeordneter Art, wie Abort, Vorratskammer oder Holzstall einzubauen. Dadurch würden die genannten Mißstände vermieden bei dem gleichzeitigen Vorzug, daß die Versorgung des Viehs und alle häuslichen und wirtschaftlichen Verrichtungen im Trockenen vorgenommen werden könnten. Sein Zeitgenosse Walther Heidenhain entgegnet auf dieselbe Frage jedoch : „Ob man das Wohnhaus mit dem Wirtschaftsgebäude unter ein Dach bringen oder beide getrennt aufführen soll, bedarf keiner Entscheidung. Beide Formen sind aus allgemeinen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten gleichwertig.“ Heidenhain 1910, S. 23. Fünfundzwanzig Jahre Ansiedlung 1911, S. 26. Haus und Hof – die Dorfgebäude 180 tet, während die Obergeschosse und Giebel aus verputztem oder unverputztem Fachwerk bestehen.157 Durch die Anwendung der Mischbauweise zeigt Fischer, daß trotz seiner Musterfunktion auch in Golenhofen (wie in den Waldecker Dörfern und Böhmenkirch) wirtschaftliche Gründe oberste Priorität haben, denn den potentiellen Ansiedlern soll mit möglichst kostensparenden Gehöften ein zusätzlicher Anreiz zum Bauen geliefert werden. In dieser Hinsicht erfährt Golenhofen viel Lob: „Regierungs- und Baurat Fischer hat hier [...] ein Ansiedlerdorf gebaut, dessen gesamte Anlage und einzelne Gehöfte den im Geiste der Neuzeit schaffenden feinfühlenden Baukünstler verraten, der auf dem Boden der guten Tradition stehend, in ästhetischer und hygienischer Hinsicht mit den einfachsten Mitteln praktisch und schlicht, wie wir es wünschen – und billig zu bauen weiss.“158 Fischer selbst schreibt in seinem Werk „Ansiedlungsbauten in den Provinzen Posen und Westpreußen“ von 1904 – also während der Errichtung Golenhofens – kategorisch: „Man verlange darum nicht reizvolle und malerische Lösungen, architektonisch interessante Aufbauten zu sehen. Der Architekt muß hier zurücktreten gegenüber dem Volkswirt. Es ist der Fehler der meisten Veröffentlichungen auf diesem Gebiete, daß sie das Architektonische zu sehr betonen.“159 Unter dem erklärten Einfluß der Heimatschutzbewegung ändert Fischer sieben Jahre später seine Meinung, indem er mehrfach von dem „Künstler“ redet, der jeden Dorfbau und die Errichtung jedes Einzelhauses überwachen solle, damit „das Unschöne vermieden und der Zusammenhang zwischen Kultur und Natur hergestellt und aufrecht erhalten wird.“ Er fügt hinzu: „Darum lasse man den Architekten nicht bloß bei der Gestaltung der einzelnen Bauten, sondern ganz besonders bei der ersten Plananlage jeder Dorfgründung entscheidend mitwirken!“160 Schon in den Jahren 1902-1905 gestaltet Paul Fischer sein Musterdorf Golenhofen aus Werbezwecken künstlerisch bis ins Detail so durch, daß jedes Gebäude ein eigenes, unverwechselbares und bis ins Detail durchkomponiertes Äußeres erhält. 157 158 159 160 Die Scheunen bestehen auch hier mit einigen Ausnahmen (z.B. Stelle 28) aus Fachwerk. Einige wenige Wohnhäuser wie das der Stelle 26 und 32 bestehen vollständig aus Backstein, während bei der Stelle 32 nur im Dachgeschoßgiebel einige Zierfachwerkbalken eingezogen sind. Vollständig aus Fachwerk besteht jedoch keines der Gehöfte. Warlich 1906, S. 533. In: Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, S. 34 ist zu lesen: „Bei der Planung sämtlicher Gebäude ist ebensosehr auf volle Zweckmäßigkeit und möglichster Kostenschonung, wie eine sorgfältige Durchbildung des Äusseren und Inneren im Sinne einer gesunden, bodenständigen Bauernkunst Rücksicht genommen worden.“ Fischer 1904, Vorwort. Fischer 1911, S. 22f. Am Ende des Ersten Weltkriegs, als ökonomische Erwägungen im Hausbau wiederum erste Priorität besitzen, kehrt Fischer wieder zurück seinen frühen Anschauungen: „Nicht die Wohnungs-, sondern die Wirtschaftsfrage ist die Hauptsache, der Hausbau und die Erwägung, wie derselbe angelegt und gruppiert werden soll, tritt zurück gegenüber der Frage, in welcher Größe und Lage und von welcher Bodenbeschaffenheit müssen die Stellen ausgelegt werden, um wirtschaftlich bestehen zu können.“ Vgl. Fischer 1918b, S. 178. Haus und Hof – die Dorfgebäude 181 Der Begriff Typisierung ist diesem für die Ansiedlung in Westpreußen und Posen werbenden Musterdorf fremd. Zwar kann man bei der Materialverwendung, der Positionierung der Gehöfte zur Straße und der Stellung der Gebäudeteile auf den Bauplätzen von Ähnlichkeiten in der Planung sprechen. Weder äußerlich noch von der Innenraumstruktur sind die Gebäude Golenhofens jedoch typisiert. Sohnrey glaubt, daß eine Typisierung der Gehöfte in der Ansiedlungsregion auch nicht Ziel der Kolonisation sein kann: „Ein einheitlicher Typus wird indes nicht anzustreben sein, denn es zeigt sich, daß die landsmannschaftliche Vielseitigkeit der Gehöftbauten bestimmenden Kräfte: der Volkscharakter, die überkommenen Gewohnheiten u.s.w. auch hier in der Fremde zumeist noch für die Einrichtung des Gehöftes ausschlaggebend sind.“161 Eine vorgefertigte Typisierung der Ansiedlungsbauten liegt auch nicht in der Absicht Paul Fischers.162 1904 macht er nämlich deutlich, daß sich mit der Besiedlung Posens und Westpreußens durch Menschen unterschiedlicher Herkunft möglichst viele Bauernhausformen aus den vornehmlich deutschen Regionen zusammenfinden sollen. Durch diese bunte Mischung sollen sich mit der Zeit bestimmte, an das Land und Leben im Osten, die moderne Landwirtschaft und die fortgeschrittene Technik angepaßte Bauernhaustypen neu herausbilden: „Ebenso wie die historischen Bauernhausformen wird ein solcher neuer Typos nicht das Werk der Einzelerfindung sein können, sondern muss auf dem Boden des Volksempfindens von einer Gesammtheit allmählich hervorgebracht werden und das Erzeugnis echter deutscher Volkskunst sein.“163 Fischer sieht seine Arbeit als Architekt der Inneren Kolonisation also nicht nur in der Ansiedlung von deutschen Bauern und Arbeitern, sondern auch in der Begründung einer neuen, nämlich deutschen Kultur im Osten des Reiches, deren wichtigstes Element der Hausbau ist.164 2.2.2. Arbeiterhäuser „Nach gutem Alten Neu zu gestalten, Sich zu erfreuen, Wird niemand gereuen!“165 161 162 163 164 165 Sohnrey 1897, S. 50. Wiewohl auch er wie Karl Meyer und die Architekten Böhmenkirchs die schwachen architektonischen Leistungen der selbstgebauten Ansiedlerhäuser kritisiert: „Wo freilich die Ansiedler auf eigene Faust bauen dürfen, treten meist recht bescheidene Kunstleistungen zu Tage. Ziegelrohbauten nüchternster Art – die Bezeichnung „roh“ müßte unterstrichen werden – bilden die Regel.“ Fischer 1911, S. 26. Fischer 1904, Vorwort. Die häufige Publikation von Bauten aus dem Bereich der Inneren Kolonisation hat demnach den Zweck, die Diskussion und Verbreitung verschiedener Gehöftformen zu unterstützen. Die Chance, durch die Mischung von Menschen aus verschiedenen Regionen oder Ländern Vorteile zu erzielen, sehen auch andere Beobachter: „In diesem Durcheinanderwürfeln der Bewohner aus den verschiedensten Landschaften erkennen wir einen großen Vorzug der Ansiedlungsdörfer. Nun kann jeder von dem anderen etwas lernen, sei es in der Bewirtschaftung des Ackers oder in der Viehzucht oder im Obst- und Gartenbau.“ Schwochow 1908, S. 34. Zit. bei Meyer 1914, S. 195. Haus und Hof – die Dorfgebäude 182 Die Wohnungsreformbewegung fordert, daß jede Arbeiterwohnung in sich abgeschlossen, hell und belüftbar sei: „Das Bestreben beim Errichten von Arbeiterwohungen muß demnach darauf gerichtet sein, bei möglichst großer Billigkeit dem Arbeiter eine gesunde und zweckmäßige Wohnung zu schaffen, die wenigstens einen bescheidenen Grad von Annehmlichkeit und Behaglichkeit gewährt.“166 Die Küche solle daher von den Schlafräumen durch eine genügende Anzahl von Zimmern geschieden werden, jede Wohnung einen eigenen Abort erhalten. Der Sittlichkeit halber seien die Kinder je nach Geschlecht in getrennten Schlafräumen unterzubringen.167 Neben dem Tagelöhnerhaus Peuster in Neu-Berich168 (Abb. 142-144) sind Arbeiterhäuser auch in Golenhofen vertreten. Sie sollen zur Verbesserung der katastrophalen Wohnsituation der Landarbeiter gerade in den östlichen Provinzen dienen und damit deren Integration in die agrarische Gemeinschaft erleichtern. Im Neuen Niederrheinischen Dorf werden nicht nur Arbeiterhäuser für Tagelöhner, sondern auch für Industriearbeiter angelegt. Da sich am Niederrhein immer mehr Industrie auch auf dem Lande ansiedelt,169 soll hier vorbildhaft die moderne Mischform eines Arbeiter- und Bauerndorfes präsentiert werden. Zwei Grundarten von Arbeiterhäusern werden unterschieden: Das Einzelwohnhaus und das Arbeitermiethaus. Dazwischen kommen noch Häuser für zwei und mehrere Familien und die sogenannten Reihenhäuser in Betracht.170 Während Miet- und Reihenhäuser eher Lösungen für Städte oder größere Ansiedlungen bieten, werden gerade für ländliche Kleinsiedlungen besonders Ein- und Zweifamilienhäuser geplant. Im Neuen Niederrheinischen Dorf sind drei Arbeiterhäuser als Einfamilienhäuser angelegt, und zwar das „Arbeiterwohnhaus“ von Otto Müller-Jena aus Köln, ein „Wohnhaus für einen Industriearbeiter auf dem Lande“ von dem Düsseldorfer Friedrich Becker und das „Wohnhaus für einen ländlichen Tagelöhner“ von dem Kölner Architekten Camillo Friedrich (Abb. 217-219, 232-234, 235-237). Im Gegensatz zu den anderen Häusern besitzt einzig das eingeschossige, auf rechteckigem Grundriß erbaute Arbeiterhaus Müller-Jenas keinen angeschlossenen Stall, um die Eigenversorgung der Arbeiterfamilie zu gewährleisten. Unter hygienischen Gesichtspunkten ist das Arbeiterhaus Beckers dem des Müller-Jena vorzuziehen, da es einen Abort und einen Waschraum im Obergeschoß enthält. Auch das Tagelöhnerhaus Friedrichs ist den beiden anderen strukturell sehr ähnlich. 166 167 168 169 170 Weißbach/Mackowsky 1910, S. IX. Vgl. Dutzi 1990, S. 27. Dieses wurde, um die Typisierung der Waldecker Gehöfte zu verdeutlichen, schon im Kapitel 3.5.1. untersucht. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 7. Weißbach/Mackowsky 1910, S. X. Haus und Hof – die Dorfgebäude 183 Die Fachliteratur zur Anlage von Arbeiterhäusern ist sich einig, daß grundsätzlich das freistehende Einfamilienhaus, wie es im Neuen Niederrheinischen Dorf zur Anwendung kommt, das Ideal sein sollte: „Das Schalten und Walten unter eigenem Dach hat auf das geistige und körperliche Wohlbefinden so großen und günstigen Einfluß, daß man eigentlich kein Opfer scheuen sollte, diese Vorteile auch dem Arbeiterstande zuteil werden zu lassen.“171 Als Vorbild dient der Wohnungsreform das englische Kleinhaus, das „cottage“, wie es in zeitgenössischen englischen Arbeitersiedlungen Verwendung findet.172 Es liefere genug Licht und Luft, vermeide die schnelle Ausbreitung von Krankheiten und gäbe im Vergleich zum Doppelwohnhaus weniger Anlaß für Streit zwischen den Nachbarn.173 Um eine möglichst günstige Herstellung zu ermöglichen, gebe man den Häusern eine einfache rechteckige oder quadratische Grundrißform und vermeide alle Auf- und Ausbauten. Für jede Wohnung sollten überdies mindestens zwei Wohnräume zur Verfügung gestellt werden, von denen der eine gleichzeitig zum Kochen verwendet werden könne. Überdies seien ein Keller, ein kleiner Stall und ein Abort als Nebenräume vorzusehen.174 An diese Empfehlungen halten sich die drei Arbeiterhäuser im Werkbund-Dorf – mit Ausnahme des Hauses von Müller-Jena, das ohne Stall und Abort den Forderungen an ein modernes Arbeiterhaus nicht entspricht.175 Neben den genannten Vorteilen habe das Arbeiter-Einfamilienhaus jedoch auch große Nachteile: Sein Besitzer sei an das Haus gefesselt und könne nicht je nach Konjunkturlage den Wohnort wechseln, was gerade in Zeiten einer schwierigen Wirtschaftslage zu großen finanziellen Problemen führe. Überdies sei ein Einfamilienhaus aufgrund des Mehraufwandes an Grund und Boden, den höheren Baukosten und den Unterhaltungskosten vergleichsweise teuer. Nicht zu unterschätzen seien auch die höheren Heizkosten, die ein freistehendes Haus mit seinen größeren Auskühlungsflächen verursache:176 „Somit bleibt das freistehende Einfamilienhaus in unserer Zeit noch ein Ideal und wird nur von solchen Arbeitern gebaut oder bezogen werden können, die sich über den allgemeinen Durchschnitt erheben, also von Vorarbeitern, Werkmeistern und kleineren Beamten.“177 Einer besonderen Beliebtheit erfreue sich daher das Zweifamilienhaus, dessen Wohnungen achsensymmetrisch aneinandergebaut werden und deren Scheidewand gleichzeitig Brandwand ist: „Ohne die Nachteile des Einzelhauses zu besitzen, hat das Zweifamilienhaus große Vorteile: die leichtere Heizbarkeit, die von drei Seiten freie Lage und die einfachere und billigere Herstel171 172 173 174 175 176 177 Weißbach/Mackowsky 1910, S. 63. Vgl. Dutzi 1990, S. 28. Vgl. Mustergültige Entwürfe 1908, S. 2 Vgl. ebd., S. 3f. Keller werden aus Kostengründen bei keinem der Arbeiterhäuser angelegt. Weißbach/Mackowsky 1910, S. 63. Weißbach/Mackowsky 1910, S. 64. Haus und Hof – die Dorfgebäude 184 lungsweise. Die Kosten sind gegenüber dem Einfamilienhause bedeutend geringer, so daß der Typus des Zweifamilienhauses in erster Linie bei Anlage von Kolonien empfohlen werden muß.“178 Nicht ohne Grund also kommt der Typus des Zwillingshauses im Arbeiterwohnungsbau häufig zur Anwendung. Er wird auch im Dorf Golenhofen bevorzugt.179 Der erwähnten Befürchtung, die vielen gemeinsamen Berührungspunkte im Doppelhaus könnten zu Streit zwischen den Parteien führen, soll durch möglichst weit voneinander entfernte Eingänge Rechnung getragen werden.180 Die beiden Arbeiterhäuser in Golenhofen sind beide auf schlicht rechteckigem Grundriß erbaut, die Wohnungen exakt spiegelverkehrt zueinander angeordnet. Bei der Stelle 37 führen jedoch, im Kontrast zur Empfehlung der Fachliteratur, beide Eingänge nebeneinander ins Haus (Abb. 54-58). Pro Familie ist ein kleiner Kellerraum vorgesehen. Auch das hinter dem Wohnhaus plazierte Stall-/ Scheunengebäude ist achsensymmetrisch angelegt, ein Abort in der Scheune untergebracht. Vorteil des freistehenden Wirtschaftsbaus ist die Vermeidung von Stallgerüchen im Haus, der Nachteil aber der weite Weg zu Stall und Abort. Bei der Stelle 49 ist der Stall dagegen im Haus integriert (Abb. 59-62): „Wird der Stall ans Wohnhaus angebaut, ‚unter dem Dach’, wodurch die Bausumme und auch die Bewirtschaftung vereinfacht wird, so sind Stall und Wohnräume durch mindestens 25 cm starke Wand ohne Oeffnung zu trennen, um das Eindringen von Stalldunst ins Haus unmöglich zu machen.“181 Tatsächlich ist hier der Stall – mit integriertem Abort – durch eine starke Ziegelwand vom Wohnhaus getrennt und nur von außen zu erschließen, sodaß die Ausdünstungen des Stalles fern gehalten werden. Im Neuen Niederrheinischen Dorf findet ein Doppelhausprinzip Anwendung, das als „Essener Kleinwohnungshaus“ (von Georg Metzendorf) bekannt geworden ist und sich bereits 1912 in der Kruppschen Arbeitersiedlung Margarethenhöhe durchgesetzt hatte182 (Abb. 229-231). Im Dorf ist das Gebäude jedoch auf der einen Seite als zweigeschossige, fünfräumige Einfamilienwohnung und auf der anderen als zweiräumige Etagenwohnung eingerichtet, 178 179 180 181 182 Ebd., S. 95. Die Vorliebe für das Zwillingshaus drückt sich sogar in Wettbewerben zum Arbeiterwohnungsbau aus, in denen es als Grundtypus vorgeschrieben wird. Beispiel: Die von Raymund Brachmann (dem Architekten des IBA-Dorfes in Leipzig) herausgegebenen Wettbewerbsentwürfe: Das ländliche Arbeiterwohnhaus. Baureife Entwürfe für Landarbeiterwohnhäuser mit Stall im Preise von 3.500 – 5.000 Mark. Hervorgegangen aus dem Wettbewerbe der Landwirtschaftlichen Sonder-Ausstellung der Internationalen Baufachausstellung Leipzig 1913. Wiesbaden 1913. Vgl. Brachmann 1913, S. V und Entwürfe für landwirtschaftliche Bauten 1915, S. 7. Brachmann 1913, S. V. Vgl. Metzendorf 1994, S. 162. Haus und Hof – die Dorfgebäude 185 um die verschiedenen Möglichkeiten des Hauses vorzuführen. Die Eingänge befinden sich direkt nebeneinander an den Traufseiten.183 Die Fachliteratur rät, das Arbeiter-Dreifamilienhaus mit mehr als einem Geschoß zu bauen, um Kosten für die vermehrten Wandflächen und ausgedehnte Dachkonstruktionen zu senken. Bei übereinander gebauten Wohnungen müsse man jedoch auf eine völlige Trennung von Hausfluren und Treppen Rücksicht nehmen. Bei billigem Grund und Boden wie auf dem Lande sei die Lage der Wohnungen nebeneinander jedoch vorzuziehen.184 Das Dreifamilienhaus des Niederrheinischen Dorfes (von E. Stahl) scheint diese Vorschläge zu beherzigen: Es ist zweigeschossig, die Wohnungen liegen jedoch nebeneinander und die Eingänge und Treppenhäuser sind so weit wie möglich voneinander entfernt (Abb. 227, 228). Interessant ist an dieser Stelle ein Vergleich mit Bebauungsplänen der Gartenstadtbewegung, der im Vergleich zum Dorf eher städtische Modelle als Vorbilder dienen. Hans Kampffmeyer nämlich glaubt, daß in einer Gartenstadt keineswegs nur die offene Bauweise, d.h. Einfamilienhäuser, geplant werden sollten, da zu geringe Gebäudeabstände zwischen „großen Häuserklötzen den ästhetischen Reiz von Zahnlücken“185 besäßen. Aus diesen wie auch wirtschaftlichen Gründen solle die halboffene Bauweise in Form von Doppel- und Reihenhäusern den Vorzug erhalten. 2.2.3. Wohnhäuser und Wohnbereiche „Wenn wir also sehen müssen, wie unsere volkstümliche Bauweise trotz ihrer echten künstlerischen und hervorragend praktischen Charaktereigenschaften mehr und mehr mit einer gewissen Plötzlichkeit verschwindet, so ist das gewiß noch nicht als ein Zeichen inneren Verfalls, wohl aber als Zeichen einer großen Vernachlässigung unserer nationalen Kultur anzusehen.“186 Neben der Kostenersparnis liegt der Heimatschutzbewegung besonders an der Zweckhaftigkeit eines Gebäudes. Seine Außenerscheinung solle „der organische Ausdruck des inneren Gefüges“ sein, „keinesfalls aber durch eine von außen hereingetragene schematische Schablone“ bestimmt werden.187 Bedeutend für die endgültige Fassadenwirkung ist daher der Grundriß des Gebäudes, der dem Leben und den Bedürfnissen seiner Bewohner angepaßt sein muß. Er sollte aus wirtschaftlichen und gestalterischen Gründen möglichst geschlossen – d.h. als 183 184 185 186 187 Im Haus sind hochmoderne Sanitär- und Heizungsanlagen vorgestellt (Spülstein sowie Badewanne mit Kalt- und Warmwasser, Boiler, Waschofen mit Dunstabzug, Herd mit Warmwasserbereitung sowie Kachelofen mit kombinierter Zentralheizung). Vgl. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 71-74. Vgl. Weißbach/Mackowsky 1910, S. 130. Kampffmeyer, Hans: Die Gartenstadtbewegung. 2. Aufl., Leipzig und Berlin 1913, S. 65; zit. bei Schollmeier 1990, S. 73. Vgl. Sohnrey 1900, S. 263. Lux 1911, S. 84. Haus und Hof – die Dorfgebäude 186 Rechteck oder Quadrat – ausgeführt werden und zwar nicht nur beim bäuerlichen Gehöft, sondern auch bei Arbeiter- oder größeren Landhäusern.188 Dieser Ratschlag wird in den untersuchten Dörfern, die allesamt auf günstiges und zweckmäßiges Bauen fixiert sind, auch umgesetzt. Nur einige Häuser in Golenhofen erlauben sich spielerische Abweichungen. Dazu zählt z.B. die Stelle 28, bei der im Erdgeschoß ein dreiseitiger Erker vorgezogen ist, auf dem das Obergeschoß bündig anschließt (Abb. 39-42). Eine Öffnung des rechteckigen Grundrisses zeigt auch das Wohnhaus der Stelle 32, bei der eine offene Veranda zur Haustür führt oder der Stall der Stelle 24, in den ein offener Unterstand auf Holzsäulen eingeschnitten ist (Abb. 43-46, 30, 31). Auch die Lage des Wohnhauses auf dem Grundstück wird in der zeitgenössischen Landbauliteratur häufig diskutiert: „Innerhalb des Gehöftes muß das Wohnhaus so liegen, daß alle Teile des Hofes von ihm aus übersehen werden können, und zugleich in der Nähe der Stallungen, da diese einer stetigen Aufsicht bedürfen. Es kann an der Straße oder hinter dem Hofe errichtet werden und muß leicht zu erreichen sein.“189 In den sieben untersuchten Dorfanlagen sind alle Wohnhäuser und Wohnbereiche (mit Ausnahme des Gutsgehöfts in Neu-Asel, dessen Wohnhaus das Grundstück nach hinten abschließt) direkt an der Straße angelegt – und zwar unabhängig davon, ob es sich um Einhäuser handelt oder um Mehrseithöfe, ob die Wohnhäuser trauf- oder giebelständig zur Straße plaziert sind. Die Menschen im Haus sollen einen Überblick über die Straße und den Ort sowie einen möglichst kurzen Weg ins Dorf erhalten. Außerdem sind die Hauseingänge – sofern es sich nicht um traufseitig zur Straße stehende Einhäuser handelt, deren Haustüren zur Straße hin angelegt sind – immer zum Hof hin ausgerichtet, sodaß die Bewohner beim Hinaustreten den gesamten Hof und seine Gebäude sofort im Blick haben und auf dem kürzesten Weg erreichen können.190 188 189 190 Vgl. dazu Wagner 1907, S. 5; Spehr 1909, S. 6; Baldauf/Hecker 1911, S. 11 oder Mustergültige Entwürfe für ländliche Arbeiterwohnungen 1908, S. 3. Wagner (S. 5) erklärt: „Da die landwirtschaftlichen Gebäude meist frei liegen und den Unbilden der Witterung mehr wie andere ausgesetzt sind, ist es nötig, dieselben so anzulegen, daß Regen und Schnee möglichst von den Ringwänden abgehalten werden und keine Ecken und Winkel finden, um sich festzusetzen. Eine möglichst geschlossene Form des Grundrisses [...] ist daher für alle derartigen Gebäude von großer Wichtigkeit.“ Ein Wechsel zwischen beiden Lagen könne die Einförmigkeit des geschlossenen Dorfes mildern und malerische Bilder ergeben. Weißbach 1902, S. 363. Vgl. auch Schubert 1913, S. 315. Vgl. dazu auch Kahm 1914, S. 42. Einzige Ausnahme macht das Gehöft des IBA-Dorfes: Sein Eingang ist fast versteckt unter der Durchfahrt in den Hof angelegt. Von Alfred Schubert und W. Pinkemeyer wird gefordert, daß sich auch die Küche immer dem Hof zuwendet, damit die Hausfrau von dort aus den Überblick hat. Vgl. Schubert 1911, S. 490 und Pinkemeyer 1910, S. 83f. Gerade in Böhmenkirch und den Waldecker Dörfern, bei denen die Küche gegenüber des Hauseingangs liegt, ist jedoch meistens das Gegenteil der Fall. In Golenhofen gibt es dagegen viele Gehöfte, deren Küchen sich den Wirtschaftshöfen zuwenden, wie z.B. die der Stellen 40, 32, 28, oder 24. Haus und Hof – die Dorfgebäude 187 Nicht nur die Lage der Wohnhäuser auf dem Grundstück, auch ihre Ausrichtung nach den Himmelsrichtungen wird in der Landbauliteratur und von den Heimatschützern immer wieder zur Sprache gebracht: „Besonders wichtig bei dem Wohnhaus ist die Lage der Wohnräume nach den einzelnen Himmelrichtungen. So sollen die bevorzugteren Wohnräume möglichst nach Süden und Südosten, die Nebenräume, wie Küche, Vorratskammern etc. nach Norden und Nordwesten gelegt werden.“191 Diese Forderung hat der Architekt Karl Meyer mit seinem Dorf Neu-Berich erfüllt. Er schreibt selbst, daß die Häuser „unter tunlichster Ausnutzung der günstigen Himmelsrichtungen“192 plaziert worden seien (Abb. 104). Bei den großen Gehöften liegen der Eingangsbereich und die Stuben als Hauptwohnräume grundsätzlich in Richtung Süden, wo ihnen das meiste Licht zuteil wird. Richtung Norden sind Küche, Speisekammer und Kammern zu finden, die wegen ihrer Vorräte möglichst kühl gehalten werden sollten. Auch bei den kleinen Winkelhöfen befindet sich mindestens eine Wohnstube in Richtung Süden oder Osten, während bei den Einfirsthöfen die Wohnbereiche generell in südlicher Richtung angelegt sind. Die Scheunen jedoch, die nicht auf Licht angewiesen sind, sind nach Norden ausgerichtet. Das Dorf Neu-Berich ist in dieser Hinsicht also musterhaft geplant. Der Heimatschutz hat sich besonders das Wohnhaus zum wichtigsten Aufgabengebiet gemacht. Dabei geht es ihm sehr selten nur um das Innere des Hauses, sondern vielmehr um seine äußere Gestaltung in Anpassung an die architektonische und landschaftliche Umgebung. So ließen z.B. niedrige Sockel das Haus breitgelagert erscheinen und gäben ihm einen „behaglichen, ländlichen Charakter“.193 Die Heimatschutzbewegung bevorzugt für den ländlichen Wohnbau ein massives Erdgeschoß und obere Geschosse und Giebel aus Fachwerk: „Nur sollte man bei Verwendung von Fachwerk darauf bedacht sein, dasselbe nur auf die oberen Stockwerke auszudehnen und das Erdgeschoß in Bruchstein oder Ziegelstein auszuführen. Man soll sich dabei nicht durch die Brandkassenvorschriften beirren lassen, denn es ist eine allbekannte Tatsache, daß die massiven Mauern allein auch nicht den Ausbruch eines Brandes verhüten können.“194 Schultze-Naumburg fügt hinzu, daß es eine falsche Tendenz sei, ländliche Bauten durch übertriebene Solidität unnütz teuer zu machen: „Fachwerk genügt für die oberen Räume eines 191 192 193 194 Kahm 1914, S. 42. Vgl. dazu auch Wagner 1907, S. 29; Baldauf/Hecker 1911, S. 8 oder Kühn 1913, S. 29. Meyer 1923, S. 33. Vgl. Baldauf und Hecker 1911, S. 10. Kahm 1914, S. 56. Michael Neumann glaubt sogar, daß der Haustyp mit massivem Erdgeschoß gerade den ehemals vom Hochwasser gepeinigten Edertalbewohnern insofern entgegenkam, als sie das leidige Problem der faulenden Grundschwelle nicht mehr zu fürchten hatten. Vgl. Neumann 1996, S. 100. Haus und Hof – die Dorfgebäude 188 Hauses vollkommen, besonders, da neuere Isoliermethoden seine Eigenschaften zum Wohnen hinsichtlich des Schutzes gegen Wärme und Kälte wesentlich steigern können.“195 Mit Ausnahme der Ausstellungsdörfer ähneln sich die Wandaufbauten der Wohnhäuser in den untersuchten Dörfern sehr. In den Waldecker Dörfern und Böhmenkirch erhebt sich über dem Sockel ein Erdgeschoß aus Ziegelsteinen, während die Obergeschosse, Kniestöcke und Giebel aus Fachwerk gezimmert und mit Ziegeln ausgemauert sind (z.B. Abb. 80, 85, 87, 95, 100, 135, 138, 147, 153). Besonders das von Bränden heimgesuchte Böhmenkirch, das den Wiederaufbau kaum selber bezahlen kann, schafft dadurch eine optimale Mischung aus kostengünstigem und feuersicherem Bauen.196 In Golenhofen zeigen viele Wohnhäuser mit massivem Erdgeschoß und Fachwerkobergeschoß denselben Wandaufbau wie in den anderen Dörfern (Abb. 21, 27, 39). Viele der Wohnhäuser sind auch völlig aus Ziegelstein gemauert (Abb. 30, 35, 43). Beim Wohnhaus der Stelle 40 ist ein Gebäudeteil vollständig massiv, das andere aus Sichtfachwerk erstellt, während das Wohnhaus der Stelle 22 mit Ausnahme von Küchen- und Speisekammerwand ganz aus Fachwerk besteht197 (Abb. 47, 25). Schönheit und Zweckmäßigkeit – da sind sich alle Heimatschützer einig – bedingen sich gegenseitig und sind, gerade bei der Gestaltung des Wohnhauses, nicht voneinander zu trennen. Daher wird der Fassadengestaltung zusammen mit der Anlage des Daches die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Selbst die Autoren der rationalen Landbau-Architektur glauben, daß ein Gebäude trotz seines Zweckes als Landwirtschaftsbetrieb ansprechend gestaltet werden und sich dem Landschaftsbild harmonisch anpassen solle. Nichts wirke anheimelnder als Bauernhäuser mit frischroten Ziegeldächern, farbigem Fachwerk auf derben Sockeln, bunt angestrichenen Fensterklappläden und Klettergewächsen.198 Gerade Heimatschützer pochen im Vergleich mit alten Gebäuden auf die Breitenwirkung eines Hauses durch niedrige Sockel, Hauswände und Fenster, die dem Haus einen behaglichen ländlichen Charakter geben sollen.199 Ein Vorbild seien die alten Häuser auch durch ihre drei Hauptelemente: Dach, Wand und Fenster- und Türöffnungen, die „mit feinem Gefühl“ in ihrem gegenseitigen Verhältnis abgewogen seien. Die behagliche Wohnstimmung entstehe also lediglich durch Einfachheit, gute Verhältnisse und bescheidenen Maßstab.200 Sohnrey plädiert bei Neubauten auf ruhige, 195 196 197 198 199 200 Schultze-Naumburg 1908, S. 150f. Vgl. z.B. KA Göppingen, 714.4, Bund 1, S. 29. Vgl. dazu auch Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3386, Bl. 11. Auch hier ist das Fachwerk immer mit Ziegeln ausgemauert. Vgl. Schubert 1913, S. 1 und Schubert 1910, S. 9. Vgl. Schultze-Naumburg 1908, S. 238 ebenso wie Baldauf/Hecker 1911, S. 10, und Gradmann 1910, S. 133. Vgl. Altenrath 1914, S. 26. Vgl. dazu auch: Maßnahmen gegen bauliche Verunstaltungen in Stadt und Land 1908, S. 57. Haus und Hof – die Dorfgebäude 189 geschlossene Baumassen mit großem, kräftig vortretendem Dach und auf eine Bemessung der Fenster nach Anzahl und Größe der durch sie erhellten Räume.201 Diese Vorschläge finden bei allen Wohnhäusern der untersuchten Dörfer Eingang. Nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus ästhetischen Gründen sind alle Gebäude zweckmäßig und einfach gestaltet. Sie sind aus einfachen Grundrissen entwickelt, streben einen schlichten, flächigen Wandaufbau und geschlossene Gebäudeumrisse an. In Böhmenkirch und den Waldecker Dörfern ist dies am deutlichsten erkennbar. Für Böhmenkirch heißt es: „Zierliche Erker, Fassaden, Verandas usw. wird er [der Besucher; d.Verf.] vergeblich suchen, um so mehr aber wird er finden solide Einfachheit, praktische und entsprechende Einteilung der Innenräume, das Sparsystem manchmal fast zu deutlich zur Schau gestellt.“202 Auf Golenhofen treffen diese Beschreibungen zwar auch zu. Trotzdem sind hier weitere gestalterische Details eingebracht, um die Attraktivität des Musterdorfes zu steigern: Offene Veranden im Erdgeschoß, mit Säulen abgestützte Unterstände, Erker, Vorlauben und offene Eingänge brechen die geschlossene Wandstruktur häufig auf. Diese gestalterischen Mittel sind jedoch bewußt zurückhaltend eingesetzt, um einen sparsamen, aber gefälligen Eindruck zu erwecken: „Jedes der einfachen, verputzten Wohnhäuschen, mit teilweise ausgespartem Balkenwerk oder sparsamer Holzverschalung, verrät gleichfalls aussen und innen den künstlerischen Sinn seines Erbauers, der es vortrefflich verstanden hat, ohne nennenswerte Mittel, vor allem durch Verwendung fein abgestimmter Farbentöne, eine Behaglichkeit und Gemütlichkeit hier hervorzuzaubern, die eine stille Sehnsucht im Herzen des Beschauers wecken...“203 Trotz seiner seitlichen niedrigen Anbauten zeigt auch das Wohnhaus des „Beispielgehöfts“ im IBA-Dorf eine schlichte, weiß verputzte Wandflächigkeit und einfache Fensterordnungen (Abb. 187, 188). Auch die Gehöfte im Neuen Niederrheinischen Dorf sind schlicht im Aufbau ihrer Wohnhäuser. Auch sie leisten sich jedoch gestalterische Schmuckelemente wie den Dreiecks- bzw. Stufengiebel am Kleinen Gehöft sowie einen breiten rundbogigen Haupteingang, eine überdachte Veranda und einen mehrseitigen schmalen Erker im Obergeschoß des Großen Gehöftes (Abb. 220, 222, 223, 226). Hiermit soll der Nachweis erbracht werden, „daß Einfachheit und Billigkeit durchaus nicht in Öde und Geschmacklosigkeit auszuarten brauchen, und daß ferner das bisher vielfach für schlechte äußere Zierformen weggeworfene Geld weit besser für eine solide Ausführung in einfachen, aber wohlerwogenen Formen verausgabt wird“.204 201 202 203 204 Sohnrey 1900, S. 266. Sie fordern also eine zweckentsprechende Anlage von Türen und Fenstern und kritisieren deren schablonenmäßige Anlage ohne Zusammenhang zur inneren Raumstruktur. Deshalb befürworten viele Heimatschützer im ländlichen Bauwesen die Asymmetrie: „Die Asymmetrie liegt dem Bauern im ganzen mehr als das Gegenteil und erklärt sich aus dem vernünftigen Handeln, beim Bau seines Hauses den Gedanken der Zweckbestimmung als leitend voranzustellen.“ Wagener 1913, S. 87. KA Göppingen, 714.4, Bund 1, S. 25. Warlich 1906, S. 535. Auch Mielke glaubt, daß Golenhofen mit seiner Architektur nachdrücklich gegen eine arabeskenartige Ausschmückung protestiere. Vgl. Mielke 1907/08, S. 68 Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 9. Haus und Hof – die Dorfgebäude 190 Zur Gebäudehöhe In Konzession an ein größeres Wohnbedürfnis sind sich alle Heimatschützer darüber einig, daß im Gegensatz zu den städtischen Bauten die Bauten auf dem Lande möglichst niedrig, nie aber mehr als zweistöckig sein sollten, um sich – wie die alten Dorfbauten – der umgebenden Landschaft anzupassen und nicht selbst wie „Wolkenkratzer“205 zu wirken.206 Ein Bauen in die Breite sei dem vorzuziehen.207 Der rationale Landbauarchitekt Alfred Schubert kritisiert sogar die zweigeschossige Anlage als unpraktisch und „überhaupt nicht ländlich“. Er gibt jedoch zu, daß sie – auch um die ältere Generation im selben Hause unterzubringen – mittlerweile sehr verbreitet sei.208 In den untersuchten Dörfern wird die Zweigeschossigkeit der Wohnhäuser tatsächlich nie überschritten. Gerade die kleinen Gehöfte sind nur eingeschossig. Häufig wird – wie in Böhmenkirch und den Waldecker Dörfern – ein Kniestock eingezogen, damit die Wohnräume im Dach größere Bewegungsfreiheit bieten. Zweigeschossig sind in erster Linie die großen Mehrseithöfe, aber auch solche, die über Werkstätten oder Läden verfügen (Abb. 80-82, 8789) bzw. diejenigen, die eine weitere Familiengeneration in einer zweiten vollständigen Wohnung unterbringen (z.B. Abb. 77-79, 97-99). Die oberen Stockwerke enthalten, wenn nicht eine abgeschlossene Wohnung eingebaut ist, in der Regel die weniger häufig benutzten Räume wie Schlaf- und Vorratskammern.209 Um die Höhe der Gehöfte zu beschränken, pocht der Heimatschutz auch auf eine Mindesthöhe der einzelnen Stockwerke. Obwohl laut Paul Schultze-Naumburg mit hohen Räumen erreicht werden solle, daß die Menschen in „lichten, luftigen und gesunden Räumen hausen“210, hält er diese für zu teuer und kritisiert, daß zu hohe Decken den Räumen den „Reiz des Behaglichen, Trauten, Gemütlichen“ nähmen.211 Räume mit einer Höhe von 3,30-3,50 Meter Höhe wirkten „ungemütlich“, während niedrigere Räume von 2,60-2,80 Meter lichter Höhe dagegen etwas „ungemein Behagliches“ hätten.212 Während der Architekt Ernst Kühn für ein Erdgeschoß sogar nur 2,45 Meter und für die Obergeschosse 2,25 Meter vorsieht, beurteilt der Architekt Philipp Kahm „freundliche Bauernstuben“ von 2,50-2,80 Meter lichter 205 206 207 208 209 210 211 212 Hinz 1911, S. 62f. Vgl. Hoermann 1913, S. 96. Vgl. Meyer 1914, S. 5. Vgl. Schubert 1910, S. 16. Vgl. dazu auch Weißbach 1902, S. 365. Schultze-Naumburg 1908, S. 217. Vgl. ebd., S. 224 und 227. Vgl. ebd., S. 227. Haus und Hof – die Dorfgebäude 191 Höhe als ideal: „Wie behaglich, traut und nett ist es doch in denselben und dabei keine Spur von Unbehagen vom hygienischen Standpunkte aus.“213 Der Vergleich mit den untersuchten Dörfern zeigt, daß diese Zahlen von den Architekten nicht überboten werden. In den Waldecker Dörfern sind die Räume zwischen 2,50 Meter und 2,70 Meter hoch, während die Räume in Böhmenkirch durchschnittlich noch niedriger, nämlich nur zwischen 2,30 und 2,65 Meter hoch sind.214 In Golenhofen betragen die Deckenhöhen der Erdgeschosse ebenfalls etwa 2,60-2,70 Meter.215 Im Neuen Niederrheinischen Dorf zeigt das Große Gehöft sogar eine Deckenhöhe von 2,70 Meter und selbst die Zimmer der kleinen Arbeiterhäuser sind im Durchschnitt 2,70 Meter hoch216. Das Ausstellungsdorf ist also, was die Raumhöhe angeht, am fortschrittlichsten geplant, wenn man voraussetzt, daß ein erweitertes Wohnbedürfnis auch ein höheres Raumvolumen mit sich bringt. Wie die Zitate nahelegen, kann man hier nicht von rationalen, sondern allein von ästhetischen, bzw. irrational gefühlsmäßigen Erwägungen sprechen. Die Heimatschützer möchten ihr Bild von historisch niedrigen Gehöften auf dem Lande bewahren, denn ein zu hohes Gebäude würde in ihren Augen nicht mehr zum Ensemble der älteren Höfe passen. Auch hier also kümmern sich die Heimatschützer wenig um die eigentlichen Wünsche der Bauern, sondern eher um die Erhaltung eines von ihnen als idyllisch empfundenen ländlichen Dorfbildes. Ein Beispiel dafür ist das IBA-Dorf, das hier zum wiederholten Male seine Rückständigkeit und die Widersprüchlichkeit im Anspruch beweist, ein „modernes“ Dorf zu sein. Sein Architekt Raymund Brachmann behauptet nämlich im Juli 1912: „Die Aufgabe, ein altes Dörfchen zu erbauen, zwingt zu den in ländlichen Verhältnissen üblichen niederen Geschoßhöhen, um die entsprechende künstlerische Wirkung zu erreichen.“217 Er macht also deutlich, daß es ihm mit der Verwendung niedriger Räume einzig um ein ästhetisch-altertümliches Ergebnis und nicht um eine im Sinne der Moderne fortschrittliche Wirkung der Anlage geht. Innenraumstruktur der Wohnungen Die Innenraumstruktur von landwirtschaftlichen Gehöften stößt in den Reihen der Heimatschutzbewegung auf wenig Interesse, da es ihr vielmehr um die äußere architektonische Ge213 214 215 216 217 Vgl. Kühn, Bd. 2, 1915, S. 40 und Kahm 1914, S. 23f. Auch die Entwürfe für landwirtschaftliches Bauen 1915, S. 7 plädieren für eine lichte Höhe von 2,50 Meter im Erdgeschoß. Das ist jedoch abhängig von den Architekten: Hiller baut 2,60-2,65 Meter hohe Räume, Wachter liegt bei 2,30-2,40 Meter, Philipp und Schenk & Dangelmaier ebenfalls bei 2,40 Meter und Hohlbauch errichtet 2,35-2,45 Meter hohe Räume. Leider sind auf den Plänen die lichten Höhen mit Ausnahme der Stelle 26 nicht eingetragen und können nur geschätzt werden. Es handelt sich hierbei um das Industriearbeiterhaus von Friedrich Becker und das Tagelöhnerhaus von Camillo Friedrich. Leider sind von den anderen Gebäuden im Dorf keine Raumhöhen bekannt. Brief von Brachmann an die Königliche Kreishauptmannschaft Leipzig. In: StA Leipzig, Bauakten 6334: Internationale Baufachausstellung „Dörfchen“, Bl. 21. Haus und Hof – die Dorfgebäude 192 staltung der Gebäude im Kontext von Dorfensemble und Landschaft geht.218 Dagegen ist es der rationalen Landbau-Literatur wichtig, für eine funktionale Verbindung der Räume untereinander zu sorgen: In fast allen untersuchten Dörfern bildet der Hausflur – hinter der Haustür gelegen und mit dem Treppenhaus verknüpft – den zentralen Verkehrs- und Erschließungsraum.219 Als reiner Verkehrsraum brauche er, so Alfred Schubert, nicht besonders groß zu sein – „er soll nur als eben genügender Durchgangs- und Verbindungsraum dienen und die gewöhnlich einarmige Bodentreppe aufnehmen.“220 Während in allen untersuchten Dörfern der Flur allein die Wohnräume untereinander verbindet, ist nur in den Bauernhöfen Böhmenkirchs der „Öhrn“ so angelegt, daß man von ihm aus auch den Stall direkt erreichen kann.221 Die Küche wird als zentraler Raum des Wohnhauses erachtet: „Die Küche sollte eigentlich die Größe der Wohnstube erhalten, denn in ihr wird nicht nur für Menschen und Vieh gekocht, gewaschen, sondern auch gewöhnlich gegessen und in ihr halten sich die Menschen mehr auf, wie in der Wohnstube, namentlich die kleinen Kinder im Winter.“222 Als solch bedeutender Wohn- und Wirtschaftsraum liegt die Küche in den meisten Gehöften (besonders in Böhmenkirch, aber auch in den Waldecker Dörfern) direkt hinter dem Hausflur und ist in vielen Fällen mit einer kleinen, aber abgetrennten Speisekammer verbunden. Besonders in den größeren Gehöften sind auch eigene Futterküchen eingerichtet, die gerne (wie in den meisten Höfen Golenhofens) als Verbindungsraum zwischen Stall und Wohnhaus genutzt werden, was für die täglichen Wege zwischen Wohnräumen und Stall sehr praktisch ist und die Gerüche des Viehs von der eigentlichen Kochküche abhält: „Es liegt im Interesse eines rationellen Betriebes, diesen Raum zwischen Wohnung und Stall so zu fügen, daß von und zu ihm alle Wege leicht und kurz auszuführen sind und die Futtergeschäfte im Stalle auf das höchste Maß erleichtern.“223 In den großen Gehöften (v.a. in den großen Dreiseithöfen in Neu-Berich oder der Stelle 40 in Golenhofen) ist der Bequemlichkeit halber eine Futterküche direkt in den Stall eingebaut (z.B. Abb. 50, 160). Gerade in den großen Höfen fällt eine 218 219 220 221 222 223 Vgl. auch Imhof 1996, S. 509. Ausnahmen bilden nur die Stelle 40 in Golenhofen und der Hof der Witwe des Johannes Fuchs in Böhmenkirch (Abb. 48, 78). Beide verfügen über zwei Flure, wobei das Treppenhaus jeweils dem rückwärtigen Flur angegliedert ist. Dazu kommt das Industriearbeiter-Wohnhaus im Neuen Niederrheinischen Dorf, das keinen eigenen Flur besitzt und dessen Treppenhaus einen Teil der offenen Wohnstube bildet (Abb. 236). Ein Kritiker des Flures ist jedoch Philipp Kahm, der den „zugigkalten, unpraktischen Korridor“ durch eine geräumige Wohnküche ersetzt haben will. Kahm 1914, S. 42f. Schubert 1910, S. 16. Einzig die Flure der kleinen Gehöfte in den Waldecker Dörfern wie z.B. das des Tagelöhners Peuster oder des Bauern Schlüter, aber auch die Stelle 23 in Golenhofen sorgen für eine direkte Verbindung zwischen Flur und Stallbereich. Schubert 1910, S. 16. Kühn, Bd. 2, 1915, S. 41. In der Futterküche wird nicht nur das Viehfutter gekocht, sondern sie dient auch zur vorläufigen Aufbewahrung von Grünfuttervorräten zwischen den Futterzeiten. In Böhmenkirch ist in keinem der Pläne eine eigene Futterküche eingezeichnet. Vgl. zur Lage der Futterküche auch Issel 1901, S. 21 und Schrader 1909, S. 10. Haus und Hof – die Dorfgebäude 193 Teilung der verschiedenen Küchentätigkeiten in getrennte Räume auf: Während das IBAGehöft zur Küche eine zusätzliche Waschküche und eine Milchkammer anbietet, ist das Große Gehöft des Niederrheinischen Dorfes mit eigener Milchküche und einem zusätzlichen Spülraum bestückt (Abb. 225). Interessant ist, daß im Kleinen Gehöft sowie in allen Arbeiterhäusern des Neuen Niederrheinischen Dorfes neben den Wohnstuben sogenannte Wohnküchen auftauchen (Abb. 221, 230, 233, 236). Mit ihnen soll Wohnen und Wirtschaften wieder in einem Raum vereint werden. Eine mögliche Erklärung findet das Werk „Entwürfe für landwirtschaftliche Bauten“: „Die Erfahrung hat aber andererseits auch gelehrt, daß in den meisten Gegenden die Mehrzahl der Arbeiterfamilien die Küche dann gerne sowohl zur Einnahme der Mahlzeiten als auch zum täglichen Aufenthalt benutzt, wenn sie sich ihrer Größe, Gestalt und Einrichtung nach hierzu gut eignet. Es kann deshalb empfohlen werden, da, wo es nicht im Widerspruch mit den Gewohnheiten einer seßhaften Landarbeiterbevölkerung steht, die Küche als sogenannte Wohnküche zu gestalten.“224 Einen weiteren Vorteil sieht der Architekt Philipp Kahm darin, daß die Wohnküche den „zugigkalten, unpraktischen Korridor“ ersetzen könne.225 Sicherlich ist jedoch auch die Raumeinsparung ein Argument für die Wohnküchen. Auch für die Ansiedlungen der „Inneren Kolonisation“ wird der Einbau einer Wohnküche vorgeschlagen, da sich ein Hauptstreben der Ansiedler auf die Einsparung von Brennstoffen richte.226 Im Dorf Golenhofen selbst wird jedoch keine Wohnküche eingerichtet. Die Stuben in den Wohnbereichen der Gehöfte sind wie die Küchen üblicherweise geheizt und dienen als Aufenthaltsräume für die Familie sowie den Empfang von Gästen.227 Diese sind oft über einen Durchgang direkt mit einer Kammer verbunden, die in der Regel ungeheizt ist und als Schlaf-, Wirtschafts- oder Vorratskammer dient.228 224 225 226 227 228 Entwürfe für landwirtschaftliche Bauten 1915, S. 5. Vgl. Kahm 1914, S. 42. Vgl. Brenning 1909, S. 130. Bei der Einrichtung einer zweiten Stube dient diese häufig als „Gute Stube“ und wird nur bei besonderen Feiertagen und bei Gästebesuch genutzt. Vgl. Schubert 1910, S. 17. Pinkemeyer hält sie deshalb für völlig überflüssig: „In den meisten Fällen geschieht die Einrichtung dieser ‚guten Stube’ auf Kosten der allgemeinen Bequemlichkeit. Sie wird aber nur zu Ostern, Pfingsten und an den Kirmestagen benutzt. Es legt sich dazu mancher durch die Anschaffung der für den Landwirtestand ganz überflüssigen Möbel und anderer Sächelchen ganz unnötige Kosten auf, welche sogar häufig auf Abzahlung gekauft werden müssen, so daß hierdurch eine dauernde Quelle von Sorgen bleibt. Darum fort mit dieser sogenannten guten Stube! Richten wir uns wieder ein behagliches Wohnzimmer ein mit derben Möbeln aus deutschem Eichenholz!“ Pinkemeyer 1910, S. 7f. In den untersuchten Dörfern (gerade in den Plänen Böhmenkirchs) gehen allerdings die Bezeichnungen Stube, Kammer und Zimmer oft durcheinander und können nicht so scharf voneinander getrennt werden, sodaß auch die Unterteilung in geheizt – ungeheizt nicht generell zutrifft. Eine klare Definition von Stube und Kammer, wie sie Ulrich Großmann 1986 für den historischen Fachwerkbau annimmt, kann hier also nicht geleistet werden. Er schreibt: „Die Stube war der zumeist rauchfreie beheizbare Raum eines Hauses, beim Wohnhaus der private Wohnraum...“ (S. 163) und „Als Kammer werden alle abgeteilten, nicht heizbaren Räume bezeichnet. Es kann sich dabei sowohl um Aufenthalts- wie um Arbeitsräume handeln. Das Abteilen solcher Räume ist erst eine neuzeitliche Erscheinung infolge größerer Differenzierung.“ (S. 169). Haus und Hof – die Dorfgebäude 194 Komplett unterkellert sind nur die großen Gehöfte der Dörfer, allen voran die großen Dreiseithöfe in Neu-Berich. Das stimmt auch mit den Ratschlägen der Dorfbauliteratur überein: „Die gewölbte Unterkellerung des ganzen Hauses ist an und für sich für die getrennte Unterbringung der verschiedenen Wirtschaftsvorräte (Kartoffeln, Gemüse, Getränke usw.) sehr vorteilhaft und schafft auch trocknere, gesunde Wohnräume, jedoch ist sie so teuer, dass sie nur bei grossen Häusern Anwendung findet. Für Kleinbauernhäuser genügen meistens ein oder zwei Räume unter Flur und Küche oder unter Flur und Wohnstube.“229 So wird in jedem der untersuchten Gehöfte mindestens ein Kellerraum für sinnvoll gehalten und (mit Ausnahme der Ausstellungsdörfer) auch angelegt. Die oberen und nicht ausgebauten Dachgeschosse werden über den Wohnbereichen in fast allen Gehöften als Boden- und Vorratsräume genutzt. Häufig wird dort (wie im Gehöft Lötzerich in Neu-Berich eine Räucherkammer eingebaut, wodurch der Rauch nicht den Rest des Hauses beeinträchtigen kann.230 Meyer selbst schreibt zur Einrichtung der Gehöfte NeuBerichs: „...im Erdgeschoß befinden sich Küche und Wohnräume, im Obergeschoß die Schlafräume und im Dachgeschoß ein Schüttboden für Getreide und eine Räucherkammer.“231 Das obere Dachgeschoß von Böhmenkirchs Gehöft Grupp wird ebenfalls für die Ernteaufbewahrung genutzt (Abb. 74): „Der Dachstock enthält Kammern für die größeren Kinder und Dienstboten, Mehlkammer usw. Darüber lagern auf dem sogenannten Fruchtboden gedroschene Körner und Saatgut.“232 Die Innenräume der untersuchten Gehöfte sind also im Sinne der Ratgeber-Literatur zum bäuerlichen Gehöftbau funktional angelegt und entsprechen einem rational geführten landwirtschaftlichen Betrieb. 2.2.4. Ställe und Scheunen „Als die besten Vorbilder in künstlerischer Hinsicht können die alten Bauernhäuser Deutschlands aus früheren Jahrhunderten gelten, die in naiver, aber von sicherem natürlichen Stilgefühl geleiteter Anpassung der landesüblichen Anordnungen und Konstruktionen an die Bedingungen jedes Einzelfalles entstanden sind. Freilich können sie wegen der veränderten Wirtschafts- und Betriebs-Verhältnisse nicht unmittelbar kopiert, sondern nur als Wegweiser für die ganze Art des Schaffens sowie als Fundgrube dankbarer Motive verwertet werden.“233 Die Ställe Es verwundert nicht, daß sich die umfassende Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion auch auf die bäuerlichen Wirtschaftsbetriebe auswirkt und dafür sorgt, daß Ställe und 229 230 231 232 233 Schubert 1911, S. 491. Vgl. auch Schubert 1910, S. 18. Für die Ansiedlungen der „Inneren Kolonisation“ wird ebenfalls vorgeschlagen, nur die Küche oder einen Teil derselben zu unterkellern. Vgl. Brenning 1909, S. 130. Vgl. dazu auch Schubert 1910, S. 18 und Entwürfe für landwirtschaftliche Bauten 1915, S. 5f. Meyer 1923, S. 34. Vgl. Bauernhaus auf der Alb 1914, S. 36. Die Bestrebungen zur Wiederbelebung einer deutschen ländlichen Baukunst 1906, S. 355. Haus und Hof – die Dorfgebäude 195 Scheunen sich den modernen Gegebenheiten anpassen müssen. So warnt der Architekt Ernst Kühn die Landwirte vor einer Vernachlässigung ihrer Ställe: „Was früher allenfalls genügte, reicht heute bei einer rationellen Bewirtschaftung nicht mehr aus. Die alten Zustände dürfen nicht bestehen bleiben, sie würden die größten Nachteile und Einbußen herbeiführen. Landwirte, die zu dieser Einsicht noch nicht gekommen sind, erfahren infolge des Sichverschließens gegen die bessere Erkenntnis der Anforderungen, die an eine gute Stallanlage zu stellen sind, Schaden auf Schaden in der Erhaltung und im Wohlbefinden ihres Viehstandes, nicht zuletzt aber in den Erträgen, die die Milchwirtschaft ergibt.“234 Durch zu kleine, zu dunkle und zu wenig oder gar nicht gelüftete Ställe drohe eine „backofenartige Hitze, ein fürchterlicher atembeklemmender Gestank und eine mit Wasserdämpfen und giftigen Gasen gesättigte Luft“, die nicht nur dem Vieh schade, sondern auch Wände und Decken so stark durchfeuchte, daß sie durch Schimmel, Holzfäule und Mauerfraß früher oder später zerstört werde.235 Die Stallwände sollten daher laut Architekt Fritz Schrader mindestens bis zur Oberkante der Stalldecke massiv und nicht aus Holz errichtet sein: Wände aus hartgebrannten Ziegelsteinen seien warm, dauerhaft, feuersicher und als schlechte Wärmeleiter trocken, weil sich auf ihrer Innenseite die Stalldünste so gut wie nicht niederschlügen.236 Diese Argumente haben auch in den sieben untersuchten Dörfern überzeugt, denn alle hier errichteten Ställe sind bis zum Kniestock ausnahmslos aus massiven Ziegelwänden hergestellt. Einzig im „Beispielgehöft“ im IBA-Dorf werden verschiedene moderne Bauweisen nebeneinander gezeigt, zu denen Ziegel-, Lehmdraht- oder Tektonwände, aber z.B. auch experimentelle Wände gehören, die aus Betonpfosten mit daran angebrachten Korkplatten oder Schlackenbetondielen gebildet werden237 (Abb. 187-191). Während sich die Ratgeber-Literatur zum Gehöftbau mit solchen Argumenten vor allem funktionalen Überlegungen zum Stallbau widmet, sorgen sich die Heimatschützer eher um dessen Gestaltung. Verfehlt sei es nämlich, wenn ein Stall das Aussehen eines Wohnhauses erhalte, denn der Zweck eines Baues müsse immer außen ablesbar sein.238 So kritisiert F.L.K. Schmidt anhand eines positiven und eines negativen Beispiels, daß Aufbewahrungsräumen die gleichen Fenster gegeben würden wie Wohnräumen.239 Die Wohn- und Wirtschaftsräume sollten äußerlich klar voneinander zu unterscheiden sein. In Böhmenkirch sowie den neuen Gehöften der Waldecker Dörfer sind die Ställe und die Erdgeschosse der Wohnhäuser massiv errichtet, verputzt und in derselben Farbe gestrichen. 234 235 236 237 238 239 Kühn 1908, S. 5. Vgl. Schubert 1910, S. 19. Vgl. Schrader 1909, S. 55f und Entwürfe für landwirtschaftliche Bauten 1915, S. 14. Vgl. Führer durch die landwirtschaftliche Sonderausstellung 1913, S. 52f und 67. Vgl. Kühn, Bd. 2, 1915, S. 18. Vgl. Schmidt 1905, S. 176. Haus und Hof – die Dorfgebäude 196 Trotzdem sind die Ställe von den Wohnbereichen klar unterscheidbar: durch eigene schlichte Eingänge sowie die viel kleineren Stallfenster, die im Gegensatz zu den Holzfenstern der Wohnungen vornehmlich aus Gußeisen bestehen, um den Stalldünsten zu trotzen.240 Einzig der Böhmenkircher Architekt Theodor Hiller fügt den Stallfenstern seiner Gehöfte zusätzlich kleine Fensterläden zu, was als gestalterisches Element im Gehöftbau äußerst ungewöhnlich ist (Abb. 73, 77). Auch den großen Höfen Neu-Berichs werden aus gestalterischen Gründen rundbogige Stalltüren gegeben.241 Dachabschleppungen zur Raumerweiterung sorgen bei den offenen Dreiseithöfen in Neu-Berich für eine optische Verbreiterung der Ställe und damit für eine als ländlich interpretierte Behäbigkeit (Abb. 159). Gegen einen solchen Einsatz ästhetischer Mittel im Gehöftbau hat jedoch die Heimatschutzbewegung und einer ihrer Protagonisten F.L.K. Schmidt nichts einzuwenden: „Auch hier ist die Erkenntnis gestiegen, daß die Forderung nach einer billigen Ausführung unter Berücksichtigung aller praktischen Momente und Neuerungen recht wohl vereinbar ist mit einer gefälligen und heimatlicheren Gestaltungsweise.“242 Als Vorbild dafür lobt er die Entwürfe des Architekten Ernst Kühn, der „wahr in der Anwendung des Baumaterials, ohne allen unnötigen Beirat und falschen Schein“ baue und der „deren Äußeres als das Spiegelbild der inneren zweckmäßigen Durchbildung zu gestalten [wüßte; d.Verf.], wie es früher bei den Schöpfungen der ländlichen Baukunst allgemein der Fall war.“243 Sein Entwurf für ein Wohn- und Stallgebäude ähnelt den Einhäusern des Architekten Karl Meyer in den Waldecker Dörfern sehr. Es ist ein queraufgeschlossenes zweistöckiges Einhaus mit durchlaufendem Dach. Wohnteil und Stall sind wie bei den Gebäuden Neu-Berichs untersockelt, im Erdgeschoß massiv und weiß verputzt und im Obergeschoß aus einfachem Fachwerk erstellt, wobei das Obergeschoß des Stalles kniestockartig erhöht ist. Die Fenster des Wohnhauses sind wie in den Waldecker Dörfern Kreuzstockfenster, die Stallfenster gußeiserne Sprossenfenster. Die Türen des Hauses sind ähnlich den Stalltüren in NeuBerich rundbogig, bzw. segmentbogenartig geformt.244 Alles in allem liegt die These nahe, daß der Architekt Meyer aus dem Fundus der 1903 entstandenen Kühnschen Entwürfe für seine Ansiedlungen geschöpft hat. 240 241 242 243 244 Vgl. Meyers Baubeschreibung zu den Gehöften. Vgl. auch Kahm 1914, S. 52. Die Stalltüren des Hofes Münch sind jedoch mit waagerechtem Sturz gestaltet. Die rundbogigen Türen sprechen nach Neumann 1996, S. 100 für die Vorliebe des Architekten zu südlicheren Regionen. Diese Feststellung konnte ich durch eigene Untersuchungen jedoch nicht bestätigen. Schmidt 1905, S. 173. Ebd. Vgl. dazu auch die Entwürfe in Kühns „Der neuzeitliche Dorfbau“ Bd. 1 von 1903. Vgl. zum Musterentwurf Kühns: Sohnrey 1905, S. 175. Haus und Hof – die Dorfgebäude 197 Auch die Ställe in Golenhofen sind von den Wohnhäusern gut zu unterscheiden und von Gehöft zu Gehöft anders gestaltet. Segmentbogenartig geschlossene Fenster und Türen erhält die Stelle 16, während die Stelle 28 mit Spaliergewebeputz, Zierfachwerk und Pferdeköpfen geziert ist (Abb. 21, 39). Während z.B. der Stall der Stelle 26 einfach verputzt ist und einen dreieckigen Dachaufbau vorstellt, ist der Stall der Stelle 40 im Kniestock mit Zierfachwerk (Andreaskreuzen) und einer Dachabschleppung versehen, die das Gebäude – wie in Neu-Berich – breiter wirken läßt (Abb. 37, 49). Im Großen Gehöft des Neuen Niederrheinischen Dorfes ist der Stall sehr zurückhaltend durch kleine Stallfenster und große rundbogige Einfahrten gestaltet (Abb. 226). Die einzige Ausnahme von der Regel, Ställe von Wohnhäusern optisch zu unterscheiden, zeigt das Kleine Gehöft im Neuen Niederrheinischen Dorf (Abb. 222). Dem Architekten Biebricher kommt es bei der Planung seines Wohn-Stallhauses einzig auf die Symmetrie der Anlage an. Die Mittelachse des Gebäudes bildet eine große rundbogige Durchfahrt in den Hof. Um eine klassizistisch-strenge Wirkung zu erzielen, sind an beiden Seiten die Fenster von Wohnhaus und Stall exakt gleich gestaltet. Die Innenräume der Ställe sind, wie die Gehöfte in den Waldecker Dörfern und in Böhmenkirch zeigen, üblicherweise queraufgeschlossen und querzonig unterteilt. Sie beherbergen, je nach den finanziellen Möglichkeiten des Bauern und je nach Anlage des Gehöfts, in unterschiedlicher Anzahl und Reihenfolge Kuh- und Schweineställe, häufig Ställe für Zugpferde und kleine Geflügel- und Ziegenställe (Abb. 78, 84, 94, 143, 148, 151). In den großen Ausstellungshöfen sind die Buchten für die Kühe jedoch längs im Gebäude aneinandergereiht, wobei es im Großen Gehöft der Werkbund-Ausstellung nur eine Reihe, im „Beispielgehöft“ auf der IBA zwei Aufstallungsreihen gibt (Abb. 190, 225). Golenhofen ist wiederum das einzige Dorf, bei dem kein generelles Aufstallungssystem zu erkennen ist. Die Tiere sind manchmal längs, manchmal quer, manchmal in zwei Reihen, manchmal nur einer aufgestellt (z.B. Abb. 31, 36, 40, 50). Häufig jedoch sind die Schweineställe von den Kuh- und Pferdeställen durch eine Wand getrennt, damit, wie Pinkemeyer fordert, die Tiere sich beim Füttern nicht gegenseitig beunruhigen können.245 Diese Trennung erfolgt häufig auch in den anderen Dörfern: Je größer die Ställe sind, desto eher werden die Tiergattungen voneinander geschieden. Das entspricht auch der Einrichtung weiterer Räumlichkeiten in den Ställen. Das Tagesfutter solle nämlich in eigenen Futterräumen gelagert und über ausreichend breite Futtergänge 245 Vgl. Pinkemeyer 1910, S. 90. Haus und Hof – die Dorfgebäude 198 bequem in die Krippen gelegt werden können.246 Auch in den untersuchten Dörfern treten diese Räume durchgehend umso häufiger auf, je größer die Gehöfte sind – denn sie vereinfachen die tägliche Fütterung. Zudem wecke Licht laut Architekt Kahm die geistige Regsamkeit und den Lebensmut der Tiere, während Dunkelheit die Ruhr und den Fettansatz fördere.247 Daher sollen genügend Fenster für das erforderliche Licht sorgen, während die Hauptseiten der Ställe am günstigsten nach Osten oder Süden gelegt werden. Das Licht soll den Tieren jedoch nicht direkt in die Augen fallen.248 Während keines der untersuchten Dörfer in der Lage ist, die Ställe wie vorgegeben durchgehend nach Osten oder Süden anzulegen,249 so verfügen doch alle Ställe über eine genügende Anzahl von Fenstern, die die Räume beleuchten. Die meisten Ställe sind überdies an mindestens zwei Wandseiten befenstert. Gerade in den queraufgeschlossenen Ställen (wie in Böhmenkirch und den Waldecker Dörfern), erhalten die Tiere Sonnenlicht von jeweils zwei gegenüberliegenden Fensterreihen, ohne davon geblendet zu werden. Da das bäuerliche Vieh in mitteleuropäischen Breiten mindestens ein halbes Jahr im Stall verbringen muß, erhält besonders das Problem der Stallüftung in der Landbau-Literatur große Aufmerksamkeit: „Die Beschaffung und Erhaltung gesunder frischer Luft in den Ställen, die im Sommer wie im Winter auf einer möglichst gleichmäßigen Temperatur zu erhalten ist, wird stets die Hauptbedingung einer guten Stallanlage bleiben. Die Lüftungsanlage muß daher aus einer gut funktionierenden Zuführung frischer Luft und Abführung der verbrauchten Luft bestehen.“250 Bei größeren Ställen, so Architekt Kahm, wird der Abzug der verbrauchten Luft am leichtesten durch an der Decke angebrachte Abzugsschlote erreicht, die über den Dachfirst herausmünden.251 Tatsächlich findet sich dieses moderne und wirksame Abluftsystem nur bei den großen Höfen Neu-Berichs, beim „Beispielgehöft“ auf der IBA sowie im Großen Gehöft des Neuen Niederrheinischen Dorfes wieder. Es ist also eine finanzielle Frage, ob die Landwirte ein neuzeitliches Abluftsystem erhalten können. Kritik an der Ästhetik der über Dach ragenden Schlote werden von dem Heimatschutz nahestehenden Architekten Ernst Kühn abgelehnt: Hier gelte es, praktisch notwendige Neuerungen einzuführen.252 246 247 248 249 250 251 252 Vgl. dazu Schrader 1909, S. 55, Schubert 1910, S. 14f und Pinkemeyer 1910, S. 90. Kahm 1914, S. 52. Vgl. dazu auch Kühn, Bd. 2, 1915, S. 43. Zur Belichtung der Ställe vgl. dazu Schrader 1909, S. 55, Pinkemeyer 1910, S. 85 und Kahm 1914, S. 52. Vgl. z.B. Schrader 1909, S. 55. Schrader 1909, S. 59. Vgl. dazu auch Kühn 1908, S. 6-8 oder Pinkemeyer 1910, S. 91f. Vgl. Kahm 1914, S. 54. Vgl. Kühn 1908, S. 8. Haus und Hof – die Dorfgebäude 199 Die Querlüftung allein durch die Fenster wird abgelehnt, da der entstehende Luftstrom das Vieh krank mache.253 Schrader empfiehlt daher Maueröffnungen, die dicht unter der Decke angebracht seien, um das Vieh durch den Luftzug nicht zu belästigen: „In einfachen und in kleinen Ställen geschieht die waagerechte Luftzuführung durch dicht unter der Decke im Mauerwerk angebrachte Mauerschlitze von 15/20-25/30 cm Größe. Diese werden noch besser aus glasierten Tonröhren von 20-25 cm Durchmesser hergestellt...“254 An mehreren Gehöften Golenhofens und Böhmenkirchs sind solche Öffnungen in den Mauern des Stalles zu entdecken: Bei der Stelle 23 sind über den eigentlichen Fenstern querrechteckige Mauerschlitze angebracht, während bei der Stelle 22 sowie den Ställen von Josef und Jakob Grieser über den Fenstern anscheinend die von Schrader erwähnten Tonröhren austreten.255 Die Scheunen Laut Robert Mielke haben die großen Hofscheunen schon immer das Bild eines Gehöftes und eines Dorfes geprägt: „In Gebieten mit ausgesprochener Ackerwirtschaft gehört die Scheune zu den bestimmenden Erscheinungen, die auch den Hof beeinflussen. [...] Ohne Scheune würde das Ebenendorf nur aus verzettelten Häusern, nicht aus geschlossenen Höfen bestehen, da durch ihre Stellung im Hintergrunde des Gehöftes die Firste von Wohn- und Stallgebäude miteinander in Beziehung treten.“256 Der Heimatschutz-Architekt Ernst Kühn glaubt, das Fachwerk sei die ideale Konstruktionsart für Scheunen, da das geerntete Getreide luftig untergebracht werden müsse, weil es sonst nicht vollständig austrockne. Das solle „zu einer luftdurchlässigen – am besten Holz – Bauweise“257 Anreiz geben. Auch die Ästhetik spielt dabei für ihn eine Rolle: „Vor allem befreie man sich von dem Vorurteil, daß massive Scheunen besser aussehen, als die in leichter Bauweise hergestellten. Ein Bauwerk wird immer gut aussehen, wenn es seine Zweckbestimmung nach außen ehrlich widerspiegelt.“258 Ob aus funktionalen oder aus ästhetischen Gründen: Die Architekten der untersuchten Dörfer fürchten weder den hohen Holzpreis noch die Feuergefahr, denn fast alle Scheunen sind über den Sockeln aus mit Ziegeln ausgemauertem Fachwerk hergestellt. Für die neu errichteten Scheunen der Waldecker Dörfer gilt dies (bis auf die vor allem in Neu-Asel vorkommenden hohen Bruchsteinsockel) ausnahmslos, wobei das Fachwerk sogar als Sichtfach253 254 255 256 257 258 Vgl. Schrader 1909, S. 59. Ebd., S. 60. Auf die unzähligen Details in Zusammenhang mit dem Stallbau, wie z.B. der Anlage von Jaucherinnen, Dunggruben, Fütterungseinrichtungen, Fußböden, Decken oder Standabgrenzungen, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Vgl. dazu die umfassenden Abhandlungen von Issel 1901, S. 152-255, Wagner 1907, S. 232-484, Schubert 1911, S. 234-455 oder Schubert 1913, S. 4-181. Mielke 1910a, S. S. 68f. Vgl. Kühn, Bd. 2, 1915, S. 114. Vgl. ebd. Haus und Hof – die Dorfgebäude 200 werk gestaltet ist. Für eine ausreichende Lüftung ist durch das Aussparen von Öffnungen in den Giebeln sowie in einzelnen Gefachen Sorge getragen.259 Auch bei den Böhmenkircher Scheunen wird am häufigsten die Fachwerkbauweise gewählt. Mit Ausnahme des Hofes Josef Heldele, bei dem das Fachwerk der Scheune sichtbar gelassen wird (Abb. 69), sind sie jedoch aus Schutz vor dem Wetter und in Anklang an die vorhandene Bebauung verputzt und gestrichen. Nur einige Scheunen werden, wie die des Josef Grieser, teilweise massiv errichtet (Abb. 87). Während die Scheunen im Niederrheinischen Dorf massiv aus Ziegeln gemauert sind, erhalten auch die Scheunen Golenhofens fast ohne Ausnahme eine Konstruktion aus Fachwerk. Dieses wird zum Teil sichtbar gelassen (Abb. 27, 32) oder als Wetterschutz verbrettert (Abb. 23, 37). Einige Scheunen sind dennoch massiv nach „System Prüß“260 errichtet (Abb. 41). Die Scheune des Großen Gehöftes auf der IBA in Leipzig stellt wiederum verschiedene Bauweisen vor: Die sogenannte Hochdachscheune besteht aus einer Eisenkonstruktion, die Flachdachscheune aus einer Holzkonstruktion mit Eisenfüßen.261 Die niedrige Scheune mit hohem Dach und die hohe Scheune mit flachem Dach werden damit gleichberechtigt nebeneinander präsentiert. Die Heimatschützer sind mit dieser Gleichbehandlung jedoch nicht einverstanden. Pinkemeyer errechnet nämlich, daß das Einfahren der Ernte in einen hohen Bau mit flachem Dach durch den Transport der Ernte in die Höhe viel unpraktischer sei. Überdies sei die niedrige Scheune mit hohem Dach rund 33% billiger in der Herstellung.262 Neben diesen praktischen Gründen geht er also davon aus, daß auch die neuen Scheunen sich als niedrige Bauten mit hohem Dach der alten Bebauung anpassen müßten: „Allein schon im Interesse des Schutzes der deutschen Heimat ist bei Scheunen der Flachbau [er meint den flachen Bau mit hohem Dach; d.Verf.] dem Hochbau vorzuziehen.“263 Das hohe Dach interpretiert er also als typische Bauweise im Deutschen Reich. Sein Bezugssystem ist nicht mehr nur eine als regional begriffene „Heimat“, sondern die ganze deutsche „Nation“. 259 260 261 262 263 Vgl. Meyers Baubeschreibung zu den Gehöften. Das „System Prüß“ besteht aus 31 bis 38 cm starken Umfassungswänden aus zwei Wänden mit Luftisolierschicht, die äußere Wand ½, die innere ¼ Stein stark. Die Luftschicht ist 13-20 cm breit und kann mit Asche, Kieselgur oder Schlackenwolle ausgefüllt werden. Die Wände selbst bestehen aus einem mit Ziegelsteinen, Betonplatten usw. ausgemauertem, großmaschigen Bandeisennetz, welches zwischen 3,5-4 Meter weit voneinander entfernten, in Betonsockeln eingelassenen Doppel-T-Trägerpfosten eingespannt wird. Vgl. dazu Schubert 1908, S. 25f. Vgl. Führer durch die landwirtschaftliche Sonderausstellung 1913, S. 71. Die Eisenfüße sollen die gefürchtete „Beinkrankheit“ von Scheunen verhindern. Ein flaches Dach sei durch die notwendige häufige Tränkung der Dachflächen sehr teuer. Vgl. Pinkemeyer 1910, S. 85f. Ebd., S. 85. Haus und Hof – die Dorfgebäude 201 Auch Altenrath wirbt für die niedrige Scheune, indem er einen fiktiven, reich gewordenen Bauern und seinen Wunsch nach dem Bau einer „städtischen Vorstadtvilla“ kritisiert: „Er [der Maurermeister des Bauern; d.Verf.] kommt wohl auch mit einer Berechnung und sagt ihm, daß eine fast kubische Scheune bedeutend mehr Rauminhalt habe, aber er verschweigt ihm, daß dieser häßliche Kasten nicht nur durch die Höherführung der Mauern und der Konstruktionen bedeutend mehr kostet, sondern daß auch die Instandhaltung des Daches ihm in Zukunft erhebliche Lasten auferlegen wird. In einem solchen Falle helfen weniger Vergleiche mit der dörflichen Schönheit der Nachbarhäuser als der ziffernmäßige Nachweis der unpraktischen Anlage und der teuren Erstellung des Neubaues.“264 Während alle Scheunen der untersuchten Dörfer relativ niedrig sind und in Anpassung an die regional vorhandenen Dachneigungen hohe Satteldächer erhalten (die niedrigsten Scheunen mit den steilsten Dächern sind in den Gehöften Theodor Hillers in Böhmenkirch zu finden), scheinen die hochgebauten Scheunen und flachen Dächer in Golenhofen deutlich zu machen, daß dem Architekten Fischer die Forderungen der Heimatschutzbewegung zur Bauzeit des Dorfes entweder noch nicht präsent oder egal waren. Aber selbst noch Jahre später lobt er in seinem ganz den Heimatschutz und seine Ziele preisenden Aufsatz von 1911 die flache Dachform, wenn denn ein Einklang zwischen Wand und dem überstehendem hölzernen Dach durch die Verwendung von Fachwerk und einer Verschalung der Wände erreicht werden könne.265 In dieser Hinsicht läßt er sich also nicht von den Argumenten des Heimatschutzes überzeugen. Zur inneren Einteilung von Scheunen schreibt Schrader: „Aus den doppelten Zwecken, denen eine Scheune genügen soll, ergeben sich zwei gesonderte Räume, nämlich die Banse, die zur Aufspeicherung der Halmenfrüchte dient, und die Tenne, die als Platz zum Ausdreschen des Getreides benutzt wird und die zu gleicher Zeit auch als Durchfahrt oder als eine Art Geräteschuppen dient.“266 Grundsätzlich sind die Scheunen aller Dörfer nach diesem System errichtet. Während eine Arbeitstenne jedoch im noch so kleinen Gehöft (wie z.B. dem des Heinrich Peuster in NeuBerich (Abb. 143) nicht fehlen darf, kommt die Anlage des Bansens (süddeutsch: Barn) auf die Größe des Hofes an. Bei den kleinen Gehöften befindet sich ein Speicherraum einzig über Tenne und Stall. Bei den mittleren Gehöften der Waldecker Dörfer und Böhmenkirch befinden sich Tenne und Bansen direkt nebeneinander, während in den größeren Gehöften und besonders den freistehenden Scheunen die Reihenfolge Bansen – Tenne – Bansen die übliche Reihenfolge darstellt (z.B. Abb. 36, 151). Deren Vorteil ist die direkte Einlagerung der Ernte 264 265 266 Altenrath 1914, S. 30. Vgl. Fischer 1911, S. 25. Schrader 1909, S. 27f. Vgl. zu den Begriffen auch Ellenberg 1990, S. 567 und 573. Obwohl eine eindeutige Definition der Scheune in den verschiedenen Regionen des Reiches nicht möglich ist, sollen hier nach Bedal darunter alle größeren Wirtschaftsbauten mit einem Erntebergungsraum zusammengefaßt werden. Vgl. Bedal 1978, S. 104. Haus und Hof – die Dorfgebäude 202 von der mittig liegenden Tenne zu den beiden Seiten hin. Diese Kombination findet sich in der Regel auch in den Scheunen Golenhofens wieder. Häufig werden zusätzlich oder statt des Bansens Remisen zur Aufbewahrung der landwirtschaftlichen Geräte und Maschinen angebaut, wie es in Böhmenkirch häufig der Fall ist (Abb. 74, 78, 84). Die offenen Dreiseithöfe in Neu-Berich zeigen freistehende Scheunen, die sogar zwei Tennen zwischen den Bansen vorzuweisen haben. Giebelseitig ist den Bauten ein niedriger, mit einem Pultdach versehener Anbau angeschlossen. Über eine durch Ständerreihen gestützte offene Durchfahrt (bzw. einen Unterstand für landwirtschaftliche Geräte) erreicht man von dort einen unter dem Pultdach liegenden Fruchtspeicher (Abb. 162). Das große Gehöft im Neuen Niederrheinischen Dorf ist hingegen mit der Kombination Bansen – Tenne – Tenne – Bansen – Bansen offensichtlich der größte Scheunenbau der untersuchten Dörfer (Abb. 225). Allen Dörfern ist gemein, daß über den Ställen und Scheunen weitere Bodenräume zur Unterbringung der Ernte vorhanden sind. So kann über eine Luke direkt Streu und Futter für das Vieh heruntergelassen werden. Gemein ist allen Scheunen ebenfalls die Querlagerung von Tenne, Remise und Bansen. Diese Quertennen haben laut Schrader den Vorteil, „daß sie weniger Raum beanspruchen, eine bessere Lüftung gestatten, einen besseren Querverband der Binder ermöglichen und daß das Getreide an mehreren Stellen eingefahren werden kann...“267 Tatsächlich ist das Hauptcharakteristikum aller Scheunen das große Tor, das die Tenne mit dem Erntewagen befahrbar macht. Auf der anderen Seite kann die Tenne über ein Tor geöffnet werden, über die Pferde oder Wagen wieder herausgebracht werden können. Besonders in Böhmenkirch erschließt ein zusätzliches kleineres Tor neben dem Scheunentor die Remisen. Auch die Scheunen sind also durch das vielfach unverputzte Fachwerk, immer aber durch die großen Scheunentore von den meist verputzten Ställen und den Wohnhäusern deutlich zu unterschieden und präsentieren sich als reine Funktionsbereiche vergleichsweise sachlich. 267 Schrader 1909, S. 29. Haus und Hof – die Dorfgebäude 203 2.3. Öffentliche und halböffentliche Gebäude 2.3.1. Kirchen „Wie eine Herde ohne Hirt ist das Dorf ohne Kirche.“268 Die Kirche wird in den Quellen durchgehend als dorfbildbestimmend betrachtet: „Aus der Ferne gesehen erhält jede größere Siedlung einen architektonischen Höhepunkt durch die Kirche; innerhalb des Dorfes wird sie zu dem örtlichen Mittelpunkt, um den sich die Höfe gruppieren.“269 Trotz ihrer exponierten Stellung vereinheitlicht die Kirche das Dorf, da sich die Gehöfte regelmäßig um sie herum gruppieren und ein um diesen Mittelpunkt orientiertes zusammenhängendes Gesamtensemble bilden: „Sie ist das nach außen weithin sichtbare Zeichen der Zusammengehörigkeit...“270 Daher soll sie nicht direkt umstellt werden von anderen Gebäuden, sondern in einigem Abstand davon stehen: „Durch eine Häufung von Gebäuden in der engen Umgebung der Kirche würde die klare Lagerung des Grundplanes, die gerade für das Dorf charakteristisch ist, verhüllt werden.“271 In allen untersuchten Dörfern werden die einzelnen Bauten immer in Rücksicht auf das Gesamtensemble gestaltet. Nur die Kirchen stechen jeweils bewußt aus dem Ensemble heraus. Durch ihre First- bzw. Turmhöhen überragen sie alle landwirtschaftlichen Gebäude und definieren baulich den gemeinschaftlichen Mittelpunkt der Orte. In Neu-Berich ist die Kirche von einem Kirchhof und einem breiten Straßenzug umgeben (Abb. 102, 103). Die Kirche in Neu-Bringhausen ist durch ihre ausgeprägte Eckstellung und durch die Dorfstraßen ebenso von den übrigen Gebäuden getrennt wie die Kirche im Neuen Niederrheinischen Dorf, die im Zentrum des Ortes steht und durch Dorfplatz, Dorfstraßen und Friedhof die Distanz zu den anderen Gebäuden wahrt (Abb. 195). Im IBA-Dorf trennt sogar ein vom Dorfplatz geschiedener Kirchweihplatz Kirche, Schule und Schmiede von den übrigen Dorfgebäuden (Abb. 171). In Golenhofen steht das Bethaus zwar in direkter Nachbarschaft der Gehöfte, aber an herausragender Position direkt am Dorfplatz und ist mit seinen hohen Gebäuden sofort als öffentlicher Bau zu erkennen (Abb. 6, 7). So schreibt auch sein Architekt Paul Fischer: „Die Kirche gehört mitten ins Dorf. [...] Aber unter den Dorfgebäuden, in unmittelbarer Beziehung zu ihnen, soll das Gotteshaus eine beherrschende Lage einnehmen.“272 Die Kirchen Berichs und Bringhausens werden unter Verwendung ihrer wertvolleren architektonischen Teile in den neuen Dörfern wieder aufgebaut, um „als dörflicher Höhepunkt 268 269 270 271 272 Rebensburg 1913, S. 45. Mielke 1910a, S. 234f. Vgl. auch Schultze-Naumburg 1908, S. 111. Mielke 1905a, S. 5. Vgl. zur Lage der Kirche im Ortsbild auch Kühn, Bd. 1, 1915, S. 11-15. Mielke 1910a, S. 235. Fischer 1918b, S. 181. Haus und Hof – die Dorfgebäude 204 der Bevölkerung die neue Heimat schneller lieb und wert zu machen.“273 Der Entscheidung zum Wiederaufbau gehen jedoch viele Debatten voraus, die im Spannungsfeld der Denkmalpflege des frühen 20. Jahrhunderts stehen.274 Die einschiffige gotische Hallenkirche mit Dachreiter wurde etwa im Jahre 1300 gebaut.275 Zwei der vier Schiffsjoche waren in Berich durch eine Bretterwand abgetrennt und wurden als Lagerraum benutzt, weil den Bewohnern die Kirche zu groß war. Den Auftrag zur Versetzung der Bericher Klosterkirche erhält Regierungsbaumeister Karl Meyer276 (Abb. 121-123). Während die neuen Dorfbewohner sich den Bau einer kleineren Kirche wünschen, die der Einwohnerzahl entspricht und die in das Gesamtbild des Dorfes paßt, beharrt ein Gutachten auf dem Wiederaufbau der Kirche in alter Gestalt und Größe: „Wenn die Kirche in Berich auch nicht an Größe und Bedeutung für die Baukunst mit mittelalterlichen Domen verglichen werden kann, so ist sie doch in Waldeck die einzige einschiffige, noch vollständig rein und unverändert gebliebene Kirche [...] Die Kirche ist daher ein bedeutendes Denkmal früherer Cultur, künstlerischer Leistungsfähigkeit und Schaffensfreudigkeit und frommer, opferwilliger Begeisterung.“277 Aus den zahlreichen Debatten zu vollständigem Abriß, originalgetreuen Wiederaufbau oder einem veränderten Aufbau entwickelt sich der Kompromiß, die Kirche zwar gestalterisch und in ihren wichtigsten Bauelementen zu übernehmen, diese jedoch nach den Wünschen der neuen Dorfbewohner zu überarbeiten: Das Material der Kirchenwände wird als „wertlose Grauwacke“278 abgerissen und durch Grauwacke aus der Nähe des neuen Dorfes ersetzt. Nur die Eckquader, die Fenstergewände und Maßwerke, die Gesimse und der Sockel, die Grate und Rippen einschließlich der Kapitelle und Schlußsteine werden abgebrochen und, sofern sie in gutem Zustand sind, in die neue Kirche übernommen.279 Um die Kirche den Bedürfnissen der kleinen Gemeinde anzupassen, 273 274 275 276 277 278 279 Aus einem Gutachten zur Versetzung der gotischen Klosterkirche Neu-Berichs. Vgl. StA Marburg, Best. 122, Nr. 2074, Bl. 17. In diesem Spannungsfeld ist Oskar Hoßfeld ist im Jahre 1900 der erste, der sich in der Zeitschrift „Die Denkmalpflege“ allgemein für bislang wenig beachtete Dorfkirchen einsetzt. Sie seien „fast die einzigen Marksteine alter Cultur und Geschichte auf weite Landstrecken“. Vgl. Hoßfeld, O.: Unsere Dorfkirchen. In: Die Denkmalpflege, 2.1900, S. 41f, zit. nach Speitkamp 1996, S. 94. Leider kann auf die verschiedenen Diskussionen und Gutachten zur Versetzung der Kirchen in Neu-Berich und Neu-Bringhausen nicht im Detail eingegangen werden. Vgl. dazu StA Marburg, Best. 607, Nr. 58 und Best. 122, Nr. 2074 und für Bringhausen vgl. Wenzel o.J., S. 5ff (Urkunde über den Bau der Kirche zu Neu-Bringhausen). Zum Erbauungsdatum vgl. Neu-Berich 1938, S. 193. Vgl. Neumann 1995, S. 99. An der Genauigkeit und Ausführlichkeit, in der er über die Geschichte der Kirche, ihren Abbruch, ihre Bauaufnahme und ihren Wiederaufbau schreibt, ist zu erkennen, welche Bedeutung er dem Projekt beimißt. Vgl. Meyer 1923, S. 38. Vgl. zur Kritik der Dorfbewohner am Wiederaufbau der alten Kirche StA Marburg, Best. 607, Nr. 58, Bl. 8f. und zum Gutachten ebd., Bl. 55-60. Meyer 1923, S. 38. Vgl. ebd. Haus und Hof – die Dorfgebäude 205 wird sie um zwei Joche verkürzt; um sie zu der geringeren Längenabmessung in „bessere Harmonie“ zu bringen, in der Höhe nochmals um einen Meter reduziert.280 Auch im Dorf Neu-Bringhausen wird über einen Wiederaufbau des im Jahre 1726 entstandenen Saalbaus aus Sandsteinquaderwerk gestritten. Der zuständige Architekt Meyer schlägt einen Wiederaufbau in „gänzlich unveränderter Form“ vor: „Wenngleich dem Bauwerk nach seinem baugeschichtlichen Wert im Äußeren und Inneren eine besonders große Bedeutung nicht zugemessen werden kann, wäre es doch im Interesse der Denkmalpflege und des Heimatschutzes sehr zu bedauern, wenn das Bauwerk verloren ginge. [...] Das Bestreben, ein Bauwerk zu erhalten, daß viele für eine Dorfkirche charakteristische Merkmale zeigt, dürfte noch unterstützt werden durch den Wunsch, den Ansiedlern von Neu-Bringhausen in ihre neue Heimat das alte Gotteshaus zu verpflanzen.“281 Auch hier entscheiden sich die Verantwortlichen allerdings für eine Verkürzung des Kirchenschiffs um eine Binderweite, den Fortfall der beiden Seitenemporen unter Zurücksetzung der Orgelempore hinter die beiden Seitenfenster sowie eine Verkürzung der freien Umgangsbreite hinter dem Altar282 (Abb. 125, 126). Eine interessante Parallele zu den Wiederaufbauten der alten Kirchen in Neu-Berich und Neu-Bringhausen bietet das Dorf Neu-Asel, das gar keine eigene Kirche mehr erhält. Hier blickt aus größerer Entfernung ein Gemeindehaus auf das Dorf hinab, das gestalterisch an die Kirche im alten Dorf angelehnt ist – um auch hier den neuen Bewohnern den Abschied vom Heimatdorf leichter zu machen (Abb. 107, 134). Die alte Kirche war ebenfalls im Grundriß rechteckig und bestand in Obergeschoß und Giebeln aus Fachwerk. Ein kleiner verschieferter Dachreiter schmückte als Glockenturm den First. Das Gemeindehaus in Neu-Asel ist zwar kleiner und um ein Geschoß niedriger, aber ansonsten ganz ähnlich proportioniert. Im Erdgeschoß ist es bis auf die dem Dorf zugewandte Fachwerk-Ostwand massiv errichtet und auch der Giebel besteht aus Fachwerk. Besonders der achtseitige Dachreiter jedoch erinnert trotz seines gedrungenen Aufbaus und der Ziegelbedachung an den achtseitigen Dachreiter des alten Dorfes. 280 281 282 Zudem wurde vor das Westende des Kirchenschiffs ein Vorbau in voller Schiffsbreite zur Anlage einer Sakristei, einer Vorhalle und eines Treppenhauses für den Aufstieg zur Orgelempore vorgelegt. Vgl. Meyer 1923, S. 38. Der neue Dachstuhl – ehemals geschiefert – wird in Anlehnung an die Dächer des Dorfes mit roten Pfannen eingedeckt. Die Kirche war in Berich halb mit Schiefer, halb mit Ziegeln gedeckt. Vgl. StA Marburg, Best. 122, Nr. 2074, Bl. 15. Orgelprospekt und Gestühl sowie der Flügelaltar werden nach Abnahme der alten Anstriche neu bemalt und erhalten eine „frische, ländliche Ausdrucksweise“. Vgl. Meyer 1923, S. 38. Die Reste frühgotischer Glasmalerei werden zu einem mittleren Chorfenster vervollständigt. Eine Diskussion um den denkmalpflegerischen Umgang mit der Kirche kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Dieses Thema müßte in einer eigenen Abhandlung untersucht werden. Kirchenarchiv Hemfurth II, 3.1.1.4 (nicht numeriert). Wenzel o.J., S. 5ff. Aus einer Urkunde über den Bau der Kirche zu Neu-Bringhausen. Zu den Veränderungen kommt des weiteren der Einbau einer von außen beschickbaren Luftheizung mit Umluft. Haus und Hof – die Dorfgebäude 206 Mit der Kirche als bedeutendstes öffentliches Gebäude im Dorf beschäftigt sich die Heimatschutzbewegung besonders intensiv – auch an den vielfältigen Publikationen zum Thema erkennbar.283 Kritik an der „Großmannssucht“ solcher Dörfer wird geübt, die ihre alte, zu klein gewordene Kirche durch einen Neubau ersetzen, der ohne das „rechte Gefühl für ländliche Eigenart“ als Riesenkirche in gotischen oder romanischen Bauformen gestaltet sei.284 Neubauten werden als „Steinlokomotive mit Schornstein, Dom und Kessel“285, als „monumentaler Prunkdom“286 oder als „steinerner moderner Kasten“287 beschimpft. Sie würden mit ihrer gründerzeitlich-städtischen Stilarchitektur im dörflichen Ensemble deplaziert wirken, ließen einen vermittelnden Übergang zu den übrigen Dorfbauten vermissen und gäben dadurch „schlichte Schönheit“ und „Heimatgefühl“ auf.288 Stattdessen fordern die Heimatschützer für einen modernen Dorfkirchenbau vor allem Einfachheit, würdigen Ernst und einen ländlichen Charakter:289 „Darin sind alle guten Dorfgestaltungen mustergültig, daß bei ihnen weder die Wände unnötig aufgelöst, noch ohne Grund die Dachformen kompliziert sind, sondern gerade durch die Einheit und Schlichtheit des ohnehin dominierenden Kirchbaues ein Gegengewicht gegen bunte Mannigfaltigkeit der Dorfanlage eingeschaltet ist.“290 Heinrich Rebensburg erläutert, wie eine „rechtschaffene“ Dorfkirche aussehen müsse: „Ein schlichtes Langhaus ist mit einem schlichten Turm zu einer schlichten baulichen Einheit verbunden. [...] Das Langhaus ist einschiffig, ein rechteckiger Saal [...] Der Ursprung ihrer Form liegt außerhalb der Stilgeschichte, darum gebührt ihr auch eine eigene Ästhetik.“291 Walter Dammann leitet die Einfachheit der Dorfkirche von mittelalterlichen Bauten ab. Danach wurde der Raum als einfaches Rechteck mit anhängendem Chor gestaltet: „Der Chor wurde meist als einfache Apsis, halbrund oder polygonal, manchmal auch als Quadrat mit plattem Abschlusse gebildet.“292 Wie im folgenden zu zeigen sein wird, halten sich alle Kirchen an diese für ländlich erachtete Schlichtheit, die keine historischen Stile zuläßt und Saal und Turm zu einem einfachen Ensemble miteinander zu verschmelzen sucht. Darunter lassen sich auch die wieder errichteten Kirchen in Neu-Berich und Neu-Bringhausen fassen. Während der Wandaufbau in 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 Vgl. z.B. Walter H. Dammann: Die deutsche Dorfkirche. Stuttgart 1910 oder Robert Mielke: Unsere Dorfkirche. Wittenberg 1913. Vgl. Wagener 1913, S. 93. Ebd. Rebensburg 1913, S. 45. Tegernsee 1913, S. 26. Vgl. Wagener 1913, S. 93, Tegernsee 1913, S. 26 und Schultze-Naumburg 1909a, S. 58. Durch große Öffnungen, Aus- und Aufbauten würden Dorfkirchen die Einheit des Bauwerkes schwächen. Vgl. Mielke 1913c, S. 17. Vgl. Hoermann 1913, S. 96, Wagener 1913, S. 84, Mielke 1910a, S. 235f und Kühn, Bd. 1, 1915, S. 5-7. Lange 1910, S. 34, 36. Rebensburg 1913, S. 50f. Dammann 1910, S. 48. Haus und Hof – die Dorfgebäude 207 Neu-Berich durch Strebepfeiler, Maßwerke und Kaffgesims aufgelockert ist, zeigen sich die Wände in Neu-Bringhausen durch ein Traufgesims und schlichte rundbogige Fenster an den Langseiten geschlossen. Der Dachreiter in Neu-Bringhausen wird nicht wie bei der alten Kirche verschiefert, sondern aus Sichtfachwerk erstellt und stellt damit eine optische Verbindung zu den umgebenden Fachwerkgebäuden her.293 Meyer scheint sich damit an die Vorschläge der Heimatschutzbewegung anzulehnen, die einen Anschluß und vermittelnden Übergang der Kirche zu den übrigen Dorfgebäuden wünscht.294 Wenn es unumgänglich ist, einen kompletten Kirchenneubau zu schaffen, soll dieser laut Heimatschützer zumindest bodenständige Traditionen weiterführen.295 Ein solches Beispiel stellt die IBA in Leipzig in ihrer Dorfanlage vor (Abb. 173-175): „Sie zeigt von Friedhöfen umrahmt eine Dorfkirche, einfach und schlicht, vollkommen auf kirchlicher, sächsischer Überlieferung fußend, mit dem fast vergessenen, schönen, sächsischen Schiefer gedeckt, mit gemalter Decke und Emporen, wie in den rühmlichst bekannten Dorfkirchen in Cosswig, Leubnitz, Tragnitz, Mügeln usw. ...“296 Obwohl die Kirche wie alle anderen Gebäude im Dorf aus Bretterwerk zusammengebaut ist, erinnert sie doch mit ihrem weißen Verputz an andere sächsische Dorfkirchen, bei denen ebenfalls ein äußerer Verputz die Regel ist.297 Gelobt werden zudem ihre glatten Wandflächen ohne jeglichen Fassadenschmuck, denen als natürliches Ornament nur die Reihung der rundbogigen Fenster dient.298 Der zugrundeliegende rechteckige Grundriß wird wie in Neu-Berich durch einen dreiseitigen Chor variiert, an den sich der niedrige Anbau einer Sakristei anlehnt. Als architektonischer Hauptschmuck des Baus wird das Schieferdach genannt, das eine durch keine Luke unterbrochene Fläche zeigt und dessen Abwalmungen dem Bau „den Stempel des Behaglichen und Ländlichen“ aufdrücke.299 Besonders auf die altdeutsche Eindeckungsart des Schiefers wird verschiedentlich hingewiesen, um das Bodenständige der Materialverwendung zu betonen. Mit Schiefer gedeckt ist auch der gedrungene achtseitige Dachreiter mit Welscher Haube und Kreuz, der den Bau eindeutig als sakrales Gebäude ausweist. Der Autor kommt zu dem Schluß: „So zeugt denn auch nicht das geringste an diesem Kirchlein von irgend etwas Ausgeklügeltem 293 294 295 296 297 298 299 Vgl. Wenzel 1989, S. 180. Zwar heißt es hier, die Kirche sei unter Verwendung des alten Materials wieder aufgebaut. Welches und wieviel von diesem Material jedoch benutzt wird, kann jedoch nicht genau überprüft werden. Vgl. Wagener 1913, S. 93. Vermutlich aus Schutz vor dem Wetter wird der Dachreiter im Jahre 1929 bereits wieder verschiefert. Vgl. Wagener 1913, S. 94 und Tegernsee 1913, S. 24, 26. Offizieller Katalog der Internationalen Baufach-Ausstellung 1913, S. 81. Vgl. Gruner 1904, S. 50. Vgl. Winter 1913b, Sp. 207. Vgl. ebd., Sp. 208. Haus und Hof – die Dorfgebäude 208 und Kompliziertem“.300 Im Sinne der Heimatschützer ist die Dorfkirche der IBA also als gelungener ländlicher Neubau zu bezeichnen. Ein Jahr später entsteht im Neuen Niederrheinischen Dorf ebenfalls eine Dorfkirche, gebaut von Erzdiözesanbaumeister Heinrich Renard und Stephan Mattar (Abb. 200-203). Auch sie will durch das Baumaterial Backstein bewußt ein Stück regionaltypischer Architektur vorstellen: „...so redet unsere Dorfkirche hier [...] die gleiche Sprache wie ihre Umgebung, nicht eine Fremdsprache, auch keinen städtischen Dialekt. Sie ist aus dem gleichen Boden gewachsen, nach Material und Form, sie vereinigt sich mit den anderen Bauten zu einem harmonischen Ganzen, sie ist bodenständig.“301 Auch sie besteht, wie Rebensburg es für schlichte Dorfkirchen vorschlägt, aus Langhaus und Turm. Da jedoch der Deutsche Werkbund die künstlerische Veredelung aller Erzeugnisse zum Ziele hat,302 wird hier ein zweischiffiges, durch zwei Säulen getrenntes Langhaus mit eigenem Chorraum angelegt, an den sich eine dreiseitige Apsis anschließt. Während das Langhaus tonnengewölbt ist, werden Chor und Seitenschiff sogar mit Kreuzgratgewölben versehen. Über dem Chor erhebt sich der massige Glockenturm, seitlich daran ist eine niedrige Sakristei angebaut. Das einfache Satteldach bleibt bis auf kleine Gauben geschlossen. Rebensburg lobt vor allem satteldachgedeckte Türme, wie er auch im Ausstellungsdorf zu finden ist: „Echt dörflich, ungeziert-kräftig, dem ländlichen Baumeister technisch geläufig ist die altehrwürdige Eindeckung des Kirchturmes mit schlichtem Satteldach.“303 Trotz der künstlerischen Durchbildung des Sakralbaus wird auf ländliche Schlichtheit wertgelegt: „Nicht also Höhe und Masse des Mauerwerks, sondern jene kraftvolle Zusammenschließung der einzelnen Bauteile gibt der an sich kleinen Kirche die monumentale Größe, zumal im Äußern jeder für ein bescheidenes Dorf unmotivierte und das Große auflösende Dekor wohlweislich vermieden ist.“304 So sind die Backsteinwände mit Ausnahme der verschiedenen Fensteröffnungen glatt und geschlossen gehalten. Nur über Fenstern und Türen, unter dem Dachansatz und in den Giebeln wird die Mauerfläche durch verschiedenartige Backsteinschichtungen belebt.305 Einen ganz anderen Aufbau und eine erweitere Funktion erhält die „Kirche“ in Golenhofen (Abb. 9-12). Sie wird nicht nur als evangelisches Bethaus, sondern auch als Gemeindehaus genutzt und ist mit der Schule zu einem Doppelhaus vereinigt. Die beiden Bauteile stehen giebelständig zum Marktplatz und werden durch einen Zwischenbau erschlossen, der den ge300 301 302 303 304 305 Ebd., Sp. 209. Der silbergraue Schiefer komme in dieser Art nur in Sachsen vor, vgl. Leipziger Neue Nachrichten Nr. 87 vom 30.3.1913. In: StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 40. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 17f. Vgl. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 4. Rebensburg 1913, S. 57. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 18 und Offizieller Katalog der Deutschen Werkbundausstellung Köln 1914, S. 235. Vgl. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 18. Haus und Hof – die Dorfgebäude 209 meinsamen Eingang und Flur enthält. Im Unterschied zu den roten Dächern der übrigen Gehöfte ist das große Gebäude durch schieferfarbene Ziegel als öffentliches Gebäude markiert.306 Das Bethaus ist ein massiver weißer Putzbau mit Feldstein-Sockelverblendung und einem Zierfachwerkfeld im oberen Giebeldreieck. Das Innere besteht aus einem großen Betsaal mit einer erhöhten, rechteckigen Apsis und einem seitlichen Säulengang.307 Durch die Verbindung mit dem Schulhaus und seine Funktion als Gemeindehaus würde es sicherlich als Profanbau wirken, wenn dem Bau nicht, so Fischer, „ein etwas kirchliches Gepräge gegeben“ worden wäre.308 Für eine sakrale Wirkung sorgt die Kombination aus einem großen rundbogigen Fenster in der Mitte der Giebelwand, das von zwei kleineren flankiert wird. Dazu kommt der vierseitige Dachreiter mit Turmuhr, der gedrungen wirkt und mit einer Welschen Haube abgeschlossen ist. Fischers Kirchenbau erinnert damit besonders an die Definition Mielkes einer Dorfkirche: „Die Dorfkirche ist vor allen Dingen ein Haus, dem der Turm einen besonderen Ausdruck gibt...“309 Auch im Bethaus Golenhofens findet sich also die einfache Verbindung von „Langhaus“ und Turm wieder, wobei die glatten Wände und schlichten gestalterischen Details dem Bau – im Sinne des Heimatschutzes – etwas Dörflich-Bescheidenes geben.310 Mielke glaubt, breite Türme gäben einem Kirchenbau eine schwere lastende Gedrungenheit: „Aber diese Wucht fügt sich trefflich dem breit hingelagerten Dorfe an.“311 Fischer schließt sich seiner Meinung über Kirchtürme an: „Aus der Ferne gesehen bildet er den architektonischen Höhepunkt der Siedlung. Daß für diese Fernwirkung ein schwerer Baukörper mit gedrungener Endigung am günstigsten ist, ist bei der Ansiedlungskommission bald erkannt worden. Schlanke Türme mit ausgezogener scharfer Spitze gehören ins Gebirge. Die Ebene verlangt wuchtige, einfache Formen.“312 Damit wird wiederum deutlich, wie sehr die Heimatschutzbewegung neben der harmonischen Einbindung ins Ensemble auf eine „harmonische Übereinstimmung“ neuer Dorfgebäude mit der umgebenden Landschaft pocht.313 Nicht nur in Golenhofen sind diese Gestaltungstheorien umgesetzt worden. Auch die beiden Kirchen in den Ausstellungsdörfern lehnen sich mit ihren breiten gedrungenen Türmen daran an.314 306 307 308 309 310 311 312 313 314 Vgl. Schwochow 1908, S. 31. Vgl. Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, S. 34. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3387, Bl. 1. Mielke 1913c, S. 11. Vgl. dazu auch Warlich 1906, S. 534: „Einfach und schlicht wie das Äussere, ist in beiden Bauten auch das Innere, dessen Hauptreiz eine vornehme Farbenfreudigkeit bildet.“ Mielke 1910a, S. 238. Fischer 1911, S. 26. Vgl. z.B. Mielke 1913c, S. 8. Die Kirche in Neu-Bringhausen besitzt ebenfalls einen breiten niedrigen Dachreiter, während derjenige der ehemaligen Klosterkirche in Neu-Berich schmal und spitz ist. Diese Formen sind jedoch den alten Kirchen entlehnt und können deshalb nicht parallel besprochen werden. Haus und Hof – die Dorfgebäude 210 2.3.2. Schulen „Nicht weil es ‚künstlerisch’ ist, soll man geschmackvolle Volksschulhäuser errichten, sondern weil es auch hier gilt, das Kind an Stelle des Unechten, Verlogenen und Falschen mit Echtem und Wahrem zu umgeben.“315 Der Dorfschule gebührt, laut Vetterlein, als öffentliches Gebäude im Ortsbild ein „schöner Platz“, da sie neben Kirche und Rathaus der einzige „Monumentalbau“ sei.316 Darüber hinaus sollten Kirche und Schule möglichst nebeneinander stehen, da die eine Zentrum der geistigen, die andere Zentrum der weltlichen Lehre sei.317 Als drittes wird der Kirche ein Platz in Mitte des Ortsbezirkes empfohlen, um von allen Schülern gut erreichbar zu sein – allerdings abseits der dichten Bebauung und in freistehender Lage.318 In Neu-Berich und Neu-Bringhausen befinden sich die Schulen dementsprechend im Ortskern und in nächster Nähe zur Kirche, im IBA-Dorf ist die Schule sogar über einen bedachten Wandelgang mit der Kirche verbunden. Auch in Golenhofen ist die Schule als zentrales öffentliches Gebäude an der Längsseite des zentralen Marktplatzes zu finden – mit dem Bethaus zu einem einzigen Gebäude verschmolzen. 319 „Ein Schulhausbauplatz muß gesund sein, Licht und Luft haben und in allen Jahreszeiten der Sonne Zutritt gewähren.“320 Jedes Kind soll auf seinem Platz in der Klasse ein Stück Himmelslicht sehen können. Für die Lage der Klassenfenster nach Südosten spricht laut Vetterlein, daß die Sonne den Klassenraum zu jeder Jahreszeit erhellen könne; die reine Nordlage hätte dagegen den Vorteil eines ruhigen, gleichmäßigen Lichtes.321 Die Lage des Schulhauses müsse jedoch individuell entschieden werden: Ein schöner Ausblick aufs Gebirge oder Tal soll dabei auch berücksichtigt werden.322 Alle Architekten der untersuchten Dörfer entscheiden sich beim Bau der Schulen für große verglaste Fenster an einer Wandseite, die viel Licht und Luft ins Klassenzimmer lassen. Neu-Berichs und Neu-Bringhausens Klassenräumen werden ebenso wie denen des IBA-Dorfes je drei große Sprossenfenster eingesetzt323 (Abb. 127, 130, 178). Auch der Golenhofener Architekt wählt zwei große, dreifach gekoppelte Klassenfenster und richtet sie für eine direkte Sonneneinstrahlung während des Unterrichts nach Südosten aus (Abb. 7). Neu-Berichs Klas315 316 317 318 319 320 321 322 323 Winter 1911, S. 4. Vgl. Vetterlein Bd. 1, 1914, S. 30. Vgl. Dammann 1910, S. 74-76 und Mielke 1910a, S. 253. Vgl. Kühn 1905, S. 85. Im Neuen Niederrheinischen Dorf muß der Bau von Schule und Gemeindehaus aus Kostengründen unterbleiben. Vgl. Von der deutschen Werkbund-Ausstellung 1913, S. 678. Vetterlein Bd. 1, 1914, S. 23. Vgl. ebd., S. 28f. Kühn plädiert für die Lage der Fenster nach Nordwesten und für einen seitlichen Einfall des Lichtes in den Klassenraum, damit die Kinder nicht geblendet werden. Kühn 1905, S. 86 und 89. Vgl. Vetterlein Bd. 1, 1914, S. 30. Beim IBA-Dorf sind in der Ansicht noch fünf Fenster eingezeichnet. Haus und Hof – die Dorfgebäude 211 senräume sind nach Osten, Neu-Bringhausens Klassenräume so wie die des IBA-Dorfes wiederum nach Südosten ausgerichtet. Die Architekten entscheiden sich also jeweils für eine direkte morgendliche Sonneneinstrahlung in die Klassenräume. Wie bei der Dorfkirche wird auch bei der Schule das Bauen von „öden Backsteinkästen“324 und „Ungetümen“325 am meisten gefürchtet, die im ländlichen Ortsbild ein Fremdkörper bleiben und in nichts an „die alte, gemüt- und phantasievolle deutsche Bauart“ erinnern.326 In der Kritik der Heimatschutz-Autoren steht daher in erster Linie die oft übermäßige Größe des Schulhauses.327 Ein Schulgebäude solle sich trotz seiner herausragenden Stellung als öffentliches Gebäude dem Ensemble anpassen, wobei das störende Aufeinandertürmen mehrerer Geschosse zu vermeiden ist.328 Stattdessen solle das Gebäude „zur Wahrung des ländlichen Charakters“ nicht höher als mit einem Obergeschoß errichtet werden.329 Besonders in den waldeckischen Dörfern fallen die Schulen im Ortsbild kaum auf, denn sie sind wie viele der umgebenden Bauernhäuser nur eineinhalb Geschosse hoch, passen sich also in der Größe dem Dorfensemble an (Abb. 127, 129).. Im IBA-Dorf ist die Schule nur eingeschossig, wobei das Obergeschoß unter einem Schopfwalmdach verborgen ist (Abb. 176). So bildet sie keine Konkurrenz zu der benachbarten kleinen Dorfkirche: „Indem der Architekt die Schule als einen eingeschossigen Bau aufführte und so die für den monumentalen Ausdruck unserer großstädtischen Bauten unentbehrliche dritte Dimension vermied, wahrte er dem Gebäude den Eindruck des Ländlichen und Anheimelnden.“330 Auch die Schule in Golenhofen ist nur zweigeschossig (Abb. 9-11). Trotzdem ist sie der höchste Bau im Dorf. Fischer begründet die Größe der Dorfschulen im Ansiedlungsgebiet so: „Da nur etwa der siebente Teil aller neuen Siedlungen eine eigene Kirche, jede aber eine eigene Schule zu erhalten pflegt, bildet diese in den meisten Fällen den architektonischen Höhepunkt des Ansiedlungsdorfes.“331 Die zentralen reformerischen Begriffe der Heimatschutzbewegung beim Bau einer Schule sind „Hygiene“ und „Schönheit“.332 Neben Licht, Luft und guter Heizung lägen auch in der Schönheit hygienische Werte, die „der physischen Gesunderhaltung direkt zugute 324 325 326 327 328 329 330 331 332 Vetterlein Bd. 1, 1914, S. 17. Wagener 1913, S. 99. Vetterlein Bd. 1, 1914, S. 17. Vgl. Mielke 1910a, S. 256 und Kühn 1905, S. 84. Wie die Schule sollen sich laut Hinz auch andere öffentliche Gebäude wie Pfarrhaus und Gasthaus trotz ihrer speziellen ästhetischen Gestaltung der Umgebung anpassen. Vgl. Hinz 1911, S. 60. Vgl. Wagener 1913, S. 99. Winter 1911, S. 146. Winter 1913c, S. 26. Fischer 1911, S. 28. Beeinflußt sicherlich durch die im späten 19. Jahrhundert beginnenden schulhygienischen Maßnahmen, wie sie besonders vom 1899 gegründeten „Allgemeinen Deutschen Verein für Schulgesundheitspflege“ vorgenommen werden. Vgl. Goerke 1969, S. 65f. 212 Haus und Hof – die Dorfgebäude kommen“.333 Eine bauliche Anlage und Ausstattung des Baus sei nach gesundheitlichen Erkenntnissen nötig, um Sehvermögen und Körperbildung der Kinder zu fördern. Dazu seien geräumige Flure, Treppen und Zimmer sowie eine dauerhafte, hygienische Bauweise einzurichten.334 Zu den hygienischen Erfordernissen gehören laut Kühn auch Waschgelegenheiten, die noch wenig gebräuchlich seien. Um so erstaunlicher ist es, daß im Untergeschoß der Neu-Bringhäuser Schule ein Brausebad für die Schulkinder eingerichtet wird.335 Zur Schönheit der Schule zählt, wie auch bei den anderen Gebäuden, vor allem Bodenständigkeit und „architektonische Traulichkeit“336. Zweckmäßigkeit und Behaglichkeit dürfen keine Widersprüche sein, eine helle und farbig wohltuende Gestaltung, jedoch kein unangemessener Fassadenschmuck sollen das Gebäude zieren: „Das Kind soll nicht nur den Sinn für Ordnung, wenn dies nötig ist, sondern auch den Sinn für Schönheit aus der Schule mit nach Hause und mit sich in das Leben tragen.“337 Da für die Heimatschutzbewegung die Schönheit eines Baues eng mit seiner lokalen Bauweise zusammenhängt, wird besonders für die Gestaltung der Schulbauten das Bauernhaus mit seinen Wirtschaftsschuppen als Vorbild empfohlen.338 Diese Ratschläge scheinen vor allem in Neu-Berich und Neu-Bringhausen beherzt worden zu sein, denn die Lehrerwohnungen der Schulen sind als Typ wie alle anderen Wohngebäude im Erdgeschoß massiv und im Dachgeschoß aus Fachwerk aufgebaut, während der massive Anbau des Klassenzimmers sich nicht wesentlich von einem Anbau aus Wirtschaftszwecken unterscheidet.339 Auch die Innenraumstruktur der Wohnungen mit dem halben Flur, von dem alle Räume erschlossen werden, paßt sich dem Typus des Dorfes an (Abb. 128). Die Schule des IBA-Dorfes paßt sich durch ihren weißen Verputz und ihre gebrochene Dachstruktur ebenfalls gestalterisch an die übrigen Dorfgebäude an. Sie ähnelt damit besonders dem Wohnhaus des Großen Gehöfts. In Golenhofen verhindert die Verbindung von Schule und Kirche eine gestalterische Anlehnung an die bäuerlichen Gehöfte. Fischer selbst schreibt, daß auch dem Äußeren des Schulhauses ein „etwas kirchliches Gepräge“ gegeben wurde.340 Trotzdem paßt es sich zumindest durch die schlichte Gestaltung des Satteldaches, 333 334 335 336 337 338 339 340 Winter 1911, S. 56f. Winter spricht an dieser Stelle von nüchternen, grauen Lernställen und lichtlosen, engen Gefängniskorridoren, die mittlerweile verschwunden seien. Vgl. auch Mielke 1910a, S. 257 und: Ländliche Schulbauten. In: Bauwelt 4/1913, Nr. 18, S. 41. Winter spricht an dieser Stelle von nüchternen, grauen Lernställen und lichtlosen, engen Gefängniskorridoren, die mittlerweile verschwunden seien. Vgl. neben Kühn 1905, S. 86 auch Mielke 1910a, S. 257. Vgl. Meyer 1923, S. 31. Kühn 1905, S. 86. Ebd., S. 86f. Vgl. dazu auch Winter 1911, S. 159. Vgl. dazu Sohnrey 1900, S. 266; Kühn 1905, S. 83 und Wagener 1913, S. 100. Vgl. zu dieser Bauart das hessische Beispiel einer Schule von Winter 1911, S. 130f, das den genannten Schulen sehr ähnelt. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3387, Bl. 1. Haus und Hof – die Dorfgebäude 213 den weißen Zierputz und die Giebelverbretterung an die umstehenden Gehöfte an und wirkt nicht als Fremdkörper im Dorf. Die kleinen Wirtschaftsgebäude hinter den Schulen, die den Lehrern die Selbstversorgung ermöglichen, sollen den ländlichen Eindruck der Gebäude betonen: „Ist dem Lehrer ein besonders umfriedetes Stück Hof- oder Gartenland zur Privatnutzung überwiesen, so wird dieses mit seinen Ställen und Holzstapeln dazu beitragen, das freundliche, bäuerliche Gepräge der Gesamtanlage zu fördern.“341 Durch einen Schulhof, glaubt Mielke, könne der Hofcharakter einer Schule zusätzlich betont werden.342 Dieser sollte durch eine Hecke oder ein Holzstaket umfriedet werden und möglichst mit schattenspendenden Bäumen bepflanzt werden. „Das Grün wird besser wie alles andere das ländliche Motiv des Hauses zum Ausdruck bringen.“343 In Neu-Berich, Neu-Bringhausen und Neu-Asel erhalten die Lehrer ein Wirtschaftsgebäude zur Selbstversorgung. In Neu-Berich ist die Schule mit einem Holzstaket umzäunt und der Schulhof mit Bäumen bepflanzt. Ein Spielplatz am Haus ist vorgesehen.344 Auch im IBADorf ist hinter der Schule ein Pausenhof angelegt. Gerade in ländlichen Schulen wird eine direkte Unterbringung der Lehrerwohnung in der Schule begrüßt, damit diese unter persönlicher Aufsicht des Lehrers steht und auch von ihm instandgehalten, geheizt und gereinigt werden kann.345 Alle untersuchten Dorfschulen beherbergen eine Lehrerwohnung im Gebäude selbst, wobei diese in den Waldecker Dörfern das ganze Haus vereinnahmt, während sich der einzige Klassenraum im Anbau befindet. In Golenhofen und im IBA-Dorf sind die Lehrerwohnungen dagegen im Obergeschoß untergebracht (Abb. 10, 177). Während die Schulen in den Waldecker Dörfern und Golenhofen nur aus einem Klassenraum bestehen, erhält die Schule auf der IBA in Leipzig einen zusätzlichen Raum, der als Fortbildungsschule für ländliche Heimarbeit, Weberei, Töpferei usw. dient. Diese verdeutlicht, daß das oberste Interesse beim Bau des Dorfes dem Erhalt ländlichen Lebens und Bauerntums gilt: „...in höherem Maße als bisher soll die heranwachsende ländliche Jugend im Unterricht auf die Arbeit des Landmannes und das Leben auf dem Lande hingewiesen werden, soll in ihr die Liebe zum Landleben gefördert werden, damit dem Lande die erforderliche Menge an Arbeitskräften aus dem Nachwuchs erhalten bleibe.“346 341 342 343 344 345 346 Wagener 1913, S. 101. Vgl. Mielke 1910a, S. 256. Wagener 1913, S. 100. Vgl. StA Marburg, Best. 607, Nr. 272, Bl. 72. Vgl. Kühn 1905, S. 93. Leipziger Tageblatt Nr. 229 vom 08.05.1913. In: StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 153. Haus und Hof – die Dorfgebäude 214 2.3.3. Gaststätten, Jugendhalle, Gewerbe „Kann man sich etwas denken, das besser Landlust, harmlose Feiertagsstimmung und gesellige Formen in sich vereinigte, als ein solches Haus?“347 Eine solch positive Haltung Gasthäusern gegenüber, wie sie Paul Schultze-Naumburg hier äußert, wird um die Jahrhundertwende nicht von allen dem Heimatschutz nahestehenden Autoren geteilt. Besonders Heinrich Sohnrey sieht die dörflichen Gasthäuser kritisch, weil sie die gelangweilte Jugend zu einem übermäßigen Alkoholkonsum verführten. Er fordert gemeinschaftsstiftende Gemeindehäuser, die mit verschiedenen wohnlichen Räumen zur Versammlung, zu Gesprächen und zur Lektüre, zu Festlichkeiten, Gesang, Spiel und gemeinsamer Arbeit einladen.348 Clemens Wagener schließt sich an: „Es ist geradezu jammervoll, daß eine Unzahl Dorfgemeinden nicht einmal einen würdigen Unterkunftsort für solche Zwecke hat.“349 Einzig das Neue Niederrheinische Dorf schafft mit seiner Jugendhalle einen Mehrzweckbau, der den Forderungen Sohnreys und Wageners entgegenkommt (Abb. 204, 205). Es handelt sich hierbei um einen Saalbau, der als Turnhalle für die Jugend benutzt wird, aber auch als Saal für Festlichkeiten und andere Veranstaltungen genutzt werden kann. Dazu kommen Bühne, Garderoben, Toiletten, Umkleide- und Lehrerzimmer. Modern ist vor allem die Flexibilität des Gebäudes, denn es ist durch seine Holzkonstruktion aus Bogenbindern leicht ab- und wieder aufbaubar. Wenn also in Industriegebieten wie im Rheinland die Dorfgemeinden schnell anwachsen, kann das Gebäude in wenigen Tagen versetzt oder auch erweitert werden.350 In den anderen untersuchten Dörfern bieten nur Gaststätten mit ihren Sälen eine Versammlungsmöglichkeit für profane Festivitäten. Während Sohnrey das Gasthaus noch im kritisiert, werden von den anderen Heimatschützern besonders seine architektonischen Verunstaltungen angeprangert. Mielke bezeichnet es sogar als innerlichen und äußerlichen „Mittelpunkt zerstörender Kräfte auf dem Dorfe“351. Vor allem die Entwicklung der sogenannten Fremdenindustrie habe dazu beigetragen, die einst dörflichen Häuser in augenfällige, unsolide Kästen im „Vorstadtstil“ zu verwandeln, die sich als solche dem Besucher wie „gemalte Dirnen“ anpreisen würden.352 Trotzdem wird das Gasthaus von den meisten Heimatschützern nicht grundsätzlich abgelehnt. Rebensburg z.B. schreibt: „Sehr wohl kann auch das Wirtshaus eine Kulturquelle für 347 348 349 350 351 352 Schultze-Naumburg 1908, S. 114. Vgl. Sohnrey 1908, S. 312f. Wagener 1913, S. 97. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 99. Mielke 1910a, S. 267. Vgl. Rudorff 1897, Neudruck 1994, S. 53; Wagener 1913, S. 102; Meyer 1914, S. 133 und SchultzeNaumburg 1917, S. 183 Haus und Hof – die Dorfgebäude 215 das Dorf werden, und die ‚Honoratioren’ sollten es zur Pflanzstätte höherer Gesittung veredeln helfen.“353 Der Architekt Ernst Kühn glaubt sogar, der ländliche Gasthof sei der berufene Vertreter öffentlicher Wohlfahrt und solle daher im Zentrum eines Ortes stehen, an einem Platz oder an der Hauptstraße – jedenfalls so, daß vor dem Hause genug Platz für festliche Umzüge oder andere Gelegenheiten bleibt.354 In Neu-Bringhausen, Neu-Berich und Golenhofen sind die Gasthäuser als gemeinschaftsbildende Elemente denn auch zentral im Ortskern plaziert. An den repräsentativen Hauptkreuzungen im Dorf stehen sie damit auch in direkter Nähe der Kirchen. Gleichzeitig lassen sie für diverse Veranstaltungen genügend Platz vor dem Hause. So wie Mielke die direkte Nähe von Kirche und Gasthaus kritisiert: „Vormittags Orgelspiel, nachmittags wüste Tanzmusik in dem großen, fast immer angehängten Saale!“355, so entstehen auch dem Fürstlich-Waldeckischen Konsistorium Bedenken über die nachbarschaftliche Lage von Kirche und Schule in Neu-Bringhausen, werden aber wieder verworfen.356 In den Ausstellungsdörfern sind jeweils Ausnahmesituationen anzutreffen, denn allein im kleinen IBA-Dorf befinden sich zwei Gaststätten und drei Geschäfte, während es im Neuen Niederrheinischen Dorf sogar drei Gaststätten sind. Diese unverhältnismäßig große Zahl an Wirtshäusern entspricht den Bedürfnissen eines großen Ausstellungspublikums. Neu gebaute Gaststätten sollen schlicht, idyllisch, stimmungsvoll und behaglich sein:357 „Man braucht nicht einmal besondere Anstrengungen zu machen, sondern sich einfach an den gewöhnlichen Haustypus anzuschließen und ihn für die besonderen Zwecke umzuändern [...] Gerade die Hofeigenschaft des Besitzes hat dafür Sorge getragen, den Gasthof auch äußerlich als einen Hof erscheinen zu lassen.“358 Auch hier also kommt es, wie bei der Schule, auf die gestalterische Vereinheitlichung des öffentlichen Baus mit den übrigen Dorfbauten an, auch wenn sich die Gaststätte – wie Wagener deutlich macht – durch die Notwendigkeit umfangreicherer und größerer Räume zwangsläufig von den übrigen Gebäuden abhebt.359 Tatsächlich sind in Neu-Berich, Neu-Bringhausen und Golenhofen die Gaststättenbesitzer auch Bauern, um sich selbst versorgen zu können. So sind hinter den Gaststätten jeweils eigene Ställe und Scheunen angebracht, die den Hofcharakter der Bauten unterstreichen. Die ästhetische Konvergenz der Gaststätten mit dem übrigen Dorfensemble wird besonders in den zwei Waldecker Dörfern Neu-Bringhausen und Neu-Berich deutlich. 353 354 355 356 357 358 359 Rebensburg 1913, S. 107. Vgl. Kühn, Bd. 3, 1915, S. 91 und 96. Mielke 1910a, S. 271. Vgl. Kirchenarchiv Hemfurth II, 3.1.1.4 (nicht numeriert). Vgl. Rudorff 1897, Neudruck 1994, S. 53, Schultze-Naumburg 1908, S. 133; Rebensburg 1913, S. 115 und Ehmig 1916, S. 70. Vgl. Mielke 1910a, S. 267 und 270. Auch für Wagener unterscheidet sich das alte Dorfgasthaus wenig von den übrigen Gebäuden, weil der Wirt auch Bauer war. Vgl. Wagener 1913, S. 101. Vgl. ebd. Haus und Hof – die Dorfgebäude 216 In Neu-Bringhausen ist das Gasthaus zweigeschossig und wie alle von Meyer neu errichteten Gebäude untersockelt, im Erdgeschoß massiv und im Obergeschoß und in den Giebeln aus Fachwerk hergestellt (Abb. 137, 138). Obwohl es sich dadurch in das Dorfensemble einfügt, ist es durch seine stattliche Größe im Ortskern als besonderer Bau herausgestellt. Dies betonen zusätzlich das Zierfachwerk aus Rauten und der an der Giebelseite angebrachten (und zumindest in den Plänen eingezeichneten) hessischen Mannfigur sowie die Abkantung der Hausecke. Auch der Gasthof „Dorfkrug“ in Neu-Berich fügt sich in das Dorfbild ein (Abb. 135-136). Zwar sind das Dachhaus mit Zeltdach und der niedrige Saalanbau mit Walm architektonische Elemente, die im Dorf kein zweites Mal Verwendung finden. Die Materialverwendung zeigt jedoch, daß sich Gestalt und Struktur des Hauses trotz seiner Sonderstellung im Ort nicht von den übrigen Gebäuden abheben – wie dies in Heimatschutztheorien gefordert wird. Die besondere Verzierung der Fensterläden mit Weingläsern und Spielkartenfarben, ein eisernes Türschild mit dem Motiv eines Weinglases und die überdachte Veranda erinnern an die traditionelle „Herberge“, die Wagener so beschreibt: „Die alte Herberge lag meist mit breitem Laubenvorbau und kunstvoll geschmiedetem Schild behäbig und einladend an der Landstraße, und ein Blick durch das offene Einfahrtstor auf den Hof und die anschließenden Wirtschaftsgebäude verriet, daß der Besitzer, der Wirt, gleichzeitig Bauer war.“360 Mit Veranda und Auslegerschild zitiert der Architekt Meyer Grundelemente eines Bildes, das man sich vom traditionellen ländlichen Gasthaus macht. Mielke beklagt die neuzeitlichen „Saalungetüme“, die modernen Gastwirtschaften angehängt würden. Hier müßten Maßnahmen ergriffen werden, um den Gasthof wieder mit „solider Sachlichkeit“ und nach „künstlerischen Gesichtspunkten“ zu erbauen, um ihn „über den Ort von Trinkgelagen zu einem wirklich gastlichen Hause, zu einem Gemeindehause zu machen.“361 Wagener spricht von einem meist „wüsten Tanzsaal“, der „wie ein Wagenschuppen oder eine Turnhalle gestaltet, meist ohne jede organische Verbindung und ohne Beachtung der Schönheitsfrage dem Wirtschaftshaus angehängt wird.“362 In Neu-Berich ist der Saalanbau kein schreckliches „Ungetüm“, sondern ordnet sich durch seine geringe Größe, seine für den Ort typische Fachwerk- und Fenstergestaltung sowie die roten Dachziegel dem allgemeinen architektonischen Duktus unter. Auch der stattliche „Dorfkrug“ in Golenhofen liegt mit angehängtem Saal repräsentativ an der zentralen Kreuzung im Dorf (Abb. 13-16). Auch ihm gelingt es, sich durch geringe Höhe, einfaches Mansarddach und weißen Verputz dem Haupthaus unterzuordnen. 360 361 362 Wagener 1913, S. 101. Mielke 1910a, S. 271. Wagener 1913, S. 102. Haus und Hof – die Dorfgebäude 217 Mit giebelseitig an der Straße liegendem Stall und rückwärtiger Scheune ist der „Dorfkrug“ als Dreiseithof angelegt. Wenn der Bau auch keine laubenartige Terrasse vorzuweisen hat, so ist er doch durch ein eisernes Wirtshausschild – einem Lorbeerkranz mit Stern – als Gasthaus gekennzeichnet. Durch zusätzliche Dekorationen wie floralen Flachornamenten in rechteckigen Putzfeldern, vier Eisenankern, die die Erbauungszeit des Hauses angeben sowie dem stattlichen geschweiften Giebel wird – trotz seiner Eigenschaft als Gehöft – sein Sonderstatus als öffentliches Gebäude betont. Der Giebel mit Schweifwerk lehnt sich an die Gestaltung barocker Bürgerhäuser an und ist damit ein frühes Beispiel für eine Mode, die sich z.B. in einem Haustyp von Theodor Fischer in der Arbeitersiedlung Gmindersdorf363, in einer Hausgruppe der Arbeitersiedlung Essen-Margarethenhöhe von Georg Metzendorf364 oder auch in einem Reihenhaus von Richard Riemerschmid in der Gartenstadt Dresden-Hellerau365 fortsetzt. Interessanterweise beklagt der Siedlungsforscher und Heimatschützer Gustav Langen 1922 die Unländlichkeit von Mansarde und geschweiftem Steingiebel an der Golenhofener Gastwirtschaft.366 Hieraus spricht wiederum der Wunsch, das Dorf von allen vermeintlich städtischen Einflüssen fernzuhalten und ein als ländlich interpretiertes Bild architektonisch zu fixieren. Der Architekt Paul Fischer selbst legt dagegen – weil das Wirtshaus für ihn ein fester Bestandteil des deutschen Dorfes ist – Wert auf eine entsprechende herausgehobene Gestaltung: „Breit und einladend soll es an der besten Verkehrstelle hingelagert sein, von außen leicht als solches erkennbar und bequem zugänglich. Die architektonisch nicht undankbare Aufgabe hat zu einer großen Zahl sehr ansprechender Lösungen geführt.“367 Nur bei den Gasthäusern im Neuen Niederrheinischen Dorf ist kein bäuerlicher Gehöftcharakter zu erkennen. Das große „Wirtshaus zum Tanzdrickes“ ist ein monumentaler Saalbau, der durch seine Aufschrift und die vorgelagerte Terrasse von seiner Funktion als Wirtshaus kündet (Abb. 206-208). Trotz seiner symmetrischen Anlage, die durch den mittigen Dachreiter betont wird, stehen hier im Gegensatz zu den streng klassizistischen Gebäuden im Ort eher dekorative Elemente im Vordergrund. Das zeigen die zwei unterschiedlichen Dachausbauten (man beachte wiederum den mehrfach geschweiften Giebel wie in Golenhofen, der hier als originär niederrheinisch bezeichnet wird)368, das große Segmentbogenfenster zur Ter- 363 364 365 366 367 368 Haustyp 12, sog. Meisterhaus von 1905, Theodor-Fischer-Straße 20, vgl. Howaldt 1982, S. 341. Dreihäuser-Gruppe in der Steilestraße, Ecke Winkelstraße (hier sogar mit Volutenverzierung) von 1909, vgl. Metzendorf 1920, S. 12. Reihenhaus am Markt um 1910, vgl. Arnold 1993, S. 333. Vgl. Langen 1922, S. 102. Fischer 1911, S. 28. Vgl. Menne-Thomé 1980, S. 260. 218 Haus und Hof – die Dorfgebäude rasse, den Dachreiter und den halbrunden Erker am Küchentrakt.369 Die niederrheinische Weinschenke und die gegenüberliegende alkoholfreie Wirtschaft wirken dagegen zumindest durch ihre Eingeschossigkeit und ihre flachen Walmdächer ländlicher (Abb. 209-214). Die Architekten Max Stirn und Otto Müller-Jena betonen auch, das die Gebäude durch die Verwendung des Ziegelsteins an niederrheinische Bauernhäuser angelehnt und ganz für ländliche Verhältnisse entworfen seien.370 Auch hier laden Wirtshausschilder auf den Dächern (bei der alkoholfreien Wirtschaft wird dabei bewußt an niederrheinische Zopfarchitekturen erinnert)371 und die jeweils vorgelagerten überdachten Terrassen den Spaziergänger zu einem Umtrunk ein. Bei der Weinschenke sorgt ein polygonaler Erkervorbau für eine weitere Sitzgelegenheit. Die Gebäude erhalten jedoch durch ihre axiale Gliederung, die regelmäßigen Pfeiler- bzw. Säulenstellungen und die geschlossenen Walmdächer eine klassizistisch-strenge Prägung. Die Gosenschänke im IBA-Dorf in Leipzig, ein Jahr früher entstanden, erinnert mit ihrer niedrigen Anlage und dem flachen Walmdach an die zwei zuletzt genannten Wirtshäuser auf der Werkbund-Ausstellung (Abb. 182, 183). Statt vorgelegter Terrassen ist hier jedoch ein durch offene Arkadengänge abgetrennter Hof für Sitzgelegenheiten im Freien vorgesehen. Im Gegensatz zur vergleichsweise bescheidenen Gosenschänke ist das benachbarte Gasthaus ein mächtiger Vertreter seiner Art (Abb. 179-181). Vom Dorfplatz wirkt er durch seine dreiteilige Fassadenstruktur und den mittigen rundbogigen Eingang wie ein bäuerliches Vierseitgehöft. Da das Gebäude ganz ohne rechte Winkel auskommt, erweckt es den Anschein eines im Laufe der Zeit entstandenen Gebäude-Ensembles. Ein eisernes Wirtshausschild am Eingang stellt einen Bauern dar, der, von zwei Bäuerinnen flankiert, in lustigen Sprüngen den Weg zum Wirtshaus nimmt.372 Auch hier bieten verschieden geformte Eckerker zusätzliche Sitzgelegenheiten und lockern die platzseitige Fassadenansicht auf. Der Heimatschützer Otto Winter lobt den Gasthof als ganz und gar ländlich: Er führe „den Typus eines alle guten Geister der Gemütlichkeit wachrufenden dörflichen Gasthauses sinnfällig vor Augen“, „eines Gasthofes, wie sie zur Väterzeit unsere Dörfer zierten und Wegmüden, wie Unterhaltung Suchenden eine ebenso einladende wie behagliche und gastliche Erholungsstätte boten“.373 Gerade durch die gewollten, übertriebenen Unregelmäßigkeiten, die bäuerlichen Motive und die von Winter beobachteten „kräftigen Farbenkontraste“ (seiner Meinung nach eine Entsprechung zum „primi- 369 370 371 372 373 Der Architekt Franz Brantzky wird im Gegensatz zu seinem Antipoden Metzendorf als volkstümlich und poetisch denkend beschrieben. Seine Bauten würden dabei vorwiegend aus malerischen Agglomerationen bestehen. Vgl. dazu Menne-Thomé 1980, S. 334f. Vgl. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 49 und 53. Vgl. ebd., S. 53. Vgl. Winter 1913a, S. 746. Vgl. Winter 1913c, S. 26. Haus und Hof – die Dorfgebäude 219 tiven Farbengefühl des Landbewohners“374), kann es indes eben kein originär ländliches Gasthaus sein. Daß es für Städter bestimmt ist, die hier etwas betont „Bäurisches“ vorfinden sollen, bemerkt Otto Winter: „Sobald man sich, wie das jahrzehntelang geschah und heute noch geschieht, für Landgasthofprojekte das kleine Stadthotel als Vorbild nimmt, so zwingt man dem Bau Fremdes, Unheimatliches und Falsches auf. Diejenigen unter den Besuchern, die als Touristen, Radfahrer und dergleichen den Städten der näheren und ferneren Umgebung entstammen, suchen im Falle des sich Erholenwollens alles andere, nur nicht nach einem städtischen Hotel.“375 Der wichtigste Raum im Inneren ländlicher Gasthöfe ist die Gaststube, die laut Ernst Kühn nicht zu groß gemacht werden sollte, damit bei geringer Benutzung kein unbehaglicher Zustand entstehe.376 Mit Ausnahme der Gasthöfe in den Ausstellungsdörfern, die sowieso auf größere Besucherzahlen zugeschnitten sind, sind die Gaststuben in den besiedelten Dörfern tatsächlich nicht größer als ein mittlerer Wohnraum und daher für kleine Einwohnerzahlen ideal. Der Saal dagegen, der in jedem der Gasthöfe seinen festen Platz hat, ist für größere Festlichkeiten oder Versammlungen bestimmt. Er solle laut Kühn unabhängig vom Gastraum eingerichtet werden, damit beide Betriebe sich nicht gegenseitig stören.377 Während Saal und Gaststube in Neu-Berich und im IBA-Gasthof durch eine Tür voneinander getrennt sind (Abb. 136, 180), befinden sich in Neu-Bringhausen der Flur, in Golenhofen Küche und Nebenräume dazwischen (Abb. 14, 138). Da die Küche das eigentliche Zentrum der Gastwirtschaft darstellt, solle sie auch von allen Teilen des Gasthofbetriebs schnell und möglichst unbemerkbar erreicht werden.378 Die Übernachtungsräume für das reisende Publikum sind, laut Kühn, in einem ruhigen Teil der Anlage unterzubringen.379 In den untersuchten Dörfern haben nur Neu-Bringhausen und Golenhofen eine kleine Anzahl Fremdenzimmer, die jeweils im Obergeschoß bei den Schlafräumen der Wirtsfamilie liegen. Für das Fuhrwerk der Gäste müsse an den Einbau eines zusätzlichen Gaststalles (bei größeren Wirtschaften auch eine Kutscherstube) gedacht werden.380 In Neu-Bringhausen war vermutlich im hauseigenen Stall ein eigener Bereich für Gastpferde zu finden. In Golenhofen sind fünf besondere Pferdeboxen als „Fremdenstall“ ein- 374 375 376 377 378 379 380 Winter 1913a, S. 746. Die Farbfassungen von Gasthof und Kirche stoßen jedoch nicht auf ungeteilte Zustimmung. Der Leipziger Architekt Max Krämer durchblickt ihren Zweck, „bäuerlich“ zu wirken und kritisiert sie als „schreiende Malerei, die wohl die Farbenfreude des Bauern symbolisieren soll, zum mindesten aber in der Dorfkirche ein anderes Gefühl auslöst, als das der Ruhe und Beschaulichkeit“. Krämer 1913, S. 552. Winter 1913a, S. 748. Vgl. Kühn, Bd. 3, 1915, S. 98. Vgl. ebd., S. 92. Vgl. ebd., S. 100 Vgl. ebd., S. 106. Vgl. ebd., S. 94 und 96. Haus und Hof – die Dorfgebäude 220 gerichtet. Sie sind über einen offenen Unterstand erreichbar, der das Gefährt vor Regen schützt und von außerhalb des ummauerten Hofareals erschlossen werden kann. Eigens eingerichtete Kaufläden befinden sich nur im IBA-Dorf und im Gasthaus Golenhofens. Gerade in den östlichen Provinzen des Reiches ist es üblich, daß ein kleiner Kramladen mit der Gaststätte verbunden ist.381 Dieser befindet sich in einem kleinen Eckzimmer des Hauses und kann über einen eigenen Eingang an dessen Giebelseite betreten werden. Paul Schultze-Naumburg beklagt, daß mit der Korrumpierung des Bauernhauses auch alle anderen Glieder des Dorfes verkommen seien, so z.B. die Kaufläden.382 Der Stadtbauinspektor Karl Meyer aus Kiel kritisiert deren übergroße Schaufenster, die das gesamte Erdgeschoß einnähmen, mit Reklamen bepflastert seien und damit großstädtische Vorbilder nachahmten: „Betrachtet man ein solches Geschäftshaus im einzelnen, so wirkt es, weil es eigentlich jedem natürlichen, gesunden Aufbau Hohn spricht, recht häßlich.“383 Der Laden im Wirtshaus Golenhofen fällt von außen nicht auf, weil sein Fenster den anderen Erdgeschoßfenstern gleicht (Abb. 13-15). Im IBA-Dorf haben wir es dagegen mit einem bewußt als Geschäftshaus konzipierten Reihenhaus zu tun, das neben einer Fleischerei eine Obstweinschänke mit Obstverkauf, ein Café mit Kuchenverkauf und eine Kümmelapotheke unterbringt (Abb. 184-186). Zum Platz hin führen einfache Eingänge in die Geschäfte, die noch in den Plänen durch große, segmentbogig geschlossene Sprossenfenster belichtet werden. Ausgeführt werden jedoch kastenartig eingebaute Holzfenster, die auf Konsolen gestützt sind, nach außen vorkragen und dem Straßenverkauf von Waren dienen. Außer Innungs- und Wirtshausschildern sowie einem steinernen Rindskopf an der Ecke der Fleischerei verunstalten keine Reklamen die Fassadenansicht. Ein solcher Geschäftsbau hat in bäuerlichen Dörfern keine Existenzgrundlage. So ist denn die eigentliche Absicht des Gebäudes, den Besucher daran zu erinnern, „daß er sich auf der IBA befindet und daß er gut tut, sich vor dem Weiterwandern durch einen kräftigen Schluck zu stärken“384. 381 382 383 384 Vgl. Sohnrey 1908, S. 322. Sohnrey kritisiert diese Verbindung jedoch, weil dadurch der Anreiz zum Trinken von Alkohol in der Gaststube nahe rücke. Er schlägt daher die Einrichtung von Läden in einem Gemeindehaus und die Anlage von alkoholfreien Reformgasthäusern vor. Vgl. Schultze-Naumburg 1908, S. 111. Vgl. Meyer 1914, S. 122. Meyer zieht bereits wirtschaftliche Gründe heran, indem er auf die Sonntagsausflügler und Sommergäste anspricht, wegen derer aus „realen und idealen Gründen“ gröbliche Verunstaltungen vermieden werden sollen. Der Tourismus gilt ihm nicht mehr als Geißel, sondern als ökonomische Kraft. Leipziger Tageblatt Nr. 229 vom 08.05.1913 in: StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 153. Haus und Hof – die Dorfgebäude 221 2.3.4. Gemeindehäuser „Wozu auch die Geldmittel für Monumentalbauten vergeuden, wenn für die dörflichen Bedürfnisse ein schmuckes kleines Haus hinreicht?“385 Bei Gemeindehäusern handelt es sich um genossenschaftlich genutzte Häuser, die je nach dörflichem Bedarf unterschiedlich genutzt werden. Mit Ausnahme der Ausstellungsdörfer findet sich ein solches gemeinschaftlich genutztes Haus in jedem untersuchten Dorf. Das entspricht der Klage Robert Mielkes über die Mißachtung genossenschaftlicher Bauten. Er hofft, daß Gemeinschaftsbauten wie Wasch- und Backhäuser in den Dörfern wieder zu neuem Leben erwachen.386 Daher hält er es für bedeutsam, diese zentral im Ort zu plazieren.387 Zentral im Ort wird in Böhmenkirch das abgebrannte Backhaus wiederaufgebaut (Abb. 66-68). Obwohl praktische, baupolizeiliche und ästhetische Gründe für einen Wiederaufbau an anderer Stelle sprechen, entscheiden sich die Gemeindekollegien für seinen alten Platz an der Vorderen Gasse in direkter Nachbarschaft zu Theresia Schieleins Haus. Seine Wände werden aus feuerpolizeilichen Gründen massiv errichtet, sein einfaches Satteldach mit Biberschwänzen belegt. Das Haus ist zweckhaft-schlicht gestaltet durch einfache Holztüren, ein Dachhaus mit Laden für die Einlagerung von Holz auf dem Dachboden und einen offenen, durch eine Säule abgestützten Vorraum. Einzig der unproportional hohe Schornstein stört die Gestaltung des kleinen Nutzbaus, der sich durch seinen hellen Verputz gut ins Dorfensemble einfügt. Hinter dem offenen Vorraum befindet sich die kleine Backstube und ein Backraum mit zwei Öfen. Der zweite Eingang ins Haus führt zu einer Remise, die vermutlich der Einlagerung weiterer Gerätschaften und Materialien für den Backvorgang enthält.388 Auch in jedem der drei Waldecker Dörfer ist ein Gemeindehaus mit verschiedenen Nutzungen eingerichtet. Sie alle befinden sich jedoch nicht, wie Mielke rät, in der Ortsmitte, sondern sind in größerem Abstand dazu errichtet. Einzig in Neu-Berich war die Zentrumslage des Gemeindehauses am Dorfplatz neben der Gastwirtschaft erwünscht, wurde jedoch letztlich durch die Enge der Parzellen nicht ausgeführt.389 Alle Gemeindehäuser sind quergeteilt und enthalten in den Erdgeschossen drei verschiedene Funktionszonen. In Neu-Bringhausen befindet sich hinter dem erdgeschoßhohen Sockel aus Bruch- und Sandsteinen ein kleiner Stall, die Viehwaage und eine Feuerspritze für eventuelle Brandfälle (Abb. 133). Im Gemeindehaus Neu-Asels sind auch Viehwaage und Feuerspritze untergebracht, dazu kommt hier jedoch eine kleine gemeinschaftliche Backstube (Abb. 134). 385 386 387 388 389 Rebensburg 1913, S. 101. Vgl. Mielke 1910a, S. 261. Vgl. ebd., S. 234. Zur Anlage von Backöfen vgl. Issel 1901, S. 87-96. Vgl. StA Marburg, Best. 607, Nr. 272, Bl. 100. Haus und Hof – die Dorfgebäude 222 Im Neu-Bericher Gemeindehaus befindet sich neben Spritze und Backstube ein besonderer Baderaum, der für alle Bewohner gleichermaßen geöffnet war (Abb. 131, 132). Wie dieser genau eingerichtet war und ob er regelmäßig frequentiert worden ist, ist nicht mehr zu ermitteln. Da man sich bis ins frühe 20. Jahrhundert auf den Dörfern höchstens in Schüsseln oder am Brunnen wusch, ist ein Gemeinschaftsbad wie in Neu-Berich oder ein Brausebad in der Schule Neu-Bringhausens als großer Fortschritt zu werten.390 In Neu-Berich ist im Obergeschoß des Gemeindehauses eine kleine Wohnung für den Gemeindediener Rettberg und seine Frau eingerichtet. Dagegen ist in den Obergeschossen der Häuser in Neu-Bringhausen und Neu-Asel jeweils eine kleine Armenwohnung integriert. Hier wird also auch der Fürsorgepflicht gegenüber in Armut geratenen Gemeindemitgliedern Genüge getan. Auch Ernst Kühn glaubt, „daß es ernste Pflicht ist, seinen Mitmenschen, die durch Not und Bedrängnis in diese üble Lage gekommen sind, beizustehen und das Notwendigste, was zu einem Unterkommen gehört, zu bieten. Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, sollen die Wohn- und Nebenräume eines den Armen zu Wohnung dienenden Hauses menschenwürdig und in ihrer Haltung nicht abstoßend und schändend für die Bewohner sein.“391 Auch die Gestaltung der Gemeindehäuser lehnt sich durchaus an die Gesamtgestaltung der Dorfanlagen an. Gerade die massiven Erdgeschosse mit Fachwerkgiebel und -kniestock in Neu-Berich und Neu-Bringhausen fügen sich zusammen mit den Ziegeldächern gut in das Ensemble der Dörfer ein. In Neu-Asel erinnert zudem der gedrungene Dachreiter, der auf die Gehöfte hinabblickt, stark an den Kirchenbau, wie er im alten Dorf Asel stand. Direkt an der Kreuzung im Dorfzentrum steht auch in Golenhofen ein genossenschaftlich genutztes Haus. In dem eingeschossigen Bau mit niedrigem Walmdach ist ein Backhaus integriert (Abb. 17, 18). Dies wird jedoch laut Schwochow nicht genossenschaftlich genutzt, sondern von einem Bäcker betrieben.392 Daneben sind ein Spritzenhaus, ein Waschhaus, zwei öffentliche Baderäume und ein Abort zu betreten. Hinter dem Haus werden in einem hölzernen Anbau die Kohlen für Wasser und Backofen eingelagert, während vor dem Haus unter einem hölzernen Anbau die Dorfwaage aufgebaut werden kann. Mit dem Gemeindehaus in Golenhofen drückt sich der Wille der Ansiedlungskommission aus, die Bewohner zur genossenschaftlichen Zusammenarbeit zu verpflichten und sie da- 390 391 392 Vgl. dazu Großmann 1986, S. 170. In Neu-Berich konnte das Bad zudem durch die Wärme des benachbarten Backofens beheizt werden. In keinem der Gehöfte Neu-Berichs ist ein eigener Baderaum vorgesehen. Nach Aussagen der Bewohner wusch man sich in Badekübeln oder Waschschüsseln in der Küche oder Futterküche. Kühn, Bd. 1, 1915, S. 133f. Vgl. Schwochow 1908, S. 32. An der Bäckerei ist der Spruch zu lesen: „Das Beste, was der Mensch genießt, ist doch das liebe Brot, und wo man das einmal vermißt, herrscht allergrößte Not.“ Haus und Hof – die Dorfgebäude 223 mit zu einer engen Gemeinschaft zu verbinden.393 Die beiden Baderäume machen das reformerische Bestreben nach allgemeiner Gesundheitspflege im Dorf deutlich. Ästhetisch gesehen ist das Gemeindehaus das einzige Gebäude in Golenhofen, das aus unverputztem Backstein besteht und damit dem Dorf eine weitere bauliche Variante hinzufügen will. Obwohl es sich mit seinem Falzziegeldach und seiner geringen Größe gut ins Dorfensemble einfügt, grenzt es sich von den verputzten oder fachwerksichtigen Gebäuden im Ort eindeutig ab. Zwar sind einige Felder unterhalb der Fenster mit einem hellen, an die anderen Gebäude angelehnten Zierputz versehen. Trotzdem orientiert es sich durch Materialverwendung und Segmentbogenform der Fenster an die Mode des späten 19. Jahrhunderts – einem von den Heimatschützern kritisierten Backsteinbau mit Zierelementen. Interessant ist, daß alle besiedelten Dörfer mehr oder weniger multifunktionale Gemeindehäuser besitzen, die alle Dorfbewohner zur Arbeit zusammenrufen, zum gemeinsamen Bakken und Waschen animieren und in manchen Dörfern sogar ein Bad zur Verfügung stellen. Mit den dörflichen Gemeinschaftsbauten soll der drohenden Vereinzelung der Dorfbewohner damit im Sinne Mielkes entgegengearbeitet werden. Das Gemeindehaus gibt dem sozialen Gefüge des Dorfes einen weiteren Mittelpunkt – und sorgt damit für die Stabilität der Dorfgemeinschaft. 2.3.5. Schmieden „Seit alters gibt die Dorfschmiede dem Ortsbild einen gewissen intimen Reiz.“394 Heinrich Rebensburg beschreibt die Huf- und Wagenschmiede als wichtigstes technisches „Institut“ in jedem Dorfe.395 Im IBA-Dorf ist die Schmiede direkt am Kirchweihplatz gelegen und an das Geschäftshaus angebaut (Abb. 139). Diese exponierte Lage neben Kirche und Schule verwundert allerdings bei einem reinen Wirtschaftsgebäude. Auch Mielke möchte die Schmiede nicht in Kirchennähe sehen, da die vor der Schmiede sich ansammelnden Wagen und Ackergeräte oft zu einem Verkehrshindernis würden.396 Es verwundert auch, daß die Schmiede aus Feuerschutzgründen nicht massiv und als Einzelbau aufgeführt ist – eine Vor393 394 395 396 Auch in Golenhofen wird der Fürsorgepflicht Genüge getan, indem zwei Armenhäuser (Stellen 7 und A) errichtet werden. Wagener 1913, S. 105. An folgendem Zitat wird deutlich, daß Wagner bei der Betrachtung des Schmieds einer dörflichen Handwerkerromantik erliegt: „Dem Schmied, dem rauhen und kunstfertigen Eisenbezwinger, vermutlich dem ersten Handwerker der Menschheitsgeschichte, haftet seit immer im Auge des Volkes etwas Geheimnisvolles an. Er kann mehr als andere, und ein Blick in seine glutdurchleuchtete, geheimnisvolle Werkstatt mit seiner klingenden Hammermusik ist in der Tat dazu angetan, ihm ein Geheimwissen anzudichten. So war und ist zuweilen bis auf den heutigen Tag der Schmied nicht nur als Kurpfuscher, wie der akademisch gebildete Arzt sagt, und Pferdedoktor geschätzt, sondern er versteht sich auch auf das Besprechen des Feuers und auf andere rätselhafte Dinge, die mehr erfordern als die Kunst, Brot zu essen.“ Vgl. Rebensburg 1913, S. 142. Vgl. Mielke 1910a, S. 267. Haus und Hof – die Dorfgebäude 224 schrift der Bauordnungen.397 Das nährt die Vermutung, daß das IBA-Dorf keine Anlage ist, die einer wirklichen Umsetzung entgegensieht, sondern die den anreisenden Städtern ein idyllisches Bild eines ländlichen Dorfes bieten will, das aber aus praktischen Gründen nie existieren wird. Massiv und mit Abstand zu anderen Gebäuden sind stattdessen die Schmieden in NeuBerich, im Neuen Niederrheinischen Dorf und in Golenhofen geplant. Alle Schmieden haben einen offenen, auf Stützen ruhenden Vorraum gemein, unter dem der Schmied im Freien Tiere beschlagen und große Geräte reparieren kann. Dazu paßt die Aussage Mielkes, daß man bei der Dorfschmiede von einem Typus sprechen könne, „jedenfalls bildet der sinngemäße und praktische Vorbau eine künstlerische Bereicherung des Dorfes.“398 Auch Wagener setzt sich dafür ein, daß es für solcherart gestaltete Schmieden eine Zukunft gibt: „Das bekannte Bild der Dorfschmiede mit ihrem Unterstandsdach für die zu beschlagenden Tiere, dem breiten, einen Einblick auf die Essen gestattenden Eingang, ihren kleinen Fenstern und der Tränkgelegenheit, möglichst beschattet von einem alten Baum, sollte […] in alter Form seine Geltung behalten.“399 Die künstlerisch anspruchsvollste Schmiede ist im Neuen Niederrheinischen Dorf zu finden (Abb. 215). Zwar vollzieht auch sie den Typus eines massiven Gebäudes mit offenem Vorraum nach. Dieser ist jedoch aufwendig mit drei Stützen in Form von stilisierten ionischen Säulen gestaltet. Dazu kommt ein Giebel, der mehrfach geschweift und mit Voluten geziert ist. Ein Innungsschild, an einem hölzernen, ebenfalls mit Voluten geschmückten Träger angebracht, zeigt ein springendes Pferd mit rahmendem Hufeisen. Leider notiert der Architekt Metzendorf nicht, warum er gerade einem funktionalen Nutzbau solch architektonische Würdeformeln angedeihen läßt, wo er in seinen Wohnhausbauten eher klassizistisch-streng gestaltet. Der Deutsche Werkbund verschreibt sich jedoch einer künstlerischen Veredelung von Architektur und Kunstgewerbe und Metzendorf versieht auch einen anderen Nutzbau im Dorf, das Transformatorenhaus, mit besonderen Anleihen: Stufengiebeln. Zu vermuten ist bei der Schmiede daher ebenfalls eine spielerische, allein für die Ausstellung vorgesehene künstlerische Bearbeitung, die gerade bei einfachen Nutzbauten (im Gegensatz zu Wohnhäusern) zwanglos vorgenommen werden kann. Das Besondere am Entwurf der Schmiede in Golenhofen ist, daß ihr hinter dem üblichem Schmiederaum und dem offenem Vorbau die kleine 4-Raum-Wohnung des Schmieds angehängt ist (Abb. 19, 20). Das Gebäude ist massiv aus teilweise verputztem, teilweise unverputztem Backstein errichtet. Baldauf und Hecker empfehlen den Rohbau bei Schmieden, da er 397 398 399 Vgl. z.B. Hinz 1911, S. 57. Vgl. zur Notwendigkeit massiver Schmieden auch Baldauf/Hecker 1911, S. 16. Mielke 1910a, S. 266. Wagener 1913, S. 105. Haus und Hof – die Dorfgebäude 225 im Inneren als Schutz gegen Beschädigung, im Äußeren als Schutz gegen Spritzwasser diene.400 Trotz ihrer einfachen Funktionalität ist auch diese Schmiede durch den grob gestalteten Feldsteinsockel, Fensterläden und Dreiecksgaube, aber auch den breiten, als „malerisch“401 bezeichneten Schornstein oder die rundbogigen Türen bewußt künstlerisch durchgebildet. 2.3.6. Transformatorenhaus „Das Bestreben geht vielmehr [...] dahin, mitzuwirken, daß wieder nach Stammesart und Charakter, d.h. bodenständig gebaut wird. Diese Erfordernisse sind auch bei völliger Berücksichtigung aller technischen Fortschritte der Neuzeit zu erfüllen. Letztere sollen nur mit den heute vergessenen und doch unersetzlichen Vorzügen der alten Bauweise vereinigt werden.“402 Es spricht für die Modernität des Neuen Niederrheinischen Dorfes, daß als Hinweis auf die künftige Stromversorgung eines Dorfes ein Transformatorenhaus errichtet wird (Abb. 216). Der Heimatschutz kann sich weder der Industrie, noch der einhergehenden Elektrifizierung des Landes verschließen. So wird auch bei funktionalen Zweckbauten zumindest auf die äußere Gestaltung im dörflichen Ensemble geachtet. Das macht auch der Umstand deutlich, daß Georg Metzendorf selbst das Gebäude entwirft. In Backstein errichtet ist es zwei Geschosse hoch und erhält durch einen Stufengiebel ein trutziges und wehrhaftes Aussehen.403 Der Stufengiebel taucht auch über der hinteren Einfahrt des Kleinen Gehöftes auf und ist an Backsteingehöften am Niederrhein durchaus bekannt, wie ein Foto aus dem Katalog zum Dorf – ein Backsteingehöft im Kreise Moers – zeigt.404 2.4. Einzelelemente der Dorfgebäude 2.4.1. Baumaterialien „Der altheimische Baugedanke enthält die Aufforderung, nur in gutem Material, das der Gegend eigentümlich ist, solid und wetterfest zu bauen und in sachlicher Hinsicht das Vollkommenste zu tun.“405 „Keine Frage dürfte bisher zu solch häufigen Mißverständnissen geführt haben, als: sollen wir Putz- oder Rohbau bevorzugen?“406 Die Beantwortung dieser für die Heimatschutzbewegung zentralen Frage wird von der Region abhängig gemacht, in der sie gestellt wird. Die verwen400 401 402 403 404 405 406 Vgl. Baldauf/Hecker 1911, S. 16. Vgl. Entwurf zum Neubau einer Schmiede in Gollenzewo 1907, S. 416. Pinkemeyer 1910, S. 15. Die Schweif- und Stufengiebel werden in einem Aufsatz von Friedrich Wilhelm Bredt zu rheinischen Bauweisen an niederrheinischen Backsteingehöften exemplarisch vorgeführt. Der Aufsatz ist ein Teil der Publikation: Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 111-136, die Abbildungen sind auf den Seiten 131, 133 und 135 zu finden. Ebd., S. 135. Lux 1911, S. 81. Pinkemeyer 1914, S. 18. Vgl. auch Schmidt 1911, S. 11-14. Haus und Hof – die Dorfgebäude 226 deten Baustoffe müssen nämlich vor allem bodenständig sein und sich damit an die örtliche Tradition und die Eigenart der Landschaft anpassen. Sie sollen solide und von handwerklich guter Qualität sein.407 Alle Materialien, die nicht in das einheitliche Bild einer regionaltypischen Bauweise passen, werden daher rigoros abgelehnt. Der Ziegelrohbau etwa verbreite sich über das ganze Land und werde mittlerweile fast flächendeckend verwendet: „Die schauerliche Oede eines solchen Gebäudes soll dann durch die vorgestreckten Ziegel und Gesimse unterbrochen werden, was den Eindruck nur noch trauriger und dem Zuchthaus ähnlicher macht.“408 Allein in den Gegenden Deutschlands, in denen der Ziegel traditionell angewendet wird, wird er von den Heimatschützern akzeptiert und sogar als „vortreffliche Bauform“ gelobt.409 Das Neue Niederrheinische Dorf ist ein solches Beispiel, das nur aus Rohziegelbauten besteht und damit bewußt an die bodenständige Bauweise des Niederrheins seit dem 18. Jahrhundert anknüpft. „Materialehrlichkeit“ kennzeichnet dadurch das Dorf – ein Begriff, der nicht nur die Arbeit des Deutschen Werkbunds, sondern auch die Vorstellungen des Heimatschutzes bestimmt. Jegliches Verblenden und Vortäuschen soll, mit Blick auf den gründerzeitlichen Historismus, ausgeschlossen werden.410 Nicht nur im Neuen Niederrheinischen Dorf jedoch wird der Ziegel verwendet. Auch in allen anderen Dörfern, in Böhmenkirch und Golenhofen sowie in den Waldecker Dörfern wird, obwohl der Baustoff hier nicht regionaltypisch ist, ein großer Teil der Gebäude zumindest im Erdgeschoß aus verputzten Ziegeln hergestellt. Der massive Bau wird also für landwirtschaftliche Bauten, besonders für Ställe, allgemein und überregional bevorzugt. Das liegt vor allem an seiner Solidität, wie aus den Akten zum Aufbau Böhmenkirchs hervorgeht.411 Aber auch die Angst vor der Brandgefahr führt zum Bau von massiven Erdgeschoßwänden. Der reine Fachwerkbau wird dagegen von den Bauordnungen aus Gründen der Feuersicherheit weitgehend verhindert.412 Zwar ist der Massivbau auch teurer als der Holzbau, wie Schrader deutlich macht.413 Trotzdem kommt er auch dort zur Anwendung, wo traditionell andere Baumaterialien vorherrschen, wie in den Waldecker Dörfern der Holzbau und in Böhmenkirch der Kalkstein. Obwohl also die Heimatschützer zur Verwendung bodenständiger Baustoffe aufrufen, kommen sie in den Dörfern nicht gegen den maschinell hergestellten Ziegel an. Eine zweckmä407 408 409 410 411 412 413 Vgl. dazu auch Schmidt 1905, S. 159 und Kühn 1903, Vorwort. Schultze-Naumburg 1908, S. 61. Vgl. ebd. Vgl. Schaefer 1906, S. 6 und: Das niederrheinische Dorf 1914a, S. 4. Vgl. z.B. KA Göppingen, 714.4, Bund 1, S. 16, 25a oder 29. Vgl. Hinz 1911, S. 68 und Sohnrey 1900, S. 265. Vgl. Schrader 1909, S. 2f. Haus und Hof – die Dorfgebäude 227 ßige Kombination aus Sparsamkeit, Solidität und Feuersicherheit bestimmt also den Dorfbau und verhindert den Gebrauch bodenständiger Materialien. Bei den genannten Dörfern werden aber zumindest die Obergeschosse, Giebel und Drempel, in Golenhofen auch manche Anbauten, aus mit Ziegel gefülltem Holzfachwerk hergestellt. Dies verbillige die Siedlungsbauten beträchtlich, wie der Heimatschutz-Architekt Philipp Kahm glaubt. Es sei ein ganz verkehrter Standpunkt, ländliche Bauten durch übertriebenen Massivbau unnütz teuer zu machen. Er plädiert daher für ein Erdgeschoß aus Bruchoder Ziegelstein und ein Obergeschoß aus Fachwerk414 – also genau die Konstruktion, wie sie in den Waldecker Dörfern, Böhmenkirch und Golenhofen am häufigsten vorkommt. So durchgängig der Ziegel als reines Baumaterial also verwendet wird, so konsequent wird er sofort verputzt. Alle für die Neuansiedlungen zuständigen Architekten halten sich daran, einen Ziegelrohbau nicht in Gegenden zu zeigen, in denen dieser nicht zum traditionell üblichen Baumaterial gehört. In den Heimatschutz-Kreisen werden Putzbauten hochgeschätzt, vor allem in ästhetischer Hinsicht. Heller Putz sei „freundlich“415 und „immer hübsch in seinem Gegensatze zum roten oder grauen Dache, den dunkeln Fenstern und ihren bunten Läden und zum umgebenden Grün“.416 Gleichzeitig sei gerade Kalkputz aber auch „dauerhaft“ und „kostengünstig“.417 In den Baubeschreibungen zum Dorf Neu-Berich nennt der Architekt Meyer detailliert die verschiedenen Materialien, mit denen die Siedlung Neu-Berich aufgebaut wird und die auch Neu-Bringhausen und Neu-Asel bestimmen.418 Hier ist von Bruchsteinen und Bruchsandsteinen die Rede, die in der Nähe des Dorfes für die Sockel gewonnen werden, von Lehm, Holz und Kalkmörtel.419 Abgesehen vom Ziegel ist auch in Böhmenkirch und Golenhofen das Holz der Hauptbaustoff, in Golenhofen kommt noch Feldstein für die Sockel dazu. Es sind dies die einzigen Materialien, die dem, was in den einzelnen Regionen als „bodenständig“ bezeichnet wird, entsprechen. Ein Zitat Paul Fischers beleuchtet vortrefflich das Dilemma eines Architekten, der bodenständig bauen möchte, aber nicht mehr die Möglichkeit dazu hat: 414 415 416 417 418 419 Vgl. Kahm 1914, S. 19, 22 und 56. Auch Engel/Schubert empfehlen diese Bauart, weil sie am „zweckmäßigsten und hübschesten“ sei. Vgl. Engel/Schubert 1911, S. 489. Schultze-Naumburg 1908, S. 61. Gradmann 1910, S. 135. Vgl. Schmidt 1911, S. 13, Schultze-Naumburg 1908, S. 61f und Kahm 1914, S. 24f. Kahm hält den Putz sogar für noch billiger als den Ziegelrohbau, bei dem die Ziegelverblendung, das Abwaschen und Ausfugen derselben noch mehr kosten würden als der Putzbau. Engel/Schubert sehen im Verputz den zusätzlichen Vorteil, daß er die Wände wärmer und wasserdicht mache und Gelegenheit biete, minderwertigere, d.h. billigere Ziegelsteine zu verwenden. Vgl. Engel/Schubert 1911, S. 489. Diese detaillierte Aufzählung der Materialien und ihrer Verwendung verrät nach Neumann eine solide handwerkliche und baumeisterliche Grundkenntnis des Architekten. Vgl. Neumann 1996, S. 100f. Vgl. Meyer 1923, S. 31, 32 und 34 sowie die Baubeschreibungen zu den einzelnen Gehöften. Haus und Hof – die Dorfgebäude 228 „Mit der Anknüpfung an bodenständige Bauweise ist es nun ein schlimmes Ding in der Ostmark. Holz, Stroh und Lehm sind die ursprünglichen heimischen Baumaterialien. Leider hat sich aber die Überlieferung ihrer guten Anwendung im ländlichen Bauhandwerk so gut wie verloren. Block-, Bohlen- und Fachwerkhäuser setzen eine Holzbeschaffenheit und Holzbilligkeit voraus, die es nicht mehr gibt. Gegen Strohdächer haben Baupolizeiverordnungen und Feuerversicherungen einen Jahrzehnte langen Vernichtungskrieg geführt, der erst jetzt zu einem vorsichtigen Waffenstillstand gekommen zu sein scheint. Und die Herstellung der ausgezeichneten Lehmwände gilt als viel zu zeitraubend, um auch nur versuchsweise in Frage zu kommen, sodaß auch diese Technik auszusterben droht.“420 Damit bleiben laut Fischer als bodenständige Baumaterialien nur Granitfindlinge für die Fundamente, die gebrannten Ziegelsteine für die Mauern, Ziegelpfannen für die Dächer, Holzfachwerk und Verbretterung für die leichten Bauten.421 Daneben benutzt er jedoch auch Industrieerzeugnisse wie Dachpappe, Zement- und Kalkkunststeine sowie Zementestrich für den Aufbau der Ansiedlungshäuser.422 Grundsätzlich ist er Industrieprodukten gegenüber negativ eingestellt: Wenn sie eingesetzt würden, dann verliere sich das „gesunde Empfinden für gute Bauweise“ sofort und drücke den Bauten leicht den „Stempel der Dürftigkeit“ auf. Er relativiert jedoch seine Aussage, indem er deutlich macht, seine Worte richteten sich nicht gegen die Industrieprodukte selbst, sondern nur gegen „ihre widersinnige und geschmacklose Anwendung“.423 Auch in Böhmenkirch werden keine Kalksteinfundamente mehr angelegt, wie es noch in den alten Häusern üblich war. Die neuen Gehöfte erhalten bis zur Sockelhöhe Fundamente aus Beton.424 Die Waldecker Dörfer bestehen ebenfalls zum Teil aus industriell hergestellten Materialien. So ist die innere Einrichtung der Ställe Neu-Berichs in Beton und Eisen ausgeführt, eine Asphaltfolienpappe wird als wagerechte Isolierschicht in die Gebäude eingezogen und dem Kalkmörtelputz für die Außenwände ist Zement zugesetzt.425 Neue Materialien für das ländliche Bauwesen werden auch auf den Bauausstellungen der Zeit vorgestellt, wie das Gehöft im Dorf der IBA Leipzig beweist (Abb. 187-191). Sein Schweinestall besteht teilweise aus dem neuen Baumaterial Tekton.426 Allein in seinem Kuhstall werden verschiedene Bauweisen und Stalleinrichtungen gezeigt, die z.B. eiserne Säulen und Träger mit darin eingespannten Hourdis (Ziegelsteine mit Hohlräumen) vorstellen, aus 420 421 422 423 424 425 426 Fischer 1911, S. 25. Vgl. Fischer 1911, S. 25. Vgl. ebd. und Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, S. 34, 35 und 39. Vgl. Fischer 1911, S. 25. Die Dachpappe ist für ihn ein positives Beispiel. Sie seien zwar teurer, müßten aber nur etwa 40-45 cm stark sein, 20-25 cm schmaler also als Kalksteinmauern. Im übrigen seien Betonmauern schneller herzustellen und beschleunigten den Wiederaufbau. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 9, S. 14f. Vgl. Meyer 1923, S. 34 und Baubeschreibung in den Bauakten. Vgl. Führer durch die landwirtschaftliche Sonderausstellung 1913, S. 45-47. Haus und Hof – die Dorfgebäude 229 Betonsäulen mit daran angeschraubten Korkplatten bestehen oder die Betonpfosten mit Eiseneinlage und Schlackenbetondielen, Falzpappen oder Lehmdrahtwände präsentieren.427 Grundsätzlich ist die Heimatschutzbewegung industriell gefertigten Baustoffen gegenüber sehr kritisch eingestellt, da die Industrie verführerische Angebote auf Materialien mache, die die alten, bodenständigen Baustoffe aus dem Felde schlügen: „Kein Wunder, wenn unter solchen Umständen der Faden der Tradition zerrissen ist und nun die Neubauten wie Fremdlinge unter den Altbauten dastehen, Dorf und Stadt, Feld und Wald und See entstellend.“428 Trotzdem kann die Heimatschutzbewegung modernen Baustoffen nicht mehr grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen: „Das schließt nicht aus, daß in Gegenden, wo Werksteinarbeiten oder Tonerzeugnisse und dergl. schwer, oft gar nicht erhältlich sind, Ersatzstoffe aus Zement oder Eisen, also Erzeugnisse der modernen Technik Anwendung zu finden haben.“429 Auch Mielke glaubt an die Verbindung von neuen mit alten Baumitteln. Veralterte Baustoffe wie die Plagge oder der Luftziegel künstlich zu erhalten, das wäre „erstarrte Bedürfnislosigkeit“.430 F.L.K. Schmidt faßt die Position des Heimatschutzes zusammen: Die Heimatschutzbewegung verhalte sich keinem neuen Baustoff gegenüber grundsätzlich ablehnend, sondern fördere dessen Behandlung nach künstlerischen Gesichtspunkten.431 So argumentiert auch Altenrath, der Heimatschutz dürfe nicht die neuen Baustoffe beanstanden, sondern „die schlechte Kunst, die ihnen diene“.432 So tolerant und fortschrittsfreudig sie hier auch argumentieren, so theoretisch bleiben diese Beteuerungen der Heimatschützer. Faktisch werden im konkreten Entscheidungsfall immer die althergebrachten Materialen wie Holz, Ziegel oder Stein als zweckmäßiger, schlichter, natürlicher und billiger bevorzugt. Gerade die grundsätzlichen Ausführungen F.L.K. Schmidts zur Akzeptanz neuer Baustoffe enden letztlich immer mit der Empfehlung altbewährter Baustoffe, da nur sie einer künstlerischen Prüfung standhielten.433 Moderne Baustoffe werden nur dort zugelassen, wo sie nicht zu sehen sind oder das „bodenständige“ Gesamtbild 427 428 429 430 431 432 433 Vgl. Führer durch die landwirtschaftliche Sonderausstellung 1913, S. 5. Tekton wird hier bezeichnet als aus Holz bestehend, das nach seiner Längsfaser in eine künstliche Masse von hoher Bindekraft untrennbar fest eingebunden werde, wobei das Holz die Zugspannung, die Masse die Druckspannung aufnehme. Das Material werde in Dielen, Balken und Wandkörpern verschiedener Art hergestellt. Sie Tektonbauteile seien in hohem Maße tragfähig, hochisolierend und gleichzeitig porös. Vgl. Meyer 1914, Vorwort. Kühn 1906, Vorwort. Vgl. Mielke 1910a, S. 50f und Schmidt 1911, S. 3. Vgl. Schmidt 1911, S. 16. An der künstlerischen Weiterbildung neuartiger Baustoffe habe die Heimatschutzbewegung dasselbe Interesse wie die betreffenden Industrien. Vgl. Altenrath 1914, S. 31. Gradmann kritisiert vor allem die modernen Materialien, die edlere Baustoffe nachahmten, wie Spiegelscheiben, Rolläden, Blechveranden, Verblendziegel oder Zinktafeln an den Wänden, Zement- oder Glasurfalzziegel auf den Dächern. Vgl. Gradmann 1912, S. 32. Vgl. Schmidt 1911, z.B. S. 4, 5, 11, 14 und 16. Haus und Hof – die Dorfgebäude 230 eines Hauses nicht zu stören vermögen. So sind auch die modernen Baustoffe in den untersuchten Dorfanlagen am Außenbau in der Regel nicht zu entdecken. 2.4.2. Fachwerk „Läßt sich doch gerade bei den Landbauten mit wenigen Mitteln und schon in bescheidenen Grenzen durch die Anordnung des Fachwerks eine wirkungsvolle, gediegene und doch einfache Fassade ausbilden, um das wieder zu erhalten, was früher vorhanden war – nämlich den Charakter des ‚Ländlichen’“.434 Das Fachwerk gilt in Heimatschutzkreisen als wichtige bodenständige Bauweise. Das Dorf erhalte durch den Baustoff Holz einen fast „urzeitlichen“435 Charakter. So sei das Fachwerk zu der Zeit entstanden, als die Römer mit den germanischen Ländern dauernd in Verbindung getreten seien, glaubt Mielke. Einige Zeilen später behauptet er jedoch, daß die reiche künstlerische Entwicklung in einzelnen deutschen Gebieten vermuten ließe, daß das Fachwerk auch ohne römische Hilfe entstanden sei.436 Mit dieser unbelegten These begründet er die Verwendung des Fachwerks als älteste und ursprünglichste Bauform für das ländliche Bauwesen. Es sei daher „einer der stärksten Träger unserer Wohnkultur“.437 Es zeichne sich durch eine technisch bewegliche Formgebung aus, die die Möglichkeit berge, ein Haus unendlich verschiedenartig auszubilden, ohne dabei seinen Typus zu verwischen.438 Besonders die Ästhetik des Fachwerks kommt in den Heimatschutz-Theorien immer wieder zur Sprache: Es habe einen wesentlichen Anteil an der „malerischen und traulichen“439 Gestaltung der Dörfer, sorge für klare Verhältnisse und verkörpere Kraft, Stärke und Anmut.440 Durch das Fachwerk werde überdies die große Fläche der Hauswand, die das Auge unwillkürlich zuerst aufsuche, gemildert und in ihrer unmittelbaren Schroffheit gebrochen.441 Mit Blick auf das gründerzeitliche Fachwerk wird jedoch seine rein dekorative Verwendung kritisiert. Das Fachwerk dürfe kein bloß schmückendes Ornament sein. Dagegen solle die Konstruktion des Wandaufbaus immer nachvollziehbar bleiben:442 „Will man ernstlich einen schönen Fachwerksbau erhalten, so muß man alle Geschmacksverirrungen und Spielereien, wie Abfasern der einzelnen Hölzer, Vorspringen derselben vor den 434 435 436 437 438 439 440 441 442 Schrader 1909, Vorwort und S. 12. Vgl. Mielke 1905a, S. 9. Vgl. Mielke 1910a, S. 35. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wird also die Holzbauweise als vermeintlich „urgermanisch“ angesehen, was Ende der 20er-Jahre eine noch nationalere Bedeutung erhält. Vgl. Imhof 1996, S. 513. Mielke 1910a, S. 35. Ebd., S. 36. Vgl. Hinz 1911, S. 68. Vgl. Schultze-Naumburg 1908, S. 51 und Mielke 1905a, S. 9. Vgl. Mielke 1910a, S. 101. Vgl. ebd., S. 38-41. Haus und Hof – die Dorfgebäude 231 Putz, Anbringung von Laubsägearbeiten und gedrehten Knöpfen etc. vom Bau ferne halten, da solche nur die Ausführung unnötig verteuern und die Wirkung beeinträchtigen.“443 Schlichte Fachwerkkonstruktionen, die dem einfachen Bauernhaus entlehnt sind, werden als „zeitlose“ Bauformen interpretiert und angepriesen. Damit nehmen sich die Heimatschützer wiederum auch die englische „Arts and Crafts“-Bewegung zum Vorbild, die bereits seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts an die anonyme Architektur des englischen Bauernhauses anknüpfen und besonders im Wohnhausbau das einfache Fachwerk zu neuer Blüte führen.444 Für wie bedeutsam das Fachwerk auch im bäuerlichen Siedlungsbau im Deutschen Reich gehalten wurde, zeigen mit Ausnahme der beiden Ausstellungsdörfer alle untersuchten Dorfanlagen. Trotz der großflächigen Verwendung des Ziegels kommt fast keines der Gebäude ganz ohne aus. Die Waldecker Dörfer sind am meisten von Sichtfachwerk beeinflusst – vom Architekten bewußt in Anlehnung an die regionaltypische Bauweise geplant. Meyer schreibt über die Anlage Neu-Berichs: „Die Bauart der Gehöfte ließ sich in glücklichster Weise lösen. Alt-Berich war in dem für Waldeck bodenständigen Fachwerk erbaut und die Ansiedler äußerten selbst den Wunsch, auch ihre Neubauten in heimischer Bauweise errichtet zu sehen.“445 Die Fachwerkhölzer dieser Gebäude sind durchgehend gleich stark, nämlich 20 cm. Für den Architekten Kahm ist diese Stärke der in der Wand sichtbaren Balken ein Mindestmaß: „Alle dünneren Hölzer zerstören die Wirkung eines urwüchsigen Fachwerks und erwecken den Eindruck des Zimperlichen und Gekünstelten.“446 Bei allen neu erbauten Wohnhäusern der Dörfer ist das Fachwerk der Obergeschosse gegen das Erdgeschoß vorgekragt, wobei die Balkenköpfe und Füllhölzer zwischen ihnen profiliert sind.447 Die kleinen Winkelhöfe, die Einhäuser und die Wirtschaftsgebäude der Dörfer zeigen ein einfaches Rasterfachwerk aus Ständer/Riegel-Konstruktionen, die nur zum Teil durch eineinhalb gefachhohe Streben oder durch Strebe/Gegenstrebe-Verbindungen an den Eckständern ausgesteift werden (Abb. 132, 142, 145, 147, 161). Das Fachwerk bleibt also rein konstruktiv und wird durch keinerlei Zierden geschmückt. Anders ist es bei einigen der öffentlichen Gebäude sowie den großen Gehöften NeuBerichs. Andreaskreuze, zum Teil gebogen und genast, Rauten aus Winkelhölzern oder die 443 444 445 446 447 Kahm 1914, S. 63. Vgl. Imhof 1996, S. 168-177. Meyer 1923, S. 34. Kahm 1914, S. 60. Nur die wiederaufgebauten Fachwerkwände sind aus sind noch aus stärkeren Balken gefertigt. Vgl. Meyer 1923, S. 34. Profilierte Gesimsbretter werden auch von dem Architekten Kahm als Vermittlung zwischen den einzelnen Geschossen vorgeschlagen. Vgl. Kahm 1914, S. 60. 232 Haus und Hof – die Dorfgebäude „Mannfigur“448 schmücken den Kirchturm der Neu-Bringhäuser Kirche, den Dachreiter auf dem Gemeindehaus in Neu-Asel, die Spitze des Giebeldreiecks der Schule Neu-Berichs oder die Gaststätte in Neu-Bringhausen (Abb. 117, 127, 134, 137). Im Gegensatz zu der schlichten Fachwerkbehandlung der meisten Gehöfte sind die Wohnhäuser der offenen Dreiseithöfe am Ortseingang um einiges schmuckvoller gestaltet. An den repräsentativen Seiten der Häuser, sprich an Hof- und Straßenseite ist das Fachwerk laut Meyer „in angemessener Abwechslung mit Zierkreuzen gefüllt“449 (Abb. 156, 158, 163). Hier waren also auch die finanziellen Möglichkeiten vorhanden, um ein repräsentativeres Fachwerk anzulegen. Als bevorzugte Zierelemente werden unter den Fenstern Rauten aus Winkelhölzern, Reihungen von Fußbändern oder Fußwinkelhölzern (gerade oder gerundet mit Nase) oder Andreaskreuze angebracht. Zwischen den Fenstern werden Streben oder Strebe/Gegenstrebe-Konstruktionen verwendet, beim Gehöft Zimmermann II sogar eine Spielart der sogenannten „Mannfigur“ mit sich überkreuzenden Kopf- und Fußstreben – so, wie sie auch im südwestdeutschen Fachwerk häufig zu finden sind.450 In den drei Waldecker Dörfern kommt damit eine große Varianz unterschiedlicher Zierformen zum Einsatz, die jedoch auf die einzelnen Gebäude recht sparsam verteilt sind. Ganz im Sinne der Heimatschutzbewegung ist die Freude am Ornament also nur sehr reduziert umgesetzt und verhüllt nicht die eigentliche Konstruktion des Fachwerks. In Golenhofen wird mit weitaus weniger Fachwerk gearbeitet, da der verputzte Massivbau häufiger zur Anwendung kommt. Trotzdem taucht an vielen Gehöften Fachwerk auf, und sei es nur, um ein Wandstück oder eine Giebelspitze zu dekorieren. Die Scheunen bestehen zum größten Teil aus Fachwerk und sind mit einfachen Rasterkonstruktionen und langen Diagonalstreben errichtet, häufig jedoch vollständig verbrettert (z.B. Abb. 21, 27, 32). Mit viel Sichtfachwerk arbeitet der Architekt an den Stellen 40, 16 und 17. Hier lockern sogar Andreaskreuze und kurze geschweifte Streben die einfachen Konstruktionen auf (Abb. 21, 24, 47, 49). Paul Fischer setzt in Golenhofen häufig Fachwerkformen nur als schmückendes und die Wandfläche gliederndes Beiwerk z.B. in den Spitzen der Giebeldreiecke, in Abschleppungen oder auf Fassaden ein (Abb. 12, 39, 43, 46). So lobt ein Beobachter: „Jedes der einfachen, verputzten Wohnhäuschen, mit teilweise ausgespartem Balkenwerk oder sparsamer Holzverschalung, verrät gleichfalls aussen und innen den künstlerischen Sinn seines Erbauers...“451 448 449 450 451 Die Bezeichnung „Wilder Mann“ oder „Mannfigur“ entsteht aufgrund der Ähnlichkeit von Ständer, Fußund Kopfwinkelhölzern mit einem Menschen mit gespreizten Armen und Beinen. Vgl. zu den verschiedenen „Mannfiguren“ Halfar 1993, S. 136. Meyer 1923, S. 34. Vgl. z.B. Binding 1977, S. 90f. Warlich 1906, S. 535. Haus und Hof – die Dorfgebäude 233 Obwohl in Böhmenkirch die Obergeschosse, Drempel und Giebel fast ausnahmslos in Fachwerk erstellt werden, ist aus klimatischen Gründen nur ein kleiner Teil davon als Sichtfachwerk belassen. Es taucht als Schmuck vor allem in den straßenseitigen Giebeln der Gehöfte immer wieder auf. Entweder ist es als einfache Ständer/Riegel-Konstruktion ausgeführt (Abb. 93, 95, 100). Gern werden diagonal gestellte Balken eingesetzt, die ein rautenförmiges Muster bilden (Abb. 97, 85). Obwohl in Böhmenkirch das sparsam verwendete Sichtfachwerk als Fassadenschmuck intendiert ist, ist es ein konstruktives Element des Wandaufbaus. In allen untersuchten Dorfanlagen ist das Fachwerk sehr einfach gehalten. Es besteht in der Regel aus Rasterfachwerk oder damit kombinierten aussteifenden Diagonalstreben. Das entspricht den Wünschen der Heimatschutzbewegung, vom gründerzeitlichen Fachwerk mit seiner Fülle an Schmuckformen hin zu einem reduzierten und funktionalen Fachwerk zu kommen. Solch ein einfaches Rasterfachwerk taucht auch in anderen Siedlungen der Zeit auf, wie z.B. in Gmindersdorf und Dresden-Hellerau. Regionaltypische Fachwerkformen lassen sich besonders in Böhmenkirch und Golenhofen jedoch nicht herausarbeiten. Einzig der Architekt Meyer plant bei den großen Gehöften und öffentlichen Gebäuden Schmuckformen im Fachwerk, die Grundformen des von Heinrich Walbe so genannten „hessisch-fränkischen“ Fachwerks sind.452 Fußstreben und Fußwinkelhölzer kommen ebenso wie Rauten, Andreaskreuze und „Mannfiguren“ in der „hessisch-fränkischen“ Hauslandschaft in verschiedenen, häufig abgewandelten Formen vor.453 Zu Hause sind sie auch im nordhessischen Raum, wie Halfar für die Region Wolfhagen belegt.454 So hat der Architekt Meyer aus den zahlreichen Zierfachwerkformen die gängigsten Grundformen musterhaft zusammengefaßt, um sie in reduzierter Form und an jedem Wohnhaus der offenen Dreiseithöfe in anderer Ausprägung und Zusammenstellung anzubringen. Gerade den strukturell identischen Höfen verleiht er damit individuelle Züge, kopiert jedoch keinen historischen Fachwerkbau, sondern trägt dem Wunsch der Heimatschützer nach Einfachheit Rechnung, indem er nur zitathaft Versatzstücke dieser Fachwerkformen zeigt. Zusammenfassend unterscheidet sich das Fachwerk der verschiedenen Dörfer in konstruktiver Hinsicht nicht grundlegend voneinander und ist mit Ausnahme der wenigen Zierformen in 452 453 454 Vgl. Walbe 1979, S. 397-409. Gerner nennt in Bezug auf Walbe als Abgrenzung des „fränkischen“ Fachwerkgebietes im Norden Diemel und Werra. Im Osten greife es bis nach Thüringen hinein, im Süden bis zum Neckar, später, sich ausbreitend, bis nach Württemberg. Im Westen bilden Nahe, Mosel und Sieg eine ungefähre Grenze. Hessen liegt also mitten in dem bezeichneten Gebiet, Neu-Berich an dessen Nordrand. Vgl. Gerner 1983, S. 26. Vgl. Das Bauernhaus im Deutschen Reiche 1906, S. 223, 227-230 und z.B. Binding 1977 samt Abbildungen, S. 134-135 und 138-157. Vgl. Halfar 1993, S. 132-142. Haus und Hof – die Dorfgebäude 234 den Waldecker Dörfern keiner bestimmten Region einwandfrei zuzuordnen.455 Den Architekten der untersuchten Dörfer kommt es also nicht darauf an, in der Region beheimatete Formen exakt nachzubauen. Das Fachwerk ist deutlich als moderne Konstruktionsform zu erkennen und setzt sich damit auch bewußt von verspielten gründerzeitlichen Fachwerkformen ab. Ein einfaches und zweckmäßig gehaltenes Fachwerk gilt dagegen um die Jahrhundertwende gerade im Wohnhausbau und besonders auf dem Lande als Schmuck von heimat- und naturverbundenen Bauten. Die Fachwerkinschriften Ein wesentliches Schmuckelement in Golenhofen und den Waldecker Dörfern ist die Fachwerkinschrift. Der Architekt Meyer notiert: „Jeder Ansiedler suchte sich aus besonders beschafften Spruchbüchern einen Weihespruch für sein Gehöft aus, der in vertiefter Schnitzarbeit an dem aus Kiefern-, Lärchen- oder Eichenholz gezimmerten Fachwerk des Wohnhauses angebracht wurde.“456 In den Waldecker Dörfern sind sie jeweils in die Stockschwelle des Obergeschosses eingeschnitzt und weiß nachgezogen. Ihr Inhalt rangiert von christlichen Segenssprüchen („Nicht Kunst, nicht Fleiß, nicht Arbeit nützt, wenn Gott der Herr den Bau nicht schützt“) über allgemeine Lebensweisheiten („Ein fröhlich Herz, ein friedlich Haus, machen das Glück des Lebens aus“) bis zu nationalistischen Anklängen: „Deutsches Haus, deutsches Land, schirm’ es Gott mit starker Hand“457 (Abb. 152, 158, 163, 165). In Golenhofen sind die Sprüche nicht direkt im Fachwerkbalken, sondern mit dunkler Farbe in die Balkenfelder geschrieben.458 Neben christlichen und allgemeinen Segenssprüchen kommen hier ebenfalls solche mit nationalistischem Inhalt hinzu: „Der Kaiser führt das Schwert, der Bauer führt den Pflug, und wer nicht beide ehrt, der ist ja wohl nicht klug.“459 Am Stallgebäude der Stelle 40 steht sogar passend zum Anbringungsort ein bäuerlicher Rat geschrieben: „Eine Kuh, die Gutes frißt, gibt gute Milch und guten Mist“460 (Abb. 53). Zwei Beobachter der Dörfer loben die Anbringung von Hausinschriften als „schöne alte Sitte“, die von dem „frommen“ und „gesunden“ Sinn der Ansiedler zeuge und an den „reichen Schatz altdeutscher Spruchweisheit“ erinnere.461 Tatsächlich zeigen sich mit den Hausinschriften beide Architekten eines Brauches kundig, der in ganz Deutschland regional unterschiedlich verbreitet ist.462 Hessen bildet jedoch 455 456 457 458 459 460 461 Vgl. dazu auch Imhof 1996, S. 510-513. Meyer 1923, S. 34. Vgl. zu den verschiedenen Sprüchen auch Völker 1913, S. 19. Vgl. Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, S. 38f. Vgl. zu weiteren Inschriften Schwochow 1908, S. 29. Ebd. Vgl. Schwochow 1908, S. 29 und Völker 1913, S. 19. Haus und Hof – die Dorfgebäude 235 ein Verdichtungsgebiet, besonders im nordhessischen Bereich kommen sehr viele Hausinschriften vor.463 Sie empfehlen das Haus und die Geschicke seines Besitzers Gottes Schutz und künden dem Vorübergehenden von der Lebenseinstellung des Bewohners.464 Schon im alten Dorf Berich trugen Wohnhäuser und Wirtschaftsgebäude Hausinschriften, die von dem Lehrer Adolf Voigt vor dem Abriß der Gebäude aufgeschrieben wurden.465 Obwohl Fischer sich mit seinen Fachwerkinschriften im Grunde an die Traditionen in der Provinz Posen anlehnt, wie Carl I. Johannsen aufzeigt,466 werden die Haussprüche jedoch nicht bloß als regionaltypische Zitate gesehen. Das macht Heinrich Sohnrey in Bezug auf die Ansiedlungsdörfer in Posen und Westpreußen deutlich: Er kritisiert schon im Jahre 1897, daß an den Gehöften der Ansiedlungskommission das „specifisch Volkstümliche“ nicht zum Ausdruck komme: „So habe ich z.B. nicht ein einziges Haus gefunden, über dessen Hausthür ein guter, sinniger deutscher Hausspruch gegrüßt hätte.“467 Nicht nur die Gehöfte Golenhofens selbst, auch deren Sinnsprüche sollen also an eine „typisch deutsche“ Tradition anknüpfen und im Osten des Reiches verbreitet werden. Im wiederholten Gebrauch von Hausinschriften wird also nicht nur eine Anlehnung an regionale Traditionen intendiert, die im Sinne der Heimatschutzvorstellungen zum Schutz und Erhalt volks- und hauskundlicher Bräuche anhalten. Immer werden diese auch als spezifisch deutsche Traditionen interpretiert. Zudem verleihen die Architekten den Gehöften durch Hausinschriften ein individuelles Merkmal. Schon Gruner schlägt vor, daß „jedes Wohnhaus auf dem Lande an seiner Außenseite irgend ein Wahrzeichen, ein kleines Kunstwerk in Holz, Stein oder Eisen erhalten“ sollte, „das ihm eigentümlich ist und einzig dasteht“. Hier erinnert er an die Hausinschrift, „die sich in ernster oder heiterer Weise an den Vorübergehenden wendet und häufig in witziger Form eine Art Gedankenaustausch mit ihm anspinnt, oder ein Wort der Gottesfurcht und des Gottvertrauens ihm zuruft“.468 Die Heimatschützer beziehen sich dabei gerne auf Wilhelm Heinrich Riehl, der die Hausinschriften ebenfalls als schöne deutsche Sitte lobte: „Dieser Hausschatz 462 463 464 465 466 467 468 Vgl. Nachtigall 1985, S. 11. Vgl. Halfar 1993, S. 153-158. Auch Heßler 1904, S. 33-35 und Opfermann 1911, S. 184-186 erwähnen Hausinschriften als bedeutende Elemente am hessischen, bzw. waldeckischen Bauernhaus. Opfermann schreibt auf S. 184: „Das Gemüt, das Denken und Fühlen unsrer Vorfahren äußert sich nirgendwo ursprünglicher und tiefer als in den Hausinschriften.“ Vgl. Walbe 1979, S. 427 und 431. Vgl. Voigt 1914, S. 167f. Vgl. Johannsen 1906, Neudruck 1990, S. 43. Sohnrey 1897, S. 86. Gruner 1896, S. 198. Haus und Hof – die Dorfgebäude 236 deutscher Spruchverse ist in seiner Art nicht minder reich an lauterem Golde, wie das eigentliche Volkslied.“469 2.4.3. Die Giebelbehandlung „Gemischte Wandverkleidung eines Hauses erzeugt malerisch-eigenartige Wirkung.“470 In den besiedelten Dorfanlagen sind viele der Giebel besonders an der Westseite der Gebäude verkleidet, um die dünnen Fachwerkwände vor der Durchfeuchtung mit Schlagregen und Treibschnee zu schützen und zusätzlich zu isolieren.471 Trotz dieses rein funktionalen Zwekkes beurteilt die Heimatschutzbewegung die Verkleidung der Giebel in erster Linie unter ästhetischen Gesichtspunkten. Kahle Brandmauern und Seitengiebel müßten nämlich unbedingt vermieden werden. Die hölzerne Verbretterung von Giebeln soll dagegen für eine weitere „echt ländliche Bauweise“ sorgen, mit der sich „recht nette Reize“ erzielen lassen.472 Neben dem Holz werden auch Schiefer und Ziegel als Alternativen empfohlen.473 Die „angenehm mildrote Farbe“ des Ziegels verbinde sich mit den Formen zu einem sehr „wirkungsvollen Liniensystem“.474 Dagegen werden Industrieprodukte scharf kritisiert: „Weiße und häßlich bläulich-graue Zementplatten, deren unverwüstliche Farbe auch ein jahrelanger Schmutz nicht tilgen kann, deren Trennungslinien wie ein hartes Drahtgewebe über die Fläche gespannt sind. Es gibt wirklich keinen besseren Beweis für das Sinken des Kunstgefühles von der Lebhaftigkeit einer Volkskunst zu dem öden Prinzip der Industrieerzeugnisse, wenn man von den gleich häßlichen Blechplatten absieht, die sich von Mitteldeutschland wie eine Pest verbreiten.“475 In den neu errichteten Dorfanlagen werden jedoch keinerlei Blech- oder Zementplatten an den Giebeln angebracht. In Golenhofen sind viele Giebel ganz oder teilweise mit Holz verbrettert (z.B. Abb. 9, 25, 39, 54, 58). In Böhmenkirch sind die Verbretterungen seltener, da das Fachwerk in der Regel verputzt wird und keines weiteren Schutzes bedarf. Neben den einfach verbretterten Giebeln der Zwerchhäuser Theresia Schieleins und Josef Griesers (Abb. 87, 90) bilden die Gehöfte des Theodor Hiller eine große Ausnahme, denn hier sind alle Giebel vollständig mit breiten Stirnbrettern versehen und mit Schablonenmalereien farbig gefaßt (Abb. 72, 73, 75, 77, 80). Eine Verbretterung der Wettergiebel ist durchaus üblich auf der Ostalb, 469 470 471 472 473 474 475 Vgl. Riehl: Die Familie. 2. Aufl., Stuttgart und Augsburg 1855, S. 188. (=Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik Bd. 3). Zit. bei Sohnrey 1900, S. 267 und Tegernsee 1913, S. 22. Schwindrazheim 1913, S. 60. Vgl. Schubert 1910, S. 24. Vgl. Hinz 1911, S. 69 und Pinkemeyer 1910, S. 54, der von einer Belebung der Ansichtsflächen durch die Verbretterung der Giebelspitzen spricht. Vgl. Schwindrazheim 1913, S. 57-60 und Kahm 1914, S. 49. Vgl. Mielke 1910a, S. 62 und Schultze-Naumburg 1908, S. 99f. Mielke 1910a, S. 62. Haus und Hof – die Dorfgebäude 237 wie aus einer Oberamtsbeschreibung von Neresheim aus dem Jahre 1872 hervorgeht.476 Genauso häufig kommt jedoch der das Fachwerk überdeckende Putz vor.477 Alle Architekten haben sich also im Sinne des Heimatschutzes der bodenständigen Bauweise auf der Alb angepaßt. Hiller schafft es jedoch durch die eigenwillige Kubatur seiner Gebäude, die Verbretterung sowie deren bunte Bemalung (die in dieser reichen Form an historischen Gehöften der Hochalb sicherlich nicht üblich war) aus der Gruppe der Planer herauszustechen und seinen Bauten eine „charaktervolle Individualität“478 zu verleihen. Auch in den Waldecker Dörfern sind sehr viele Gebäudegiebel als Wetterschutz, sicherlich aber auch aus ästhetischen Gründen verkleidet. Vor allem die Wirtschaftsgebäude erhalten eine einfache Giebelverbretterung. Dagegen sind die meisten Giebelseiten der neu erbauten Wohnhäuser mit Ziegelpfannen oder Biberschwänzen belegt. Manchmal ist nur die Giebelspitze bedeckt, manchmal zieht sich die Verkleidung bis ins erste Geschoß hinunter (Abb. 112, 145, 150, 156). Dem Behang mit Biberschwänzen gibt Alfred Schubert den Vorzug, weil er „verschiedenartige und schön wirkende Ausführungen“ gestatte.479 Im Neuen Niederrheinischen Dorf findet man eine Wandverkleidung mit Ziegelpfannen nur am Arbeitergruppenwohnhaus und an der Schmiede (Abb. 215, 227). Alle anderen Giebel zeigen ihren schlichten Backsteinaufbau, sind jedoch teilweise kunstvoll angelegt: So sind die Giebel des Transformatorenhauses und des Kleinen Gehöftes stufenförmig gestaltet (Abb. 216, 222). Die Giebel von Schmiede und großem Gasthof sind wie der Gasthofgiebel in Golenhofen in neobarocker Manier dekorativ geschweift, was Gustav Langen 1922 zu der Kritik veranlaßt, geschweifte Giebel seien unländlich480 (Abb. 13, 206, 215). Tatsächlich kommen diese dekorativen Giebelformen häufiger in Städten als auf dem Land vor. Ihre Verwendung zeugt aber von dem Wunsch vieler Architekten, den schlichten Dorfbauten ein schmuckvolles und individuelles Aussehen zu verleihen. Die Giebelspitze des Kirchturms im Niederrheinischen Dorf ist mit diagonalen Backsteinschichten gemustert, die an rautenförmig gesetzte Fachwerkbalken erinnern (Abb. 200). Trotz ihres kleinen Umfangs werden auch die Arbeiterhäuser mit repräsentativen Giebelaufbauten geschmückt. Konkav über das Satteldach ausschwingende Giebel, die in einem Dreiecksgiebel auf der Spitze enden, betonen das Arbeiterhaus Friedrich Beckers (Abb. 235). Der Giebel des Arbeiterhauses von Camillo Friedrich ist ebenfalls über das Satteldach gezo476 477 478 479 480 Vgl. Schöck 1982, S. 114. Vgl. Lohß 1962, S. 172 und Assion/Brednich 1984, S. 175. Zur Abwehr des Regens werden dem Putz häufig sogenannte „Wetterbretter“ vorgespannt, die horizontal den Giebel entlang laufen und den Regen traufartig ableiten. Baer 1912, S. 434. Vgl. Schubert 1910, S. 24. Langens Kritik bezieht sich konkret auf den Gasthof Golenhofens. Vgl. Langen 1922, S. 102. Haus und Hof – die Dorfgebäude 238 gen, zeigt an der Traufe runde Ausbuchtungen und endet in einem Segmentbogengiebel auf der Spitze (Abb. 217). Außerdem verlebendigen dreieckige Ziegelmusterungen den einfachen Wandaufbau. All diese Giebelformen sind Spielarten von Backsteingiebeln, wie sie am Niederrhein an Bürger- und Bauernhäusern häufig vorkommen und auch in neuen Dörfern an die bodenständige Bauweise der Region anknüpfen sollen.481 2.4.4. Die Farbigkeit der Gebäude „Die alte und wohl berechtigte Tradition unserer Dorfbauten in Mittel- und Süddeutschland zeigt den Putzbau, wobei wohl neben ausschliesslichen Materialfragen die Beobachtung massgebend gewesen ist, dass die weiss oder auch stark farbig getünchten Häuser sehr freundlich aussahen, während dem Ziegelrohbau leicht etwas Düsteres anhaftet.“482 Neben dem Pflanzenschmuck wird allein die Farbe als Dekorationsmittel an Wohnhäusern akzeptiert und entsprechend häufig kritisiert: „Wie viele schöne Straßen- und Naturbilder sind doch schon durch aufdringlich schreiende und widersprechende Farben neuer Eindringlinge total und für immer ruiniert worden.“483 Die Heimatschutz-Theoretiker gehen davon aus, daß die Landbewohner traditionell sehr farbenfreudig gewesen und es daher von alters her gewohnt seien, ihre Gebäude mit kräftigen Farben zu schmücken.484 Diese seien instinktiv der Natur entlehnt.485 So schreibt Mielke über Mitteldeutschland, daß diese sonnige Landschaft auch sonnige Farben bevorzuge und Lux nennt das „leuchtende Blau des Himmels“, „das saftige Grün der Wiesen und Wälder“ oder das „satte Rot, Gelb, Blau unserer Bauernblumen“, in denen die Natur gleichsam künstlerisch schaffe.486 Diese Farbenpracht habe sich traditionell auch auf die ländlichen Gebäude übertragen. Dagegen wird die Farbe Braun als Fassadenfarbe rundheraus abgelehnt, ungebrochene starke Farben dagegen bevorzugt.487 So fordert Sohnrey eine lebhaftere Betonung der einfach und wirkungsvoll gegliederten Massen durch die belebende Macht der Farbe: „Zu verwerfen ist hier aber all dies ‘eisenfarben’, ‘steinfarben’, resedafarben’, viel mehr erfreut ein biderbes Rot, Blau, Grün, ‘wie es aus der Düte kommt’. Zu bekämpfen ist überhaupt die Furcht vor der kräftigen Farbe...“488 481 482 483 484 485 486 487 488 Ein Aufsatz im Katalog des Neuen Niederrheinischen Dorfes stellt manche von ihnen im Bild vor. Vgl. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 123-124, 131, 133 und 135. Schultze-Naumburg 1908, S. 61. Vetterlein 1905, S. 22. Vgl. Mielke 1910a, S. 84, Pinkemeyer 1910, S. 56 und Hinz 1911, S. 80. Vgl. Lux 1911, S. 83. Mielke 1910a, S. 14 und Lux 1911, S. 83. Vgl. Lux 1911, S. 83, Hinz 1911, S. 80 oder Schaefer 1906, S. 6. Sohnrey 1900, S. 266. Haus und Hof – die Dorfgebäude 239 Putzbauten sollen daher einen weißen oder hellgelben Anstrich erhalten und mit einem roten Ziegeldach (wahlweise auch einem blauen Schieferdach) abgeschlossen werden. Dazu sollen grüne Fensterläden und Spaliere als Farbtupfen kommen, weiß für die Fensterrahmen und aus praktischeren Gründen eine dunklere Farbe für die Türen.489 Fachwerkbalken dürfen dagegen auch braun oder schwarz gefaßt, ochsenblutfarben, blau oder auch grün sein.490 So eingeschränkt diese Farbzusammenstellung auch ist, so häufig trifft man sie in zeitgenössischen Neubauten wieder an. Perfekte Beispiele bieten hier die drei Waldecker Dörfer: Die Dächer sind mit roten Ziegeln gedeckt und Meyer erwähnt den weißen Putzton der Gebäude.491 Nach mündlichen Aussagen der Bewohner war der Originalputz der Häuser zumindest in Neu-Berich jedoch nur zum Teil weiß, meist jedoch gelb-weiß, grau-weiß oder rosé-weiß gefaßt.492 Sehr allgemein äußert sich der Architekt zu der von ihm gewählten Fachwerkfarbigkeit: „Die Fachwerkhölzer sind in angemessener Abwechslung alle verschiedenfarbig mit dunkler Oelfarbe gestrichen [...], so daß das Gesamtbild mit dem weißen Putzton der Gebäude, den roten Ziegeldächern sowie den bunten Fachwerkhölzern, Fensterläden und Zäunen ein überaus freundliches ist...“493 Auch in Neu-Asel wird Wert darauf gelegt, die äußere Erscheinung der Gehöfte durch die natürliche Materialwirkung und Freude an der Farbe ansprechend und freundlich zu gestalten. Die Fachwerkhölzer sind in den Dörfern ursprünglich in kräftigen, gedeckten Tönen gestrichen, so z.B. grün, braun, blau oder grau-grün. Die profilierten Balkenköpfe und Gesimsbretter strahlten in kräftigem Rot oder anderen kontrastreichen Farben.494 Diese Farbigkeit des Fachwerks ist auch an historischen Fachwerkbauten in Hessen üblich – der Architekt beweist auch hier seine Kenntnisse der bodenständigen Bauweise und schreibt ausdrücklich, daß das Fachwerk „nach hessischer Art“ bunt gefaßt sei.495 Es ergibt sich aus der Farbigkeit der drei neuen Dörfer ein erstaunlich buntes Bild: Die verschieden bemalten Verputze, Fachwerkhölzer, Balkenköpfe und Fensterläden, die roten Ziegeldächer und das Grün der Pflanzen am Haus versprechen eine leuchtende, farbenprächtig-mannigfaltige Erscheinung – so wie es der Heimatschutz für bäuerliche Bauten auf dem Lande empfiehlt. 489 490 491 492 493 494 495 Vgl. ebd., Schaefer 1906, S. 6, Pinkemeyer 1910, S. 57, Lux 1911, S. 82f oder Kahm 1914, S. 64. Vgl. Schwindrazheim 1901, S. 495, ebd. 1913, S. 61 und Kahm 1914, S. 64. Vgl. Meyer 1923, S. 32 und 34. Bei Renovierungsmaßnahmen seien Originalfarbreste zum Vorschein gekommen, so der Neu-Bericher Ortsvorsteher Werner Tönges (1997). Vgl. Meyer 1923, S. 32 und 34. Über Neu-Bringhausen schreibt er, daß das Fachwerk des Kirchturms durch farbigen Anstrich mit dem äußeren Eindruck der Siedlungsbauten in Einklang gebracht wird; ebd., S. 31. Zu Neu-Asel notiert er einen Ölanstich des Fachwerks in abwechselnden dunklen Tönen. Nach Aussagen des Ortsvorstehers von Neu-Berich, Herrn Werner Tönges (1997). Vgl. Meyer 1913, S. 85. Vgl. zu farbigem Fachwerk auch: Gerner Manfred: Farbiges Fachwerk. Ausfachung, Putz, Wärmedämmung, Farbgestaltung. Stuttgart 1983 und Cramer, Johannes: Farbigkeit im Fachwerkbau: Befunde aus dem süddeutschen Raum. München 1990. Haus und Hof – die Dorfgebäude 240 Von Golenhofen ist leider nicht mehr im einzelnen zu ermitteln, wie die Gebäude gefaßt waren. Der Besucher Hermann Warlich spricht von fein abgestimmten Farbentönen im Dorf.496 Die meisten Gehöfte ebenso wie der Krug in Golenhofen sind wohl ursprünglich schlicht weiß oder hell angelegt, das Gehöft der Stelle 17 erhält einen hellgelben Anstrich.497 Bei der Stelle 16 sind alle sichtbaren Holzteile schwarz, bei der Stelle 17 dunkelbraun gestrichen. Die Außenflächen der Stelle 40 werden „hell“ gefaßt, die Eingangstür ist in hellrot davon abgesetzt. Holzteile werden auch hier schwarz gehalten, während die Dachrinnen und Abfallrohre grün gestrichen sind. Grün sind auch die Dachrinnen des Kruges.498 Fischer scheint demnach in Golenhofen nicht so intensiv mit Farben gearbeitet zu haben wie Meyer in den Waldecker Dörfern. Eine weiße oder helle Wandfassung wird hier kontrastiert mit den roten Ziegeldächern und braunem oder schwarzem Holzwerk. Dazu kommen allerdings kräftige Farbtupfer an einzelnen Bauelementen wie an Türen und Dachrinnen, vermutlich auch an Fensterläden. Obwohl Fischer sich in Golenhofen mit dem Farbenspiel zurückhält, macht er neun Jahre später doch deutlich, wie wichtig ihm das Thema Farbe im Dorfbild ist: „Nicht bloß die Formen, auch die Farben sind in diesem Landschaftsbilde wesentlich. Sie ordnen sich der Gesamtstimmung unter, jeder Mißton würde störend empfunden werden.“499 In Böhmenkirch ist die Farbigkeit der Gehöfte ebenfalls nicht mehr im einzelnen zu rekonstruieren. Man kann jedoch auch hier aufgrund alter Fotos von einem weiß oder hell gestrichenen Putz und weißen Fensterrahmen ausgehen. Daß zumindest im Ortsteil Theodor Hillers ein reichhaltiges Farbenspiel zu sehen gewesen sein muß, belegt ein Zitat C.H. Baers: „Da das Hilfskomitee Einfachheit und Sparsamkeit verlangte, musste jede unnötige Zier vermieden werden. Daher suchte der Architekt den reinen Zweckbauten, die mit Rücksicht auf die besonderen klimatischen Verhältnisse des Ortes in Fachwerk errichtet wurden, durch Barolanstriche der Schalungen, durch Schablonenmalereien an den breiten Stirnbrettern, durch helle, freundliche Putztönung und satte, ungebrochene Farbengebung der Fensterläden charaktervolle Individualität zu geben.“500 Eine einzige farbige Bauzeichnung des Architekten Georg Wachter läßt vermuten, daß auch die anderen Architekten auf eine farbige Gestaltung ihrer Bauten Wert legten. Das Gehöft der Katharina Biegert zeigt nämlich einen hellgelben Putzanstrich, rostrote Fachwerkbalken und grüne Fensterläden. Im Gegensatz dazu ist die farbige Gestaltung des Dorfes auf der IBA zumindest äußerlich schlicht zu nennen. Alle Gebäude erhalten einen hellen, vermutlich weißen Anstrich und 496 497 498 499 500 Vgl. Warlich 1906, S. 535. Vgl. Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, S. 39; Warlich 1906, S. 534 und Ansiedlungsdorf Golenhofen 1908, S. 253. Vgl. Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, S. 38f. Fischer 1911, S. 21. Baer 1912, S. 434. Haus und Hof – die Dorfgebäude 241 weiße Fensterrahmen. Die Farbigkeit beschränkt sich auf das Innere der Gebäude. Die Innenräume des großen Gasthofs ebenso wie Emporen und Decke der Kirche bunt bemalt. Otto Winter beschreibt diese Malereien ganz im Sinne des Heimatschutzes: „Im Stile alter, naiver Bauernkunst sind die Farbenharmonien durchweg auf herzhafte, kräftige Kontraste gestellt. Und das entspricht ja auch dem primitiven Farbengefühl des Landbewohners viel mehr, als wenn man fein nuancierte Farbenabstimmungen anwenden würde.“501 Auch mit der Farbigkeit soll also im IBA-Dorf ein bäuerlich-ländlicher Eindruck künstlich erzeugt werden. Wieder ist es der Architekt Max Krämer, der diese Art der Bemalung scharf kritisiert: „Im Inneren des Dorfgasthofes und der Kirche treffen wir auf eine schreiende Malerei, die wohl die Farbenfreude des Bauern symbolisieren soll, zum mindesten aber in der Dorfkirche ein anderes Gefühl auslöst, als das der Ruhe und Beschaulichkeit.“502 Im Neuen Niederrheinischen Dorf ist durch die Wahl des Rohziegelbaus keine differenzierte Farbgebung möglich. Hier beschränkt sie sich auf eine weiße Fassung der Fugen und Fenster, ebenso wie auf grüne Fensterläden und Türen.503 Diese Farbauswahl bei Ziegelbauten empfiehlt auch die Heimatschutzbewegung.504 Die Farbgebung der einzelnen Dörfer verdeutlicht den Wunsch der Architekten und verantwortlichen Planer, ihnen ein als bäuerlich und ländlich interpretiertes Aussehen zu verleihen. Die Bauern selbst werden an der Gestaltung jedoch nicht beteiligt. 2.4.5. Die Anlage der Dächer „Wollte man die Einzelheiten in der äußeren Erscheinung des Bauernhauses ihrem ästhetischen Werte nach in eine Reihe bringen, so würde zweifellos nicht an die letzte Stelle das Dach des Hauses zu stehen kommen. Es beeinflußt vielmehr sowohl das Aussehen des Hauses als auch das Straßen- und Ortsbild derartig, daß der Architekt seiner Ausbildung stets die größte Aufmerksamkeit wird widmen müssen.“505 Neben der Fassadengestaltung gehört die Gestaltung des Daches, seine Dachneigung sowie das Dachdeckungsmaterial zu einem der wichtigsten Themen der Heimatschutzbewegung. Die Anlage des Daches wird nicht nur für das Aussehen des Hauses, sondern auch für die Wirkung auf das Straßen- und Ortsbild als wesentlich erachtet: „Nichts ist bestimmender für die Erscheinung eines Bauwerkes als das Dach. Unseren Dörfern, unseren Städten hat im wesentlichen das Dach sein Gepräge gegeben: was wir deutsche Bauweise nennen, findet in der 501 502 503 504 505 Vgl. Winter 1913b, S. 210f und ebd. 1913a, S. 746-748. Krämer 1913, S. 552. Die Farbgebung der Türen und Fensterläden kann nicht an allen Gebäuden bewiesen werden. Hier ist jedoch mit Sicherheit zu nennen das Arbeiterwohnhaus von Otto Müller-Jena und das Tagelöhnerhaus von Camillo Friedrich. Vgl. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 84 und 97. Vgl. Pinkemeyer 1910, S. 56f und 103. Hinz 1911, S. 81. Haus und Hof – die Dorfgebäude 242 Dachgestaltung seinen vornehmsten und sinnfälligsten Ausdruck.“506 Der Streit um das steile oder das flache Dach erhitzt im frühen 20. Jahrhundert die Gemüter und spaltet die Lager der Architekten.507 Von den Heimatschützern wird einzig das steile Dach als deutsche und damit „einheimische Bauweise“ akzeptiert. So komme das Flachdach aus dem sonnigen Italien, sei für das deutsche Klima ungeeignet und durch den flachen Dachraum gerade in der Landwirtschaft kaum benutzbar.508 Überdies bringe das hohe Dach auch in ästhetischer Hinsicht die ländlichen Gebäude am ansprechendsten zur Geltung und bewirke eine vollkommene Anpassung an die landschaftliche Umgebung.509 Die abenteuerliche Konstruktion einer kontinuierlichen und zwangsläufigen Fortentwicklung vom Flach- zum Steildach soll ihm auch eine historische Berechtigung geben: „...z.B. wird das flache Dach des griechischen Tempels bei den Römern schon steiler und nimmt bei seiner Weiterentwicklung in seiner Firsthöhe immer mehr zu, bis es im Romanischen und hierauf im Gothischen (unserem rauhen Klima Rechnung tragend) am höchsten wird“.510 Schmidt bemüht überdies auch Gefühlsgründe, die für ein steiles Dach und eine bodenständige Dachdeckung sprechen sollen. In der systematischen Verdrängung des hohen Daches drohe die Gefahr einer „entstellten Heimat“, die ihre Anziehungskraft verliere und die die Heimatliebe mindere: „Alle Vaterlandsliebe aber wurzelt in der Heimatsliebe!“511 Das Steildach und seine heimattypische Deckung wird also als bedeutender Teil deutscher Identität erachtet, die allem „Fremdländischen“ trotzen müsse, um sich selbst zu schützen. Entsprechend sind die Dächer der untersuchten Dörfer ausgeführt. Die Gebäude der Waldecker Dörfer sind von einfachen Sattel- oder Schopfwalmdächern mit einer Dachneigung von etwa 45-50° überfangen. In Böhmenkirch haben die Gehöfte eine Dachneigung von ca. 50°, die Gehöfte von Theodor Hiller sind mit 55-60° noch um einiges höher. Die stärker gebrochenen Dachflächen im IBA-Dorf sind dagegen nur durchschnittlich 40° hoch, während die Dächer des Neuen Niederrheinischen Dorfes diese Höhe mit durchschnittlich 50-55° übersteigen. Der Heimatschutz-Architekt Philipp Kahm empfiehlt eine Dachneigung nicht unter 50°, aber auch nicht über 60°. Mit Ausnahme des IBA-Dorfes halten also alle Architekten die506 507 508 509 510 511 Schmidt 1911, S. 5. Vgl. auch Kahm 1914, S. 68. Vgl. dazu die Ausführungen Knauts 1993, S. 289-293. Vgl. Kahm 1914, S. 28f und Schultze-Naumburg 1908, S. 153-157. Wegen der Witterungsverhältnisse in den hiesigen Breiten müsse es häufig repariert werden. Vgl. Schubert 1910, S. 41 und Meyer 1914, S. 5. Kahm 1914, S. 68f. Pinkemeyer glaubt sogar, das steile Dach sei eine urdeutsche Bauweise: Die Germanen hätten bis zur Völkerwanderung in Erdhöhlen gelebt, die durch steile Dächer vor dem Wetter geschützt waren. Nach der Seßhaftwerdung hätte sich das steile Dach vereinzelt bis in die Gegenwart erhalten. Vgl. Pinkemeyer 1910, S. 53. Nur einige hellsichtige Heimatschützer erkennen, daß die Entscheidung zwischen flachem und hohem Dach auch nur eine Geschmacksfrage ist. Die Begriffe „schön“ und „unschön“ wandelten sich im Laufe der Zeit: Noch im späten 19. Jahrhundert sei das flache Dach für das ländliche Bauwesen bevorzugt worden, da es den Stürmen eine geringere Fläche entgegen setze, weniger Material bedürfe und dem Gebäude ein besseres Aussehen gebe. Vgl. Hinz 1911, S. 8. Vgl. Schmidt 1911, S. 6. Haus und Hof – die Dorfgebäude 243 se Dachneigung ungefähr ein. Dadurch können die Dachgeschosse ausgebaut werden und sind vor allem in den Gehöften als Lager-, Vorrats- und Räucherkammern genutzt. Einzig die Scheunendächer in Golenhofen sind mit Neigungen von nur etwa 15-25° als Flachdächer zu bezeichnen. Da viele von ihnen zusätzlich mit Dachpappe gedeckt sind, müssen sie in den Kreisen der Heimatschutzbewegung auf Mißfallen gestoßen sein. Der Architekt Paul Fischer steht jedoch erstaunlicherweise noch neun Jahre nach dem Bau des Dorfes hinter dieser Entscheidung, hält die Dachpappe für ein wertvolles Baumaterial und empfiehlt, den baulichen Charakter des Hauses an die hierzu nötige flache Dachform anzupassen.512 Mit dieser Meinung ist er nicht allein. Auch Befürworter des hohen Daches halten diese Bauweise zumindest bei untergeordneten Bauten wie Wirtschaftsgebäuden, Schuppen und Kleinscheunen für akzeptabel.513 Selbst für den zweckmäßig denkenden Architekten Friedrich Wagner hat das flache Dach etwas „Fabrikmäßiges“ und „Steifes“. Trotzdem kommt er zu dem Schluß: „Die größere Zweckmäßigkeit der flachen Dächer bei großer Tiefe der Gebäude liegt für den landwirtschaftlichen Bau leider zu sehr auf der Hand, als daß der seinen Beruf ernst nehmende Architekt aus Schönheitsrücksichten daran vorübergehen könnte. Bei diesem Zwiespalt zwischen Schönbau und praktischer Brauchbarkeit muß ganz berechtigt die Zweckmäßigkeit den Sieg davon tragen.“514 Die Dächer der Wohnhäuser und Ställe in Golenhofen sind mit der Dachneigung von durchschnittlich 45-50° dagegen allesamt im von der Heimatschutzbewegung akzeptierten Bereich des hohen Daches angesiedelt. Auch Paul Fischer also hat das Flachdach nur für den untergeordneten Wirtschaftsbau benutzt, während die Hauptgebäude übliche „heimattypische“ hohe Dächer tragen. Moderne Dachverzierungen wie Giebelfiguren oder gemusterte Ziegeldächer werden vom Heimatschutz rigoros abgelehnt.515 Aber auch jede Anhäufung von Türmen, Giebeln, Gauben etc. wirkten laut Kahm nur unruhig und überladen.516 Die Dachform selbst soll so einfach und geschlossen sein, wie es auch vom Grundriß und Wandaufbau eines Hauses erwartet wird. Daher kommen für die Heimatschützer im ländlichen Bauwesen nur die einfachsten Formen des Satteldaches, des Walmdaches und maximal noch des Mansarddaches in Frage.517 Die vollständige oder nur teilweise Abwalmung des Daches wird dabei in ästheti- 512 513 514 515 516 517 Vgl. Fischer 1911, S. 25. Vgl. Schmidt 1911, S. 6, Schubert 1910, S. 41 und Kühn, Bd. 2, 1915, S. 84-86. Wagner 1907, S. 6. Auch Pinkemeyer ist nur beim einfachen Scheunenbau ein Verfechter des flachen Daches. Vgl. Pinkemeyer 1910, S. 53 und 85-87. Vgl. Mielke 1910a, S. 223. Vgl. Kahm 1914, S. 69. Vgl. Baldauf/Hecker 1911, S. 11 plus Abbildungen oder Kahm 1914, S. 68-70. Vgl. auch Engel/Schubert 1911, S. 489: „Das steile [...] Satteldach, mit und ohne Krüppelwalmen, und in einigen Gegenden das heute wieder so beliebte Mansardendach sind die im Laufe von Jahrhunderten für die Erscheinung der Bauern- Haus und Hof – die Dorfgebäude 244 scher Hinsicht favorisiert, da der Walm zu einem Ausgleich zwischen Wand und Dachfläche führe.518 Gerade in der Ebene schaffe die Abwalmung einen fließenden Übergang vom Boden zum Dach, nehme dem Hause seine „fatale Spargeltriebform“ und verleihe ihm eine feste, sichere Massenlagerung.519 Hieraus spricht wieder der Wunsch, das Haus mit der umgebenden Landschaft möglichst verschmelzen zu lassen. Sicherlich führen Kostengründe dazu, daß in den Waldecker Dörfern sowie Böhmenkirch ausschließlich das einfache Satteldach verwendet wird. Die Abwalmung kommt nur selten vor, als Beispiele seien die Schopfwalme bei den Gehöften Zimmermann I und Zimmermann II sowie die Abwalmungen der Gastätte Lösekamm in Neu-Berich genannt (Abb. 135, 156, 163). Auch in Böhmenkirch kommen mit wenigen Ausnahmen (Abb. 90, 97) nur einfache Satteldächer vor. Das Gehöft des Jakob Grieser erhält einen der seltenen Vollwalme über der Scheune (Abb. 93). Die Dächer in Golenhofen zeigen dagegen, wie von Musterbauten zu erwarten, ein weitaus variantenreicheres Bild. Zwar tauchen auch hier am häufigsten einfache Satteldächer auf. Viele Gebäude erhalten jedoch ein oder mehrere Schopfwalme (z.B. Abb. 13, 17, 27, 33, 54). Mit einem Vollwalm ist das Gemeindehaus sowie der Stall der Stelle 16 geschlossen (Abb. 21). Es kommen jedoch auch die aufwendigeren Mansarddächer zur Ausführung, die u.a. am Gasthaus oder an der Stelle 41 (Abb. 5) auftauchen. Es ist wiederum Gustav Langen, der die Verwendung von Mansarddächern und Drempeln für unländlich hält.520 Im Neuen Niederrheinischen Dorf scheint man von den künstlerischen Empfehlungen der Heimatschützer besonders überzeugt gewesen sein. Hier sind die meisten Gebäude trotz der Verringerung des Dachraums von Vollwalmdächern überfangen, die die Gebäude optisch abrunden (z.B. Abb. 204, 209, 223, 229). Neben Satteldächern kommt am Arbeiterhaus von Müller-Jena auch ein Mansarddach mit konkav einschwingender Mansarde vor (Abb. 232). Einzig das IBA-Dorf in Leipzig hält sich nicht an die Empfehlung der Heimatschützer nach einfachen und geschlossenen Dachflächen. Hier sind viele Dächer mehrfach gebrochen 518 519 520 häuser und ländlichen Wohngebäude geradezu typisch gewordenen Dachformen. Sie sind deshalb auch bei allen Neubauten beizubehalten, nicht allein, weil flache Dächer, die Papp- und Holzzementdächer usw., den Häusern ein fremdartiges, nüchternes, eine ganze Ortschaft oder Gegend verschandelndes Aussehen verleihen, sondern weil auch die hohen Dächer die bequeme Anlage von Giebelstuben mit daneben liegenden Bodenkammern und besonders die Anordnung eines zweiten Dachbodens (Kehlbalkenboden) gewähren, den der Bauer zur Schüttung des Kornes usw. in der Regel nicht missen mag.“ Vgl. Altenrath 1914, S. 24. Vgl. Schultze-Naumburg 1908, S. 240 und Mielke 1913b, S. 7. Schopfwalme werden auch von Gruner 1896, S. 194, von Gradmann 1910, S. 143 und von dem Architekten Kahm 1914, S. 49 zur Abrundung des Dachumrisses propagiert. Vgl. Langen 1922, S. 102. Haus und Hof – die Dorfgebäude 245 und bewußt asymmetrisch mit Schopf- oder Vollwalmen sowie Abschleppungen versehen (Abb. 176, 179, 184).521 Die verschachtelte Anlage der Dächer, die asymmetrisch bewegten Fassaden ebenso wie die variantenreichen Fensterformen und die additive Zusammenstellung der Hauselemente im IBA-Dorf erinnern sehr an die Architektur des englischen Landhaus-Architekten Charles Rennie Mackintosh.522 Raymund Brachmann folgt mit seinem IBA-Dorf daher eher englischen Vorbildern als – wie es die Heimatschutzbewegung vorsieht – dem deutschen Bauernhaus. Hans Herzog, Mitglied im Direktorium der IBA, lobt jedoch die „stilgerechten“ Formen des Dorfes, die eine streng die städtische Bauweise vermieden hätten.523 Dagegen kritisiert der unabhängige Max Krämer die Linienführung der einzelnen Bauten als „ungelenk“: „Ein modern aufgebautes Dorf mag so aussehen. Die alten Beispiel zeigen viel mehr Formenschönheit.“524 Diese Zitate belegen wiederum, wie sehr doch reine Geschmacksfragen die Urteile der Heimatschützer bestimmt haben. Der Architekt Meyer zeigt in seinen Dörfern unzerklüftete und glatte Dachflächen. Ein Brief an die Landesdirektion Arolsen zeugt von seiner Forderung, die vom Staat verlangten Brandmauern nicht bis über die Dächer ziehen zu müssen, weil die Dachflächen dadurch zerschnitten würden. Er entkräftet die Brandschutzauflagen, indem er auf nur bis unter die Dachhaut gezogene Brandmauern besteht.525 Damit richtet er sich nach den Vorstellungen der Heimatschützer und allen voran Paul Schultze-Naumburg und Richard Hinz, die den zerstörerischen Einfluß von über das Dach gezogenen Brandmauern beklagen.526 Dachgauben Wie geht man aber mit notwendigen Fensteröffnungen zur Belichtung und Belüftung des Dachraumes um? Schultze-Naumburg notiert: „Gegen die Dachfenster an sich wäre nichts einzuwenden, wenn sie so gestaltet wären, dass sie von aussen als Augen eines gemütlichen Raums erscheinen.“527 Als positive Beispiele nennt er zwei Häuser, die mit Schleppgauben 521 522 523 524 525 526 527 Die Dachflächen sind jedoch, sicherlich aus Kostengründen, letztlich einfacher ausgeführt als in den Plänen vorgesehen und als Mischungen aus Sattel- und Walmdächern zu beschreiben. Vgl. Denkmaltopographie der Bundesrepublik Deutschland. Denkmale in Sachsen. Stadt Leipzig. Bd. 1: Südliche Stadterweiterung. Bearbeitet von Christoph Kühn und Brunhilde Rothbauer. Hg.: Landesamt für Denkmalpflege Sachsen. Berlin 1998, S. 399. Vgl. Herzog 1917, S. 268. Krämer 1913, S. 552. Vgl. StA Marburg, Best. 122, Nr. 2075, Bl. 265. Vgl. Schultze-Naumburg 1908, S. 211 und Hinz 1911, S. 70. Ebd., S. 172. Auch F.L.K. Schmidt kritisiert die „Verwurstelung“ von Dachformen und Dachfenstern: „...der Zweck des Daches, in seiner Einheit und Geschlossenheit vor allem dem Hause ein Schutz zu sein, wird bei der Anlage der unsinnigen und zahlreichen Durchdringungen, der souffleurkastenartigen Fenster und dem schwindelhaften Aufputz von Architekturstücken vergessen.“ Schmidt 1905, S. 160. Hier steht wieder der gründerzeitliche Umgang mit Dächern in der Kritik. Haus und Hof – die Dorfgebäude 246 bzw. mit einer Fledermausgaube versehen sind. Beide Gaubenformen haben den Vorteil, daß die Dachfläche nur leicht aufgeschlitzt und angehoben werden muß und damit ihre geschlossene Wirkung behält. In den Waldecker Dörfern und Böhmenkirch kommen mit Ausnahme weniger Satteldachgauben vor allem verschieden lange Schleppgauben vor, die entweder ins Dach eingeschnitten sind oder mit der Wandfläche fluchten und die Traufe anheben (z.B. Abb. 73, 85, 95, 147, 153, 156). In Böhmenkirch werden die Dachräume manchmal auch durch Zwerchhäuser vergrößert (Abb. 87, 90, 97). Die Dächer im IBA-Dorf sind häufig durch Fledermausgauben geöffnet (Abb. 173, 178, 184). Der größte Variantenreichtum ist wiederum im Musterdorf Golenhofen und im Neuen Niederrheinischen Dorf festzustellen. Hier tauchen Fledermaus-, Satteldach-, Dreiecks- und Schleppgauben ebenso wie Zwerchhäuser gleichermaßen auf (z.B. Abb. 19, 27, 30, 35, 37, 204, 214, 217, 220, 223, 234). Dachdeckungsmaterial Es verwundert nicht, daß für die Heimatschützer auch die Wahl des Dachdeckungsmaterials von großer Bedeutung ist, da es das Bild eines Hauses bzw. eines ganzen Dorfes entscheidend mitbestimmt. Die bodenständigen Materialien sieht man durch die zunehmend den Markt bevölkernden industriellen Ersatzstoffe wie Dachpappe, Zementsteine, Wellblech oder Eternit gefährdet.528 Laut Schultze-Naumburg genüge ein einziges solcher Dächer, um „ein ganzes Dorf, eine ganze Landschaft zu verschimpfen“.529 Besonders die Verdrängung des althergebrachten Stroh- oder Reetdaches aus Feuerschutzgründen wird von der Heimatschutzbewegung und besonders den norddeutschen Verbänden sehr bedauert. Die alten Strohdächer würden sich in die norddeutsche Ebene einfügen, „als wären sie ein natürliches Stück der Landschaft“.530 Als Vorbild gilt wiederum England, wo das Strohdach nicht so negativ angesehen sei wie im Deutschen Reich.531 Die Strohdeckung wird aus ästhetischen wie aus praktischen Gründen gelobt: „Keineswegs ist jedoch die Strohdeckung eine hinterlassene Urgeschichtsform, sondern eine künstlerisch und technisch gleich hervorragende Leistung, die sowohl eine landschaftliche wie geschichtliche Entwicklung hinter sich hat.“532 So seien Reet- und Strohdach im Winter warm, 528 529 530 531 532 Vgl. Schmidt 1911, S. 9. Schultze-Naumburg 1909a, S. 56. Brandes 1908, S. 195. Vgl. die Abbildung eines modernen strohgedeckten Gartendorfes auf der Insel Wight bei Lange 1912, S. 21. Mielke 1910a, S. 54. Haus und Hof – die Dorfgebäude 247 im Sommer kühl, luftig und doch dicht. Kühn fügt hinzu, daß ehedem die Stalluft durch das Strohdach ungehindert abziehen konnte, während bei harten Deckmaterialien neue Lüftungssysteme entwickelt werden müßten.533 Trotzdem darf das Stroh in den neuen Dorfanlagen aus feuerpolizeilichen Gründen nicht wieder verwendet werden, obwohl es z.B. in Böhmenkirch das regionaltypische Dachdekkungsmaterial darstellt. Umso interessanter ist es, daß gerade das Gehöft auf der IBA in Leipzig, das viele moderne und industriell hergestellte Baumaterialien nebeneinander präsentiert (der Jungviehstall wird beispielsweise mit dem neuen Material „Strapazoid“534 gedeckt), den Schweinestall unter einer einfachen Strohdeckung präsentiert. Hier wollte man laut Führer das nach alter Erfahrung für einen Stall beste Material wählen und ist den erhöhten Feuerversicherungsprämien dadurch aus dem Weg gegangen, daß der nächste Schornstein mindestens 30 Meter entfernt ist. Das Dach ist mit einer feuersicheren Imprägnierung versehen, die nach einigen Jahren erneuert werden muß. Neben den modernen Baustoffen kommen im Sinne des Heimatschutzes also auch die historischen Deckmaterialien zu ihrem Recht: „Daß es möglich ist, auf der Ausstellung ein Strohdach zu zeigen, und daß dazu die Genehmigung in Anbetracht der großen Wichtigkeit des Strohdaches für den Schweinestallbau erteilt wurde, verdient ganz besonders dankend hervorgehoben zu werden.“535 Neben dem Stroh werden als heimattypische harte Materialien besonders Ziegel und Schiefer empfohlen.536 Schiefer kommt jedoch aus Kostengründen in den untersuchten Dorfanlagen sehr selten vor und wird nur für die bedeutenderen Bauten verwendet. So sind im IBA-Dorf Kirche und Schule damit ausgezeichnet, während in Neu-Berich nur der Dachreiter der Kirche und in Neu-Bringhausen der Helm des Kirchturmes mit Schiefer gedeckt sind (Abb. 117, 122, 171). Bei weitem die größte Zahl der Gebäude in den Dörfern ist dagegen mit Ziegeln gedeckt, die im Vergleich zu den Ersatzstoffen als dauerhafter, wetterbeständiger und künstlerisch höherstehend beurteilt werden.537 Kühn und Kahm bevorzugen dabei die Biberschwanzdeckung, da sie sich dem „alten Charakter des Dorfes“ am besten anpasse, gestaltungsfähiger und anschmiegsamer sei.538 533 534 535 536 537 538 Vgl. Kühn, Bd. 2, 1915, S. 7f. Vgl. auch Brandes 1908, S. 195, Schaefer 1906, S. 4, Meyer 1914, S. 5. F.L.K. Schmidt und Mielke nennen sogar die Möglichkeit, das Strohdach durch eine Imprägnierung wieder dauerhaft feuersicher zu machen, räumen jedoch ein, daß damit noch keine langjährigen Erfahrungen gemacht worden seien. Vgl. Schmidt 1911, S. 9 und Mielke 1910a, S. 55. Von der Firma A. W. Andernach in Beuel am Rhein entwickelt. Es wird als vollkommen wasserdichtes und wetterfestes Dachdeckungsmaterial bezeichnet, das im Vergleich zur Dachpappe lange Jahre gar keine Unterhaltungsanstriche erfordere. Die Naturfarbe des Strapazoids ist metallisch grauschwarz, kann aber auch in beliebigen Farben gestrichen werden. Vgl. Führer durch die landwirtschaftliche Sonderausstellung 1913, S. 62f. Vgl. zur Beschreibung des Strohdaches: Führer durch die landwirtschaftliche Sonderausstellung 1913, S. 65f. Vgl. Mielke 1910a, S. 57-63; Gradmann 1910, S. 128; Schmidt 1911, S. 9 oder Kahm 1914, S. 71f. Vgl. Schmidt 1911, S. 10. Vgl. Kahm 1914, S. 71 und Kühn, Bd. 2, 1915, S. 87. Haus und Hof – die Dorfgebäude 248 So sind die meisten Gebäude im IBA-Dorf mit einfachen roten Biberschwanzdächern versehen (Abb. 181, 186, 187). Mit roten Kronziegeldächern sind etwa die Hälfte der Golenhofener Gehöfte gedeckt (Abb. 16, 24, 53, 58). Die andere Hälfte dagegen zeigt Falzziegeldächer (Abb. 34, 38, 42, 46). Tatsächlich würden diese, so Kühn, wegen ihrer großen Wirtschaftlichkeit allgemein bevorzugt.539 Das beweisen auch die Waldecker Dörfer und Böhmenkirch, denn hier werden (bis auf das biberschwanzgedeckte Backhaus in Böhmenkirch) durchgehend rote Falzziegel benutzt (Abb. 71, 76, 79, 89). Neben den finanziellen Vorteilen spielen auch ästhetische Gründe eine Rolle: Ein Ziegeleibesitzer wirbt in Böhmenkirch für die Verwendung seiner Zementziegel. Die Bauleitung des Ortes weiß dieses jedoch zu verhindern, da sie dem Ortsbild ein düsteres Aussehen geben würden.540 Stattdessen legt sie entweder die Deckung mit Falzziegeln oder Biberschwänzen nahe.541 Auch im Neuen Niederrheinischen Dorf bestehen die Ziegeldächer einheitlich aus Ziegelpfannen (Abb. 196, 197, 199, 206, 222). Das Pappdach, das viele der Scheunen in Golenhofen deckt, wird vom Heimatschutz kategorisch als „unsolide“ und „verunstaltend“ abgelehnt.542 Paul Fischer verteidigt die Dachpappe jedoch und beschreibt sie als „wertvolles Baumaterial“.543 Wie beim flachen Dach schließen sich ihm auch hier einige Heimatschützer an, die seine „Wohlfeilheit“ schätzen und das Pappdach daher bei untergeordneten Gebäuden wie Wirtschafts- und Nebengebäuden akzeptieren.544 2.4.6. Türen und Fenster „Der natürliche Schmuck der Häuser sind die Türen und Fenster.“545 Die Türen Der Gestaltung der Haustüren wird in den einzelnen Dörfern jeweils eine andere Bedeutung beigemessen.546 Das entspricht auch den Uneinigkeiten innerhalb der Heimatschutzbewegung 539 540 541 542 543 544 545 546 Vgl. Kühn, Bd. 2, 1915, S. 87. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 9, S. 19. Vgl. StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492, Nr. 25. Vgl. z.B. Mielke 1910a, S. 114 und Pinkemeyer 1910, S. 100. Vgl. Fischer 1911, S. 25. Vgl. z.B. Gruner 1896, S. 195 und Hinz 1911, S. 86. Lux 1911, S. 84. In der folgenden Untersuchung kann nicht auf die ganze Bandbreite der Fenster- und Türenformen in den verschiedenen Orten eingegangen werden. Da die Äußerungen des Heimatschutzes sich vor allem auf Wohnbauten beschränken, werden im folgenden vor allem die Fenster und Türen der Wohnhäuser untersucht. Auf eine Besprechung der durchgehend sehr funktional gestalteten Fenster, Türen und Tore der Wirtschaftsgebäude wird daher verzichtet. Da viele der Haustüren mittlerweile ausgewechselt sind, muß zum großen Teil auf die Pläne zurückgegriffen werden, die jedoch häufig (gerade in Golenhofen und Böhmenkirch) die Gestaltung der Türen nur andeuten. Ob sie tatsächlich so ausgeführt worden sind, bleibt fraglich. Haus und Hof – die Dorfgebäude 249 über die Gestaltung der Haustüren. Der Architekt Kahm ist z.B. der einzige, der die Haustüren mit größter Einfachheit gestaltet sehen will, „ohne immer wieder die vielen Profilierungen und Gehrungen der abgedroschenen Renaissancemeierei zu benutzen“. Jedem Prunk zieht er die Schlichtheit des Beschlags und die Echtheit des Materials vor.547 Er wendet sich also gegen die gründerzeitliche Praxis, Haustüren möglichst reich verziert zu gestalten. Die Architekten Böhmenkirchs, Golenhofens und des IBA-Dorfes scheinen sich dieser Meinung angeschlossen zu haben. Die hölzernen Haustüren sind hier allesamt nur einflügelig und enthalten in der Regel entweder im Türflügel selbst ein mehrteiliges Sprossenfenster oder ein ebenfalls mit Sprossen versehenes Oberlicht, um den Flur dahinter zu beleuchten. Die Türen nur durch einfache oder mehrteilige Kassetten gegliedert.548 Häufig lehnt sich die Gestaltung der Türen an die einfachen Stalltüren und Scheunentore oder an die Gestaltung der Fenster an (z.B. Abb. 73, 95). Einzige Betonungen des Eingangsbereichs und gleichzeitig Wetterschutz für die Ein- und Austretenden bilden in Golenhofen das hölzerne Vordach der Stelle 23, die Vorlaube der Stelle 16 (Abb. 21, 27) oder die offenen Vorräume, unter denen die Eingänge manchmal zu liegen kommen (Abb. 13, 43, 47, 73). Auch die Haustür des Gehöfts im IBA-Dorf liegt geschützt unter der Einfahrtstenne und wird neben dem Sprossenfenster in der Tür von zwei flankierenden schmalen Sprossenfenstern begleitet, um trotz der dunklen Einfahrt möglichst viel Licht hineinzulassen (Abb. 189). In Waldeck erhalten zumindest die kleineren Gehöfte in der Regel ebenfalls nur schmale, meist durch ein Oberlicht und Kassetten gegliederte Haustüren, wie z.B. die Gehöfte Peuster, Schlüter, oder Lösekamm in NeuBerich (Abb. 135, 142, 145). Einfach gestaltet sind im Neuen Niederrheinischen Dorf das Essener Arbeiterhaus und die Arbeitergehöfte von Camillo Friedrich und Otto Müller-Jena: Sie sind als einfache, einflügelige Haustüren ausgebildet und mit schlichten Oberlichtern oder Fenstern versehen (Abb. 117, 229, 232) . Im Gegensatz zum Architekten Kahm glauben jedoch die meisten Heimatschützer, daß die Haustür einen „Augenbrennpunkt“549 darstellen solle, der dekorativ gestaltet werden sollte. Mielke formuliert: „Der Eingang ist gewissermaßen das Schild des Besitzers, das den Grad von Ordnung, Besitz und Kunstfreude anzeigt.“550 Auch der Kieler Regierungsbaumeister und Heimatschützer Karl Meyer beschränkt sich nicht nur auf Schleswig-Holstein, sondern meint gleich das gesamte Deutsche Reich, wenn er von der „guten deutschen Sitte“ spricht, von ei- 547 548 549 550 Vgl. Kahm 1914, S. 48f. Über die jeweilige Farbgebung ist nichts mehr bekannt. Pinkemeyer 1910, S. 55. Mielke 1910a, S. 218. Haus und Hof – die Dorfgebäude 250 ner Verzierung an der Haustür reichlich Gebrauch zu machen: „So schlicht eine Fassade sein mochte, an der Tür verzichtete man nicht auf reichere Profile und etwas Schnitzwerk und gab ihr einen schönen Beschlag, der sich von dem kräftigen, farbigen Anstrich wirkungsvoll abhob“.551 Pinkemeyer schränkt jedoch wie Kahm ein, daß für ihn hierzu keine „stilgerechten“ Säulen und Kapitelle, Schafte, Architrave oder Verdachungen gehören, sondern daß die einfache konstruktive Stütze, mit Ornament und Farbe dekorativ verziert, dazu ausreichen würde.552 Im Sinne Pinkemeyers ist beispielsweise die Haustür des kleinen Arbeiterhauses von Friedrich Becker sehr schmuckvoll gestaltet. Sie ist unter einem Korbbogen vierflügelig angelegt, um eine größere Breitenwirkung zu entfalten, wobei die zwei mittigen Flügel das eigentliche Türblatt darstellen. Die einzelnen Flügel werden in der oberen Hälfte von hochrechteckigen Fenstern durchbrochen, die mit jeweils zwei geschnitzten Andreaskreuzen geschmückt sind. Darunter befindet sich jeweils eine Kassette in der gleichen Größe. Das Oberlicht ist mit jeweils drei eingefaßten Rauten aus Schnitzereien verziert (Abb. 235, 237). Besonders aufwendig sind die Haustüren der großen Gehöfte in Neu-Berich gestaltet. Sie werden von Sandsteinlaibungen umfaßt, deren Werksteine wahlweise in einer Flucht übereinander oder, abwechselnd, breiter und schmaler gestaltet sind. Die Laibungen sind zum Teil ausgekehlt oder abgefast und erhalten einen Schlußstein, der ein christliches Symbol wie das Lamm Gottes oder das Erbauungsdatum des Hauses tragen kann (Abb. 158, 165). Obwohl eine Sandsteinumrahmung der Türen eine weniger bäuerliche als bürgerliche Tradition verrät und F.L.K. Schmidt sie für ländliche Bauten als zu kostspielig bezeichnet,553 ist der Architekt Kahm anderer Meinung: „Eine schlichte Sandsteinumrahmung der Türen und Fenster ist dort, wo es die Mittel erlauben, immer angebracht.“554 Die großen Bauern Neu-Berichs verfügten entsprechend über die finanziellen Mittel, um ihre Haustüren so reich und repräsentativ gestalten zu können. Die Holztüren selbst sind senkrecht und waagerecht dreifach gegliedert, wobei der mittlere Flügel das eigentliche Türblatt darstellt. Der obere Türabschnitt wird durch Oberlichter durchbrochen, die zum Teil durch Schnitzerei mit dem Monogramm des Besitzers versehen sind.555 Ansonsten sind die Türen durch Kassettierungen oder Rautenmuster in klassizistischer Manier verziert und zweifarbig bemalt. Sie werden vom Architekten mit besonderer Liebe zum Detail gestaltet und dienen wie die Fachwerkinschriften dem individuellen 551 552 553 554 555 Vgl. Meyer 1914, S. 169. Vgl. Pinkemeyer 1910, S. 55. Schmidt 1905, S. 159. Kahm 1914, S. 60. Noch erhalten ist das Monogramm „HH“ im Oberlicht des Gehöfts Heinrich Heckmann. Haus und Hof – die Dorfgebäude 251 Schmuck des Hauses. Auch für Schwindrazheim sind die Haustüren in Hessen-Nassau und Oberhessen mehr als nur Funktionsgegenstand: „Sie [die Tür; d. Verf.] ist auch hier ein beliebtes besonderes Schmuckstück des Hauses in tausenderlei Form und Schmuckgedanken [...] Oberlichte treten oft als besonderer Schmuck hinzu, […]. Gern werden Monogramm oder Gewerkzeichen des Besitzers drin angebracht.“556 Fenster Die Fenster – ihre Größe, ihre Anordnung und Einteilung – tragen nach Ansicht der Heimatschutzbewegung im wesentlichen zur äußeren Gestaltung des Hauses bei und werden daher auch die „Augen“ des Hauses genannt.557 Die Autoren beklagen alle die Entwicklung hin zu immer größeren und ungeteilteren Fenstern am Bauernhaus. Dieses Streben nach „Palastfenstern“558, wie Schultze-Naumburg sie in seinen Abbildungen zeigt, sei eine auf das Land eingedrungene großstädtische Unsitte, die weder aus ästhetischen noch aus praktischen Gründen zu empfehlen sei.559 Zu große Fenster würden im Sommer die Hitze und im Winter durch zu große Abkühlungsflächen die Kälte hineinlassen und die zu große Lichtflucht müsse durch Vorhänge wieder eingeschränkt werden.560 Daneben spielen jedoch die ästhetischen Gründe wieder eine viel wichtigere Rolle. Zu große und schmale Fenster würden aus den dahinter liegenden Zimmern „nüchterne Hohlräume“ machen und die Geschlossenheit der Hauswand zerstören.561 Überdies paßten sie nicht zu den Hauswänden des Bauernhauses, das keine übermäßige Höhenentwicklung kenne. Kleine breite Fenster trügen dagegen zu einer „ländlichen“ und „gemütlichen“ Stimmung bei.562 An den Empfehlungen zur Gestaltung der Fenster kann besonders klar abgelesen werden, wie wenig sich die Heimatschützer für das Wohl der Bauern selbst interessieren, (die aus gutem Grund zu größeren Fenstern greifen), sondern mit allen Mitteln eine von ihnen als ländlich interpretierte Bauweise durchsetzen wollen. So glaubt Lux, daß kleine Fenster der Überlieferung des Bauern „natürlich“ seien und notiert: „Der Stadtbewohner hat andere Bedürfnisse und andere hygienische Forderungen als der Landmann. Der Landmann liebt in der Regel die ganz kleinen Fenster und wir tun ihm Gewalt an und gewissermaßen ein Unrecht, wenn wir ihm große Fenster aufreden.“563 556 557 558 559 560 561 562 563 Schwindrazheim 1913, S. 74 und 79. Vgl. Hinz 1911, S. 76, Baldauf/Hecker 1911, S. 11 und Meyer 1914, S. 165. Hinz personalisiert das Haus, indem er es mit einem menschlichen Gesicht vergleicht: „Mit einer herzgewinnenden Freundlichkeit blinzeln uns die unter dem weit überstehenden steilen Dach wie unter buschigen Brauen und hoher Stirn gebetteten kleinen Fenster des Bauernhauses an.“ Lux 1911, S. 84. Vgl. Schultze-Naumburg 1908, S. 230f und Abb. 166 oder Abb. 154 auf S. 215. Vgl. Lux 1911, S. 84 und Schultze-Naumburg 1908, S. 231. Vgl. Schultze-Naumburg 1908, S. 210 und Lux 1911, S. 84. Vgl. Hinz 1911, S. 76f, Lux 1911, S. 84 und Schultze-Naumburg 1908, S. 210. Lux 1911, S. 84. Haus und Hof – die Dorfgebäude 252 Auch Hinz hält große Fenster auf dem Lande für eine „Unsitte“ und glaubt, daß der Bauer, der den ganzen Tag auf dem Feld arbeite, danach zu Hause gerne im Dämmerlicht stehe: „Beides aber erreicht er am besten, wenn er seinem Hause kleine Fenster gibt; verlangt er dennoch große, so ist das gegen seine Natur, er opfert die Vorzüge des väterlichen Hauses seinem ihm durch mancherlei äußere Umstände anerzogenen Protzentum. Gegen eine solche Unnatur muß der Architekt mit aller Kraft und allen Mitteln ankämpfen – unterstützt von der Bauordnung.“564 Hieraus spricht der deutliche Wille, den Bauern zu einer dem Heimatschutz genehmen Bauweise zu zwingen. Das bäuerliche Fenster soll zudem nicht einfach ungeteilt und mit Spiegelscheiben versehen werden, „die jeden Tag zerspringen können“.565 Stattdessen soll eine Sprossenteilung die Fensteröffnungen derart überspinnen, daß in der Fassade kein Loch entsteht, sondern ein „reizvolles Ornament“.566 An dieser Stelle können die verschiedenen Dorfanlagen gleichwertig miteinander verglichen werden. Keines der Fenster in den untersuchten Dörfern ist als hohes und schmales „Handtuch“567 angelegt wie in den erwähnten Negativbeispielen von Rohziegelbauten in Schultze-Naumburgs Publikationen. Dagegen sind die Fenster im Vergleich zur Wandhöhe allesamt relativ niedrig angelegt und erhalten dadurch, daß sie oft zu Fenstergruppen erweitert sind, die gewünschte Breitenwirkung auf der Fassade. Gerade der Wechsel von großen und kleinen Fenstergruppen verleihe den Fassaden, ihre, laut Kahm, „traditionelle Behaglichkeit“.568 (z.B. Abb. 30, 39, 43, 47, 87, 97, 181, 188, 227, 231). So sind auch die einzelnen Fenster je nach Nutzung des Raumes dahinter größer oder kleiner angelegt. Flure, Speisekammern oder Aborte erhalten damit in der Regel kleinere Fenster als die häufig frequentierten Stuben und Küchen. Auch der Heimatschutz fordert, daß durch die Fenster die Bestimmung des dahinterliegenden Raumes erkennbar sein sollten.569 Der Architekt Kahm verurteilt „unsinnige Symmetrie“ und „peinlich genaue Fensterachsen“, um stattdessen für Fensteranordnungen als „folgerichtige Ergebnisse eines inneren Bedürfnisses“ zu werben.570 Bei den untersuchten Dörfern ist die Fassadengestaltung nur an den straßenseitigen Giebeln oftmals achsensymmetrisch angelegt wie z.B. an vielen der Gehöfte in Golenhofen oder Böhmenkirch, aber auch an den Straßen- und Hoffassaden der offenen Dreiseithöfe in Neu-Berich (Abb. 156). Die Architek- 564 565 566 567 568 569 570 Hinz 1911, S. 77. Kahm 1914, S. 47. Meyer 1914, S. 165. Vgl. auch Lux 1911, S. 84. Meyer 1914, S. 165. Vgl. Kahm 1914, S. 47. Vgl. Baldauf/Hecker 1911, S. 11. Vgl. Kahm 1914, S. 33. Haus und Hof – die Dorfgebäude 253 ten wählen also die Symmetrie partiell als repräsentatives Mittel und erreichen dadurch eine klare und ruhige Fassadenwirkung. Da ein Gleichmaß nur stockwerksweise gegeben ist und Fenster in Erd- und Obergeschossen nicht axial übereinandergeordnet sind, wirken die Fassaden jedoch alles andere als „wie am Reißbrett in Fensterachsenmentalität“571 entworfen. Die variantenreichen hölzernen Sprossenfenster, die in allen Dörfern gleichermaßen angewendet und weiß gestrichen werden, tragen im Sinne des Heimatschutzes viel zu einer geschlossenen Fassadenwirkung bei. Am häufigsten kommt hierbei das einfache sechsfach geteilte Kreuzstockfenster mit Oberlicht vor. Es wird in den Waldecker Dörfern durchgehend verwendet, kommt in Golenhofen und Böhmenkirch vor, wird aber auch in den Ausstellungsdörfern benutzt (z.B. Abb. 53, 80, 153, 176). Häufig wird nur das Oberlicht nochmals zusätzlich geteilt (Abb. 9, 43, 69, 95, 100). Eine noch kleinteiligere Gliederung der Sprossenfenster ist vor allem in den beiden Ausstellungsdörfern massiert zu beobachten. Fensterläden Als unentbehrlicher Teil des Fensters werden von der Heimatschutzbewegung hölzerne Klappläden vor den Fenstern propagiert. Sie sollen als Sonnen- oder Wetterschutz oder zur Sicherung vor Einbruch dienen. Überdies sollen sie das Gefühl vermitteln, in einem wohnlichen und gemütlichen Haus zu wohnen, das man jederzeit von der Außenwelt abschließen kann,572 ferner „Heimgefühl“ der Besitzer und Beschauer anregen.573 Ästhetische Gründe haben auch hier oberste Priorität. So gelten sie als schmückende Farbtupfer auf der Fassade und als wirksame und doch billige Mittel, nebeneinander liegende Fenster zu einem ornamentalen Band zusammenzuknüpfen.574 Alle Architekten benutzen an den Wohnhäusern ihrer Dörfer Fensterläden und zeigen damit, daß sie ihnen ein als „ländlich“ interpretiertes Aussehen mitgeben wollen. In den Waldecker Dörfern sind alle neu erbauten Häuser mit Fensterläden versehen. Diese sind auf die Erdgeschosse beschränkt, um die verputzten Wände als Ausgleich zu den Fachwerkobergeschossen farblich zu betonen. Interessant ist, daß an den wiederaufgebauten Gehöften in Bringhausen keine Fensterläden angebracht werden. Mit Blick auf die Bebauung der alten Dörfer wird deutlich, daß sie auch nie mit Läden versehen waren. Regionaltypisch sind die Fensterläden also nicht, eher eine Modeerscheinung, die im frühen 20. Jahrhundert zum Standardprogramm des ländlichen Einfamilienhauses oder Gehöfts gehört. 571 572 573 574 Ebd. Vgl. Hinz 1911, S. 79, Kahm 1914, S. 64, Hoermann 1913, S. 97 und Pinkemeyer 1910, S. 56. Vgl. Lange 1912, S. 23. Vgl. Meyer 1914, S. 169. Vgl. auch Engel/Schubert 1911, S. 489 und Hinz 1911, S. 79. Hierin findet sich der Vorreiter der horizontalen Fensterbänder, die in den 20er-Jahren Mode wurden. Haus und Hof – die Dorfgebäude 254 In Böhmenkirch finden sich in der Regel an allen Wohngeschossen Fensterläden wieder (z.B. Abb. 90, 93, 95, 100). In Golenhofen geht Paul Fischer sparsamer mit Fensterläden um (z.B. Abb. 19, 27, 35, 43). Im Neuen Niederrheinischen Dorf sind alle Gehöfte und Arbeiterwohnungen mit Läden ausgestattet, im IBA-Dorf nur die Lehrerwohnung (z.B. Abb. 176, 188, 224, 229, 237.). Tatsächlich bilden sich durch die Fensterläden oft „ornamentale Bänder“, die die Breitenwirkung der Fassaden betonen, wie z.B. in Böhmenkirch an den Gehöften Theresia Fuchs von Hiller und Leonhard Heinzmann von Schenk & Dangelmaier oder den Hofseiten der großen Dreiseithöfe in Neu-Berich (z.B. Abb. 77, 83, 156). Ein weiterer Schmuck sind die malerisch ornamentierten Aussparungen - wie Rauten, Kreise oder Herzen (Abb. 90, 152, 153, 158, 165). Die Fensterläden der Gaststätte in Neu-Berich sind z.B. mit gastronomischer Symbolik wie Wein- und Sektgläsern verziert (Abb. 135). Um die Jahrhundertwende werden Fensterläden besonders in den sogenannten konservativen Architektenkreisen wie z.B. bei Hermann Muthesius, Heinrich Tessenow oder Theodor Fischer gern als schmückende Elemente benutzt. Bei den der Heimatschutzbewegung nahestehenden Architekten wie Paul Schultze-Naumburg oder Philipp Kahm finden Fensterläden als traditionelle Elemente des Hausbaus Verwendung.575 575 Vgl. z.B. Kahm 1914, S. 75-208 und Borrmann 1989, S. 77-100. Fensterläden werden für Kleinhausbauten ebenso wie für Landhäuser und Gutsanlagen verwendet. 255 IV. Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie Der Heimatschutz bringt sich mit massiver Kritik an der fortschreitenden Industrialisierung und Verstädterung ins Gespräch und verurteilt die damit einhergehenden Entstellungen von Landschaft und Architektur. Er wendet sich gegen eine Verarmung regional charakteristischer Architektursprachen, die ihm zufolge durch die stilistische Beliebigkeit und Austauschbarkeit der Stilzitate einer gründerzeitlich-historistischen Bauweise verursacht wird. Besorgt um den Verlust soziokultureller Identität und Kontinuität fordert er eine Rückkehr zu dörflichen und kleinstädtischen Lebensweisen und Bauformen, eine Rückkehr zur regionaltypischen Individualität einer in Traditionen eingebetteten Bauweise. Besonders das Dorf als kleine, eng umgrenzte Siedlungsform, als Hort für eine in tradierten Verhältnissen zusammengeschlossene Lebensgemeinschaft gilt den Heimatschützern als anzustrebendes Vorbild für gegenwärtige Siedlungsfragen. Hier sind die vorindustriellen, historisch gewachsenen architektonischen Strukturen noch erhalten, die für den Heimatschutz eine „harmonische“ und „gesunde“ Bauform symbolisieren. Das Bauernhaus gilt ihnen durch die regionalen Bauformen, -materialien und Handwerkstechniken als erdverbunden, in der „Scholle“ verwurzelt und volkstümlich – mit umgebender Landschaft und Volk zu einer Einheit verschmolzen. Die Heimatschutzbewegung erhofft sich durch die bauliche Anlehnung an das Bauernhaus ein neues Heimatbewußtsein und eine Heimatverortung auch der sogenannten „traditionslosen Massen“, der Arbeiterschaft. Nur ein Anknüpfen an die traditionellen Wurzeln der Architektur könne eine Architektur der Zukunft schaffen. Es verwundert nicht, daß auch die Aufgabe, ganze Dörfer neu oder wieder aufzubauen, von der Heimatschutzbewegung beeinflußt wird: Es ist die beste Gelegenheit, zum Erhalt der bäuerlichen Architektur und damit auch des Bauerntums in seinem dörflichen Lebenszusammenhang selbst beizutragen. In den folgenden vier Kapiteln zu den zentralen Begriffspaaren rund um den Heimatschutz wird dieser Einfluß genauer aufgeschlüsselt. 1. Typus und Individualität An der Frage, ob in der modernen Architektur Typen oder individuelle Bauformen zu bevorzugen seien, entzündet sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts der Werkbund-Streit zwischen den Architekten Hermann Muthesius und Henry van de Velde. Die Heimatschutzbewegung vertraut, wie Hermann Muthesius, auf die Typisierung, die sie den Diversifizierungen der Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie 256 gründerzeitlichen Baukunst entgegensetzen will. Durch den Bau von Typenhäusern soll an die handwerklich-einheitliche Gestaltung vorindustrieller Bauten angeknüpft und diese in die Moderne übersetzt werden. Die Grundlage für eine Typisierung von Bauernhäusern bildet das 1906 erschienene Werk „Das Bauernhaus im Deutschen Reiche und seinen Grenzgebieten“, das erstmals systematisch und überregional die verschiedenen Haustypen Deutschlands benennt, ihre lokale Verbreitung und Bauweise beschreibt. Es ist den Landbau-Architekten ein erster Leitfaden, um auch bäuerliche Neubauten an die regionaltypischen Bauformen anzulehnen. Ein Einfluß des Buches ist auch bei den Architekten der wieder zu errichtenden Dörfer Neu-Berich, Neu-Bringhausen und Neu-Asel sowie des Dorfes Böhmenkirch stark anzunehmen. Karl Meyer plant in den neuen Siedlungen queraufgeschlossene Einfirsthöfe, verschiedene Arten von Mehrseithöfen sowie Dreiseithöfe – die sogenannten „fränkischen Hofreiten“ – in Anklang an die ehemalige dörfliche Bebauung und die für den hessischen Raum üblichen Haustypen. Ebenso richten sich die Architekten Böhmenkirchs an die auf der Alb typischen queraufgeschlossenen Einfirsthöfe. Die Typisierung setzt sich sogar fort in einem einheitlichen Wandaufbau und der gleichen Materialverwendung der Gehöfte. Erstens soll damit ein Bruch zwischen alt und neu möglichst vermieden und eine schnellere Gewöhnung der Neuansiedler an die neue Heimat ermöglicht werden: „Der leitende, über allen anderen stehende Gedanke müßte der sein, den alten, treuen, von ihrer liebgewordenen Scholle vertriebenen Bewohnern ein nicht zu teures, heimatliches Plätzchen zu geben, das den schweren Verlust der alten Heimat vergessen macht.“1 Zweitens passen sich die Bauten damit im Sinne des Heimatschutzes an die regionaltypische Bebauung an: Die Zerstörung bäuerlicher Dörfer durch Naturereignisse (Brand) oder industrielle Großbauten (Talsperre) wird abgefedert, indem die bäuerliche Dorfarchitektur strukturell wieder hergestellt, das agrarische Gesellschaftsgefüge aufrecht erhalten wird. Gerade in Waldeck ist der enorme organisatorische und finanzielle Aufwand bemerkenswert, der für die Wiederherstellung dreier völlig neuer Dorfanlagen betrieben wird. Eine Entschädigung und Wiederansiedlung der Landwirte in anderen Waldecker Dörfern wäre sehr viel weniger aufwendig gewesen. Die Entscheidung für eine Errichtung geschlossener Dorfanlagen ist dagegen vom Geist der Heimatschutzbewegung geprägt: Zwar werden dem modernen Industriestaat durch den Bau der Talsperre bäuerliches Land, althergebrachte Kulturund Kunstgüter sowie soziale agrarische Gemeinschaft geopfert – nicht ohne sie jedoch in Form von neuzeitlich angepaßten Dörfern wieder herzustellen und damit der Industrialisierung trotzig entgegenzutreten. 1 Ueber die Ansiedlung der Bewohner von Bringhausen. In: Waldecksche Landes-Zeitung vom 19.2.1912. Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie 257 Eine weitere Begründung für die Herstellung typisierter Gehöfte ist aber auch der ökonomische Vorteil. So sind die Waldecker Dörfer sowie die Fundamente in Böhmenkirch im Sinne moderner Massenproduktion von Großbaufirmen errichtet, die das günstigste Angebot unterbreiten. Da die Heimatschutzbewegung gerade im ländlichen Bauwesen auf eine Regeneration der handwerklichen Arbeit hofft, nimmt sie die industrielle Großproduktion zwar nur widerstrebend in Anspruch. Mit Blick auf die genannten Dörfer wird jedoch deutlich, daß diese retrospektive und agrarromantische Position mit den modernen Verhältnissen der maschinellen Produktion nicht mehr vereinbar ist. Die Industrialisierung ist auch auf dem Lande nicht mehr aufzuhalten. Den Heimatschützern bzw. den mit dem Heimatschutz sympathisierenden Architekten bleibt daher nur, das ländliche Bauwesen auf seine ästhetische Gestaltung und seine Anpassung an die regionaltypische Bauweise hin zu überwachen. Diese Vorgehensweise ist in Neu-Berich, Neu-Asel und Neu-Bringhausen zu konstatieren. Hier übt das Hochbauamt der Weserstrombauverwaltung eine dauernde Bauberatung aus, um die Einheitlichkeit der Höfe zu gewährleisten und individuelle Planungen der einzelnen Ansiedler zu vereiteln. Besonders der Ziegelrohbau und die Verwendung moderner, industriell gefertigter Materialien soll verhindert werden. Auch in Böhmenkirch wird, als Teil des Hilfskomitees vom Innenministerium, eine staatliche Bauberatungsstelle eingerichtet, die den einheitlichen Aufbau der Gehöfte kontrolliert. Das evoziert einen Streit zwischen Architekten und Hausbesitzern, die sich in ihren persönlichen Wünschen beschnitten fühlen. Während sich etwa der Architekt Theodor Hiller im Sinne des Heimatschutzes an die ursprünglich wegen der Strohbedachung so hohe Albbebauung anlehnt, sehen die Bauenden keine funktionale Notwendigkeit mehr dafür. Individuelle Planungen werden also nicht akzeptiert, weil die daraus folgenden unterschiedlichen Bauformen und modernen Materialien nicht den romantischen Vorstellungen entsprechen würden, die sich die bildungsbürgerliche Heimatschutzbewegung vom ländlichen Bauwesen macht. Daraus spricht ein elitäres Selbstverständnis davon, was „schön“ und „wahr“ ist.2 Eine strenge Reglementierung durch die Bauberatung soll eine künstlich hergestellte, quasi vorindustrielle Einheitlichkeit schaffen, die eine heile und idyllische agrarische Welt suggeriert und eine als „Heimat“ definierte Welt erhält. Daß eine solche Rückkehr durch die Diversifizierungen der Moderne nicht mehr möglich ist, wird dabei konsequent ausgeblendet. Trotz der vollständigen Typisierung der dörflichen Architektur erfüllt eine gewisse Individualisierung der Bauten die Aufgabe, eine starre Normierung zu verhindern, das einheitli2 Vgl. dazu auch Knaut 1993, S. 35. Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie 258 che Gesamtensemble zu beleben und persönlicher zu gestalten. Auch das entspricht einer Anpassung an die vorindustrielle Architektur, die Platz ließ für individuelle Eigenheiten je nach Topographie, finanziellem Vermögen und speziellen Wünschen der Erbauer. Für eine Individualisierung der Gehöfte sorgen in Böhmenkirch und den Waldecker Dörfern (im Rahmen der jeweiligen Hausfamilien) verschiedene Gehöftformen und -größen, aber auch unterschiedliche Fachwerkformen und Holzverkleidungen, die variierende Farbigkeit und die individuellen Fachwerkinschriften speziell in den Waldecker Dörfern. In den Ausstellungsdörfern ist dagegen eine umfassende Typisierung nur beschränkt möglich, da es nur wenige gleiche Bautypen gibt. Einzig in der Materialverwendung und im Wandaufbau sind die Ausstellungsdörfer jeweils einheitlich gestaltet. In Bezug auf das Neue Niederrheinische Dorf beklagt der mit der Organisation des Projektes betraute Landrat von Reumont sogar die wenig straffe Zusammenfassung der einzelnen Bauformen, ist sich jedoch darüber im klaren, daß dies ein Kompromiß zugunsten der größtmöglichen Freiheit der verschiedenen Architekten war.3 Eine große Bauausstellung wie die des Deutschen Werkbundes intendiert natürlich auch die Präsentation einer großen Vielfalt an Bauten. So entstehen gerade im Neuen Niederrheinischen Dorf viele individuelle Bauformen und Details, die den Wunsch der Architekten spiegeln, auf der Grundlage der regionaltypischen Architektur des Niederrheins ein ästhetisch vielseitiges Ensemble vorzustellen. Obwohl der Grundtenor der entstandenen Bauten häufig klassizistisch-streng ist, werden auch viele fast verspielte Bauelemente gezeigt, zu denen beispielsweise die verschiedenen gestuften und geschweiften Giebelformen, die verschiedenen Stützensysteme (z.B. die stilisierten ionischen Säulen der Schmiede) oder die Backsteinornamentik (z.B. am Kirchturm) gehören. Dieses Konzept entspricht auch der Maxime des Deutschen Werkbundes, die Architektur und besonders auch das ländliche Bauwesen in künstlerischer Hinsicht zu veredeln. Anders ist es im Ansiedlungsdorf Golenhofen, das als Musterdorf Teil der Germanisierungspolitik der sogenannten „Inneren Kolonisation“ ist. Hier ist eine Typisierung der Gebäude von vorneherein nicht gefragt. Im Gegenteil soll den an einer Ansiedlung Interessierten ein Musterbeispiel für ein Bauerndorf präsentiert werden, das Deutsche aus dem gesamten Reich aufnimmt. Da bei der Ansiedlungskommission die Ansiedler ihre Gehöfte üblicherweise selbst errichten, soll mit Golenhofen die architektonische Vielgestaltigkeit einer solchen Siedlung angepriesen werden, die aus den verschiedensten deutschen Hausformen zusammengesetzt sein kann. Daher plant der Architekt Paul Fischer in Golenhofen kein Gehöft, das einem anderen auch nur entfernt gleicht. Jedes von ihnen stellt eine andere Gebäude3 Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 8. Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie 259 struktur und einen anderen Wandaufbau vor, spielt mit verschiedensten Bauelementen und dekorativen Details. Allerdings kann dabei keine Aussage über die möglichen Vorbilder der jeweiligen Golenhofener Gehöfte in den einzelnen Regionen des Reiches getroffen werden. Keines von ihnen ähnelt einem bestimmten deutschen Haustyp oder kann zweifelsfrei auf ihn zurückgeführt werden. Das könnte natürlich daran liegen, daß Paul Fischer in den Jahren 1902 bis 1905 eine bewußt von allen Vorbildern freie künstlerische Gestaltung der Gehöfte angestrebt hat. Andererseits wird auch das große Standardwerk zu den deutschen Bauernhaustypen „Das Bauernhaus im Deutschen Reiche...“ erst im Jahre 1906 veröffentlicht. Es ist also zu vermuten, daß Fischer zu dieser Zeit die verschiedenen deutschen Hausformen in systematisierter Form noch gar nicht kennt und so seine Gehöftformen nur in Anlehnung an bestimmte Hofstrukturen oder Bauelemente diverser deutscher Bauernhöfe frei erfindet. Hier erhalten also Individualität und Vielgestaltigkeit vor der Typisierung oberste Priorität, soll die Verschiedenartigkeit deutschen „Volkstums“ präsentiert werden und auf potentielle Ansiedler attraktiv wirken. 2. Land und Stadt „Das Verschwinden von Dorf und Dörflichem aus unserer deutschen Gegenwart“4 wird von den Kulturkritikern und vor allem der Heimatschutzbewegung bitter beklagt. Der Grund für diese Sorge liegt in der zunehmenden Industrialisierung Deutschlands, die mehr und mehr Menschen aus den ländlichen Regionen in die Städte zieht. Dies hat eine Stadtfeindlichkeit zur Folge, die die Großstadt als Quell aller Negativentwicklungen der Gegenwart sieht: Nicht nur das als gestaltlos und unästhetisch empfundene Wuchern der Städte, sondern auch die Angst vor ihren alles nivellierenden Tendenzen, den Zerstörungen von Landschaft und landschaftstypischer Architektur, den sozialen Umbrüchen und der damit einhergehenden moralischen „Zersetzung“ der Menschen treibt die Heimatschutzbewegung um. Die Abscheu vor den umfassenden Veränderungen im späten 19. Jahrhundert schürt vor allem in bildungsbürgerlichen Kreisen eine Agrarromantik, die allein das ländliche Leben als „intakt“, „gesund“ und „natürlich“ beschreibt und nur dem Land zuerkennt, „Heimat“ sein zu können. Das Bauerntum, das in noch stabilen ständischen Gemeinschaften und in dörflich-gewachsenen Strukturen lebt, wird als bewahrendes Gegengewicht zur Stadt idealisiert. Da die Heimatschützer in neoromantischer Manier Land, Volk und dessen kulturelle Wurzeln als untrennbar mit4 Dammann 1910, S. 10. Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie 260 einander verbunden sehen, gilt der Zug der Menschen in die „Zementwüsten“ und den damit einhergehenden Verlust des harmonischen Organismus Mensch-Natur-Siedlung als irreversibler Verlust von Heimat. Mit dem Sterben der kulturellen Traditionen geht aber auf lange Sicht, so der Heimatschutz, auch das bäuerliche Dorf und die regionaltypische Architektur der Bauernhäuser verloren – Symbol für Umgrenztheit, Geborgenheit und Beharrung. In den Quellenschriften zu Dorf und Dorfbau, die um die Jahrhundertwende veröffentlicht werden, formulieren namhafte Autoren und Architekten ihre Vorschläge, wie ein Dorf – gemäß den Intentionen der Heimatschutzbewegung – in harmonischem Verhältnis zu Landschaft und Ensemble, mit den richtigen Proportionen im Dorfbild und der nötigen Geschlossenheit errichtet werden soll. Der Wunsch, dörflich-ländliche und gewachsene Strukturen wieder herzustellen bzw. zu bewahren, wird im städtebaulichen Umgang mit den untersuchten Dorfanlagen sichtbar. Das historisch-gewachsene Dorf wird daher als Vorbild für den modernen Dorfbau herangezogen. Die künstlerische Anlage des Bebauungsplanes gilt dabei als Grundlage. Feste Baufluchtlinien sollen verhindert, Vor- und Rücksprünge der einzelnen Gebäude aber zugelassen werden, um im Sinne gewachsener Dörfer malerische Asymmetrien zu erzeugen. Ein genügender Abstand zwischen den Gebäuden wird nicht nur aus Feuerschutzgründen anempfohlen, sondern auch, um die Häuser mit Gärten und Grünflächen umpflanzen zu können: Freistehende Einzelhäuser mit umgebenden Gärten gelten als typisch ländlich. Ebenso soll die unterschiedliche Lage und Anordnung der Gebäude auf den Grundstücken das Ortsbild lebendiger und vielfältiger erscheinen lassen. Die Planung von Dorfplätzen als zentrale Mittelpunkte dörflichen Lebens und eine auf die Topographie der Landschaft eingehende, gerne gekrümmte Straßenführung werden ebenfalls den „Reizen“ historischer Dörfer entnommen. Eine schematische Plananlage muß unbedingt vermieden werden. Durch die Dorfplätze und die umgebenden öffentlichen Gebäude sollen die Ansiedler die Möglichkeit erhalten, zu einer stabilen Dorfgemeinschaft zusammenzuwachsen. Die Kirche bildet dabei dorfbildbestimmend das geistige Zentrum des Ortes, das die Menschen ebenso wie die Schule, ein genossenschaftlich genutztes Gemeindehaus und das Gasthaus mit Saal nach dem Vorbild der historisch gewachsenen ländlichen Dorfgemeinschaft regelmäßig zusammenführen soll. Eine einheitliche Gestaltung der Dörfer in Materialverwendung und Maßstab der Gebäude soll ebenso an vorindustrielle Ländlichkeit erinnern wie ein in sich geschlossenes Erscheinungsbild der Dörfer und die Begrünung, die das Dorf mit der umgebenden Landschaft Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie 261 harmonisch verbindet. Pflanzen werden daher als natürlicher Schmuck des ländlichen Hauses gesehen. Die städtische Architektur wird der ländlichen bewußt gegenübergestellt: „Schwer beleidigt aber wird unser Auge, das uns ja all diese Empfindungen vermittelt, durch jede an städtische Bauweise erinnernde Einzel- und Gesamtform, und hierin liegt der Schwerpunkt der Ästhetik jedes ländlichen Baues.“5 Das ländliche Haus ist für den Heimatschutz ganz im Gegensatz zum städtischen Eklektizismus der Gründerzeit von Sachlichkeit und Zweckmäßigkeit geprägt, wobei die ästhetische Gestaltung direkt damit verknüpft ist. Das ländliche Haus wird durch einen möglichst bescheidenen Maßstab, einfache Grundrisse und ruhige geschlossene Baumassen bestimmt. Ein flächiger Wandaufbau, klare, elementare und unornamentale Formen und ein einfaches, kräftiges Dach sorgen für ein auf das Wesentliche reduziertes, zweckorientiertes und handwerklich solides Erscheinungsbild. Zum Charakter des Ländlichen trägt laut Heimatschutz ganz entscheidend die Verwendung von Fachwerk bei, da das Holz als ältestes Baumaterial im Dorfbau gilt. Fachwerkinschriften sowie Giebelverkleidungen kommen schmückend hinzu. Besonders eine kräftige Farbgebung wird als ländlich interpretiert, da sie angeblich die natürliche Farbenfreudigkeit der Bauern ausdrücke. Ansonsten dürfen nur die Sprossenfenster und Türen die schlichten Wandflächen durchbrechen, wobei die hölzernen Klappläden der Fenster eine ländlich-anheimelnde und malerische Stimmung erzeugen sollen. In dem Wunsch, im Gegensatz zum Feinbild „Stadt“ bewußt ländliche Dörfer entstehen zu lassen, treffen sich alle untersuchten Dorfplanungen, auch wenn sie sich im einzelnen voneinander unterscheiden. So veranschaulicht das Dorf Böhmenkirch besonders gut den Gegenpol zwischen Stadt und Land. Der Wiederaufbau ist vor allem von ökonomischen Zwängen bestimmt, der den Planungen für die neuen Gehöfte Einfachheit und Sparsamkeit auferlegt und demonstrativ jeglichen städtischen Luxus zu vermeiden trachtet: Ländlichkeit wird also mit Einfachheit und kostengünstigem Bauen gleichgesetzt. Auch die Waldecker Dörfer und Golenhofen halten sich in städtebaulicher Hinsicht an die heimatschützerischen Grundsätze von Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Dörfer und interpretieren historisch-gewachsene Siedlungen durch die zentrale Anlage von Dorfplätzen mit umgebenden öffentlichen Gebäuden neu. Auch sie zeigen, wie Böhmenkirch, einfache und funktionale Gehöfte mit geschlossenen Gebäudeumrissen und schlichten Dachformen. Gleichzeitig spielen sie mit verschiedenen Fachwerkformen, mit kräftigen Farben, mit Pflanzenschmuck und Fensterläden. Am malerischsten und variantenreichsten ist aber das Musterdorf Golenhofen. 5 Hinz 1911, S. 10. Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie 262 Besonders in den Konzepten der beiden Ausstellungsdörfer drückt sich die Spannweite heimatschützerischen Denkens in Bezug auf den konstruierten Gegensatz Land – Stadt sehr deutlich aus. Das IBA-Dorf zeigt seinen ländlichen Charakter durch die freie Adaption eines in eine Parklandschaft eingebetteten Rundlingsdorfes mit bewußt unregelmäßiger Anlage der Gebäude, die zum Teil sogar ohne rechte Winkel gebaut sind. Die Häuser sind einfach weiß verputzt und mit bäuerlicher Motivik versehen (besonders in Kirche und Gasthof). Das Dorf besteht zudem nur aus ephemerem Bretterwerk und beweist damit, daß es ihm weniger um die Präsentation einer neuzeitlichen Dorfanlage als mögliche Lösung für das ländliche Bauwesen der Gegenwart geht.6 Stattdessen wird hier das theaterhafte Bild eines Dorfes kreiert, in dem sich die städtischen Besucher in eine noch intakte ländliche Welt imaginieren und diese als künstlichen Erholungsort nutzen können. Einzig die Ausstellung des Gehöfts behält den Bezug zur zeitgenössischen Landbaukunst, während die Fortbildungsschule für ländliche Heimarbeit auf den eigentlichen Zweck des Dorfes verweist: Propaganda für den Erhalt von Bauerntum und Dorf zu machen. Entsprechend urteilt Hans Herzog, Mitglied im Direktorium der Ausstellung: „Möchte das Studium der mit dieser Dorfanlage geschaffenen traulichen Landsiedelung mit dazu beigetragen haben, die verhängnisvoll übertriebene Landflucht in eine Großstadtflucht umzuwandeln! Das Hungerleben der Großstädte während des Weltkrieges wird das Weitere dazu tun!“7 Natürlich entspricht auch das Neue Niederrheinische Dorf diesem romantisch-schwärmerischen Ideal. Werkbund und Heimatschutz arbeiten im Dorf gemeinsam daran, das ländliche Bauwesen künstlerisch zu verbessern. Vieles unterscheidet die Anlage jedoch vom IBA-Dorf. So ist das Werkbund-Dorf massiv aus Ziegelstein errichtet: „Es handelt sich also nicht um eine jener romantischen Ausstellungskulissen, wie sie schon so oft als ‚Alt-Leipzig’, als ‚Alt-Düsseldorf’, als ‚Thüringisches Dorf’ usw. in Holz, Gips und Leinwand aufgebaut worden ist, sondern um einen durchaus realen lebendigen Ausschnitt modernen Lebens.“8 Es hält sich zwar durch seine geschlossene Anlage, den Marktplatz und die mittig gelegene Kirche auch an historisch gewachsene Dörfer. Damit das nicht ins Altertümelnde umschlagen kann, sondern einen neuzeitlichen Charakter behält, wird hier jedoch eine sachlich-geometrische Anlage geplant, die strukturell die geometrische Strenge barocker Stadtplanungen aufnimmt. Auch der große Marktplatz wirkt durch seine großflächige rechteckige Form eher wie ein städtischer Marktplatz und erinnert an den Kleinen Markt der Margarethenhöhe in Essen. 6 7 8 In der Publikation zur auf der gleichen Ausstellung errichteten und für die Besiedlung vorgesehenen Gartenvorstadt Leipzig-Marienbrunn wird das Dorf indirekt kritisiert: „Die mannigfachen Mängel, die den auf einer Reihe von Ausstellungen des letzten Jahrzehnts vorgeführten Kleinhausausstellungen in Gestalt von Kulissen-Architektur mehr oder weniger anhafteten, treten bei einem lebenswahren Beispiel [wie der Gartenvorstadt Leipzig Marienbrunn; d.Verf.] kaum hervor.“ Muthesius 1913, S. 48. Herzog 1917, S. 269. Schneider 1914, S. 52. Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie 263 Da das Dorf für die Region des Niederrheins bestimmt ist, in der die Industrialisierung weit fortgeschritten ist, wird das Dorf auch nicht als rein bäuerlich-ländliche Anlage betrachtet, wie die Errichtung mehrerer Arbeiterhäuser (auch für Industriearbeiter) beweist: Das Dorf öffnet sich der Stadt und allem Städtischen mehr als die anderen untersuchten Dörfer. Darüber hinaus sind im Neuen Niederrheinischen Dorf, im Gehöft der Theresia Schielein in Böhmenkirch und auch im Gasthaus Golenhofens Architekturmotive verarbeitet, die eher auf bürgerlich-städtische Motive hinweisen: Stufengiebel, geschweifte Giebel, Eckpilaster, stilisierte dorische Säulen am Weingasthaus und eine stilisierte ionische Säulenordnung an der Schmiede gehen über die vom Heimatschutz für die zeitgenössische Architektur propagierten biedermeierlichen Vorbilder hinaus. Hier werden barocke Versatzstücke wieder aufgenommen, inhaltlich gerechtfertigt durch die Interpretation des 18. Jahrhunderts als Beginn der Aufklärung und Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft.9 Im Gegensatz zu den bäuerlich-biedermeierlichen Formen wie sie in den Waldecker Dörfern und Böhmenkirch, in Golenhofen und dem IBA-Dorf verarbeitet sind, unterscheidet sich das Neue Niederrheinische Dorf davon durch eine bürgerlich-städtische Prägung, die dem künstlerischen Einfluß des Deutschen Werkbunds zuzuschreiben ist. Der Rückgriff auf sachlich-zweckmäßige Bauformen und Motive, wie sie die Heimatschutzbewegung als bäuerlich-ländlich propagiert, finden sich auch in den bürgerlichen Wohnhausentwürfen der zeitgenössischen Architektur wieder. So ist nicht nur die Heimatschutzbewegung vom „sachlichen“ Einfluß der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung beeinflußt, die gegen den Eklektizismus der Gründerzeit kämpft und auf eine neue Gediegenheit, Zweckmäßigkeit sowie Material- und Funktionsgerechtigkeit in der Architektur pocht. Hermann Muthesius führt diese neuen Grundsätze 1902 unter anderem mit seinem Buch „Stilarchitektur und Baukunst“ in Deutschland ein und beeinflußt damit nachhaltig eine ganze Generation von Architekten (wie z.B. Paul Schmitthenner, Richard Riemerschmidt, Theodor Fischer oder Heinrich Tessenow). Geschlossene, blockhafte Baumassen, die Abneigung gegen gründerzeitliche Ornamentik und damit ein Hang zu klassizistischen und biedermeierlichen Bauformen prägt seitdem die Wohnhausarchitektur Deutschlands:10 Hier seien beispielhaft Gartenstadtanlagen wie in Dresden-Hellerau und Leipzig-Marienbrunn oder Arbeitersiedlungen wie Gmindersdorf oder Essen-Margarethenhöhe genannt.11 9 10 11 Vgl. Buchinger 1998, S. 247 und Hirsch 1998, S. 784. Vgl. Nipperdey 1991, S. 725f und beispielhaft: Fischer, Theodor: Wohnhausbauten. Leipzig 1912 oder Tessenow, Heinrich: Der Wohnhausbau. München 1914. Vgl. Knaut 1993, S. 280. Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie 264 Wenn also der Heimatschutz bestimmte Motive und Bauformen wie z.B. das hohe Dach, Fachwerk, eine kräftige Kolorierung oder Fensterläden als typisch bäuerlich-ländlich interpretiert, dann sind diese Elemente mit denen der bürgerlich-kleinstädtischen Architektur der Jahrhundertwende häufig identisch und tauchen im gesamten Deutschen Reich gleichermaßen wieder auf. Die beiden großen Vorbilder des Heimatschutzes, die biedermeierliche Bürgerhaus-Architektur sowie das vorindustrielle deutsche Bauernhaus, verschmelzen in den sieben untersuchten Dörfern. Die architektonischen Muster, die in den untersuchten Dörfern als „ländlich“ oder „heimatlich“ präsentiert und per Bauberatung in dörflichen Neubauten eingefordert werden, sind dabei nur Versatzstücke einer reichen und diversifizierten bäuerlichen Kultur. Der Heimatschutz kümmert sich nur wenig um die volkskundliche Hausforschung. Er geht ihm darum, das Bild des ländlichen Bauerntums zu erhalten. Hausformen und -konstruktionen dienen ihm dabei nur als Mittel zum Zweck. Der Heimatschutz bedient sich mit Fachwerk, Fensterläden, Schleppgauben oder hohen Dächern aus der tradierten bäuerlichen Architektur und stellt sie unter Beimischung bürgerlich-biedermeierlicher Formen neu zusammen. Verkauft wird sie letztlich als „heimatliche“ Architektur: „Heimat wurde in und an Stereotypen festgemacht, die in einem vordergründigen Reiz-Reaktions-Verhältnis Behaglichkeit erzeugen. Heimat wurde und wird von der Stange geliefert.“12 Der Sorge um die Zerstörung bäuerlichen Lebens und Schaffens tritt die Heimatschutzbewegung also mit konkreten architektonischen Handlungsanweisungen gegenüber. Sie beschränkt sich dabei auf ein Lob „ländlicher Poesie“13. Schultze-Naumburg glaubt, das Bauernhaus sei Ausdruck eines „behaglichen, menschenwürdigen Daseins“, geprägt von „unendlich wertvollen moralischen Besitztümern“ und „Gefühlswerten“.14 Er geht sogar so weit, ländliche Armut zu verklären: „Ich kenne ganz arme Gebirgsdörfer, deren Äußeres doch ganz entzückende Formen in der Armut zeigt, weil sie die Tradition behalten und weitergebildet haben.“15 Daß diese emphatisch vorgetragenen Beschreibungen ein verklärendes Bild von einer rein ästhetisch konnotierten Idylle auf dem Lande zeichnen, ist dabei nicht zu übersehen. Obwohl auch Hermann Muthesius das Bauernhaus als Vorbild für die Gestaltung des Arbeiterhauses vorschlägt, sieht er zumindest ein: „Die Bewunderung der Bauernkunst ist 12 13 14 15 Bausinger 1990, S. 83. Vgl. Kahm 1914, S. 33. Vgl. Schultze-Naumburg 1908, S. 31 und 41. Schultze-Naumburg 1909a, S. 57f. Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie 265 eine Sache der Gebildeten und wird von unsern unteren Ständen keineswegs geteilt. Wir oktroyieren unsere Empfindung also eigentlich einem anderen Stande.“16 Um eine Verbesserung der desolaten Lebensverhältnisse der bäuerlichen Schichten kümmern sich die Heimatschützer wenig. Stattdessen propagieren sie eine Fixierung der ständisch-hierarchischen Unterschiede auf dem Lande, die durch die Industrialisierung in Auflösung geraten. So kritisiert Ernst Rudorff: „Knechte und Dienstmägde sind nicht zu haben, weil alles gewinn- und vergnügungssüchtige Volk den Weg zur Fabrikarbeit in die Stadt sucht. So ist zum Vorteil weniger eine natürliche Daseinsform künstlich beseitigt, bei der jedes einzelne Glied der Gesamtheit auf seine Rechnung kam, die also selbst für eine angemessene Verteilung des Besitzstandes sorgte; und das, während die ganze Weltlage unter dem Druck der unglückselig verschobenen Besitzverhältnisse leidet, die durch die reißend schnelle und maßlose Entwicklung der Großindustrie vor allem anderen herbeigeführt worden ist.“17 Eine solche ständisch-soziale Differenzierung der ländlichen Bewohner ist an dem Dorf NeuBerich abzulesen. Die Dreitseithöfe der Großbauern werden repräsentativ am Ortseingang aufgereiht, wo sie bei der Einfahrt ins Dorf sofort ins Auge fallen. Entsprechend dieser sozialen Segregation liegen die kleineren Gehöfte an der Gabelung der Straßen des südlichen Ortsteiles. Dazu kommt die verhältnismäßig aufwendige Ausgestaltung der Höfe am Ortseingang: Ihre Fassadengestaltung ist symmetrisch, das Fachwerk mit Zierkreuzen geschmückt, doppelläufige Treppen führen zu verzierten Haustüren mit Sandsteinumrahmungen. Diese Architekturelemente separieren die großen Gehöfte am Ortseingang gestalterisch von den kleineren – definieren Wohlstand und Besitz. 3. Region und Nation Die Heimatschutzbewegung sieht mit Entsetzen, wie durch Industrialisierung, Verstädterung und die dadurch entstehende Massenkultur die eigene vertraute Lebenswelt egalisiert und uniformisiert wird, wie kulturelle Besonderheiten im Deutschen Reich zerstört werden. Die totale Verfügbarkeit industriell hergestellter Baumaterialien läßt ein schnelles Verschwinden regionaltypischer Bauweisen und das Entstehen einer überregionalen Einheitsarchitektur befürchten. Obwohl die Heimatschutzbewegung unter dem Dachverband „Bund Heimatschutz“ zentral zusammengefaßt ist, organisiert sie sich daher in einzelnen selbständigen Landesverbänden und Ortsgruppen bewußt dezentral. Damit soll gewährleistet werden, daß keine übergeordnete Organisationsform nivellierend auf die einzelnen Regionen des Reiches wirkt, son- 16 17 Muthesius 1906, S. 14. Rudorff 1897, Neudruck 1994, S. 43. Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie 266 dern jedes Land seine landschaftlichen und kulturellen Besonderheiten eigenständig schützt und pflegt. Die Heimatschützer argumentieren dabei in neoromantischer Weise: „So ist der Hausbau mit dem heimischen Boden verwachsen, und ein bayrisches Haus z.B. wäre uns im Schwarzwald, ein Schwarzwaldhaus in Bayern undenkbar.“18 Das Bestreben des Heimatschutzes geht also dahin, „daß wieder nach Stammesart und Charakter, d.h. bodenständig gebaut wird“.19 Sie plädieren für ein Anknüpfen an regionaltypische Bauweisen in ihrer ganzen Verschiedenheit, die mit umgebender Landschaft und Klima sowie dem architektonischen Ensemble korrespondieren. Obwohl alle untersuchten Dorfanlagen aus ökonomischen Gründen an vorhandenen Straßenzügen entlang geplant werden, passen sie sich doch an die regionaltypischen Dorfanlagen an. So plant der Architekt Paul Fischer das Musterdorf Golenhofen als Straßendorf: in Anlehnung an Vorbilder der friderizianischen Kolonisation und an die in der Provinz Posen häufigen Straßendörfer. Raymund Brachmann plant auf der Internationalen Baufach-Ausstellung ein Dorf, das an die Rundlinge anknüpft, die in Sachsen häufig zu finden sind. Die Waldecker Dörfer sind als Mischformen aus Haufen- und Straßendorf (Neu-Berich auch mit Anklängen an Angerdörfer) entstanden und weichen damit nicht von den in Waldeck üblichen, über Jahrhunderte entstandenen Dorfformen ab. Ebenso verhält es sich mit dem Neuen Niederrheinischen Dorf, das trotz seiner Regelmäßigkeit auf die Haufendörfer der Region verweist. Auch die Architekturen der einzelnen Dörfer können auf die Hausformen in der Region zurückgeführt werden. So lehnen sich die drei Waldecker Dörfer an die in Waldeck übliche Bauweise des sogenannten „mitteldeutschen“ Hauses an, das vom queraufgeschlossenen Einhaus bis zur mehrseitigen Hofanlage reicht. Auch die Verwendung von Sichtfachwerk und die rote Ziegelbedachung weisen auf die regionaltypische Bauweise hin. Ebenso wird in Böhmenkirch von allen Architekten das queraufgeschlossene Einhaus geplant und mit Blick auf die örtliche Bauweise der Alb bis auf einige Sichtfachwerk-Auslassungen vollständig verputzt. Besonders die Gehöfte Theodor Hillers zeigen mit den steilen Dächern und der hölzernen Giebelverkleidung die Nähe zu regionalen Vorbildern. Selbst die Ausstellungsdörfer richten sich nach den regionalen Gegebenheiten: Im Neuen Niederrheinischen Dorf werden die Gebäude in Anklang an die vorhandenen Bauweisen vollständig in Ziegelstein errichtet und gedeckt. Kleines und Großes Gehöft lehnen sich an die am Niederrhein üblichen queraufgeschlossenen Bauernhäuser und Dreiseithöfe an. Im IBA-Dorf sind alle Gebäude weiß ver- 18 19 Rebensburg 1913, S. 196. Pinkemeyer 1910, S. 15. Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie 267 putzt, was in Sachsen durchaus üblich ist. Der Vierseithof des Dorfes hält sich an die im Lande vorhandenen Mehrseithöfe. Die untersuchten Anlagen suchen also bewußt die Anbindung an regionaltypische Bauformen, um neue Siedlungen im Sinne des Heimatschutzes wieder mit der bodenständigen Bauweise zu versöhnen und einen Beitrag zur Wiederherstellung ländlichen Arbeitens und Lebens zu leisten. Einzig das Dorf Golenhofen bildet in Bezug auf das regionaltypische Bauen eine Ausnahme. Seine Gehöfte sind nicht daraufhin angelegt, Bauformen der Provinz Posen aufzunehmen, obwohl ein Umgebindehaus und ein weiteres Gehöft mit Vorlaube zumindest auf in der Region übliche historische Bauformen hinweisen. Stattdessen haben wir mit einem Anschauungsobjekt in der Art einer Architektur-Modellausstellung zu tun. Das Dorf soll potentiellen Ansiedlern die attraktive Vielgestaltigkeit einer deutschen Siedlung veranschaulichen, sie auf die Vorteile eines schmucken Eigenheims aufmerksam machen und für eine Ansiedlung im deutschen Osten werben. Das ist jedoch nicht die einzige Aufgabe Golenhofens als Teil der sogenannten „Inneren Kolonisation“: Das Dorf ist auch Instrument für eine Germanisierung des Bodens und vertritt damit das „radikalnationalistische Ideal der ethnisch homogenen Reichsnation“.20 In den verschiedenen Bauernhausformen, die den Facettenreichtum deutschen Bauerntums abbilden sollen, ist damit auch der historische Anspruch des Deutschen Reiches auf die Provinzen Posen und Westpreußen niedergelegt, ist ein Sinnbild für den Wunsch nach Verdrängung oder Eindeutschung der preußischen Polen gegeben.21 Umso erstaunlicher ist der Kommentar des Heimatschützers Robert Mielke in Bezug auf das Dorf Golenhofen: Obwohl das Dorf keine regionaltypischen Grundsätze erfüllt, wird es von ihm als „bodenständig“22 bezeichnet. Was ist also bodenständig im Sinne Robert Mielkes und der Heimatschützer, wenn es nicht die regionaltypische Bauweise ist? Tatsächlich ist in den Schriften der Heimatschutzbewegung sehr häufig die Rede von der „deutschen“ Bauart. So schreibt z.B. W. Pinkemeyer: „Das deutsche Volk hat sich, wenn auch spät, darauf besonnen, daß es eine schöne bodenständige Bauart hat, daß es aus der Vergangenheit schöpfen kann und zur Erzielung guter Wirkungen auch gar keiner fremdstiligen Ornamente bedarf.“23 Für Oskar Schwindrazheim ist die „Bauernkunst“ ebenfalls geprägt von der „Betonung der Nationalität“24. Zwar sind die deutschen Bauernhäuser für den Heimatschutz von so großer 20 21 22 23 24 Vgl. Wehler 1995, S. 1068f. Vgl. Wehler 1995, S. 1068. Mielke 1907/08, S. 68. Pinkemeyer 1910, S. 9. Schwindrazheim 1901, S. 496. 268 Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie Bedeutung, weil sie Beweis ablegen für die bauliche Vielfalt der einzelnen Hauslandschaften. Trotzdem hat ihr Status als „deutsche“ Bauernhäuser oberste Priorität: Sie verdeutlichen damit auch das wachsende Selbstbewußtsein einer jungen Nation, die sich der kulturellen Vielfalt der verschiedenen Regionen in der kulturellen Einheit der Nation versichern will. „Alle Vaterlandsliebe aber wurzelt in der Heimatsliebe!“25 Der Begriff Heimat wird wie selbstverständlich auf die Nation projiziert – Heimat impliziert also ein Nationalgefühl, Heimatschutz den Schutz des Deutschen Reiches als nationale Kategorie.26 Bedroht von den Schrecken der Industrialisierung gelten den Heimatschützern nicht nur die regionalen Architektursprachen, sondern die deutsche Architektur schlechthin als Elemente deutscher Identität. In diesem Sinne zeigen die untersuchten Dorfarchitekturen im direkten Vergleich miteinander zwar, daß sie in Anlehnung an die in der jeweiligen Region üblichen Architektur geschaffen worden sind. Wenn man ihre Entstehungsorte jedoch nicht kennen würde, wären dann Regionalbezüge ohne weiteres an ihnen abzulesen? Das IBA-Dorf mit seinem Vierseithof und den verputzten Gebäuden könnte z.B. im ganzen „mittel- oder süddeutschen“ Raum zu finden sein, in dem Putzbauten laut Heimatschutz üblich sind.27 Ansonsten zeugt nichts von einer auf den sächsisch-thüringischen Raum zugeschnittenen Architektursprache. Auch das Neue Niederrheinische Dorf zeigt durch seine Ziegelrohbauten nur, daß es sich auf die Architektur des nördlichen Deutschlands bezieht. Auch im direkten Vergleich der Waldecker Dörfer mit Böhmenkirch und Golenhofen fallen immer wieder die gleichen Bauweisen und Bauelemente auf: Die blockhafte Anlage der Gebäude mit schlichter Wandflächigkeit, einfache, mit Ziegeln gedeckte Dachformen, die Verwendung von Fachwerk (vornehmlich in den oberen Geschossen), ansonsten helle Verputze, Sprossenfenster mit Fensterläden, Giebelverkleidungen aus Holz und Ziegel und eine kräftige Farbigkeit. Diese Bauformen und Bauelemente sind letztlich von Dorf zu Dorf austauschbar. So sind alle Gebäude unter dem Einfluß der Arts and Crafts-Bewegung aus klassizistisch-biedermeierlichen Vorbildern entstanden und einem „gemäßigten bürgerlichen Traditionalismus“28 verpflichtet. Auch die Entwürfe der Landbau-Architekten Philipp Kahm und Ernst Kühn stellen architektonische Prinzipien und Formen vor, die unabhängig von regionaltypischen Formen gebaut und in ganz unterschiedlichen Regionen Deutschlands vorkommen könnten. Sie ähneln in dieser Hinsicht z.B. auch den Bauten der Arbeitersiedlung Gmin- 25 26 27 28 Schmidt 1911, S. 9. Vgl. dazu auch Hirsch 1998, S. 784. Heimatschutz als Phänomen des Nationalgefühls findet sich auch in den anderen Nachbarstaaten und bedingt sich gegenseitig. So schreibt Buchinger, daß der propagierte Regionalbezug z.B. darin bestünde, daß im Norden der Backsteinbau, im Süden der Putzbau vorherrsche. Vgl. Buchinger 1998, S. 249. Hirsch 1998, S. 785. Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie 269 dersdorf bei Reutlingen (das als Beispiel einer erneuerten „Dorfarchitektur“ des 20. Jahrhunderts gepriesen wird)29 oder den Bauten der Gartenstadt Dresden-Hellerau. Alle zu dieser Zeit entstandenen Wohnbauten präsentieren ruhige, klare Linienführungen. Weiße oder helle Putzbauten werden in diesen Siedlungen gern mit Fachwerkobergeschossen oder -giebeln kombiniert, Sattel- oder Mansarddächer mit Schopf erhalten unauffällige Gauben, Giebel werden manchmal geschweift angelegt und Sprossenfenster erhalten selbstverständlich Fensterläden. Es handelt sich also bei der Heimatschutzarchitektur in ganz Deutschland letztlich um reproduzierte, überregionale Muster für Stadt und Land, die mal als bürgerlich, mal als bäuerlich-ländlich interpretiert werden. Es sind immer die gleichen Bauformen und Bauelemente, die zu Erkennungszeichen bodenständigen Bauens stilisiert werden. Die Bauten wollen weniger in kleinräumiger Hinsicht als im nationalen, „vaterländischen“ Sinne als heimattypisch bewertet werden.30 Der romantisch-national eingestellten Heimatschutzbewegung gilt es als nationale Pflicht, sich um den Erhalt der heimatlichen Schönheiten im eigenen Lande zu kümmern. Willy Lange beweist in einem Satz, wie diese „heimatliche“ Architektur zu verstehen ist: „Oft hilft aus allen Schwierigkeiten eine ‚neutrale’ Ländlichkeit des Stils, die sich nicht eng örtlich anschmiegt, aber auch nichts verdirbt.“31 Lange spricht hier aus, was auch die Architektur der Zeit letztlich ausmacht: Trotz ihrer Bezüge auf regionaltypische Bauformen und -materialien erfüllen sie die Forderung nach einem einheitlichem, reichsweiten „ländlich-neutralen“ Stil. 4. Tradition und Moderne Der Heimatschutz betrachtet das Zeitalter der Industrialisierung als Bruch in der quasi instinktiven kulturellen Tätigkeit des Menschen. Wenn es nicht gelinge, das Neuschaffen harmonisch in den Altbestand einzufügen, dann bedeute das die Vernichtung deutscher Kultur und damit deutscher Identität. Die Heimatschützer sehen sich als Retter deutscher Kultur und Architektur und fühlen sich deshalb berufen, auch die ästhetischen Kriterien für diese große Aufgabe zu bestimmen. Ein rein protektionistischer Umgang mit deutscher Kultur ist jedoch durch den rasanten Fortschritt der Industrialisierung unmöglich geworden. So muß die Heimatschutzbewegung einsehen, daß sie sich mit den wirtschaftlich-technischen und den sozialen Entwicklungen Deutschlands auseinanderzusetzen hat, um glaubhaft agieren zu können: 29 30 Vgl. Howaldt 1982, S. 346. Vgl. auch Hirsch 1998, S. 785. Das Phänomen des Nationalgefühls ist jedoch nicht nur auf Deutschland beschränkt, sondern auch in den europäischen Nachbarstaaten zu finden. Ebd., S. 784. Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie 270 „Heute verstehen wir unter Heimatschutz nicht nur die Erhaltung der alten Schönheiten und das, was neu geschaffen wird, in alten Formen zu lösen, sondern vielmehr alles das, was, ohne dem Alten gleich zu sein, sich in seiner Neuheit dem Alten harmonisch anfügt’ und den Sinn des Alten erfassend, Neues in neuer Gesinnung entstehen läßt.“32 In Bezug auf die Architektur betont sie zwar die Notwendigkeit, gestalterisch an die vorindustrielle Zeit anzuknüpfen. Sie akzeptiert jedoch auch technische und wirtschaftliche Neuerungen im Bauwesen: „Die Alten können überhaupt in vielen Dingen auf baulichem Gebiete noch unsere Lehrmeister sein, und wir werden richtig in ihrem Geiste schaffen und das Altüberkommene ergänzen und korrigieren, wenn wir unter Benutzung der der Neuzeit zur Verfügung stehenden technischen Mittel, etwa unter Benutzung der Eisenbetonbauweise, dem großzügigen Maßstab und den Verhältnissen der Neuzeit uns anpassen.“33 Tradition und Moderne sind also für den Heimatschutz nicht voneinander zu trennen und bedingen sich gegenseitig nach dem Muster einer „rückwärtsgewandten Fortschrittlichkeit“. Ein Beispiel dafür bieten die drei Waldecker Dörfer: Durch Planung und Bau der Edertalstaumauer wird eine exemplarische Situation geschaffen, die fast sinnbildlich stehen könnte für den Übergang einer Gesellschaft vom Agrarstaat zur Industrienation. Denn die tradierten dörflichen Strukturen, ihre Architektur wie ihr soziales Gefüge müssen im Stausee als monumentalem Artefakt der Moderne versinken. Und anstatt diese Strukturen der Industrialisierung preiszugeben, wird der historische Versuch gewagt, die Dörfer unter Berücksichtigung fortschrittlicher Erkenntnisse und der Wünsche der Umsiedler sprichwörtlich in die Moderne zu übersetzen, sie korrigierend zu konservieren, ohne ihre überlieferte Ordnung einem inzwischen angebrochenen Zeitalter zu opfern. Damit wird die bäuerliche Dorfarchitektur strukturell wiederhergestellt und lediglich formal weiterentwickelt. Ein weiteres Beispiel, das den unterschiedlichen Umgang mit Tradition und Moderne veranschaulicht, sind die beiden Ausstellungsdörfer. Das IBA-Dorf wendet sich (mit Ausnahme der Ausstellung innerhalb des Gehöfts) städtebaulich und symbolisch von allen modernen baulichen Errungenschaften der Internationalen Baufach-Ausstellung ab und bleibt in sich geschlossen. Aus Holz und Leinwand errichtet, präsentiert es das retrospektive Bild einer idyllischen ländlichen Dorfanlage. Im Gegensatz dazu öffnet sich das Neue Niederrheinische Dorf sprichwörtlich der Moderne, indem beide Dorfwege in Richtung der Ausstellung geöffnet sind und damit symbolisch die Isolation des ländlichen Dorfes aufheben. Einer der Dorfwege führt sogar direkt auf den Eingang der Gropius’schen Musterfabrik zu und signalisiert Offenheit und Akzeptanz gegenüber der Industrialisierung. 31 32 33 Lange 1910, S. 17f. Altenrath 1914, S. 42. Hecker 1909, S. 40. Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie 271 Keine der untersuchten Dorfanlagen ist eine bloße Neuauflage, keine kommt ohne die Innovationen der Industrialisierung und den Fortschritt von Hygiene und Technik aus. In städtebaulicher Hinsicht halten sich alle Dörfer daran, den Bewohnern eine lichte, luftige und funktionale Anlage der Straßenzüge und genügende Abstände zwischen den Gehöften zu ermöglichen. Selbst die enge Bebauung Böhmenkirchs wird durch die Neubauten geräumiger und zweckmäßiger. Außerdem läßt man sich hier die einmalige Gelegenheit nicht entgehen, die ehemals engen Gassen zu verbreitern, abzuflachen und zu begradigen. Jedes der Dörfer wird überdies mit den neuzeitlichen Hygienevorstellungen entsprechenden Abortanlagen und Wasserleitungen ausgestattet. Sogar Bade- und Duschmöglichkeiten sind gegeben, die in Golenhofen und Neu-Berich öffentlich nutzbar sind. In den Ausstellungsdörfern zeugen sogar einige private Baderäume in den Wohnbauten von großer Fortschrittlichkeit. Im Neuen Niederrheinischen Dorf weist sogar ein Transformatorenhaus auf den künftigen Siegeszug der Elektrizität auch auf dem Lande hin. Auch die einzelnen Gehöfte der Dörfer haben sich durch die gesteigerten Wohnansprüche sowie die zu steigernden Landwirtschaftserträge vergrößert − wie in Böhmenkirch. Die Tendenz hin zum monofunktionalen Bauen hat zumindest auf viele Gebäude der größeren Gehöfte einen entscheidenden Einfluß, denn die verschiedenen Funktionsbereiche werden getrennt voneinander errichtet − wie in den großen Höfen Neu-Berichs und den Ausstellungsdörfern. Aber auch in vielen der kleineren Gehöfte erreicht man eine größere Distanz zwischen Wohnräumen und Ställen, indem die Gebäude nur an den Ecken zusammengebaut sind − wie in Golenhofen. Wahlweise werden sie auch durch den Einschub von Tenne, Futterküche oder zumindest durch starke Brandwände voneinander geschieden. Die Stellung der Hofgebäude untereinander sowie deren Grundrißeinteilung sind nach funktionalen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten gewählt. Die Ställe erhalten massive Ziegelwände und Lüftungen. Moderne Wirtschaftsgebäude sind in den Ausstellungsdörfern zu besichtigen und klären Architekten und Landwirte über eine moderne Landwirtschaftsführung, der Gesundheit der Tiere zuträgliche Ställe und moderne und geräumige Scheunen auf. Besonders die in den Dörfern verarbeiteten Baumaterialien zeigen, daß die Architekten an industriellen Produkten aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr vorbeikommen. Industriell hergestellter Ziegel wird in großen Mengen verbaut, weil er kostengünstig und haltbar ist. Das Gehöft auf der IBA stellt verschiedenste neuartige Baustoffe aus, wie z.B. Tekton. Paul Fischer verbaut in Golenhofen Dachpappe, Zement- und Kalkkunststeine sowie Zementestrich. In Böhmenkirch werden in jedem Gehöft Betonfundamente angelegt und Karl Meyer 272 Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie verwendet in den Waldecker Dörfern neben Asphaltfolie und mit Zement versetztem Kalkmörtel auch Beton und Eisen – letzteres z.B. in Form von T-Trägern.34 Interessant ist jedoch, daß diese modernen Baumaterialien (mit Ausnahme der Dachpappe in Golenhofen) am Außenbau nicht zu sehen sind. Sichtbar sind nur die Materialien, die dem Heimatschutz als bodenständig gelten und sich seiner Meinung nach harmonisch ins bauliche und landschaftliche Ensemble eingliedern. Fortschritt ist also nur insoweit zulässig, als er nicht das Bild eines „ländlichen“ Hauses verunstaltet. Nur kaschiert und verkleidet wird er im modernen Bauen akzeptiert. Der Heimatschutz setzt sich nicht auseinander mit den Realitäten und Problemen des industrialisierten und kapitalisierten Deutschlands, sondern kreiert stattdessen eine heile Gegenwelt, in der die vorindustriellen Strukturen noch stabil und von den Bedrohungen der modernen Welt verschont scheinen. Der Rückbezug auf bauliche Traditionen ist also für den Heimatschutz von viel essentiellerer Bedeutung als das Streben nach Modernität. Ebenso wie er als ländlich interpretierte Versatzstücke in seine Neubauten aufnimmt, so stellt er auch selektiv Ausschnitte der Vergangenheit zusammen, um daraus ein romantisiertes Bild in die Gegenwart zu übertragen und den vermeintlich „zerrissenen Faden“35 der Überlieferung wieder aufzunehmen. Dazu gehört eben, vor allem im Siedlungsbau, die Übernahme von als volkstümlich erachteten Elementen aus dem ländlichen Formenrepertoire, die aber letztlich ahistorisch sind.36 So plädiert der Heimatschützer Joseph August Lux für einen zeitlosen Stil, der Funktionalität und Einfachheit Rechnung tragen und die „zeitlose“ Architektur des Bauernhauses zum Vorbild nehmen solle.37 Laut der Heimatschützer greifen die Grundformen der Bauernhäuser nämlich zurück in eine mythische Vergangenheit und stehen in einer Art „Ewigkeitsdauer des Typus“ unveränderlich jenseits der Zeit.38 Deshalb ist das Interesse der Heimatschützer an hauswissenschaftlichen Zusammenhängen auch so gering. Die Fachwerkformen geben zwar grundsätzlich das Bestreben zu erkennen, auf vorindustrielle Bauformen und -materialien zurückzugreifen, sind aber immer als moderne Schöpfungen erkennbar. 34 35 36 37 Vgl. Meyers Baubeschreibung zu den Gehöften. Vgl. Meyer 1914, S. 3. Vgl. dazu Hartung 1991, S. 116. Nach Wilhelm Ribhegge zerlege konservativ-bürgerliches Denken „Bewegung in Momentanquerschnitte, atomisiere zeitliche Kontinuität und richte den Blick auf den jeweils augenblicklichen Stand des Gesamtwillens, ohne Bezug auf Vergangenheit und Zukunft“. „Die Grundform, die bis in die Urgeschichte der Menschheit zurückreicht, blieb bis zum heutigen Tage unberührt von den Formeln der Kunstgeschichte und hat sich als organisches Gebilde erhalten, das aus dem Leben und seiner Notdurft herausgeboren ward...“ Vgl. Lux, Joseph August: Das moderne Landhaus. Ein Beitrag zur neuen Baukunst. Wien 1906, S. 7-9, zit. bei Imhof 1996, S. 509f. Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie 273 Zwar agiert die Heimatschutzbewegung gegen eine eklektizistische „Überfrachtung“ von gründerzeitlichen Gebäuden, beruft sich aber selbst auch auf biedermeierliche und klassizistische Vorbilder vor allem aus dem Wohnhausbau. Ein Fundament dafür bildet das epochemachende Werk von Paul Mebes „Um 1800“, das 1908 veröffentlicht wird und sich vor allem auf den bescheidenen Klassizismus der Goethezeit bezieht. Vor allem monumentale städtische Bauaufgaben knüpfen um die Jahrhundertwende häufiger an klassizistische, barocke oder biedermeierliche Vorbilder an.39 Die ländlichen Bauten wenden sich dagegen vor allem Vorbildern der „anonymen“ Architektur zu. Sie erhalten häufig biedermeierliche oder klassizistische Proportionen, Flächenbehandlungen und Gliederungen. Auch hier finden sich barockisierende Stilelemente, wie z.B. Mansarddächer und Fledermausgauben, geschweifte oder gestufte Giebel und Säulenordnungen. Diese Formen werden aber laut Sieferle gemildert und in den bescheidenen Aufbau der Dorfgebäude eingebunden.40 Reduzierte Historismen verleihen der handwerklichen Zweckmäßigkeit der Dorfbauten eine künstlerische, verspielte Anmutung. Kreativität ist dem Heimatschutz also trotz des Anknüpfens an Traditionen sehr wichtig. So sagt Robert Mielke in Bezug auf Golenhofen: „Eines indessen legen diese Posenschen Schöpfungen nahe: ein ängstliches Anklammern an alte Vorbilder tut’s allein nicht, das so oft in Thüringen oder Süddeutschland den künstlerischen Genuß beeinträchtigt.“41 Eine zeitgenössische künstlerische Leistung wird also als zentral erachtet, eine bloße Imitation historischer Bauten oder deren Einzelelemente dagegen abgelehnt.42 Der gründerzeitliche Historismus wird als Konglomerat aus nur äußerlich angewandten unterschiedlichen Stilformen kritisiert: „Über all diesen vermeintlichen Stilechtheiten ist uns der wahre Stil überhaupt verloren gegangen! [...] Man hat also den Fehler begangen: die äußere Form als Wesen des Stils zu nehmen!“43 Ziel der Heimatschützer ist es daher, einen neuen „Stil“ zu entwickeln, der an den als organisch und unbewußt interpretierten Kunstsinn vorindustrieller Bauten anknüpft: 38 39 40 41 42 Vgl. dazu Linse 1986, S. 53. Hier sei z.B. die Barock- und Klassizismusrezeption in Westfalen genannt, die Birgitta Ringbeck näher untersucht. Ringbeck 1991, S. 236-249. Vgl. auch Knaut 1993, S. 280. Hingewiesen sei hier z.B. auch auf die Entwürfe Schultze-Naumburgs, der in diesem Sinne vornehmlich herrschaftliche Bauaufgaben entwickelt hat. Bei aller Kritik am gründerzeitlichen Historismus wird die Wiederaufnahme dieser verhaltenen Historismen im Heimatschutz als „landes- bzw. regionaltypisch“ gerechtfertigt. Vgl. ebd., S. 227. Um eine heimische Bauweise zu erzielen, „kann man sich, je nach den örtlichen Verhältnissen, verschiedener Stilarten bedienen, des gotischen Stils, der Renaissance, des Barocks, ja des Rokokos und selbst des modernen Stils, sofern er nur seiner Umgebung sich künstlerisch anzuschmiegen versteht.“ Schultze 1911, S. 22. Vgl. Sieferle 1984, S. 180. Mielke 1907/08, S. 68. Vgl. Otto 1983, S. 152. 274 Heimatschutz und Bauerndorf – Ästhetik und Ideologie „Denn nicht die stilistischen Einzelheiten sind es, welche die Bedeutung eines Bauwerkes im Sinne des Heimatschutzes ausmachen, sondern das Mass, in dem sich der Rhythmus seiner Massen, seines Umrisses und seiner Farben in der Umgebung einfügt.“44 Laut Andreas Knaut ersetzt der Heimatschutz den Stil gleichsam durch ein Stilprinzip:45 Unter heimischer Bauweise sei also kein bestimmter künstlerischer Stil zu verstehen,46 sondern einer, der sich das „Einförmige in gutem Sinne“ und das „Typische“ zur Voraussetzung mache.47 Im Blickpunkt der Heimatschutzbewegung steht daher nicht die „Hochkunst“, sondern das alltägliche Bauschaffen vor allem von Wohnhäusern und Bauernhöfen, um die Erhaltung der Lebenswelt jedes einzelnen Menschen zu gewährleisten: „In diesem tieferen Sinne ist auch die Bauernkunst nicht ‚steril’, und sie redet auch nicht in ‚Phrasen, die nur Eigenes haben, soweit sie Höfisches, Städtisches, Künstlerisches travestieren’. Gerade das Volkskundlich-Primitive interessiert heute mehr als die subjektiv-verfeinerte Zierform, die für Kritik und Kunstgeschichte den Hauptinhalt bildet.“48 43 44 45 46 47 48 Vetterlein 1905, S. 11. Schmidt 1911, S. 4. „Regionalismus ist kein Stil, sondern ein Wertsystem. Elemente dieses Systems sind: Tradition, Einfachheit, elementare und durchschaubare Technologie, Alltagskultur, Allgemeinverständlichkeit, Volksnähe usw.“ Dworsky 1989, S. 40. Vgl. Knaut 1993, S. 285. Vgl. Schultze 1911, S. 22. Vgl. Ehmig 1916, S. 86. Ehmig 1916, S. 86. 275 V. Schluß Die Untersuchung hat gezeigt, daß jede der untersuchten Dorfanlagen unter dem direkten oder indirekten Einfluß der Heimatschutzbewegung entstanden ist. Aus Sorge um eine Verrohung bzw. Zerstörung der alltäglichen Lebenswelt der Menschen durch die Industrialisierung und ihre Folgen sollen Neubauten wieder an ihre Vorläufer „um 1800“ anknüpfen. In dieser Zeit war laut Heimatschutz die Architektur noch an das Handwerk angeschlossen und damit zweckmäßig und sachlich. Außerdem gilt sie als letzte Phase einer originär „deutschen“ Architektur mit regionalen Ausprägungen, die noch nicht von internationalen und eklektizistischen Entwicklungen betroffen seien. Die Wiederaufnahme dieser Architekturformen geschieht daher immer auch aus nationalistischen Beweggründen. Steingewordener Konservatismus, nämlich das synthetische Nachempfinden und Erhalten agrarischer Strukturen in der Sprache der Architektur, wird von einer Gesellschaft honoriert, die den Verfall tradierter, „bewährter“ und ständisch geschlossener Ständeordnungen befürchtet und unwillig ist, die Ursachen dieser Veränderungen zu erkennen. Eine bildungsbürgerliche Oberschicht strebt danach, ein retrospektives und anachronistisches Gegenbild zu einer Gesellschaft zu schaffen, die doch bereits hochgradig diversifiziert und urban organisiert ist. Besonders in den Kleinstädten und auf dem Lande setzt sich daher ein vom Heimatschutz geregelter Stildirigismus durch. Dieser Heimatstil negiert jedoch trotz der Inanspruchnahme zeitgenössischer Materialien weitestgehend die modernen baulichen Entwicklungen und rechtfertigt dies mit der These, architektonische Veränderungen auf dem Lande seien, wenn überhaupt, immer nur sehr langsam vonstatten gegangen. Er setzt dem ein künstlich fixiertes bauliches Programm entgegen, das häufig nicht mehr das Verständnis der Menschen, in diesem Falle der bäuerlichen Ansiedler findet. Denn der Heimatschutz verneint hartnäckig, daß sich die Architektur je nach den politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen schon immer konstant fortentwickelt hat und weiter fortentwickeln wird – so auch im Wilhelminischen Deutschland. Er zeigt sich blind gegenüber den Wünschen der Landwirte, die modernen bautechnischen Entwicklungen (wie auch ihre Vorfahren es getan haben) für eine ökonomische und fortschrittliche Bauweise zunutze machen. Dem Heimatschutz wird auch von zeitgenössischen Architekten wie Hermann Muthesius, Hans Bernoulli oder Adolf Loos harsch zum Vorwurf gemacht, sich auf das „Heilserum 1830“ zu versteifen und damit einem Schematismus und Schablonismus Raum zu geben, der auf eine völlige Stagnation in der Fortentwicklung des Bauwesens hinauslaufe.1 Die Ent1 Vgl. Knaut 1993, S. 260f. Schluß 276 wicklung vom Schutz der heimischen Lebenswelt hin zum Zwang, alles neu zu Bauende an eine historische Epoche anzupassen, sei auf Dauer unhaltbar. Es verwundert nicht, daß sich viele der Heimatschutzbewegten in den 20er-Jahren – angewidert vom Bauhaus und seinen Bestrebungen, die deutsche Architektur völlig vom „Heimatboden“ zu lösen – mehr und mehr völkischen und rassistischen Positionen zuwenden und im Nationalsozialismus die Zukunft einer auf heimischem Boden gegründeten Baukunst erblicken. Obwohl der Heimatschutz dezentral organisiert ist, die NS-Ideologie jedoch den Zentralismus vertritt, lassen sich die Ideale des Heimatschutzes mit dem nationalsozialistischen Gedankengut vereinbaren und für die Blut-und-Boden-Ideologie instrumentalisieren. Trotzdem hat der Heimatschutz auch viel Positives bewirkt: Er hat zusammen mit den anderen Wilhelminischen Reformbewegungen erstmals gegen den Materialismus und die Technikgläubigkeit der kapitalistischen Gesellschaft aufbegehrt und die sozialen, baulichen und ökologischen Defizite der Moderne angeprangert. Er hat sich gegen den seelenlosen Reißbrett-Schematismus im Städtebau zur Wehr gesetzt und eine auf die Topographie der Landschaft eingehende Alternative propagiert. Die Verbindung zwischen Mensch, Bauwerk und Landschaft hat er in der Idee des Ensembles erstmals publik gemacht und zu einem Schutz der verschiedenen, einzigartigen Kulturlandschaften aufgerufen. Damit hat er auch der modernen Denkmalpflege wichtige Grundlagen geliefert, die sich noch heute in den Denkmalschutzgesetzen spiegeln. Auch im Bauwesen hat er den gründerzeitlichen Prunk kritisiert und als Alternative das einfache, zweckmäßige Wohnhaus vorgeschlagen. Trotz seiner vorindustriellen Vorbilder ist es durch seine eigenständige Baukörpergestaltung, seine differenzierte Farbigkeit und die gediegene, wenn auch bescheidene Dekoration von hoher baulicher Qualität.2 Der Verdienst des Heimatschutzes ist es, das alltägliche Bauwesen überhaupt in den Blickpunkt der Architekten gerückt zu haben. Besonders das ländliche Bauwesen hat von der zentralen Stellung im Aufgabenbereich des Heimatschutzes profitiert, sodaß sich Dörfer und Bauernhöfe sukzessive baulich verbessern konnten. Insofern hat die Heimatschutzbewegung gerade den unteren Schichten der Landbevölkerung den Sprung in die Moderne ermöglicht. Die untersuchten Dörfer sind (mit Ausnahme des IBA-Dorfes) schon damals keine vergangenheitsseligen „Freilichtmuseen“, sondern nach modernen Gesichtspunkten auf die Bedürfnisse ihrer Bewohner zugeschnittene Siedlungen. Die rigiden baulichen Bestimmungen und die Qualität der Bauten ändern jedoch nichts daran, daß ihre Bewohner bald nach Fer2 Vgl. Hirsch 1998, S. 783. Schluß 277 tigstellung der Dörfer beginnen – kaum ist der Alltag eingekehrt – den ihnen gegebenen Lebensraum nach individuellen Notwendigkeiten und Möglichkeiten umgestalten; hier wird ein Stockwerk aufgesetzt, dort ein Stall erweitert. Später diktieren die Zeitläufte selbst die weitere, organische Entwicklung der Gebäude. Es werden große, hellere Fenster eingesetzt, man birgt das vormals hochgelobte Fachwerk unter Kunststoffverschalungen oder Eternit-Platten – und es entstehen in Nachbarschaft der „altehrwürdigen“ Bauernhäuser gar sachliche Bungalows. Da Golenhofen und die Waldeckischen Dörfer bis heute agrarisch geprägt sind, hat sich in ihnen vergleichsweise wenig verändert. In Böhmenkirch dagegen, das 1967 durch den Ausbau der Bundesstraße 466 an die industrialisierten Talregionen angeschlossen wird ist bis auf wenige Ausnahmen keines der 1910 errichteten Gebäude mehr vorhanden. Sie werden in den 60er und 70er-Jahren durch große, massive Wohnhäuser ersetzt. Im Jahre 1986/87 schließlich wird Neu-Berich, als einziges im 20. Jahrhundert errichtetes Dorf in Deutschland, als Gesamtensemble unter Denkmalschutz gestellt.3 Die einzigartige Geschichte der Siedlung, ihre geschlossene, mustergültige Architektur soll erhalten werden. Erneut ist also eine Zeit angebrochen, die das Dorf als funktionale Alternative zur anonymisierten Struktur der Städte empfiehlt. Und wo die Bulldozer urbanisierender Modernität ihre Spuren hinterlassen haben, hat es sich die Dorferneuerung der Gegenwart zum Ziel gesetzt, ländlichen Lebensraum fern einer „museale[n] Konservierung und idyllische[n] Verklärung […] erneut lebensfähig zu machen und in seiner charakteristischen, regionalen Eigenart als Gegenbild zum ‘Lebensraum Stadt’“ zu rekonstituieren.4 Dorferneuerung integriert reformierende, modernisierende und ökologische Akzente in hergebrachte Strukturen – und wirkt damit auf eben jenem Feld, das ihr die Heimatschutzbewegung bereitet hat.5 3 4 5 Vgl. „Komplett geschützt“ 1987. Vgl. „Dorfentwicklung - Dorferneuerung“ 1988, S. 16. Vgl. dazu den Aufsatz von Hanns Haas: „Städtische Dorfbilder. Vom Scheitern agrarromantischen Wunschdenkens“ in Dachs 1992, S. 9-19. 278 VI. Quellenverzeichnis 1. Ungedruckte Quellen Golenhofen Staatsarchiv Posen (Archiwum Panstwowe w Poznaniu), [Archiv Posen]1 Akten des Landratsamtes Posen-West: Sign. 296: Die Besiedelung der Ansiedelungsgüter im Kreise Posen-West 1899-1923. Katasteramt Poznan (Urzad Katastralny Poznan): Sign. 759: Golenczewo/Golenhofen 1866-1885. Staatsarchiv Posen, Abteilung Gnesen (Oddzial w Gnieznie), [Archiv Gnesen] Reg. VII: Inventar der Ansiedlungskommission für Westpreussen und Posen 1886-1918/1939: Sign. 3380: Golenhofen, Verwaltung 1901-1903. Sign. 3382: Abverkauf einer Landfläche von Golenhofen an den Eisenbahnfiskus 19011914. Sign. 3383: Golenhofen, Gemeindeverhältnisse 1903-1910. Sign. 3385: Golenhofen, Ansiedlung 1902-1912. Sign. 3386: Golenhofen, Versicherung 1902-1921. Sign. 3387: Golenhofen, Kirchenverhältnisse 1902-1910. Sign. 3388: Golenhofen, Schule 1902-1925. Sign. 3396: Golenhofen, Wegebau 1902-1916. Böhmenkirch Gemeindearchiv Böhmenkirch [GA Böhmenkirch] Signatur B 35: Gemeinderats-Protokolle 1910-1913. Kreisarchiv des Landkreises Göppingen [KA Göppingen] Schachtel-Nr. 714.4, Bund 1-9: Böhmenkirch, Brand vom 14.04.1910. Staatsarchiv Ludwigsburg [StA Ludwigsburg] Bestand E 179 II: Kreisregierung Ulm: Büschel 3498: Schulden- und Grundstockswesen der Gemeinde Böhmenkirch. Büschel 4711: Brandfall in Böhmenkirch. Bestand E 191: Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins: Büschel 2339-2340: Sammlung für die Brandgeschädigten in Böhmenkirch. Hauptstaatsarchiv Stuttgart [StA Stuttgart] Bestand E 151/07: Innenministerium, Abteilung VII: Natur- und Heimatschutz, Feuerpolizei und Feuersicherheit, Gebäudebrandversicherung, Straßenverkehr, Straßen- und Brückenbau, Eisenbahnen Büschel 492: Brand von Böhmenkirch 1910-1917. 1 In eckigen Klammern stehen die Abkürzungen aus den Fußnoten. 279 Quellenverzeichnis Die waldeckischen Dörfer Hessisches Staatsarchiv Marburg [StA Marburg] Bestand 122: Waldeckisches Landesdirektorium: Nr. 2074: Ablieferung der Ortsarchive der durch die Edertalsperre verschwindenden Dörfer in das Staatsarchiv und Erhaltung der Klosterkirche in Berich 1907-1912. Nr. 2075: Anderweitige Ansiedlung der Bewohner des Edertalsperrengebiets 19081915, 1925. Bestand 180: Landratsämter; LA Arolsen: Nr. 2790: Ansiedlung von Neu-Berich auf der Domäne Büllinghausen 1911-1914. Bestand 607: Wasser- und Schiffahrtsamt Kassel: Nr. 19: Besiedelung der Domäne Büllinghausen - Allgemeines 1913. Nr. 20: Anlage einer Wasserleitung auf der Domäne Büllinghausen 1910-1913. Nr. 21: Verkauf der auf der Domäne Büllinghausen befindlichen Gebäude usw. 1910-1912. Nr. 22: Besiedelung der Domäne Büllinghausen - Verschiedenes 1910-1911. Nr. 58: Erbauung einer Kirche und einer Schule in Neu-Berich sowie Anlage des Friedhofs 1910-1913. Nr. 272: Besiedelung der Domäne Büllinghausen - Allgemeines 1910-1911. Kirchenarchiv Hemfurth Akte II.3.1.1.4.: Wiedererrichtung der Kirche in Neu-Bringhausen 1912-1917. Die Ausstellungsdörfer Stadtarchiv Leipzig [StdA Leizpig] Akte 75A: Ausstellungen: Nr. 71: IBA Leizpig 1913, Beiheft 2, Die Internationale Baufach-Ausstellung Leipzig 1913, Drucksachen 1910-1913. Nr. 77: Die Internationale Baufach-Ausstellung Leipzig 1913, 1912-1915. Bauakten 6334: Internationale Baufach-Ausstellung: „Dörfchen“ 1912-1913. Historisches Archiv der Stadt Köln [HistA Köln] Bestand 34: Baupolizei, Abgebrochene Häuser, Werkbund-Ausstellung 1914: Nr. 1703: Briefwechsel mit der Werkbundleitung betr. organisatorische Planung der Ausstellung 1913-1920. Nr. 1731: Zerlegbare transportable Jugendhalle 1914. Nr. 1732: Alkoholfreies, vegetarisches Restaurant des Kölner Frauenvereins 19141915. Nr. 1755: Niederrheinisches Dorf 1928. Quellenverzeichnis 280 2. Gedruckte Quellen Altenrath, Johannes (Hg.): Neuzeitliche Baupflege. Ein Handbuch für die Bauberatung und die öffentliche Förderung der Bauweise. Berlin 1914. Altenrath, Johannes: Das deutsche Dorf. Eine Ausstellung für Land- und Vorstadtsiedlung. In: Bauwelt 4.1913, H. 20, Beilage: Die Bauberatung Nr. 5, S. 25-28. Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen. In: Blätter für Architektur und Kunsthandwerk Nr. 9, 1907, S. 34f und Nr. 10, 1907, S. 37-40 und Tafeln 84-87. Ansiedlungsdorf Golenhofen. 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Die „Innere Kolonisation“ im Osten des Deutschen Reiches ....................................... 1 2. Dorfanlagen der Ansiedlungskommission .................................................................... 4 3. Golenhofen – die Dorfanlage ........................................................................................ 6 4. Die Dorfgebäude ......................................................................................................... 12 5. Die öffentlichen Gebäude ........................................................................................... 14 6. Die Gehöfte und Arbeiterhäuser ................................................................................. 23 II. Das Dorf Böhmenkirch in Württemberg ...................................................................... 46 1. Zu Geschichte und Wiederaufbau des neuen Dorfes .................................................. 2. Die Dorfanlage ............................................................................................................ 3. Die Dorfgebäude ......................................................................................................... 3.1. Die Bauten des Architekten Immanuel Hohlbauch aus Geislingen......................................................................................................... 3.2. Die Bauten des Architekten Theodor Hiller aus Göppingen ........................... 3.3. Die Bauten der Architekten Schenk & Dangelmaier aus Schwäbisch Gmünd ......................................................................................... 3.4. Die Bauten des Architekten Karl Philipp aus Geislingen ................................ 3.5. Die Bauten des Architekten Georg Wachter aus Geislingen ........................... 46 54 56 58 63 71 76 82 III. Die waldeckischen Dörfer Neu-Berich, Neu-Bringhausen und Neu-Asel ................ 87 1. Zu Geschichte und Untergang der Dörfer .................................................................. 2. Zum Wiederaufbau der Dörfer ................................................................................... 2.1. Neu-Berich ....................................................................................................... 2.2. Neu-Bringhausen .............................................................................................. 2.3. Neu-Asel .......................................................................................................... 87 90 92 96 98 3. Die Dorfanlagen .......................................................................................................... 99 3.1. Neu-Berich ....................................................................................................... 99 3.2. Neu-Bringhausen ............................................................................................ 103 3.3. Neu-Asel ........................................................................................................ 106 Inhalt 4. Die Dorfgebäude ....................................................................................................... 108 5. Die öffentlichen Gebäude ......................................................................................... 110 6. Die Gehöfte ............................................................................................................... 128 IV. Die Ausstellungsdörfer ................................................................................................ 147 1. Zur Geschichte der Ausstellungsdörfer .................................................................... 2. Bauausstellungen im frühen 20. Jahrhundert ............................................................ 3. Die Dorfanlage auf der Internationalen Baufach-Ausstellung in Leipzig 1913 ............................................................................................................. 3.1. Zur Geschichte des Dorfes ............................................................................. 3.2. Die Dorfanlage ............................................................................................... 3.3. Die Dorfgebäude ............................................................................................ 3.4. Die öffentlichen Gebäude .............................................................................. 3.5. Das Beispielgehöft ......................................................................................... 4. Das Neue Niederrheinische Dorf auf der Deutschen Werkbund-Ausstellung in Köln 1914 ....................................................................... 4.1. Zur Geschichte des Dorfes – der Deutsche Werkbund und seine Ausstellung ........................................................................................... 4.2. Die Dorfanlage ............................................................................................... 4.3. Die Dorfgebäude ............................................................................................ 4.4. Die öffentlichen Gebäude .............................................................................. 4.5. Die Gehöfte .................................................................................................... 4.6. Die Arbeiterhäuser ......................................................................................... 147 153 154 154 157 163 164 176 182 182 185 192 193 206 215 1 I. Das Musterdorf Golenhofen in der Provinz Posen 1. Die „Innere Kolonisation“1 im Osten des Deutschen Reiches Seit den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts wandert besonders in den östlichen Provinzen des Reiches – Pommern, Schlesien, West- und Ostpreußen sowie Posen – die Bevölkerung in Massen ab in der Hoffnung, in den westlichen Industriezentren Sachsen, Berlin, an Rhein und Ruhr oder sogar im Ausland bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu erhalten. Die Gründe dafür liegen zum einen im Landesausbau, der in den östlichen Provinzen bereits Mitte der 60er-Jahre weitgehend abgeschlossen war, sodaß die Landwirtschaft und die mit ihr verknüpfte gewerbliche Wirtschaft keine weiteren Arbeitskräfte mehr beschäftigen konnte. Die zunehmende Mechanisierung der Landwirtschaft läßt zusätzlich auch immer mehr Arbeitsplätze überflüssig werden. Dazu kommt eine große Konzentration des Großgrundbesitzes, der Kleinbauern und Landarbeitern den sozialen Aufstieg verwehrt. Die Änderung der ländlichen Arbeitsverfassung tut ihr übriges: Durch den Übergang von der Dreifelderwirtschaft zur intensiven Fruchtwechselwirtschaft wird das sogenannte „Instverhältnis“, das eine Arbeits- und Ertragsgemeinschaft zwischen Gutsbesitzern und Landarbeitern bedeutete, immer weiter verdrängt. Freie Lohnarbeit und Saisonarbeit halten Einzug, sorgen für einen Verdrängungswettbewerb unter den Arbeitskräften und damit für neue Abhängigkeiten, niedrige Löhne und schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen. Ein weiterer Grund ist die Agrarkrise der 70er Jahre, die 1878/79 ihren Höhepunkt erreicht und dafür sorgt, daß die industriellen Löhne die ländlichen um ein Vielfaches übersteigen.2 Diese Entwicklung hin zur Entvölkerung ganzer Landstriche zusammen mit dem einhergehenden Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft wird mit dem Begriff „Landflucht“3 tituliert. 1 2 3 Eine preußische Kolonialisierungspolitik gab es bereits seit dem 17. Jahrhundert. Vgl. zur preußischen Kolonisationstätigkeit: Pfälzer am Niederrhein: die Geschichte der Pfälzersiedlungen Pfalzdorf, Louisendorf und Neulouisendorf im Rahmen der preußischen Binnenkolonisation des 18. und 19. Jahrhunderts, bearb. u.a. von Barbara Mott. Kevelaer 1989 (=Führer des Niederrheinischen Museums für Volkskunde und Kulturgeschichte Kevelaer, 26), S. 6f; Schmoller, Gustav: Die ländliche Kolonisation des 17. und 18. Jahrhunderts (Erstdruck: 1886). In: Büsch, Otto und Wolfgang Neugebauer (Hg.): Moderne preußische Geschichte 1648-1947, Bd. 3. Berlin und New York 1981, S. 911-950. (=Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin Bd. 52/3). Vgl. auch das umfangreiche Werk von Beheim-Schwarzbach, Max: Hohenzollernsche Kolonisation. Ein Beitrag zu der Geschichte des preußischen Staates und der Colonisation des östlichen Deutschlands. Leipzig 1874. Vgl. zu den Gründen der Massenabwanderung Born 1966, S. 272 und Borck 1976, S. 84. Vgl. Brenning 1909, S. 21. Im Jahre 1905 kommen in der Provinz Posen 68,6 Einwohner auf den Quadratkilometer, in Westpreußen sind es 64,3 Einwohner im Vergleich zu 106,9 in Preußen, in Sachsen über 300 und im übrigen Reich von 112,1 Einwohner pro Quadratkilometer im Durchschnitt. Vgl. Hahn 1908, S. 30. Laut Borck 1976, S. 84 ist die Abwanderungsrate bis 1910 auf besorgniserregende 3,5 Millionen Personen angestiegen. 2 Katalog: Golenhofen Die sogenannte „Innere Kolonisation“ soll dagegen die massenhafte Abwanderung verhindern und die Landwirtschaft im Osten stärken: „Unter innerer Kolonisation versteht man die Herstellung von neuen Bauernhöfen oder Arbeiterstellen im deutschen Vaterlande.“4 Ihre Ziele liegen in der „Besiedlung dürftig bevölkerter Gegenden“, der „Stärkung des Deutschtums in polnischen Landstrichen“, der „Verhütung der Landflucht“ und vor allem der „Schaffung eines gesunden Bauernstandes“.5 Neben wirtschaftlichen Verbesserungen für das Reich,6 die den großen Abstand zwischen dem Großgrundbesitz und dem ländlichen Arbeiterstand durch eine Vergrößerung des ländlichen Mittelstandes erreichen sollen, ist vor allem die imperiale, nationalpolitische Geste der Landbesiedelung Ziel der Kolonisationspolitik. Sie soll den Einfluß und die nationalen Bestrebungen der polnischen Bevölkerung einzudämmen. Vor allem in ehemals polnischen Gegenden wie der Provinz Posen sind zunehmende Spannungen zwischen den Nationalitäten zu verzeichnen, denn die Provinz war nach dem Wiener Kongreß 1815 an Preußen gefallen. Die Polen rebellieren in den Jahren 1830/31 und 1863/64 gegen die Entscheidung – jedoch ohne Erfolg.7 Nach einer Volkszählung von 1910 liegt die Zahl der Bewohner in der Provinz Posen bei 2.100.000, davon sind über 1/3 deutsch und fast 2/3 polnisch.8 Durch eine gezielte Ansiedlungspolitik deutschstämmiger Bauern und Arbeiter soll nun „das Vordringen und Vorherrschen national-feindlicher Elemente“ – eben der Polen – bekämpft werden. Dazu werden deutsche Bauernstellen von einer Größe geplant, die von deren Inhabern ohne Zuhilfenahme fremder Arbeitskräfte zu bewirtschaften sein sollen, um als bäuerlicher Mittelstand ein Gegengewicht gegen die polnische Bevölkerung zu schaffen.9 4 5 6 7 8 9 Auskunftsstelle für bäuerliche Ansiedlungen 1906, S. 3. Vgl. zum Begriff und zur Geschichte der „Inneren Kolonisation“ auch Brenning 1909, S. 1-18. Auskunftsstelle für bäuerliche Ansiedlungen 1906, S. 4. Heinrich Sohnrey faßt zusammen, daß die „Innere Kolonisation“ „’der Vermehrung und Erhaltung einer gesunden, heimfesten Landbevölkerung’ dienen, den ‚Zug vom Lande’ in ruhigere Bahnen leiten, ein stärkeres konservatives Gegengewicht gegen die Großstadt ermöglichen, die nationale Gefahr im Osten bannen und die Wehrfähigkeit und wirtschaftliche Unabhängigkeit erhöhen“ solle. Sohnrey: Die Bedeutung der Landbevölkerung im Staate und unsere besonderen Aufgaben auf dem Lande. 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Schütze 1914, S. 35. Die Deutschen sind zum größten Teil protestantisch, die Polen fast ausschließlich katholisch. Vgl. Brenning 1909, S. 41f. Katalog: Golenhofen 3 Der Begriff „Innere Kolonisation“ suggeriert fälschlicherweise, daß das von den Deutschen kolonialisierte Gebiet vorher unbevölkert war. Dem ist jedoch nicht so, denn das für die Besiedlung erforderliche Land wird in der Regel polnischen Gutsbesitzern abgekauft. Der Begriff „Germanisierung“ der Region trifft den Sachverhalt daher eher. Auch soll die Bindung der Bauern an ihr eigenes Stück Land und das eigene Heim revolutionäre Aktivitäten gegen die bestehenden miserablen Verhältnisse verhindern helfen, die die Sozialdemokratie des Landes laut Brenning forcieren will: „Die Sozialdemokratie befürchtet mit Recht, daß mit dem Ankauf des Rentenguts der ‘Eigentumsfanatismus’ eintritt, der das sicherste Bollwerk gegen alle umstürzlerischen Bestrebungen bildet.“10 Auch an diesen Zielen wird deutlich, wie reaktionär und nationalistisch die Bewegung der „Inneren Kolonisation“ ist und wie wenig sie eigentlich das Wohl ihrer ländlichen und Arbeiter-Bevölkerung im Auge hat. Am 26. April 1886 tritt das Ansiedlungsgesetz für Posen und Westpreußen in Kraft, das der „Inneren Kolonisation“ den Boden bereitet. Zur Durchführung der „Inneren Kolonisation“ wird die staatliche Ansiedlungskommission für Posen und Westpreußen gegründet.11 Die Ansiedlungsflächen sollen durch eine gezielte Landkaufpolitik von polnischen Großbesitztümern erworben werden.12 Die Staatsregierung bekommt für die Umsetzung des Gesetzes den Betrag von 100 Millionen M zur Verfügung gestellt, der in den Jahren 1898 und 1902 jeweils erhöht wird, sodaß die Summe bis Anfang 1908 350 Millionen M beträgt.13 Das Geld wird zur Parzellierung, der ersten Einrichtung der Ansiedlerstellen, der Bodenverbesserung und zur Regelung der Gemeinde-, Kirchen- und Schulverhältnisse benötigt. Bis 1906 sind 590 Güter und 398 bäuerliche Wirtschaften mit einer Gesamtfläche von 325.993 ha angekauft, bis 1907 sind rund 14.000 Familien mit 100.000 Personen in über 300 Dörfern angesiedelt.14 Grundlage einer solchen Siedlung soll die sogenannte spannfähige Bauernstelle sein, d.h. ein Bauerngut von der Größe, ein Gespann halten und damit die bäuerliche Familie ernähren zu können, ohne daß zusätzliche Arbeitskräfte angeworben werden müssen.15 Angesiedelt wird durch Kauf und gegen Pacht, in der Hauptsache aber, wie auch in der Provinz Posen und 10 11 12 13 14 15 Brenning 1909, S. 44. Zusätzlich wird die Innere Kolonisation volkswirtschaftlich (z.B. durch die Rückwanderung von Russen deutscher Abstammung), sozial (z.B. Ausbau eines gesunden Mittelstandes ermöglicht sozialen Ausgleich) und für die Wehrfähigkeit des Reiches als bedeutend betrachtet. Ebd., S. 46f und S. 52-58. Sie ist eine unmittelbar dem Staatsministerium unterstellte Verwaltungsbehörde. Vgl. Sohnrey 1897, S. 5. Neben staatlichen Trägern können in anderen Regionen auch kommunale Verwaltungen, Gesellschaften und Privatpersonen die Innere Kolonisation organisieren. Vgl. Brenning 1909, S. 73. Vgl. Smit 1983, S. 35. Brenning 1909, S. 76. Vgl. ebd., S. 76 und S. 83. Vgl. ebd., S. 76f. Eine Vollbauernstelle beträgt etwa 15 Hektar. Daneben werden aber auch kleinbäuerliche Gehöfte (5-10 Hektar) sowie Handwerker- und Arbeiterstellen (2-5 Hektar) ausgelegt. Katalog: Golenhofen 4 Golenhofen, gegen Rente. Die Stelle geht also gegen Übernahme der Zahlung einer jährlichen Rente in das Eigentum des Ansiedlers über.16 Die Ansiedlungskommission richtet zur Anwerbung des „Ansiedlermaterials“17 Geschäftsstellen in Deutschland ein und erteilt durch Vorträge und Besichtigungsreisen, durch Reklame in Zeitungen und in Broschüren Auskunft über die Kolonisation.18 Die Ansiedler müssen als Bedingung Tüchtigkeit und Arbeitsfreude, Sparsamkeit und Gesundheit sowie umfangreiche Kenntnisse der Landwirtschaft mitbringen. Überdies sollten sie verheiratet sein, in geordneten Verhältnissen leben und über ein gewisses Vermögen verfügen. Sie werden in den neuen Ansiedlungen nach Konfessionen getrennt, damit eine einheitliche Organisation der Kirchen- und Schulverhältnisse geleistet werden kann.19 2. Dorfanlagen der Ansiedlungskommission Die Grundformen der angelegten Siedlungen sind entweder die des Hof- oder die des Dorfsystems. Beim Hofsystem liegt der Einzelhof inmitten seiner Grundstücke, was den Vorteil hat, daß die Wege des Bauern kurz sind und eine genaue Überwachung der Grundstücke möglich ist. Auch ist die Feuersgefahr um einiges geringer als im Dorfsystem. Bevorzugt wird jedoch das Dorfsystem, denn es sorgt für gegenseitigen Schutz und Hilfe der Bewohner und einen kürzeren Weg zu Schule und Kirche. Im Sinne der Kommission soll der deutsche Bauer durch Kontakt zu seinesgleichen davon abgehalten werden, mit der polnischen Bevölkerung – dem „fremden Volkstum“ – in Kontakt zu treten und „das eigene Nationalbewußtsein dadurch abzuschwächen“.20 Die aus den verschiedensten Regionen des Reiches und dem Ausland stammenden Ansiedler sollen außerdem durch gemeinschaftliches Vermögen und wirtschaft- 16 17 18 19 20 Die Rente beträgt 3% des Anrechnungswertes, d.h. des Schätzungswertes der Liegenschaften. 90% der jährlichen Rente können vom Ansiedler jederzeit unter sechsmonatlicher Kündigungsfrist durch Zahlung ihres Kapitalbetrages abgelöst werden. Die anderen 10% sind ohne Zustimmung des Fiskus nicht ablösbar, können also nicht ohne Zustimmung der Ansiedlungskommission verkauft werden. Damit soll ausgeschlossen werden, daß eine Liegenschaft an Polen verkauft wird. Vgl. Brenning 1909, S. 79f. Die Geldrente ist nichts anderes als die Verzinsung der Hypothek, die an Stelle der Bezahlung des Grund und Bodens tritt. Der Ansiedler muß eine Anzahlung (von 1/3 - 1/7 des Kaufpreises) nur leisten, wenn er sein Gut nicht selber baut. Vgl. Auskunftsstelle 1906, S. 7. Ebd. auf S. 9 ist aufgeführt, welche besonderen Erleichterungen und Begünstigungen die Ansiedlungskommission den Ansiedlern gewährt, um die ersten schwierigen Jahre zu überstehen. Bei allen Rentengütern gilt das Anerbenrecht, d.h. die Vererbung nur an ein Kind. Dieses muß seine Geschwister auszahlen. Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3385, Bl. 103 (Posener Tageblatt Nr. 535 vom 13.11.1904). Brenning 1909, S. 109. Vgl. ebd., S. 112. Vgl. Schwochow 1908, S. 25. Bis Ende 1906 sind 242 evangelische und 11 katholische Ansiedlungsdörfer gegründet, 77 evangelische und acht katholische Dörfer sind im Entstehen begriffen. Ebd., S. 18 und 21. Katalog: Golenhofen 5 liche Genossenschaften eher zu einem „gemeinschaftlichen Organismus“ verschmelzen und „nationalen Geist“ entwickeln.21 Daher erhält das Dorfsystem den Vorzug auch neben einer dritten Siedlungsform, dem Reihendorf mit Dorfkern, die eine Mischung aus Dorf- und Hofsystem darstellt. Der Dorfkern wird in der Regel aus den Hofstellen des ehemaligen Gutes gebildet und die Gehöfte liegen mit den zugehörigen Grundstücken möglichst nah beiderseits der Hauptstraße, manchmal mehrere Kilometer lange Reihen bildend. Die Wahl der Dorfform ist nicht willkürlich, sondern wird von der Lage der ehemaligen Gutsanlagen und Vorwerke, von der Ausbildung und dem Zustand der vorhandenen Wege ebenso wie von der Geländegestaltung und den Bodenverhältnissen abhängig gemacht. Die öffentlichen Gebäude wie Kirche, Schule, Gemeindehaus, Dorfkrug sowie Arbeiterund Handwerkerstellen werden in der Hauptsache im Dorfkern plaziert, um einen Mittelpunkt gesellschaftlichen Lebens zu bilden.22 Die öffentlichen Gebäude sowie die Arbeiter- und Pachtstellen werden in jedem Ort grundsätzlich von der Ansiedlungskommission selbst aufgebaut. Die Bauausführung der einzelnen Gehöfte wird jedoch in den meisten Fällen den Ansiedlern überlassen, wobei die Kommission sich darauf beschränkt, durch die Beschaffung der Materialien und Prüfung der Projekte fürsorgend und überwachend – d.h. auch im Sinne einer Bauberatung – tätig zu sein. Von Staatswegen werden Bauerngehöfte nur dann aufgeführt, wenn sie wie in Golenhofen durch ihre Präsentation auf die Besiedlung „anregend“ wirken sollen.23 Für die Anlage des Gehöfts wird vorgeschlagen, sich im Grundriß seinen heimischen Gewohnheiten anzupassen, jedoch die geographischen und klimatischen Verhältnisse des neuen Landstrichs zu beachten. Stall und Scheune sollen unter einem Dach angelegt und das Wohnhaus getrennt davon aufgerichtet werden. Im Hinblick darauf, daß zu Anfang der Ansiedlung die finanziellen Verhältnisse beschränkt sind, eine spätere Vergrößerung des Anwesens jedoch nicht ausgeschlossen ist, könne auch der Stall zuerst mit dem Wohnhaus unter 21 22 23 Schwochow 1908, S. 21. Überdies soll durch diese Mischung eine Weiterentwicklung der Landwirtschaft erzielt werden, indem alle Ansiedler ihre eigenen heimischen Erfahrungen mit einbringen und von den anderen lernen: „Der Westfale und der Hannoveraner verpflanzten den Kuhblätter- oder Riesenkohl in den Osten. Der Pfälzer brachte die heimische Rebe mit, der Württemberger seinen Obstbau und seine Obstweinbereitung, der Badener den Tabaksbau. In der Hebung der Rindviehzucht leisten namentlich Rheinländer und der Nordwestdeutsche Großes. Die Westfalen sind in der Schweinezucht, die Pommern in der Gänsezucht voran. Und die meist scheel angesehenen Rückwanderer haben zur Ausbreitung in der Bienenzucht in den Ansiedlungsprovinzen ganz wesentlich beigetragen und darum hohe Einnahmen erzielt.“ Brenning 1909, S. 113. Vgl. Schwochow 1908, S. 20f und Brenning 1909, S. 122ff: Bis Ende 1906 waren in den Ansiedlungen der Kommission durch Staat und Ansiedler errichtet: 35 Kirchen, 23 Bethäuser, 27 Pfarrgehöfte, 30 zweiklassige und 240 einklassige Schulen, 300 Gemeindehäuser der verschiedensten Art, 210 Kruggehöfte, 11.360 Bauerngehöfte, 256 Arbeiterstellen für zwei Familien und 39 ebensolche für je eine Familie. Die Barkosten für diese gesamten Gebäude betragen rund 100 Millionen M. Vgl. Fischer 1904, Vorwort (ohne Seitenangabe). Katalog: Golenhofen 6 einem Dach gebaut, später der Stall als eigenes Gebäude aufgeführt und der alte Stall als Erweiterung des Wohnhauses genutzt werden. „Alle Arten volkstümlicher Bauweisen lassen sich in den Ansiedlungen anwenden. Besonders das niedersächsische oder westfälische Haus hat sich vielfach gut bewährt.“24 3. Golenhofen – die Dorfanlage Die Provinz Posen bildet einen Teil der norddeutschen Tiefebene, ist also bis auf einige Höhenunterschiede von schwachwelliger Oberflächenstruktur. Die Provinz umfaßt 28.982 Quadratkilometer Land und grenzt bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, als sie zurück an Polen fällt, im Osten an Rußland, im Süden an Schlesien, im Westen an Brandenburg und im Norden an Westpreußen.25 Im Kreis Posen-West liegt etwa 18 Kilometer nördlich der Provinzstadt Posen und etwa 14 Kilometer südlich von Obornik (heute Oborniki) das Dorf Golenhofen. Abb. 1: Golenhofen, Ausschnitt aus dem Gesamtplan der Dorflage. M=1:15.000. Aus: Zwanzig Jahre deutscher Kulturarbeit 1907, ohne Seitenangabe. 24 25 Brenning 1909, S. 124. Ein weiteres Beispiel für neuzeitlichen Dorfbau in den deutschen Ostmarken liefert der renommierte Kölner Architekt Max Stirn, der 1914 im Neuen Niederrheinischen Dorf auf der Werkbund-Ausstellung in Köln für das Weingasthaus verantwortlich zeichnet: Er plant 1910 eine Dorfplatzanlage für Ostpreußen. Vgl. dazu den kurzen Text von Max Stirn in: Unsere Bilder. Dorfplatzanlage für Ostpreußen, einschließlich des umfangreichen Plan- und Zeichnungsmaterials zur Gesamtanlage sowie den Einzelbauten in: Süddeutsche Bauhütte 11.1910, Nr. 29, S. 225-239 oder exakt derselbe Artikel in: Der Bau 25.1910, Nr. 29, S. 226-239. Vgl. Schütze 1914, S. 6f. Katalog: Golenhofen 7 In direkter Nachbarschaft befindet sich die Bahnstrecke Posen-Schneidemühl (heute Pila), sodaß das Dorf im Jahre 1907 eine eigene Haltestelle erhält.26 Vor seinem Verkauf heißt das polnische Rittergut Golenczewo und gehört zuletzt Sigismund Blociszewski.27 Es umfaßt einschließlich der Wege und Gräben insgesamt 650,38 ha und geht am 26.10.1901 durch Zwangsversteigerung an die Ansiedlungskommission.28 Das Dorf wird in den Jahren 1902 bis 1905 errichtet und von 1905 bis 1906 an die Ansiedler vergeben. Seit 1906 darf sich der Ort offiziell „Landgemeinde Golenhofen“ nennen.29 Das Ansiedlungsdorf ist ein Sonderfall, denn es wird als Musterdorf und deshalb mit besonderem Augenmerk auf seine architektonische Wirkung komplett von der Ansiedlungskommission aufgebaut.30 Als Musterdorf wird es deshalb bezeichnet, weil es zu Werbezwecken für Besichtigungen Ansiedlungswilliger genutzt wird und um Anregungen zu einer vorbildhaften Anlage und Einrichtung neuer Bauten zu liefern. Diese Vorbildfunktion läßt auch seine hohe Präsenz in der Fachpresse sowie in vielen Publikationen zur „Inneren Kolonisation“ verständlich werden.31 Die Gesamtanlage sowie die einzelnen Gebäude sind im Bauamt der Ansiedlungskommission in Posen von dem Regierungs- und Baurat Paul Fischer geplant, der seit 1896 – zu der Zeit als Regierungsbaumeister – für das Bauwesen in der Ansiedlungskommission zuständig ist. Mit ihm beginnt laut E. Stumpfe ein neuer Abschnitt im Bauwesen der Kolonisation, denn Fischer setzt durch, daß die Kommission die Ausführung der Bauten nicht an Unternehmer vergibt, sondern in Eigenregie fertigt, was besser und billiger sei: „Durch Studium über die Eigenheiten der provinziellen etc. Bauweise der verschiedenen Ansiedler soll der bisherige Schematismus vermieden und jeder Eigenartigkeit und landesüblichen Sitte entsprochen werden.“32 Golenhofen ist in weitläufige Wiesen, Felder und sanfte bewaldete Hügel eingebettet und als Straßendorf mit an beiden Straßenseiten dicht aneinander gereihten Gehöften angelegt. 26 27 28 29 30 31 32 Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3383, Bl. 143. Vgl. Archiv Posen, Sign. 852, ohne Seitenangabe. Vgl. ebd., Sign. 296, S. 191 und zur Zwangsversteigerung: Archiv Gnesen Reg. VII, Sign. 3380, Bl. 102. Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3383, Bl. 88 und 109. Damit wird der neuen Gemeinde, wie üblich, eine Landausstattung gewährt, die rund 5% des Landwertes des Gutsareals ausmacht. Dazu gehört auch eine Armenstelle, eine Sandgrube, eine Tränke, ein Wasch- und Backhaus sowie ein Spritzenraum mit Spritze. Vgl. Langen 1922, S. 76 und: Zwanzig Jahre deutscher Kulturarbeit 1907, S. 16. Bester Beweis dafür ist, daß diese Arbeit fast ausnahmslos mit Zeichnungen und Fotos aus zeitgenössischen Schriften schöpft. Mit dem fiskalischen Selbstbau soll der Gutsverwalter zum eigentlichen Bauherren gemacht werden, dem ein Bautechniker zur Seite gestellt wird. Seit dem Jahre 1899 tritt der „Regiebau“ jedoch wieder gegenüber dem „Unternehmerbau“ zurück. Vgl. Stumpfe 1902, S. 147 und Sohnrey 1897, S. 83f. Fischer ist ein sehr engagierter Architekt, der neben unzähligen Aufsätzen und Publikationen zum Bauwesen der Kommission z.B. im Jahre 1904 in Posen das Buch: Ansiedlungsbauten in den Provinzen Posen und Westpreußen herausgibt, indem er durch Zeichnungen und Pläne einen breitgefächerten Eindruck von der Siedlungstätigkeit bietet. Hierbei finden besonders auch die einfachen und sehr zweckmäßigen Beispiele der selbstaufgeführten Bauten Erwähnung. Katalog: Golenhofen 8 Das Dorf wird explizit als geschlossene Anlage geplant, was wiederum auf seine Vorbildfunktion hinweist: „Abseits liegende Gehöfte werden gerade in dieser Ansiedlung nur in geringer Zahl angelegt werden.“33 Eine vorhandene vierteilige Straßenkreuzung34 wird genutzt, um den Dorfkern mit Marktplatz anzulegen. Abb. 2: Golenhofen, Bebauung der Dorfstraße. M=1:3.500. Aus: Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, S. 34. Von zwei Straßen werden nur die Anfänge in die Bebauung miteinbezogen. Die größte Anzahl der Gehöfte erstreckt sich an der eigentlichen Dorfstraße gen Südosten (in Richtung Chludowo) bis zur Bahnstation. Südlich und nördlich der neuen Gehöfte, d.h. parallel zur Dorfstraße sowie im rechten Winkel dazu, gehen nochmals schmale Wirtschaftswege ab, um die Gehöfte für den landwirtschaftlichen Verkehr zugänglich zu machen. Am in Nord-SüdRichtung verlaufenden Weg ist auch ein Brunnen mit Pumpwerk und Windmotorbetrieb bzw. Göpel angelegt, der eine Wasserleitung für das Dorf versorgt. 500 Meter nördlich vom Dorf liegt der ehemalige Gutshof, der fünf weiteren Ansiedlerfamilien ein neues Zuhause bietet. Zwei weitere, leidlich erhaltene Leutehäuser sollen als Wohn- und Stallgebäude für eine kleinere Stelle und als Armenhaus Verwendung finden. Alles andere wird abgebrochen und für neue Stellen hergerichtet: Für Stellmacherei und Schmiede (Stellen 9 und 10) sowie für weitere Gehöfte auf den Stellen 6, 8, 13 und 14.35 Mit ihnen wird eine Verbindung zwischen dem alten Gutsgehöft und dem neuen Dorf geschaffen. 33 34 35 Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3385, Bl. 5. Mit vier Straßen nach Nordosten (Richtung Chludowo), Norden (Richtung Rostworowo), Westen (Richtung Sobota) und Südosten (ebenfalls Richtung Chludowo). Nur die beiden Anbauten am Gutswohnhaus, ein Insthaus am Hof sowie ein Viehstall können für die Zuteilung an fünf Ansiedlerstellen in Betracht kommen. Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3385, Bl. 31. Katalog: Golenhofen Abb. 3: Golenhofen, Dorfstraße, Südostansicht. Aus: Warlich 1906, S. 533. Abb. 4:Golenhofen, Dorfstraße, Südostansicht. Aus: Dietzinger 1908, S. 43. Abb. 5: Golenhofen, Dorfstraße, Nordwestansicht. Aus: Warlich 1906, S. 535. 9 Katalog: Golenhofen 10 Die Dorfwege sind schon vor der Ansiedlung mit je zwei Baumreihen, davon viele alte Bäume und größtenteils Schwarzpappeln, besetzt.36 Da der Bestand der Alleen jedoch sehr lükkenhaft ist, wird er im Frühling 1903 ergänzt. Der Weg nach Sobota soll mit Eschen und der nordwestliche Weg nach Chludowo mit Pflaumenbäumen bepflanzt werden.37 Die Dorfstraßen werden von der Ansiedlungskommission, so legen es die alten Fotos und die Akten nahe, in Stand gesetzt, d.h. planiert und mit Kies bestreut.38 Die Anordnung als geschlossenes Dorf stellt den Planern die Aufgabe, jeder Stelle außer einem angemessenen Gehöft- und Gartenplan einen ihrer Größe entsprechenden Anteil an den Ländereien verschiedener Güte unter Ausgleich der Entfernung zuzuweisen. Daher wird das Gemeindegebiet jeweils in mehreren – meist drei oder vier – Planstücken ausgelegt und in insgesamt 43 Ansiedlerstellen geteilt.39 Zwischen den Bauernhäusern liegt eine Anzahl kleinerer vermieteter Arbeiterhäuser: „Da ein solches Haus einzeln nicht unter 3.000 M herzustellen ist, hat man Zweifamilienhäuser errichtet, so jedoch, daß jeder Bewohner einen besonderen Eingang und ein Stück Garten, Hof und Stall für sich hat.“40 Die Gehöfte sind durch Zäune und Mauern voneinander getrennt, Ziergärten verschönern jeweils den Platz zwischen Straße und Wohnhäusern.41 Der große Marktplatz ist mit Rasen bepflanzt und in rechteckiger Form an der Kreuzung plaziert. Abb. 6: Golenhofen, Marktplatz mit Bethaus, Nordansicht. Aus: Dietzinger 1908, S. 29. 36 37 38 39 40 41 Vgl. Schwochow 1908, S. 27. Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3380, Bl.356f. Vgl. ebd., Sign. 3383, Bl. 101. Obwohl hier nur von dem Weg vom Dorfplatz bis zum Gutshof die Rede ist, der zusätzlich auch mit Gräben versehen wird, wird vermutlich auch mit den anderen Wegen so verfahren. Etwas später wird nämlich gefragt, ob die Bekiesung der Dorfstraße fertiggestellt sei. Vgl. ebd., Blatt 116. Obwohl in den Akten immer wieder Straßenpflasterungen zur Sprache kommen, ist hier jedoch wohl nicht von den Dorfstraßen die Rede. Das geht jedoch aus dem Schriftverkehr nicht eindeutig hervor. Vgl. z.B. ebd., Sign. 3380, Bl. 356 und ebd., Sign. 3385, Bl. 25f. Vgl. ebd., Bl. 31. Dabei erhalten laut Akten: Fünf Stellen von 5 bis 10 ha, 6 Stellen von 5 bis 10 ha, 8 Stellen von 10 bis 15 ha und 22 Stellen von 15 bis 20 ha. Dazu kommen die Schul- und die Krugstelle. In den darauffolgenden Jahren kommen noch weitere Stellen hinzu, die hier jedoch nicht vollständig aufgeführt werden sollen. Vgl. ebd., Bl. 103 (Posener Tageblatt Nr. 535 vom 13.11.1904). Zu den Zäunen und Mauern: Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, S. 34; zu den Ziergärten: Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3385, Bl. 253. Katalog: Golenhofen 11 Abb. 7: Golenhofen, Marktplatz mit Bethaus und Brunnen, Ostansicht: Aus: Warlich 1906, S. 536. Abb. 8: Golenhofen, Marktplatz mit Krug, Westansicht. Aus: Dietzinger 1908, S. 27. Ein bedachter Brunnen auf der Platzmitte dient als Viehtränke. Er besteht aus einem sechseckigen steinernen Becken. Das sechsseitige hölzerne Dach des Brunnenhaus darüber ist mit Ziegeln gedeckt und wird von sechs Holzsäulen getragen. Die Umschrift am Gebälk lautet in Fraktur: „Behüt uns Gott vor teurer Zeit, vor Maurern und vor Zimmerleut, vor Advokat und Pfändungsgesind, vor allem, was den Bauern schind’t, vor Hagel, Wasser- und Feuersgefahr, behüt, o Herr, uns immerdar!“42 Vier Steinfiguren, die früher im Gutspark standen, schmükken jetzt den Brunnenrand und stellen Krieg, Handel, Handwerk und Kunst dar.43 Bereits im Jahre 1908 wird der Dorfplatz mit gärtnerischen Anlagen versehen und von einem Zaun umgeben.44 Der Brunnen ist nicht mehr erhalten. Um den Platz herum sind alle öffentlichen Gebäude positioniert. An der Südwestseite des Marktes befindet sich das wichtigste öffentliche Gebäude im Dorf – das Gemeindehaus, das als zweiteiliges Gebäude einen Betsaal und ein Schulzimmer, darüber eine Lehrerwohnung, beinhaltet. Kirchlich gehört Golenhofen zwar zu dem sechs Kilometer entfernten Rokietnice, 42 43 44 Schwochow 1908, S. 29. Vgl. ebd. Dietzinger behauptet jedoch, es seien nur drei kleine Statuetten von pausbäckigen Kindern, die Landwirtschaft, Handel und Industrie darstellten. Vgl. Dietzinger 1908, S. 45. Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3396, Bl. 35. Katalog: Golenhofen 12 wo eine evangelische Kirche nebst Pfarrhaus vorhanden ist.45 Nach der Besiedlung hält jedoch der dort ansässige Pfarrer Kleindorff alle zwei Wochen in Golenhofen den Gottesdienst ab.46 An der repräsentativen Nordostecke des Marktplatzes ist der verpachtete Gasthof mit einem vom Ausschank getrennten Kramladen errichtet.47 An der gegenüberliegenden Kreuzungsecke ist ebenfalls sehr zentral ein weiteres öffentliches Gebäude, nämlich das Back- und Waschhaus, das mit einem eigenen Baderaum und einer Cenesimalwaage ausgestattet ist.48 In der Nähe liegt, an dem Weg zum alten Gutshof, die Dorfschmiede. 4. Die Dorfgebäude „Bei der Planung sämtlicher Gebäude ist ebensosehr auf volle Zweckmäßigkeit und möglichster Kostenschonung, wie eine sorgfältige Durchbildung des Äusseren und Inneren im Sinne einer gesunden, bodenständigen Bauernkunst Rücksicht genommen worden.“49 Gerade Billigkeit und Zweckmäßigkeit sind Begriffe, die im Zusammenhang mit der „Inneren Kolonisation“ immer wieder zur Sprache kommen, weil es hauptsächlich Bauern mit kleinem Vermögen sind, die sich für einen Neuanfang entscheiden. Obwohl auch Golenhofen als zweckmäßig und kostengünstig beschrieben wird, zeigt es sich trotzdem insofern als Ausnahme, als es vor der Besiedlung von der Ansiedlungskommission für 443.000 M gebaut wird, wobei die Baukosten jedes Gehöfts zwischen 9.000 und 12.000 M liegen.50 Daß die Gehöfte teurer sind im Vergleich zu solchen, die von Ansiedlern selbst gebaut sind, liegt nahe, denn sie sind als Musterhäuser geplant, um vorbildhaft zu wirken. Daß normale Ansiedlerhäuser diese Anforderungen nicht erfüllen, macht Fischer 1911 deutlich: „Wo freilich die Ansiedler auf eigene Faust bauen dürfen, treten meist recht bescheidene Kunstleistungen zu Tage. Ziegelrohbauten nüchternster Art – die Bezeichnung ‚roh’ müßte unterstrichen werden – bilden die Regel.“51 In Golenhofen dagegen sind alle Gehöfte sehr vielseitig geplant: Sie sind aus unterschiedlichen Materialien, mit verschiedenen Grundrissen sowie mit jeweils sehr individuellem äußeren Erscheinungsbild gebaut. Laut Schwochow schließt sich hier „das thüringisch-fränkische Bauernhaus gleichsam vertraulich an das badener und dieses an das niedersächsische“ an.52 Auch der französische Schriftsteller Jules Huret beschreibt das Dorf im „Figaro“ so: 45 46 47 48 49 50 51 52 Vgl. ebd., Sign. 3385, Bl. 1. Den Bewohnern sei der Weg nach Rokietnice zu weit, zu zeitaufwenig und der Weg zu schlecht. Vgl. ebd., Sign. 3387, Bl. 11. Vgl. Schwochow 1908, S. 23. Die Kruggehöfte werden von der Ansiedlungskommission nur verpachtet. Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3385, Bl. 94 und: Zwanzig Jahre deutscher Kulturarbeit 1907, S. 13. Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, S. 34. Ebd. Auch Brenning betont, daß bei den Musterbauten der Ansiedlungskommission immer wieder die Erfahrung gemacht werden könne, daß der Fiskus am teuersten baue. Vgl. Brenning 1909, S. 123. Fünfundzwanzig Jahre Ansiedlung 1911, S. 26. Schwochow 1908, S. 27. Katalog: Golenhofen 13 „Der Staat wollte ein Musterdorf schaffen. Die Architekten bauten freundliche, fröhliche kleine Landhäuser von verschiedenem Aussehen, von Blumengärten umgeben. Die Bauarten aller deutschen Provinzen treffen hier zusammen. Hier sieht man das westfälische Haus mit seinem steilen Dach; dunkler Schiefer bedeckt die Hälfte der Fassade bis zum Dache. Daneben steht ein Brandenburger Häuschen mit zwei abseits liegenden Ställen. Weiß leuchten die Mauern eines Hannoveraner Hauses, von denen sich das Pferd des hannoverschen Wappens klar abzeichnet. Selbst ungarische Bauernhäuser sind vertreten. Alle diese Heimstätten schauen mit ihren blitzblanken Glasfenstern, ihren Loggien, ihren kleinen Veranden und Balkons fröhlich drein.“53 Trotzdem sind die Häuser unabhängig von der Herkunft der Ansiedler geplant. Diese sind nämlich erst nach deren Fertigstellung aus Süddeutschland, besonders aus Baden, aus Hannover, Westfalen, Pommern und Sachsen zugezogen. Es sind jedoch auch deutsche Rückwanderer aus Südrußland und Ungarn, einer sogar aus Amerika, dabei. Die Häuser sollen Ansiedlungswillige zum vorbildlichen Gehöftbau ermutigen, denn diese können, ja sollen sogar ihre Häuser so bauen, wie sie es aus ihrer Heimat gewöhnt sind.54 Fischer wird für die Siedlung Golenhofen von verschiedenen Seiten gelobt: „Der Baumeister, nach dessen einheitlichem Plane die ganze Ortschaft erbaut wurde, ist offenbar nicht bloß ein guter Architekt, sondern auch ein rechter Künstler. Obgleich kein Haus und kein Stallgebäude dem andern gleicht und die Bauweisen der verschiedenen deutschen Landschaften miteinander abwechseln, macht das Ganze doch einen durchaus einheitlichen Eindruck.“55 Die Gehöfte zeigen auch in der Zueinanderstellung der Wohn- und Wirtschaftsbauten eine große Varianz. Wohnhäuser, Ställe und Scheunen können zusammengebaut sein, aber auch völlig getrennt voneinander stehen. Meist jedoch lehnen sich Wohnhäuser und Ställe aneinander an, während die Scheunen einzeln plaziert sind. Die Wohnhäuser sind immer direkt an der Dorfstraße gelegen – wobei Trauf- oder Giebelständigkeit variiert. Dahinter schließen sich üblicherweise die Ställe an, während die Scheunen in der Regel in Längsrichtung die Rückseite des Hofes begrenzen und damit das Dorf nach außen hin optisch abschließen. Paul Fischer bevorzugt die Verwendung von bodenständigen Baustoffen, weil es die Übereinstimmung zwischen Boden und Bauwerk sei, „die uns bei den alten Dorfbildern besonders erfreut“. „Das gesunde Empfinden für gute Bauweise“ verliere sich sofort, wenn Industrieprodukte „widersinnig und geschmacklos“ angewendet würden.56 In der Ostmark seien nun Holz, Stroh und Lehm die ursprünglichen heimischen Baumaterialien, die Überlieferung ihrer Anwendung jedoch so gut wie verloren. Dazu sei der Holzpreis sehr hoch, die Herstellung der ausgezeichneten Lehmwände viel zu zeitraubend und Strohdächer feuerpolizeilich 53 54 55 56 Zitat des französischen Schriftstellers Jules Huret im „Figaro“, zit. bei Dietzinger 1908, S. 45. „Die meisten Ansiedlungen sind aus Angehörigen verschiedener deutscher Stämme zusammengesetzt. Diese Mischung hat ihre Entwicklung gefördert. In landsmännisch geschlossenen Ansiedlungen besteht dagegen die Gefahr, daß die Ansiedler zu eigensinnig bei ihren heimischen Gewohnheiten verharren und versauern.“ Vgl. Hahn 1908, S. 58. Dazu kommt, daß der Ansiedler dadurch seine Stelle gleich liebgewinnt und sie bald als Heimat betrachten lernt. Vgl. Brenning 1909, S. 123. Schwochow 1908, S. 27. Fünfundzwanzig Jahre Ansiedlung 1911, S. 25. Katalog: Golenhofen 14 verboten. Damit blieben als bodenständiges Baumaterial nur Granitfindlinge für die Fundamente, gebrannte Ziegelsteine mit und ohne Außenputz für die Mauern, Ziegelpfannen für die Dächer, Holzfachwerk und Verbretterung für die leichten Bauten, während als Industrieerzeugnisse bei sinngemäßer Verwendung noch Dachpappe, Zement- und Kalkkunststeine in Frage kämen.57 5. Die öffentlichen Gebäude58 Stelle 21: Gemeindehaus Das Gemeindehaus steht in repräsentativer Lage an der Längsseite des Marktplatzes und ist zweigeteilt: Es besteht zum einen aus einem zweigeschossigen Schulbau für 80 Kinder mit der Lehrerwohnung und zum anderen aus einem eingeschossigen Betsaal.59 Beide Gebäudeteile stehen giebelseitig zum Platz und sind durch einen Zwischenbau miteinander verbunden. Der Sockel ist aus Feldstein, die Umfassungswände sind aus Ziegelsteinen aufgemauert. Die äußeren Wände sind mit weißem Zementputz versehen, der am Schulhaus unter Verwendung von rechteckigen Flachornamenten sgraffitoartig behandelt ist. Das Giebeldreieck des Bethauses ist mit Fachwerk, das der Schule mit profilierten Brettern verkleidet. Die Satteldächer sind im Unterschied zu den anderen Gebäuden mit grau-blauen Falzziegeln als Kronendach gedeckt. Ein gedrungener Dachreiter mit geschweiftem Helm und Turmuhr gibt dem Betsaal ein kirchliches Gepräge. Dazu tragen auch die drei zum Marktplatz liegenden rundbogigen Fenster bei. Die Fenster des Schulhauses sind dagegen bis auf drei schmale Fenster eines Durchgangs rechteckig angelegt. Eine überdachte Freitreppe führt zu dem Haupteingang im Zwischenbau. Links davon liegen das Schulzimmer und das Treppenhaus, das zur Lehrerwohnung hinaufführt.60 Im Keller ist neben einer Waschküche und den für den Lehrerhaushalt nötigen Wirtschaftskellern ein Kohlenvorratsraum angelegt. Die Einrichtung des Betsaales besteht aus einfachem Gestühl für etwa 100 Personen, einem Altar und einem Harmonium.61 Auf dem Hof hinter dem Hause befindet sich ein Wirtschaftsgebäude, bestehend aus einem massiven Stall und einer angebauten Fachwerkscheune. Daran ist für die Schulkinder ein 57 58 59 60 61 Ebd. Die einzelnen Dorfgebäude werden im folgenden immer auf Grundlage der zeitgenössischen Pläne behandelt. Die Kosten für das Gebäude betragen bei 208 Quadratmeter bebauter Fläche 25.600 M. Vgl. Fischer 1904, Lieferung 4, Bl. 11. Fischers Pläne differieren im Detail meistens von den ausgeführten Bauten. Das sollte auch bei den folgenden Beispielen immer beachtet werden. Über der Tür zum Klassenzimmer ist zu lesen: „Gehorchet euren Lehrern und folget ihnen!“ Schwochow 1908, S. 31. Um die Wände des Klassenzimmers läuft ein farbenfroher Fries, auf dem strickende kleine Mädchen und lesende Knaben abgebildet sind. Am Ehrenplatz hängt ein Bildnis der kaiserlichen Familie. Vgl. Dietzinger 1908, S. 45f. Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, S. 34. Katalog: Golenhofen 15 Abortgebäude aus Bretterfachwerk mit vier Aborten und einem Pissoirraum mit massiver Grube angeschlossen. Das Schulgrundstück ist nach der Straße durch zwei seitliche massive Einfahrtstore und zu den Nachbarn mit massiven verputzten Mauern begrenzt. Die Feldseite ist dagegen nur durch einen Staketenzaun abgeschlossen.62 Während das Schulhaus äußerlich unverändert geblieben ist, weist das Bethaus heute kleinere Fenster auf und besitzt keinen Turm mehr. Abb. 9: Golenhofen, Gemeindehaus, Nordostansicht. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 4, Bl. 5. 62 Ebd., S. 35. 16 Katalog: Golenhofen Abb. 10: Golenhofen, Gemeindehaus. Oben: Grundriß des Erdgeschosses, unten: Grundriß des Obergeschosses. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 4, Bl. 5. Abb. 11: Golenhofen, Gemeindehaus, Nordansicht. Aus: Fischer 1904, Lieferung 4, Bl. 5. Abb. 12: Golenhofen, Gemeindehaus, Nordansicht um 1907. Aus: Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, Tafel 84. Katalog: Golenhofen 17 Stelle 43: Das Kruggehöft Das Kruggehöft ist dem Gemeindehaus gegenüber an der Ecke zwischen Dorfstraße und dem Weg zum alten Gutshof plaziert.63 Es besteht aus dem eigentlichen Gast- und Wohnhaus sowie aus einem daran angebauten Saal.64 Dazu kommen ein Stall und eine Scheune. Krug und Saal sind jeweils mit ziegelgedeckten Mansard-Kronendächern versehen. Das Gebäude ist ein verputzter Ziegelbau mit Flachornamenten in den an der Straßenansicht zurückgesetzten Feldern. An der Hauptseite wechseln dekorierender Spritzputz und glatte Flächen einander ab. Der Straßengiebel ist massiv, mehrfach geschweift und mit Zinkblech abgedeckt. Am Giebel deutet ein eisernes Wirtshausschild – ein Kranz mit Stern – auf die Nutzung des Gebäudes hin. Die seitlichen Giebel des Krugs sowie der hintere des Saales sind mit roten Biberschwänzen behangen, die Fensteröffnungen mit profilierten Umrahmungen versehen. Der Haupteingang zur Gastwirtschaft liegt unter einem Rundbogen an der Südostecke des Hauses. Ein Keller ist vorhanden. Das queraufgeschlossene Stallgebäude ist massiv, unter teilweiser Verwendung von Fachwerk unter einem Kronendach errichtet und teils mit Ziegeln oder Feldsteinen verblendet. Durch Vorziehen des Daches am Straßengiebel entsteht eine Unterfahrt außerhalb des Hofes mit Zugang zum Fremdenstall. Am Schweinestall sind zwei Aborte eingebaut und an der hinteren Giebelwand befindet sich der durch Schamwände verdeckte und überdachte Pissoirstand. Eine 130 Quadratmeter große Scheune nach System „Prüß“65 unter Pappdach schließt den Hof nach dem dahinterliegenden Garten ab.66 Ein Vorgartenzaun aus massiven, verputzten Pfeilern mit Staketenfeldern umfriedet eine kleine Gartenanlage. Die Einfahrt zum Hof wird durch ein massives Einfahrtstor mit anschließender Mauer ermöglicht. Seitlich wird der Hof durch massive Zäune, teils nach dem Prüß’schen System, teils gemauert und geputzt, abgeschlossen. Das Kruggehöft ist bis heute weitgehend unverändert geblieben. 63 64 65 66 Das Kruggehöft kostet bei 623 Quadratmeter bebautem Raum insgesamt 29.500 M. Der Saal hat eine Holzdeckenkonstruktion, die gewölbeartig mit Holzleistengewebe benagelt, geputzt und geschlemmt ist und in der Mitte den Reichsadler in einem Kranz, bei dem die einzelnen Landesfarben zur Verwendung gelangen, trägt. Die Wandflächen sind durch Wappen belebt. Vgl. ebd., S. 38. Das „System Prüß“ besteht aus 31 bis 38 cm starken Umfassungswänden aus zwei Wänden mit Luftisolierschicht, die äußere Wand ½, die innere ¼ Stein stark. Die Luftschicht ist 13-20 cm breit und kann mit Asche, Kieselgur oder Schlackenwolle ausgefüllt werden. Die Wände selbst bestehen aus einem mit Ziegelsteinen, Betonplatten usw. ausgemauertem, großmaschigen Bandeisennetz, welches zwischen 3,5-4 Meter weit voneinander entfernten, in Betonsockeln eingelassenen Doppel-T-Trägerpfosten eingespannt wird. Vgl. dazu Schubert 1908, S. 25f. Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, S. 35. 18 Katalog: Golenhofen Abb. 13: Golenhofen, Kruggehöft. Hof, Südwestansicht. Stall, Nordwestansicht. M= 1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 4, Bl. 11. Katalog: Golenhofen 19 Abb. 14: Golenhofen, Kruggehöft, Grundriß des Erdgeschosses von Haupthaus und Stall. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 4, Bl. 11. Abb. 15: Golenhofen, Kruggehöft, Westansicht. Aus: Fischer 1904, Lieferung 4, Bl. 11. Katalog: Golenhofen 20 Abb. 16: Golenhofen, Kruggehöft, Westansicht um 1907. Aus: Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, Tafel 85. Stelle 12: Gemeinschaftliches Back-, Wasch- und Badehaus nebst Spritzenraum Das Gebäude liegt westlich des Dorfkrugs auf der anderen Seite der Straße. Es ist ein niedriger Bau, der mit einem Walmdach aus Falzziegeln gedeckt ist. Er liegt längsseitig zur Straße, seine Fundamente sind aus Feldsteinen, seine Wände aus Ziegeln gemauert und stellenweise mit Zierputz versehen.67 Straßenseitig schließt sich ein hölzerner Unterstand an, unter dem die Viehwaage plaziert wird. Rückseitig ist zusätzlich ein hölzerner Kohlenschuppen angebaut. Die Fenster und Türen sind allesamt durch Sichtziegel segmentbogenartig geschlossen. Der Eingang erfolgt über ein doppelflügeliges Tor an der südlichen Schmalseite. Backhaus und Backofen werden von einem Pächter bewirtschaftet. Von der anderen Schmalseite betritt man das Waschhaus mit zwei kleinen Badezimmern, die von den Dorfbewohnern unentgeltlich benutzt werden können.68 Ein Abort ist von der Rückseite des Gebäudes zu erreichen. Das Gebäude ist zwar baulich verändert und umgenutzt, aber in Kubatur, Dach, vielen Fenstern und Baudetails erhalten geblieben. 67 68 An der Bäckerei steht zu lesen: „Das Beste, was der Mensch genießt, ist doch das liebe Brot, und wo man das einmal vermißt, herrscht allergrößte Not.“ Vgl. Schwochow 1908, S. 32. Das Backhaus kostet bei 146,5 Quadratmetern bebauter Fläche 4.800 M. Vgl. ebd. Katalog: Golenhofen 21 Abb. 17: Golenhofen, Wasch- und Backhaus. Links: Westansicht, rechts: Südansicht. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 4, Bl. 6. Abb. 18: Golenhofen, Wasch- und Backhaus, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 3, Bl. 6. Katalog: Golenhofen 22 Stelle 10: Entwurf einer Schmiede Die Schmiede sollte nicht weit nordwestlich des Backhauses an der Straße in Richtung des alten Gutsgehöftes plaziert werden.69 Sie besteht in der Entwurfsskizze aus Wohnung und Werkstatt des Schmieds. Errichtet ist sie auf einem Feldsteinfundament, hergestellt vermutlich aus teils unverputzten, teils verputzten Ziegeln. Die Giebelspitzen sind verbrettert. Die Werkstatt und eine durch vier Arkaden erschließbare Unterfahrt, die für die Arbeit an großen Geräten und Pferdehufen genutzt wird, sind unter einem Satteldach vereint. Gebäudebestimmend ist der hohe Schornstein der Schmiede, der mit dem Wohnhausschornstein verbunden ist. Die Schmiede ist in dieser Form nie ausgeführt worden. Abb. 19: Golenhofen, Schmiede. Links: Straßenansicht, rechts: Giebelansicht. M=1:200. Aus: Entwurf zum Neubau einer Schmiede in Gollenzewo 1907, S. 414f. Abb. 20: Golenhofen, Schmiede. Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Entwurf zum Neubau einer Schmiede in Gollenzewo 1907, S. 414. 69 Leider existieren von der Schmiede keine schriftlichen Vermerke oder alte Fotos. Katalog: Golenhofen 23 6. Die Gehöfte und Arbeiterhäuser Gehöft Stelle 16 Das Gehöft wird von dem Hannoveraner Gustav John übernommen und steht in repräsentativer Ecklage am Marktplatz.70 Das eingeschossige Wohnhaus und der Stall sind unter einem Dach vereint, die Scheune liegt parallel dahinter. Während das Wohnhaus giebelseitig zur Kreuzung liegt, ist der Stall traufseitig daran angebaut und vollständig abgewalmt. Die Wände von Stall und Wohnhaus sind aus Ziegeln aufgemauert und verputzt, das Dach ist als Kronendach mit roten Biberschwänzen gedeckt. Das Obergeschoß des Wohnhauses ist giebelseitig vorgezogen und ruht auf zwei umgebindeartigen Holzstützen, die im Erdgeschoß den Eingangsbereich vor Regen schützen.71 Die Giebeldreiecke bestehen aus Fachwerk und sind teilweise mit geschweiften Balken versehen. Die Balkenfelder tragen auf weissem Grund den Sinnspruch: „Kräht die Henne und nicht der Hahn, ist das Haus gar übel dran.“72 Unter dem Wohnhaus ist ein Keller vorhanden. Der Stall ist im Gegensatz zum Wohnhaus mit Fenstern ausgestattet, die rundbogig oder segmentbogenartig geschlossen sind. Die Scheune ist aus Holzwerk gezimmert und mit einem flachen Pappdach gedeckt. Die Einfahrt der Erntewagen erfolgt über eine mittig liegende Tenne, während in den seitlichen Bansenräumen die Frucht gelagert wird. Der Hof wird nach der Straße hin durch eine massive, beidseitig verputzte und mit Ziegeln abgedeckte Mauer verschlossen. Neben dem Stall wird diese Mauer durch einen mit Ziegeln überdachten Fußgängereingang durchbrochen. An den zwei anderen Seiten wird der Hofraum durch Staketen begrenzt. Das Gehöft ist im wesentlichen unverändert geblieben. 70 71 72 Die Stelle ist 14,24 ha groß und die Baukosten des Gehöftes betragen bei 314 Quadratmetern Wohn- und Wirtschaftsfläche 10.900 M. Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3385, Bl. 131 und 239. Im Gegensatz zum Plan stützen sie in der Realität kein schmales Vordach. Vgl. Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, S. 38. 24 Katalog: Golenhofen Abb. 21: Golenhofen, Stelle 16. Oben: Südostansicht des Wohnhauses, unten: Südostansicht der Scheune. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 1, Bl. 17. Abb. 22: Golenhofen, Stelle 16. Oben: Erdgeschoß-Grundriß des Wohnhauses, unten: Grundriß der Scheune. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 1, Bl. 17. Abb. 23: Golenhofen, Stelle 16, Südwestansicht. Aus: Fischer 1904, Lieferung 1, Bl. 17. Katalog: Golenhofen 25 Abb. 24: Golenhofen, Stelle 16, dahinter Stelle 17, Ostansicht um 1907. Aus: Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, Tafel 64. Gehöft Stelle 22 Den Hof übernimmt der Ansiedler Johann Arwa, ein deutscher Rückwanderer aus Szemlak bei Arad in Ungarn, dessen Vorfahren aus Schwaben stammen.73 Das Gebäude liegt in direkter Nachbarschaft des G3emeindehauses und giebelständig zum Marktplatz.74 Es faßt das zweigeschossige Wohnhaus und den Stall unter einem Dach zusammen, Scheune und Abort schließen den Hofraum dahinter ab. Das Dach des Hauses ist als rotes Kronendach eingedeckt. Das Erdgeschoß des Wohnhauses ist aus Fachwerk mit Ziegelausmauerung hergestellt und in Anlehnung an ein Umgebindehaus mit senkrechten, verzierten Holzstützen besetzt, die über Kopfbügen mit dem waagerechten Rähm verbunden werden. Nur die Außenwand von Küche und Speisekammer ist wie der Stall aus Backstein gefertigt. Der Sockel ist zwischen Putzflächen mit Feldsteinen verblendet und mit roten Biberschwänzen abgedeckt.75 Die Fenster sind mit profilierten, grün gestrichenen Brettumrahmungen versehen. Das Obergeschoß des Wohntraktes besteht aus Ziegelfachwerk und ist, ebenso wie der vordere Giebel des Hauses, mit Brettern verkleidet. Stallwände und Drempel sind aus Ziegelstein aufgemauert und verputzt. An der nordwestlichen Seite des Wohnhauses erreicht man über eine kurze Freitreppe die Haustür. Das Wohnhaus ist vollständig unterkellert. Eine verbretterte Fachwerkscheune unter Ziegeldach sowie ein kleiner Holzabort vervollständigen die Gehöftanlage.76 Eine breite, überwölbte Toreinfahrt mit danebenliegender Pforte schließen den Hof zum Marktplatz hin ab. Die seitliche Umwährung besteht teilweise aus massiven Mauern, teilweise aus einem Bretterzaun. Das Gehöft ist fast unverändert erhalten geblieben. 73 74 75 76 Vgl. Schwochow 1908, S. 31. Die Stelle ist 15,43 ha groß, die Baukosten betragen bei insgesamt 324 Quadratmetern Wohn- und Wirtschaftsfläche 11.500 M. Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3385, Bl. 131 und 239. Das ist auf den Ansichten nicht genau zu erkennen. Vgl. Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, S. 35. Leider existieren keine Pläne von Scheune und Abort. Vgl. dazu ebd. 26 Katalog: Golenhofen Abb. 25: Golenhofen, Stelle 22. Oben: Nordwestansicht, unten links: Nordostansicht, unten rechts: Grundriß des Erdgeschosses. Ohne Maßstab. Ansichten aus: Piotrowski/ Skierska 1992, Abb. 2 und 3. Grundriß nach den Feuerversicherungsskizzen in: Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3386, Bl. 11r. Abb. 26: Golenhofen, Stelle 22, Nordansicht im Jahr 2000. Katalog: Golenhofen 27 Gehöft Stelle 23 An der Straße liegt direkt neben Stelle 22 das Gehöft 23, bei dem Wohnhaus, Stall und Scheune zusammengebaut sind.77 Ansiedler ist Friedrich Arwa aus Slavonien in Ungarn.78 Das Wohnhaus ist zweigeschossig, steht traufständig zur Straße und ist mit einem Schopfwalmdach in Kronziegeldeckung ausgeführt. Eine Fledermausgaube belichtet den Dachraum. Hinter dem Wohnhaus schließt sich der Stall an. Die Scheune folgt darauf firstparallel zum Wohnhaus. Der Sockel des ganzen Gebäudes besteht aus Feldsteinen bzw. Ziegeln. Die Wände des Wohnhaus-Erdgeschosses sowie des Stalles bestehen aus verputztem Ziegelmauerwerk, während Wohnhaus-Obergeschoß, Drempel und Scheune aus mit Ziegel ausgemauertem Fachwerk bestehen.79 Die Fenster im Erdgeschoß des Wohnhauses sind mit Fensterläden versehen, das Obergeschoß kragt zur Straße hin leicht aus. Das Obergeschoß ist verputzt und vollzieht mit unterschiedlichen Putzfarben oder -sorten Teile des Balkenwerks nach.80 Das komplett unterkellerte Wohnhaus wird mittig über die Traufseite erschlossen, wobei der Hauseingang unter einem hölzernen Vorbau vor Regen geschützt ist. Ein direkter Eingang führt vom Stall in die Tenne der Scheune, in die die Erntewagen über je ein großes Tor einund wiederausfahren können. Umwährung und Brunnen waren vorhanden.81 Das Gebäude ist abgerissen und durch einen Neubau ersetzt. 77 78 79 80 81 Die Stelle ist 12,70 ha groß, die Kosten des Gehöftes belaufen sich bei 299 Quadratmetern Wohn- und Wirtschaftsfläche auf 10.500 M. Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3385, Bl. 131 und 239. Vgl. ebd., Bl. 119. Vgl. ebd., Sign. 3386, Bl. 10. Die Vermutung gründet sich allein auf einige historische Fotos. Vgl. Fischer 1904, Lieferung 1, Bl. 21. 28 Katalog: Golenhofen Abb. 27: Golenhofen, Stelle 23. Oben: Nordwestansicht, unten: Nordostansicht. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 1, Bl. 21. Abb. 28: Golenhofen, Stelle 23, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 1, Bl. 21. Abb. 29: Golenhofen, Stelle 23, Südansicht. Aus: Fischer 1904, Lieferung 1, Bl. 21. Katalog: Golenhofen 29 Gehöft Stelle 24 Das Gehöft liegt direkt neben dem der Stelle 23 und wird laut Akte von Ansiedler Karl Kantz aus Scherzheim bei Kehl in Baden bezogen.82 Das Gehöft besteht aus einem giebelständig zur Straße stehenden Wohnhaus mit Stall, die unter einem Dach vereint sind. Eine Scheune schließt den Hof nach hinten ab. Das Dach des Haupthauses ist zur Straße hin mit Schopfwalm gestaltet und mit roten Ziegeln gedeckt. Die Umfassungsmauern von Stall und Wohnhaus sind massiv aus Ziegeln gemauert und verputzt. Nur der hofseitige Giebel besteht aus ausgemauertem Fachwerk. Der straßenseitige Giebel ist mit einem die Wandfläche senkrecht gliedernden Zierputz versehen. Eine Schleppgaube belichtet das Dachgeschoß. Holzpfosten stützen am Stall eine offene Halle ab, unter der bei schlechtem Wetter gearbeitet oder Gerät abgestellt werden kann. Der Eingang ins Wohnhaus ist an der nordöstlichen Traufe angelegt. Das Wohnhaus ist teilweise unterkellert. Die Scheune ist aus teilweise verbrettertem Fachwerk errichtet und besteht wie üblich aus einer Mitteltenne und zwei seitlichen Bansenräumen. Ein Zaun aus Staketenfeldern und massiven, ziegelgedeckten Pfeilern begrenzt den Hof straßenseitig. Das Wohnhaus ist äußerlich fast unverändert, während Stall und Scheune diverse Umbauten erfahren haben. 82 Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3385, Bl. 124. Laut dem später datierten Blatt 239 wird der Hof jedoch von Richard Köhler bewirtschaftet. Er ist 12,88 ha groß, die Baukosten betragen bei insgesamt 347 Quadratmetern Wohn- und Wirtschaftsfläche 12.000 M. Vgl. ebd., Bl. 131 und 239. 30 Katalog: Golenhofen Abb. 30: Golenhofen, Stelle 24. Oben: Nordwestansicht, unten: Nordostansicht. M= 1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 2, Bl. 28. Abb. 31: Golenhofen, Stelle 24, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 2, Bl. 28. Abb. 32: Golenhofen, Stelle 24, Scheune. Links: Giebelansicht, rechts: Grundriß. M= 1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 2, Bl. 28. Katalog: Golenhofen 31 Abb. 33: Golenhofen, Stelle 24, Ostansicht. Aus: Fischer 1904, Lieferung 2, Bl. 28. Abb. 34: Golenhofen, Stelle 24, Ostansicht im Jahr 2000. Gehöft Stelle 26 Zwei Stellen weiter liegt das Gehöft des Badeners Christian Zimmer I.83 Auch bei diesem Hof sind Wohnhaus und Stall zusammengebaut, während die Scheune das Grundstück nach hinten abschließt. Das eingeschossige Wohnhaus liegt traufständig zur Straße, während der Stall dahinter angeordnet ist. Die Umfassungswände von Wohnhaus und Stall sind aus verputzten Ziegelsteinen hergestellt, die Schopfwalmdächer mit Falzziegeln gedeckt. Eine Schleppgaube belichtet das Dachgeschoß des Wohnhauses an der Straßenseite. Die Fenster sind mit Läden versehen. Der Eingang liegt mittig an der hofseitigen Traufe. Das Wohnhaus ist mit vier Kellerräumen unterkellert.84 Das Gehöft wird als niedersächsische Fortbildung bezeichnet, vermutlich weil die Tiere in Längsrichtung plaziert sind und sich ein schmaler Gang zwischen ihnen bildet.85 Der Stall wird allerdings im Gegensatz zum norddeutschen Fachhallenhaus über die Traufseite erschlossen und auch ein Deelentor ist nicht vorhanden. Über dem Stalleingang 83 84 85 Vgl. ebd., Bl. 239 und Sign. 3383, Bl. 163. Die Stelle ist 13,65 ha groß und die Baukosten des Gehöfts betragen 11.000 M. Vgl. ebd., Sign. 3385, Bl. 131 und 239. Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3386, Bl. 59. Vgl. Zwanzig Jahre deutscher Kulturarbeit 1907, S. IV. 32 Katalog: Golenhofen ist ein dreieckig-er verbretterter Giebel mit Luke angebracht, über den die Ernte auf den Bodenraum gebracht wird. Die Scheune ist aus Holzfachwerk mit Bretterverkleidung und flachem Pappdach angelegt. Der Hof ist laut Zeichnung mit einem Staketenzaun umgeben. Das Wohnhaus ist zumindest in der Kubatur erhalten, während der Stall abgerissen und die Scheune wurde. Abb. 35: Golenhofen, Stelle 26. Oben: Nordwestansicht, unten: Nordostansicht. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 2, Bl. 37. Katalog: Golenhofen 33 Abb. 36: Golenhofen, Stelle 26. Oben: Erdgeschoß-Grundriß des Wohnhauses, unten: Grundiß der Scheune. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 2, Bl. 37. Abb. 37: Golenhofen, Stelle 26, Ostansicht. Aus: Fischer 1904, Lieferung 2, Bl. 37. Abb. 38: Golenhofen, Stelle 26, Ostansicht im Jahr 2000. Katalog: Golenhofen 34 Gehöft Stelle 28 Zwei Stellen weiter ist das Gehöft des Nikolai Möllmann errichtet.86 Auch bei ihm liegt das zweigeschossige Wohnhaus traufständig zur Straße, während das daran angebaute niedrige Stallgebäude quer dazu gelagert ist. Die Dächer sind mit Falzziegeln gedeckt. Die Scheune bildet wiederum die Rückseite des Hofes. Während das Erdgeschoß des Wohnhauses aus verputzten Ziegeln besteht, ist das Obergeschoß aus Fachwerk mit einem Zierputz versehen, der die Wandflächen in Rechtecke gliedert. Die hinabgezogene Traufe an der Hofseite zeigt unverputztes Zierfachwerk, die Giebeldreiecke des Wohnhauses sind verbrettert. Die straßenseitige Gestaltung des Hauses ist vergleichsweise aufwendig, denn im Erdgeschoß ist ein dreiseitiger Erker angelegt, auf den sich das auskragende Obergeschoß stützt. Der Stall ist bis zu den Giebeln massiv aufgemauert, wobei auch dessen Giebeldreiecke mit einem rahmenden Putz geziert sind. Der Eingang ins Wohnhaus ist von der hofseitigen Giebelseite über eine kurze Treppe zu erreichen. Das Wohnhaus ist mit drei Räumen und einer Räucherkammer unterkellert.87 Die Scheune ist massiv nach System „Prüß“ errichtet, mit flachem Pappdach gedeckt und zeigt die typische Grundrißeinteilung in Mitteltenne und zwei seitliche Bansenräume. Das Gebäude ist fast unverändert erhalten. 86 87 Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3385, Bl. 191. Seine Herkunft ist unklar. Ebd., Bl. 140 nennt für die Stelle noch den Ansiedler Wilhelm Dachwitz aus Spierske bei Kalisch in Rußland. Er hat sich jedoch anscheinend gegen die Stelle entschieden. Diese ist 13,02 ha groß und kostet bei einer Wohn- und Wirtschaftsfläche von 378 Quadratmetern 12.500 M. Vgl. ebd., Bl. 131 und 239. Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3386, Bl. 67. Katalog: Golenhofen 35 Abb. 39: Golenhofen, Stelle 28. Oben: Nordostansicht, unten: Südostansicht. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 2, Bl. 36. Abb. 40: Golenhofen, Stelle 28, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 2, Bl. 36. Abb. 41: Golenhofen, Stelle 28, Ostansicht. Aus: Fischer 1904, Lieferung 2, Bl. 36. Katalog: Golenhofen 36 Abb. 42: Golenhofen, Stelle 28, Ostansicht im Jahr 2000. Gehöft Stelle 32 Das Gehöft liegt ebenfalls an der Südwestseite der Dorfstraße und wird von dem Ansiedler Gotthold Munack bewohnt.88 Auch bei diesem Gehöft sind das eingeschossige Wohnhaus und der Stall zusammengebaut, während die Scheune das Grundstück nach hinten abschließt. Das Wohnhaus steht giebelständig zur Straße und ist zur Straße hin mit einem Schopf abgewalmt. Der traufständig zur Straße stehende Stall hat ebenfalls ein Schopfwalmdach und ist, wie das Wohnhaus, als Kronziegeldach gedeckt. Wohnhaus und Stall sind massiv gemauert und verputzt, die Fundamente bestehen aus Feldsteinmauerwerk. Während die Giebeldreiecke des Stalles verbrettert sind, ist die straßenseitige Giebelwand des Wohnhauses mit einem rahmenden Putz und Zierfachwerk versehen. Darunter ist an der Ecke des Hauses eine hölzerne Veranda ausgespart, über die auch die Eingangstür zu erreichen ist. Zwei Räume bilden den Keller.89 Der Abort ist außen am Schweinestall eingerichtet. Die Scheune ist aus verbrettertem Fachwerk gezimmert und enthält zwei nebeneinanderliegende Tennen sowie zwei seitliche Bansenräume. Das Grundstück ist zur Straße hin vermutlich von einer Mauer abgegrenzt. Wohnhaus und Stall sind mit kleinen Veränderungen erhalten. 88 89 Seine Herkunft ist ungewiß. Die Stelle ist 17,76 ha groß und die Bauten kosten bei insgesamt 383 Quadratmetern Wohn- und Wirtschaftsfläche 11.500 M. Vgl. ebd., Bl. 79. Katalog: Golenhofen 37 Abb. 43: Golenhofen, Stelle 32. Oben: Nordostansicht, unten: Südostansicht. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 3, Bl. 73. Abb. 44: Golenhofen, Stelle 32, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 3, Bl. 73. Katalog: Golenhofen 38 Abb. 45: Golenhofen, Stelle 32, Ostansicht. Aus: Fischer 1904, Lieferung 3, Bl. 73. Abb. 46: Golenhofen, Stelle 32, Nordostansicht im Jahr 2000. Gehöft Stelle 40 Das Gehöft liegt auf der nordöstlichen Seite der Dorfstraße und ist eines der wenigen Beispiele, bei denen Wohnhaus, Stall und Scheune getrennt voneinander gebaut werden. Das Wohnhaus ist an der südlichen Seite des Grundstückes direkt an die Straße gestellt, während der Stall den Hofraum in nördlicher Richtung begrenzt. Die Scheune liegt wie üblich mit ihrer Längsseite zum Hof und schließt diesen nach hinten ab. Das Gehöft wird von dem Ansiedler Friedrich Arwa in Slawonien bezogen.90 Die Fundamente von Wohnhaus und Stall sind aus Feldsteinen gemauert. Das Wohnhaus besteht aus einem massiv errichteten und verputzten Teil, der mit seinem Satteldach giebelständig zur Straße steht und einem zweiten Bauelement, das sich traufständig und mit Schopfwalmdach an den ersten Teil anlehnt. Dieser ist vollständig aus mit Ziegel gefülltem Fachwerk errichtet. Das Haus ist mit einem Kronziegeldach versehen. Die Haustür liegt hinter einem gemauerten Bogen an der Straßenseite. Ein kleiner Kel- 90 Vgl. Archiv Gnesen, Reg. VII, Sign. 3385, Bl. 138. Die Stelle ist 16,85 ha groß. Das Gehöft kostet bei einer Gesamtfläche von Wohn- und Wirtschaftsbereich 374 Quadratmetern 11.700 M. Vgl. ebd., Bl. 131 und 239. Katalog: Golenhofen 39 ler ist vorhanden. Der Stall ist aus verputztem Ziegelstein, wobei Giebel und Drempel aus mit Ziegeln ausgemauertem Fachwerk bestehen. In einem Fachwerkfeld des Drempels über dem Stalleingang steht zu lesen: „Eine Kuh, die Gutes frißt, gibt gute Milch und guten Mist.“ Ein Satteldach deckt den Stall und ist zur Hofseite teilweise heruntergezogen, um die Futterküche, die von außen direkt betreten werden kann, unterzubringen. Die Scheune besteht aus mit Brettern verkleidetem Fachwerk und ist mit Mitteltenne und seitlichen Bansenräumen ausgestattet.91 Daran angelehnt ist ein kleines Aborthäuschen. Das Gehöft ist von einem Staketenzaun umgeben. Wohnhaus und Stall sind fast ohne Veränderungen erhalten. Abb. 47: Golenhofen, Stelle 40. Links: Südwestansicht, rechts: Südostansicht. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 1, Bl. 3. Abb. 48: Golenhofen, Stelle 40, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 1, Bl. 3. 91 Vgl. ebd., Sign. 3386, Bl. 35. 40 Katalog: Golenhofen Abb. 49: Golenhofen, Stelle 40, Stall. Links: Südwestansicht, rechts: Südostansicht. M= 1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 1, Bl. 3. Abb. 50: Golenhofen, Stelle 40, Stall. Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 1, Bl. 3. Abb. 51: Golenhofen, Stelle 40, Südansicht. Aus: Fischer 1904, Lieferung 1, Bl. 3. Katalog: Golenhofen 41 Abb. 52: Golenhofen, Stelle 40, Südansicht um 1906. Aus: Warlich 1906, S. 536. Abb. 53: Golenhofen, Stelle 40, Ostansicht. Aus: Das Ansiedlungsdorf Golenhofen bei Posen 1907, T. 87. Arbeiterhaus Stelle 37 Zwischen den landwirtschaftlichen Gehöften liegt an der Nordostseite der Dorfstraße ein Arbeiter-Doppelwohnhaus mit dahinter freistehendem Stallgebäude, das den Hofraum nach hinten abschließt.92 Das Gebäude steht traufseitig zur Straße und ist mit einem Schopfwalmdach mit Kronziegeldeckung errichtet. Zwei Schleppgauben sorgen straßen- und hofseitig für die Belichtung des Dachgeschosses. Die Umfassungsmauern sind aus verputzten Ziegeln errichtet, wobei die Fundamente und Gebäudekanten vermutlich unverputzt belassen sind.93 Die Giebeldreiecke bestehen dagegen aus Fachwerk, das zum Teil sichtbar gelassen, zum Teil mit Brettern verkleidet ist. Die Fenster des Hauses sind laut Zeichnung segmentbogenförmig geschlossen. Die alten Fotos legen jedoch nahe, daß das Gebäude mit Rechteckfenstern und Fensterläden versehen ist. Das Gebäude ebenso wie der Stall ist für die beiden Familien jeweils in Querrichtung getrennt, die Wohnungen sind achsensymmetrisch angelegt. Die Ein92 93 Die Ausführungskosten des Gehöfts betragen bei insgesamt 123 Quadratmetern Wohnhausfläche und 75 Quadratmetern Stallfläche etwa 7.000 M. Vgl. Fischer 1904, Lieferung 4, Bl. 23. Vgl. ebd. 42 Katalog: Golenhofen gänge befinden sich nebeneinander an der Hofseite des Hauses. Ein Kellerraum pro Familie ist vorhanden. Der Stall ist massiv gebaut und mit einem Drempel und Giebel aus verbrettertem Fachwerk versehen. Ein flaches Pappdach schließt das Gebäude nach oben ab. Ein Eingang führt jeweils von der Giebelseite in den einzigen Stallraum mit Abort. Daneben befindet sich ein größeres Tor, das die eingebaute Fachwerkscheune erschließt. Das Grundstück ist zur Straße hin mit einem Zaun aus Staketenfeldern und massiven, ziegelgedeckten Pfeilern begrenzt. Haus und Stall sind heute vollständig umgebaut. Abb. 54: Golenhofen, Stelle 37. Links: Südwestansicht, rechts: Südostansicht. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 4, Bl. 23. Abb. 55: Golenhofen, Stelle 37. Links: Grundriß des Obergeschosses, rechts: Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 4, Bl. 23. Abb. 56: Golenhofen, Stelle 37, Stall. Links: Südwestansicht, rechts: Südostansicht. M= 1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 4, Bl. 23. Katalog: Golenhofen 43 Abb. 57: Golenhofen, Stelle 37, Stall. Links: Grundriß des Erdgeschosses, rechts: Fundamente. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 4, Bl. 23. Abb. 58: Golenhofen, Stelle 37, Südansicht um 1906. Aus: Warlich 1906, S. 536. Arbeiterhaus Stelle 49 Ein anderes Doppelwohnhaus für Arbeiter liegt in Richtung Südwesten fast am Ende der Dorfstraße und ist erst nach den ersten 43 Dorfstellen errichtet worden.94 Das Gebäude steht giebelständig zur Straße und vereint Wohnhaus und Stall unter einem Dach. Das Haus ist wieder achsensymmetrisch, jedoch im Vergleich zur Stelle 37 in Längsrichtung geteilt. Das Satteldach ist mit Falzziegeln eingedeckt, das Gebäude besteht aus verputztem Ziegelmauerwerk. Die Straßenfront ist teilweise durch einen Zierputz in längsrechteckige Flachornamente gegliedert und in der Giebelspitze mit Brettern verschalt. Die Fenster des Erdgeschosses sind mit Fensterläden versehen. Die beiden Hauseingänge befinden sich an den Traufseiten und führen zu einem eingetieften offenen Vorraum. Dessen Befensterung ist jeweils mit Schmuck- 94 Das wird auch durch die Numerierung der Stellen deutlich. Die Ausführungskosten des Gehöfts betragen bei insgesamt 152 Quadratmetern Wohn- und Wirtschaftsfläche etwa 6.400 M. Vgl. ebd., Bl. 7. 44 Katalog: Golenhofen fachwerk versehen. Im Untergeschoß ist je ein Kellerraum vorhanden. Nur von außen führt ein weiterer Eingang in den Stallraum mit eingebautem Abort. Luken zum Einbringen der Ernte in den Bodenraum befinden sich darüber in einer Gaube oder an der rückwärtigen Giebelseite. Das Grundstück ist vermutlich ursprünglich durch eine massive Mauer von der Straße abgegrenzt. Das Gebäude hat äußerlich nur kleine Veränderungen erlebt. Abb. 59: Golenhofen, Stelle 49. Links: Nordostansicht, rechts: Nordwestansicht. M= 1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 4, Bl. 7. Abb. 60: Golenhofen, Stelle 49, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Fischer 1904, Lieferung 4, Bl. 7. Katalog: Golenhofen 45 Abb. 61: Golenhofen, Stelle 49, Nordansicht. Aus: Fischer 1904, Lieferung 4, Bl. 7. Abb. 62: Golenhofen, Stelle 49, Nordansicht im Jahr 2000. Aus: Fischer 1904, Lieferung 4, Bl. 7. 46 II. Das Dorf Böhmenkirch in Württemberg 1. Zu Geschichte und Wiederaufbau des neuen Dorfes Die Pfarrgemeinde Böhmenkirch liegt im ehemaligen Königreich Württemberg 696 Meter über dem Meeresspiegel auf dem Albuch, einem Höhenzug zwischen mittlerer Alb und Ostalb. Hier verläuft die Wasserscheide zwischen Rhein und Donau. Der Ort ist 13 Kilometer nördlich von seinem ehemaligen Oberamt Geislingen und 25 Kilometer östlich von Göppingen angesiedelt. Der Gebirgscharakter der Alb offenbart sich deutlich nur an ihrem nördlichen Rand, denn hier fällt sie steil zum Unterland hin ab und ist von dichtbewaldeten Hängen gesäumt. Fährt man von Göppingen nach Böhmenkirch, führt die Straße in vielen Kurven steil vorbei an Jurakalkplatten auf die Anhöhe der Alb, an deren Rand nach kurzem Weg der Ort Böhmenkirch auftaucht. Die Albhöhen sind hier wellig und bestehen aus zerklüftetem Gestein, in dem das Wasser rasch in die Tiefe sinkt.1 Zu dem ohnehin sehr rauhen Albklima kommt also zusätzlich eine nur dünne Erdschicht und schnell in die Tiefe sinkendes Regenwasser. Die Alblandschaft war ursprünglich eine Steppenheide, ist heute allerdings geprägt von Nutzflächen für Felder, Wiesen sowie Nadel- und Laubwälder. In den Haufendörfern der Hochalb drängen sich die Gebäude eng und regellos aneinander. Die meisten Dörfer ducken sich in windgeschützte Mulden, Böhmenkirch liegt jedoch auf einer Anhöhe. Jeder Bauer besitzt Ackerflächen rund um das Dorf, die zusammen eine verstreute Gemengelage ergeben. Geprägt ist der Landstrich von der Vieh- und Weidewirtschaft und noch im Jahre 1910 durch die schmalstreifigen Gewannfluren. Der Zerschneidung der Flur in manchmal nur bis zu fünf Meter breite Äcker liegt die Realteilung zugrunde: Die ursprünglichen Parzellen werden bei der Weitervererbung an alle männlichen Geschwister aufgeteilt.2 Im Jahre 1225 wird das Dorf als „Bominwirche“ erstmals erwähnt und ist vermutlich schon zu der Zeit ein Marktflecken. Im 12. und 13. Jahrhundert ist es selbständiges, freies Reichsgut.3 Nach einer Volkszählung im Jahre 1905 zählt der Ort 1.521 Einwohner, davon 1.510 katholischen und elf evangelischen Glaubens.4 Der größte Teil der Bewohner arbeitet in der Landwirtschaft, die jedoch infolge des rauhen Klimas nicht besonders lohnend ist. Ein 1 2 3 4 Vgl. Assion/Brednich 1984, S. 171 und Ellenberg 1990, S. 468. Vgl. König 1958, S. 17. Vgl. Lang/Oßwald, Bd. 1, 1990, S. 85-91 zur Geschichte des Reichsguts Böhmenkirch bis 1793. Zur Geschichte des Bauernaufstands von Böhmenkirch, der in die württembergische Geschichte eingegangen ist, vgl. ebd., S. 163-172. 1476 besaß der Markt Stadtrechte, ein Hochgericht und seine Einwohner das Bürgerrecht, vgl. S. 90. Vgl. StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492, nicht numeriert (Entwurf eines Gesetzes, S. 92) und ebd. Nr. 25. Katalog: Böhmenkirch 47 kleinerer Teil (etwa 100 Männer) ist in Fabriken der Umgebung beschäftigt, Industrie im Ort ist außer einer Hausindustrie, der Kunststickerei, nicht vorhanden. Daher leben die meisten Einwohner in bescheidenen Verhältnissen.5 Noch im 19. Jahrhundert ist die Armut vieler Menschen im Land – besonders auf der kargen Hochebene – so groß, daß der Staat Württemberg einen Wohltätigkeitsverein und eine „Armen-Commission“ gründet, die 1846 zur Gründung von öffentlichen Speiseanstalten aufruft. Zeichen für das Elend der Bevölkerung ist die große Auswanderungswelle, die auch Böhmenkirch erstmals zwischen 1849 und 1854 mit insgesamt 148 Personen trifft.6 Abb. 63: Böhmenkirch, Südwestansicht aus dem Jahre 1938. Aus: Lang/Oßwald, Bd. 1, 1990, vorderes Vorsatzblatt. Noch in den Jahren 1750/60 erscheint das Dorf Böhmenkirch auf einem freihändig gezeichneten Plan des damaligen Pfarrers als haufenförmige Anlage, in deren Zentrum – der heutigen Kirchstraße – sich Kirche, Schule, Pfarrhaus und das Gasthaus zur Krone sammeln.7 Auf einem ersten Katasterplan des Jahres 1827 hat sich die Zahl der Gebäude in etwa verdoppelt auf 200 bis 210, hier ist bereits eine weite Verzweigung des Dorfes eng entlang der neu entstandenen Straßen – besonders der heutigen Baierstraße - zu erkennen.8 5 6 7 8 An Gewerben existiert nur das sogenanntes Bedürfnisgewerbe. Bei der Berufszählung im Jahre 1907 werden 310 Landwirtschaftskarten und 128 Gewerbekarten ausgefüllt. Vgl. ebd., Nr. 10 und ebd., Nr. 30. Vgl. Lang/Oßwald, Bd. 2, 1994, S. 72-75. Zwischen 1866 und 1870 wandern fast 500.000 Deutsche, vorwiegend aus Südwestdeutschland, aus. Hauptziel dieser Auswanderung ist Nordamerika. Vgl. Born 1966, S. 272. Vgl. Lang/Oßwald, Bd. 1, 1990, S. 203. Vgl. ebd., S. 204f. Zur Dorfentwicklung seit 1750 vgl. S. 201-207. Katalog: Böhmenkirch 48 Abb. 64: Böhmenkirch, Ortsbauplan von 1910 mit der abgebrannten Altbebauung (grau) und den neu errichteten Gebäuden (hellrot). Fett schwarz ist die neue Baufluchtlinie gekennzeichnet. Ohne Maßstab. Aus: GA Böhmenkirch. Katalog: Böhmenkirch 49 Bevor die Alb per Pumpwerk (in Böhmenkirch im Jahre 1888)9 mit Wasser versorgt wurde, sammelte sich das Regenwasser in sogenannten „Hülben“, künstlichen, mit Lehm abgedichteten Dorfteichen, die dem Vieh als Tränke dienten. An einem Katasterplan von 1910, der die neu errichteten Ortsteile nach dem Brand zeigt, ist die damalige Ausdehnung des Ortes abzulesen.10 An der das Dorf von Westen nach Osten durchziehenden Vorderen Gasse (später Hauptstraße) geht am Marktplatz nach Süden hin die Kirchgasse ab, an der die zentralen dörflichen Einrichtungen zu liegen kommen: Am Marktplatz direkt sind das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebaute Rathaus, zwei Häuser südlich davon die giebelständig zur Straße stehende Schule und unterhalb der Kirche das Pfarrhaus zu finden. Der Marktplatz ist zu der Zeit mit hohen Lindenbäumen bepflanzt.11 Mehrere Gaststätten sind am Marktplatz und gegenüber der Kirche errichtet. Dazu gehören die Wirtshäuser „Zur Krone“, „Zum Adler“, „Zum Lamm“ und „Zur Schenke“. Westlich der Gaststätte „Zum Adler“ liegt in der Nähe des Marktplatzes die Schmiede des Josef Heldele. Ein Abzweig namens Friedhofstraße (damals Obere Ledergasse) führt nach Norden zu dem 1846 außerhalb des Ortes angelegten Friedhof. An der Friedhofstraße existiert ein schon vor dem Brand in etwa quadratischer Baublock, dessen Straßen damals als Ledergasse, heute als Ledergasse bezeichnet werden. Von der Vorderen Gasse zweigt keilförmig nach Südosten die Brommgasse ab, die in den Breiten Weg mündet, eine nach Süden in Richtung Steinenkirch abgehende Straße. Ein dicht bebauter Abzweig von der Vorderen Gasse ist die Baierstraße, die das Dorf nach Nordosten verläßt.12 Am 14. April des Jahres 1910 um 14 Uhr nachmittags bricht am südöstlichen Rand der Brommgasse (im Haus Nr. 22) ein Feuer aus, verursacht vermutlich durch mit Zündhölzern spielende Kinder. Infolge des starken Südostwindes breitet sich der Brand innerhalb weniger Stunden so aus, daß um 17 Uhr bereits 60 Häuser in Flammen stehen. Die meisten Bewohner sind zur Frühjahrsbestellung auf den zum Teil weit entfernten Feldern. Die Feuerwehren aus Böhmenkirch und den benachbarten Gemeinden sehen sich mit ihren Feuerspritzen und durch den geringen Druck der Wasserleitung nicht in der Lage, einen Großbrand wie diesen zu löschen. Ihnen bleibt nur, die Häuser ohne Strohdächer vor der Brandgefahr zu schützen.13 Das Feuer breitet sich über die gesamte Brommgasse aus, erreicht die Vordere Gasse und 9 10 11 12 13 Zum Wassermangel und zum Bau der Albwasserleitung vgl. ebd., S. 314-319. Vgl. Lang/Oßwald, Bd. 1, 1990, S. 206f. Vgl. zur Beschreibung des Marktplatzes ebd., Bd. 2, 1994, S. 114-116. 1910 sind nur noch in der Baierstraße, im Zentrum des Dorfes sowie am östlichen Ende der Vorderen Gasse Hülben vorhanden. Vgl. StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492, Nr. 30. Katalog: Böhmenkirch 50 greift über auf die Häuser der Ledergasse. Gegen Abend sind von 350 (mit Nebengebäuden 475) Gebäuden im Dorf 73 Hauptgebäude und 14 Nebengebäude völlig zerstört und 14 Haupt- und sechs Nebengebäude beschädigt.14 Knapp ein Viertel des Ortes ist dem Erdboden gleich gemacht, 372 Personen sind obdachlos und müssen im Ort oder bei Verwandten außerhalb untergebracht werden. Ortsbrände in Württemberg und anderen Regionen des Deutschen Reiches sind zu dieser Zeit keine Seltenheit, da viele Gebäude durch fehlende Brandmauern und Strohdächer vor Brand unzureichend geschützt sind.15 Wassermangel oder unzureichende Feuerwehrausrüstung tragen ihr übriges dazu bei. Ganz abgesehen von der Vielzahl an Bränden im und vor dem 19. Jahrhundert wütet der letzte Brand in Böhmenkirch im Jahre 1902 und zerstört einen Teil der Baierstraße.16 Abb. 65: Böhmenkirch, Brand in der Baierstraße 1902, Ostansicht. Aus: Lang/Oßwald, Bd. 2, S. 136. 14 15 16 Vgl. ebd., Nr. 123 und Das Brandunglück in Böhmenkirch, S. 11. Im KA Göppingen, 714.4, Bund 9, S. 4 sind jedoch andere Zahlen verzeichnet. Noch bis ins 20. Jahrhundert kommt es vor, daß durch Brandkatastrophen völlig zerstörte Dörfer wiederaufgebaut werden müssen. Das Dorf Zirl in Tirol etwa brennt am 21.6.1908 innerhalb von 1½ Stunden fast vollständig ab. Vgl. dazu den kurzen Artikel in: Der Städtebau 5.1908, H.10. Der Tiroler Landesausschuß bittet den „Bayerischen Verein für Volkskunst und Volkskunde“ in München um einen neuen, zeitgemäßen Bebauungsplan für Zirl. Die Architekten O. Lasne und A. Blößner schlagen vor, die Einzelbebäude nach dem Studium alter Bauten als neue bäuerliche Haustypen mit eigener Bemalung zu schaffen. Vgl. Achleitner 1989, S. 167. Zum Wiederaufbau der 1908 abgebrannten Ortschaft Zirl vgl. Bayerischer Heimatschutz. Monatsschrift des Vereins für Volkskunst und Volkskunde in München 10.1912, H. 8, S. 205 und in: Deutsche Bauzeitung 42.1908, Nr. 77, S. 532 sowie Flöss, Benjamin: Zirl in Wort und Bild. Hg. Von der Gemeinde Zirl zur Markterhebung 1984. Innsbruck 1983. Zur österreichischen Heimatschutzbewegung: „Schönes Österreich. Heimatschutz zwischen Ästhetik und Ideologie.“ Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung. Wien 1995. (=Kataloge des Österreichischen Museums für Volkskunde Bd. 65). Vgl. Lang/Oßwald, Bd. 2, 1994, S. 135f. Katalog: Böhmenkirch 51 In der Gemeinde Ilsfeld südlich von Heilbronn verheert ein Brand im August 1904 bei 1780 Einwohnern fast 2/3 des Ortes. Einen Monat später brennt es in Binsdorf, einem Ort bei Sulz am Neckar.17 Ebenfalls auf einer Hochebene gelegen und von Wassermangel betroffen, vernichtet das Feuer dort 111 von insgesamt 288 Haupt- und Nebengebäuden samt Rathaus und Schulhaus. Am 20. August 1907 kommt es in Darmsheim bei Sindelfingen, einem Ort mit 817 Einwohnern, zu einem Ortsbrand, bei dem 81 Haupt- und 62 Nebengebäude, also etwa 1/3 des Ortes zerstört werden.18 In Böhmenkirch wird bereits einen Tag nach dem Brand ein Hilfskomitee gebildet19, dessen Mitglieder die eingehenden Liebesgaben (Natural- und Geldspenden)20 verteilen und den Wiederaufbau der Gebäude betreuen. Ohne die Spenden, die je nach erlittenem Schaden, Bedürftigkeit und Kinderzahl vergeben werden, könnten die meisten der ohnehin minderbemittelten Landwirte den Wiederaufbau nicht bezahlen, da viele von ihnen überdies schlecht oder gar nicht versichert sind.21 Böhmenkirch sei eine der wirtschaftlich schwächsten Gemeinden des Oberamtsbezirks, so heißt es in einem Spendenaufruf des Hilfskommitees am 3. Juni 1910 und die Gehöfte seien allesamt hoch verschuldet.22 52 Gebäude sollen wiederaufgebaut werden, davon 45 Wohnhäuser mit angebauten Scheuern und sieben Wohngebäude. 19 weitere abgebrannte Gebäude werden nicht wiedererrichtet. Der Wiederaufbau wird dadurch verteuert, daß wegen der klimatischen Verhältnisse zumindest das Erdgeschoß der Häuser massiv errichtet werden muß und daß durch das Ge- 17 18 19 20 21 22 Vgl. dazu Zahn, Max: Der Brand von Binsdorf, das Hilfswerk und der Wiederaufbau. Stuttgart 1906. Die Schule im Ort wird von dem Architekten Theodor Fischer geplant. Vgl. die detaillierten Zahlen zu den Ortsbränden in: StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492, Nr. 46. Dieses besteht aus einem Böhmenkircher Ortsausschuß, dem z.B. Schultheiß Schwarz, Oberlehrer Nagel und Pfarrer Nagel angehören. Dazu kommen ein Ausschuß des Bezirkswohltätigkeitsvereins Geislingen und einige Bezirksangehörige; ebenso Vertreter des Königl. Ministeriums des Innern, der Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins und des Verwaltungsrats der Gebäudebrandversicherungsanstalt. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 9, S. 8-10. Es gehen Naturalgaben im Geldwert von ca. 10.000 M und rund 122.000 M Geldgaben ein. Vgl. StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492, Nr. 123. Um einen größeren Geldbetrag zu erhalten, entsteht sogar eine schmale Schrift mit dem Namen „Das Brandunglück in Böhmenkirch“ 1910, die den Brandhergang dramatisch und mitleiderregend schildert und bei deren Kauf ein Teil des Reinertrages den Brandgeschädigten zugute kommt. Der Wiederaufbau der Gebäude und der Ankauf von alten Gebäuden wird auf insgesamt 547.000 M berechnet. Die Gebäudebrandversicherung vergütet davon nur den Betrag von 240.000 M, der allgemeine Hilfsfonds 68.000 M, sodaß die Summe von 239.000 M noch ungedeckt ist. Abzüglich der den Beteiligten zur Verfügung stehenden eigenen und fremden Kapitalien ist von der Ortsbehörde ein weiterer finanzieller Betrag von 165.000 M erforderlich. Damit sich die Bauenden nicht unter schwierigen Bedingungen um ein Darlehen bemühen müssen, beschließt die Gemeinde, ein Darlehen aus staatlichem Mitteln zu erbitten, daß ihr am 8. März 1911 gewährt wird. Am 24. Januar 1911 wird ein Gesetz verabschiedet, das das Finanzministerium ermächtigt, der Gemeinde Böhmenkirch ein Darlehen in der Höhe von 140.000 M für 3 Jahre unverzinslich und für weitere drei Jahre zu einem mäßigen Zinsfuß überlassen. Vgl. StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492, Nr. 123. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 2, unnumeriert. Katalog: Böhmenkirch 52 fälle von 5 bis 8% die Fundamentkosten der Gebäude hoch sind. Zudem liegt Böhmenkirch bei einem Höhenunterschied von 200 Metern sechs Kilometer von der nächsten Bahnstation entfernt, sodaß der schwierige Materialtransport die Kosten zusätzlich erhöht.23 Die Wiederaufbauarbeiten werden vorbereitet durch die Tiefbaufirma C. Baresel aus Stuttgart-Untertürkheim, die die Brandreste einreißt und abtransportiert, die neuen Straßen, Bauplätze und Hofräume ebnet und die Grundmauern bis zur Sockelhöhe betoniert.24 Durch den Einsatz dieser großen, mit modernen Maschinen ausgerüsteten Firma, die in Tag- und Nachtschichten arbeitet, erstehen bereits zwei Monate nach der Katastrophe in der Friedhofstraße wieder die ersten Häuser.25 Vom Innenministerium wird im Ort eine staatliche Bauberatungsstelle26 eingerichtet, in der ein bauverständiger Beamter der Gebäudebrandversicherungsanstalt, Bauinspektor Frost, sowie ein Landestechniker für das landwirtschaftliche Bauwesen, Inspektor Friz, mit entsprechenden Hilfskräften die Gemeinde und die Bauenden technisch und praktisch beraten, um den neu aufzustellenden Ortsbauplan und den Wiederaufbau zu fördern. Durch ihre umsichtige Organisation können alle Abgebrannten schon zum Erntebeginn am 10.-15. August ihre Erträge in die eigenen Scheuern einlagern.27 Für Baupläne, Kostenvoranschläge, Abrechnung sowie Bauleitung werden nach eingehender Prüfung fünf Architektenfirmen ausgewählt, die die Bauzeichnungen für jeweils etwa zehn Gebäude herstellen sollen. Es handelt sich um die Büros Immanuel Hohlbauch/Geislingen, Karl Philipp/Geislingen, Georg Wachter/Geislingen, Theodor Hiller/Göppingen und Schenk & Dangelmaier/Schwäbisch Gmünd. Sie verpflichten sich, ihre Baubüros vor Ort einzurichten und erhalten für ihre Arbeiten 3% der Bausumme ausgezahlt.28 Jeder Architekt erhält ca. zehn Gebäude zugewiesen, die jeweils möglichst nahe beieinanderliegen.29 Der Bau darf erst begonnen werden, wenn sich der Bauherr mit den Plänen und den Baukosten einverstanden erklärt hat. Es wird darauf geachtet, daß eine gerechte Verteilung von großen, mittleren und kleinen Anwesen auf die Architekten erfolgt.30 23 24 25 26 27 28 29 30 Vgl. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 8, Nr. 14. Statt Kalksteinfundamenten sollen betonierte Fundamente für trockene Kellerräume sorgen und die Mäuseplage eindämmen. Die daraus resultierenden höheren Baukosten werden dadurch wettgemacht, daß Betonmauern nur etwa 40-45 cm stark sein müssen, d.h. 20-25 cm schmaler als Kalksteinmauern. Betonmauern seien schneller herzustellen und beschleunigen den Wiederaufbau. Vgl. ebd., Bund 9, S. 14f. Vgl. Lang/Oßwald, Bd. 2, 1994, S. 347. Vgl. StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492, Nr. 101. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 1, S. 25a. Die übrigen Bewerber sind durch die zu große Entfernung von der Baustelle ausgeschieden. Vgl. ebd., Bund 9, S. 20 und StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492, unnumeriert. Hohlbauch erhält zunächst neun Bauten, Philipp acht, Wachter sieben, Schenk & Dangelmaier acht und Hiller zehn Bauten zugewiesen. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 9, S. 30. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 8, Nr. 16. Hohlbauch erhält elf, Philipp zehn, Wachter neun, Schenk & Dangelmaier elf und Hiller ebenfalls elf Gebäude übertragen. Ebd., S. 18 und 22. Katalog: Böhmenkirch 53 Die staatlichen Techniker Frost und Friz sind angehalten, bei den Bewohnern Erhebungen über deren Wünsche für die neuen Gebäude anstellen und Skizzen anzufertigen zu lassen, nach denen die Architekten dann ihre Pläne zu zeichnen haben.31 Der Grundsatz für den Wiederaufbau lautet, „unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und häuslichen Bedürfnisse der Bauenden sowie der klimatischen Verhältnisse größte Einfachheit und Sparsamkeit“ walten zu lassen.32 Das rauhe Klima der Alb erfordere eine solide Bauart, die jeden Luxus zu vermeiden habe. Als Negativbeispiele werden immer wieder die Orte Binsdorf, Darmsheim und Ilsfeld genannt. Hier sei beim Wiederaufbau unnötiger städtischer Luxus, z.B. in Form von Erkern, zur Verwendung gekommen, der die Bewohner noch über Jahre hinweg in große finanzielle Not gestürzt hätte. Ein Artikel in der Schwäbischen Kronik mahnt die Böhmenkircher, keine „Bauernhäuser im Villenstil“ zu bauen, wie das in den genannten Orten passiert sei: „Ein besonders wirksames Mittel zur Beförderung der beklagenswerten Landflucht wäre es, wenn den Böhmenkirchern ihre neuen Häuser durch Schulden verleidet würden, wenn der neue Häuserbesitzer eines Tages seine Habseligkeiten zusammenpacken und in die fabrikreiche Stadt ziehen müßte, um das Heer der Unzufriedenen um einen weiteren Rekruten zu vermehren.“33 In Böhmenkirch werden die Bewohner von Anfang an dazu gebracht, ihre Neubauten möglichst einfach zu bauen, „...an diesen Bauten alles wegzulassen, was nicht durch das praktische Bedürfnis unbedingt geboten sei...“34 Da die Betonung des Wiederaufbaus stark auf die Einhaltung von Sparsamkeit und Einfachheit gerichtet ist, erregt ein Artikel im „Stuttgarter Neuen Tageblatt“ am 06. Februar 1911 im Ort großes Aufsehen. Hierin steht, daß die staatliche Beratung nicht nur den hygienischen Verhältnissen Rechnung getragen und sich an die Schranken der einfachen örtlichen und finanziellen Verhältnisse gehalten habe. Stattdessen sei überschwenglich und luxuriös gebaut worden, was eine demoralisierende Wirkung hervorgerufen hätte. Anstatt der vorher eingeschossigen seien nun vielfach mehrstockige Gebäude „mit Erkern und allem Möglichen ausgestattet“ worden. Man habe Böhmenkirch wohl ein städtisches Gepräge geben wollen.35 Hierauf wird beim Königlichen Ministerium des Innern in Stuttgart und durch einen Gegenartikel wortreich dementiert. Die staatlichen Techniker Frost und Friz hätten sich über die ländlichen Verhältnisse ebenso wie über die ökonomischen Verhältnisse jedes Einzelnen genau informiert und diese gewissenhaft berücksichtigt. Daher sei ohne jeglichen Luxus, aber 31 32 33 34 35 Vgl. ebd., Bund 9, S. 16 und StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492, unnumeriert. StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492, unnumeriert. Schwäbische Kronik, Nr. 137, 30.4.1910. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 9, S. 32 und StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492, Nr. 42. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 5, S. 17. Katalog: Böhmenkirch 54 in Anbetracht der Ortslage solide gebaut worden. Es seien entgegen den Äußerungen in dem Artikel nun weniger zweigeschossige Gebäude entstanden als vor dem Brand.36 Erker gebe es überhaupt nicht und was mit „allem Möglichen“ gemeint sei, sei aus dem Artikel nicht zu entnehmen. Sollten die einfachen Brettervertäfelungen, Dachaufbauten oder Dachladen gemeint sein, so seien diese nicht luxuriös, sondern hätten ihren Sinn und Zweck. Sicherlich hätten manche Bauenden größere Bauwesen erhalten, da ihr bisheriger Raum für den rationellen Betrieb der Landwirtschaft ungenügend gewesen sei. Trotzdem hätten die Techniker den Bauenden oft zu kleineren Gehöften geraten, wenn ihnen die gewünschte Größe unnötig schien. Dem Ort könne keinesfalls ein städtisches Aussehen unterstellt werden, wenn auch die Gebäude äußerlich ein gefälliges Aussehen hätten.37 Oberlehrer Nagel aus Böhmenkirch kommentiert das Ergebnis des Wiederaufbaus im August 1910 jedenfalls sehr positiv: „Auf jeden Besucher wird der neuerbaute schmucke Ortsteil mit den neu angelegten und korrigierten Straßen den besten Eindruck machen. Zierliche Erker, Fassaden, Verandas usw. wird er vergeblich suchen, um so mehr aber wird er finden solide Einfachheit, praktische und entsprechende Einteilung der Innenräume, das Sparsystem manchmal fast zu deutlich zur Schau gestellt.“38 2. Die Dorfanlage Der Lageplan der Gemeinde Böhmenkirch wird von Katastergeometer Göser aus Nennningen am 27. April 1910 als Grundlage für weitere Planungen gezeichnet. Im Juni stellt Oberamtsstraßenmeister Vatter in Zusammenarbeit mit den Inspektoren Frost und Friz den neuen Ortsbauplan und damit die neuen Baulinien und Bauviertel fertig. Dabei wird eine Verlegung der alten, eng aneinanderliegenden Bauplätze zugunsten einer neuen weiträumigen und zweckentsprechenden Bebauungsweise vorgesehen.39 Nicht nur die Ansprüche von Bau- und Feuersicherheit spielen in die Entscheidung mit hinein, sondern auch der Wunsch nach Verbreiterung der bestehenden Straßen für einen bequemeren landwirtschaftlichen Betrieb. Die beschränkten Wohn- und Wirtschaftsverhältnisse der alten Gebäudekomplexe sind für eine funktionierende moderne Landwirtschaft sowohl zeitraubend als auch unrentabel. 36 37 38 39 Zweigeschossige Gebäude seien vor allem für Gewerbetreibende und größere Bauern errichtet worden. Vgl. StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492, Nr. 135. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 5, S. 16 und 17. Als Beweis werden dem Innenministerium seitens Inspektor Friz einige Fotografien übergeben. Das einzige Haus mit einem städtischen Aussehen gehöre demnach der Witwe Theresia Schielein (Abb. X), die jedoch wohlhabend sei und deshalb an dem Darlehen sowieso keinen Anteil haben werde. Vgl. StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492, Nr. 135. KA Göppingen, 714.4, Bund 1, S. 25a. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 8, Nr. 6. Katalog: Böhmenkirch 55 Um die Verlegung der Bauflächen möglich zu machen, kauft die Gemeinde die Grundstücke der Abgebrannten zum Preis von 1,80 M bis zu 3,50 M pro Quadratmeter, um sie nach der Neueinteilung der für die Bauten, Straßen und Brandgassen benötigten Flächen wieder zu demselben Preis an die Bauwilligen zu verkaufen.40 Dabei wird darauf geachtet, daß diese nicht zu weit von ihren alten Bauplätzen bauen müssen und weiterhin eine günstige Verbindung zu ihren Feldern haben.41 Vor allen Dingen ist man bestrebt, die Straßen zu verbessern, zu verbreitern und zu begradigen.42 Die ursprüngliche Planung, die Ledergasse über den Baugrund des abgebrannten Gebäudes 45 nach Osten zu erweitern und als Untere Ledergasse im rechten Winkel am Anwesen 72, 73 (Koloman Staudenmaier) wieder auf die Vordere Gasse zu führen, wird nicht durchgeführt. Nur der Ansatz des Weges von der Vorderen Gasse wird vorbereitet, um eine spätere Ortserweiterung zu ermöglichen. Ein geplanter Verbindungsweg von der Vorderen zur Brommgasse durch das abgebrannte Anwesen 238, 239 des Bäckers Bernhard Knoblauch wird zugunsten einer Querverbindung zwischen den Anwesen 237 (Nikolaus Heinzmann) und 235 (Bernhard Grupp) nicht ausgeführt. Ursprünglich sollte diese Querverbindung auch über die Brommgasse hinweg Richtung in Süden durch das ehemalige Grundstück 209 (Johann Baptist Klingler) fortgesetzt werden, um in einem rechten Winkel wieder auf den Breiten Weg zu stoßen und ein weiteres neues Bauviertel zu bilden. Auch dieser Plan wird nicht ausgeführt. Es bleibt auch hier beim Ansatz des Weges von der Brommgasse aus durch Grundstück Nr. 209.43 An Stelle der ehemaligen Hülben wird von Theodor Hiller ein freistehender Laufbrunnen als Viehtränke in direkter Nachbarschaft am Kaufhaus Blessing vorgesehen – in repräsentativer Lage am Marktplatz44. Der Brunnen ist nie gebaut worden. Vor dem Brand waren die Wege, wie in den meisten anderen Ortschaften auch, nur geschottert. Zudem gab es auch keine Kandel, durch die das Regenwasser hätte ablaufen können. Die Straßen waren dadurch immer ausgewaschen und uneben.45 Nach dem Brand werden 40 41 42 43 44 45 Vgl. StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492, unnumeriert. Die Gemeinde muß kein zusätzliches Land ankaufen, denn nicht alle Abgebrannten hegen den Wunsch neu zu bauen. Einige kaufen oder mieten bestehende Gebäude, während andere sich eigenhändig in oder außerhalb des Ortes neuen Baugrund erwerben. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 9, S. 17. Vgl. GA Böhmenkirch, B35, S. 47, 49. Vgl. ebd., S. 49-51. Nach einer einwöchigen Einsprachefrist wird der endgültige Plan am 18. Juni 1910 offiziell genehmigt. Hiller selbst nennt den sich vor dem Kaufhaus öffnenden Platz in seinen Plänen so. Vgl. Lang/Oßwald, Bd. 2, 1994, S. 101. Um sich der neuen verbesserten Straßensituation auch sprachlich anzupassen, werden auch die Straßennamen verändert. So tauscht man die Wortteile „Gasse“ durch „Straße“ aus. Die Vordere Gasse heißt nun Hauptstraße, die Brommgasse Brommstraße usw. Die Obere Ledergasse wird nun, um sie von den anderen beiden Straßenteilen besser unterscheiden zu können, in ihrer Funktion als Zufahrtsweg zum Friedhof, Friedhofstraße genannt. Da alle Bauakten und Baupläne die alten Katalog: Böhmenkirch 56 die Straßen bewalzt und mit gepflasterten Kandeln versehen, damit der Regen kontrolliert abfließen kann.46 Gleichzeitig wird eine Beseitigung der starken Steigung an einigen Punkten der ehemaligen Vorderen Gasse, jetzt Hauptstraße, von durchschnittlich 7,5% auf etwa 4,8% vorgenommen. Einige Stellen im Ort, u.a. an der neu entstandenen Querstraße bis hinauf zum Abzweig Ledergasse, werden daher erhöht und bewalzt.47 3. Die Dorfgebäude Die Büros Theodor Hiller und Schenk & Dangelmaier haben die Neuplanungen mit einigen Ausnahmen im Bereich Bromm- und der südlichen Seite der Vorderen Gasse geleitet, während sich die übrigen drei Büros die nördliche Seite der Vorderen Gasse sowie die Ledergasse unter sich aufteilen. Jedes Haus kostet durchschnittlich 10.500 M, wobei das teuerste auf 14.800 M, das günstigste auf 5.300 M zu stehen kommt.48 Schon Anfang Mai regt Inspektor Friz an, einfache Wohngebäude mit den Ökonomietrakten unter einem Dach zu projektieren. Diese sollen eingeschossig und etwas breiter gelagert sein, damit außer zwei Wohnräumen und der Küche im Erdgeschoß auch im Dachraum noch die nötigen Wohngelasse für Verwandte untergebracht werden können.49 Diese Anregungen werden von allen Architekten gleichermaßen umgesetzt: Mit Ausnahme kleinerer Handwerker- oder Kaufmannshäuser sind alle Gebäude als quergeteilte Einhäuser, das heißt mit Wohn- und Ökonomiegebäuden unter einem Dach errichtet. Das ist die kostengünstigste Variante des Gehöftbaus. Die Gehöfte werden über die Traufseite erschlossen und sind meist giebel-, aber auch traufseitig zur Straße gestellt und durch ein Satteldach gedeckt. Durch die giebelseitige Stellung zur Straße bildet sich seitlich jeweils ein Wirtschaftshof, der durch die Übereck-Stellung einiger Scheunen noch deutlicher begrenzt wird. Die Gebäude haben auf diese Weise genügend Abstand zueinander und auch die Zufahrtsverhältnisse zu den einzelnen Wohn- und Wirtschaftsbereichen sind verbessert. Dies wird in gesundheitlicher und zweckmäßiger Hinsicht als sehr gelungen beurteilt.50 Während die Erdgeschosse der Wohnhäuser und die Ställe in der Regel aus Back- 46 47 48 49 50 Straßennamen weiterbenutzen, wird auch in dieser Arbeit (mit Ausnahme der Friedhofstraße) in Anpassung daran weiterhin so verfahren. Vgl. GA Böhmenkirch, B 35, S. 76f. Vgl. ebd., S. 91f., 105, 107, 121f. Zu den Einzelkosten im Vergleich zu den Familienmitgliedern, der Brandentschädigung etc. im KA Göppingen, 714.4, Bund 5, Seite nicht numeriert (nach S. 1). Zu den hohen Durchschnittskosten wird jedoch bemerkt, daß diejenigen, die nicht mehr bauen, fast nur kleine Leute sind. Hätten diese auch wieder gebaut, hätte sich auch ein niedrigerer Durchschnittswert ergeben. Ebd., Bund 9, S. 68. Vgl. ebd., Bund 8, Nr. 4. Vgl. StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492, Nr. 101. Katalog: Böhmenkirch 57 stein massiv aufgemauert sind, werden die Obergeschosse und Kniestöcke ebenso wie die Scheunen vornehmlich aus mit Backstein gefülltem Fachwerk hergestellt. Die Stall- und Scheuernräume sind nach Meinung der Schätzungskommission nun der jeweiligen landwirtschaftlichen Betriebsgröße und -art angepaßt, ebenso wie die neuen Wohnräume auf die Bedürfnisse ihrer Bewohner zugeschnitten und hell und luftig sind. Brandwände bis unter die Dachhaut sind zwischen Wohnbereich und Stall durch die neue Bauordnung Vorschrift. Eine Strohdeckung der Dächer wird verboten. Die Dächer der Gebäude sind daher durchweg mit Falzziegeln, das Backhaus mit Biberschwänzen gedeckt. Auch die Innenraumaufteilung ist bei allen quergeteilten Gehöften mit einigen Abwandlungen nach dem gleichen, nämlich althergebrachten System erstellt. Betritt man das Haus durch die Eingangstür, so steht man in einem langen Hausflur (Öhrn) der geradeaus in die Küche (daran angeschlossen oft Speisekammer oder Abort) führt. Vom Öhrn aus rechts oder links sind eine Wohn- und Schlafstube zu erreichen. Jeweils nach der anderen Richtung vom Hausflur ist der Stall bzw. daran angeschlossen die Scheuer zu erreichen. Im Dachgeschoß oder Kniestock befinden sich zusätzlich weitere Kammern und Zimmer, die meist als Schlafoder Lagerräume genutzt werden.51 Im folgenden sollen anhand der vorhandenen Baupläne maximal drei Gebäude eines jeden Architekten beschrieben werden, um ein möglichst vollständiges Bild von den wieder errichteten Bauten zu erhalten. Es kann jedoch nicht mit Sicherheit gesagt werden, daß die Gebäude tatsächlich so ausgeführt wurden, wie in den Plänen zu sehen ist. Das belegen die wenigen Fotos, die von dem frühen Wiederaufbau zeugen und ein Brief der drei Architekturbüros Hohlbauch, Schenk & Dangelmaier und Wachter an Regierungsrat Hasel im Juni 1910: Hierin beschweren sie sich, daß die Bauherren mit deren Handwerkern unabhängig von den Plänen gravierende Veränderungen an den Häusern vornehmen: „Daß die Änderungen in vollständigem Widerspruch mit unseren Intentionen stehen, wird wohl nicht besonders hervorzuheben sein und es ist tatsächlich schade für unsere Zeit und Mühe, die wir darauf verwenden, den Häusern ein halbwegs anständiges Aussehen zu geben.“52 Besonders der Architekt Hiller hat mit seinen Böhmenkircher Bauherren viele Probleme um die Ausführung der Bauten gehabt. Ihm wird z.B. der Neubau Heinzmann wegen Differenzen mit dem Bauherrn entzogen, obwohl Hiller, wie er selbst sagt, diesen Bau direkt an der Vorderen Gasse gern geplant hätte. Dieser wird letztlich dem Architekten Wachter zugespro- 51 52 Im Jahre 1935 wird in der Nähe Böhmenkirchs eine Siedlung namens „Heidhöfe“ (14 Bauernhöfe sowie eine Gastwirtschaft mit Laden) gebaut, deren Gehöfte einen ganz ähnlichen Aufbau sowie eine ähnliche Innenraumstruktur zeigen. Vgl. dazu „Bauernsiedlung auf der Schwäbischen Alb“. In: Zentralblatt der Bauverwaltung, vereinigt mit Zeitschrift für Bauwesen 55/1935, H. 5, S. 73-77. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 8, Nr. 14 und Nr. 17. Katalog: Böhmenkirch 58 chen.53 In einem Brief des Hilfskomitees an Hiller wird diesem vorgeworfen, er beeinträchtige die Auftraggeber Blessing, Kolb, Knoblauch und Grieser in ihrer Baufreiheit, indem die Dächer höher gemacht und mehr Fenster eingebaut werden sollten, als die Bauherren es wollten. Ihm wird deshalb nahegelegt, nach deren Absichten und Wünschen zu bauen, weil man ihm sonst die Bauwesen abnehmen und für den Mehraufwand haftbar machen würde. Während mit einigen Bauherren die Probleme durch Aussprache geregelt werden oder im Falle Knoblauch und Blessing die Vereinbarung getroffen wird, die Wohnhaus-Dächer einen Meter und Knoblauchs Scheuer einen halben Meter niedriger anzusetzen, erzielt er jedoch mit der Witwe Fuchs, mit Kolb und Staudenmaier keine Einigung. Letztere bauen sogar auf eigene Faust mit einem Zimmermann weiter. Hiller entscheidet sich, die Bauwesen Kolb und Staudenmaier gegen eine finanzielle Entschädigung niederzulegen. Dieser Entscheidung wird entsprochen und die Fertigstellung der Anwesen dem Büro Schenk & Dangelmaier überantwortet.54 3.1. Die Bauten des Architekten Immanuel Hohlbauch aus Geislingen Das Backhaus Die einzigen Pläne, die von Hohlbauch erhalten sind, sind die des Backhauses an der Vorderen Gasse 103 – und die des Gehöfts von Schuhmacher Josef Heldele in der Ledergasse 4. Um die Lage des Backhauses im Dorf gibt es noch vor seiner Errichtung einen großen Disput, da die Gemeindekollegien unter allen Umständen das Backhaus wieder an seiner ursprünglichen Stelle an der Vorderen Gasse 103 errichten wollen. Das Hilfskomitee spricht sich vehement gegen den Wiederaufbau an der alten Stelle aus: Durch die zentrale Lage des Backhauses im Ort und den eng angrenzenden Neubau der Witwe Theresia Schielein in der Friedhofstraße 2 bestehen Bedenken baupolizeilicher Art. Überdies sei ein Wiederaufbau an dieser Stelle viel teurer, als wenn er auf dem Gemeindeplatz in der hinteren Ledergasse gebaut würde.55 Auch ästhetische Gründe werden herangezogen: „Der Platz, auf den das Backhaus kommen soll, liegt im schönsten Ortsteil; das Gebäude würde die Südfront des hübschen Neubaus der Witwe Schielein verdecken und selbst mit dem [...] hohen Kamin einen unschö- 53 54 55 Ebd., Bund 9, S. 35f. Ebd., Bund 8, Nr. 17 und Bund 9, S. 35-39. Zu einigen Details dieser Streitereien, besonders zum Fall Johannes Fuchs, Josef Staudenmaier und Nikolaus Kolb vgl. StA Ludwigsburg, E 191, Bü. 2340, unnumeriert. Hier ist u.a. ein Verteidigungsschreiben Hillers einzusehen, in dem er beklagt, die Bauherren bauten auf eigene Faust unabhängig von den Plänen. Am alten Platz kommt das Backhaus nach dem Kostenvoranschlag auf 7.700 M, am neuen Platz würde es jedoch nur etwa 6.300 M kosten. Vgl. GA Böhmenkirch, B 35, S. 102. Katalog: Böhmenkirch 59 nen Anblick bieten.“56 Obwohl selbst das Hilfskomitee einen finanziellen Beitrag zum Bau des Backhauses aus der Wiederaufbaukasse streicht, kann es die Gemeindekollegien nicht umstimmen. Diese begründen ihre Entscheidung mit der zentralen Lage des Backhauses im Ort, was jedoch mit Blick auf den nicht weit (50 Meter) entfernten alternativen Bauplatz nicht schlagkräftig erscheint. „Einer Belehrung von 3. Seite sind die Kollegien, wenn sie einmal aus irgend welchen Gründen eine bestimmte Meinung gefaßt haben nicht zugänglich, [...] manche geben auch offen zu, daß das Backhaus ‚eigentlich‘ nicht an den projektierten Platz gehöre, aber sie wollen ihren Willen durchsetzen.“57 So wird das Backhaus an der alten Stelle wiedererrichtet und verdeckt die befensterte Südfassade des Neubaus der Theresia Schielein. Das Backhaus steht traufseitig zur Straße. Es ist ein rauh verputzter Massivbau, der mit Biberschwänzen gedeckt ist. Ob er ursprünglich farbig gefaßt war, ist nicht mehr zu ermitteln. Die Remise im östlichen Gebäudeteil mit Treppenaufgang ins Dachgeschoß wird durch eine doppelflügelige Tür traufseitig erschlossen. Backstube und Backraum mit den zwei Backöfen erreicht man durch zwei getrennte Türen an der Südwestecke, die durch einen ins Gebäude eingeschnittenen und von einem schmalen Pfeiler gestützten Vorraum überdacht werden. Über eine Luke im mittig auf dem Dach gelegenen Zwerchhaus kann Brennmaterial und dergleichen ins Dachgeschoß befördert werden. Abb. 66: Böhmenkirch, Backhaus. Links: Westansicht, rechts: Südansicht. M=1:200. Aus: Gemeindearchiv Böhmenkirch. 56 57 StA Ludwigsburg, E 179II, Bü. 3498, Nr. 30. Ebd. Ein Grund für die Ablehnung des neuen Ortes wird auch in der Verstimmung eines einflußreichen Kollegialmitgliedes gegen Frau Schielein gesehen. Vgl. StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492, Nr. 62. Zum Streit im einzelnen: Vgl. neben den genannten Akten auch GA Böhmenkirch, B 35, S. 97-103, 117-119, 125-127 und KA Göppingen, Bund 9, 714.4, S. 56f, 65f, 70f. Katalog: Böhmenkirch 60 Abb. 67: Böhmenkirch, Backhaus, Grundriß. M=1:200. Aus: Gemeindearchiv Böhmenkirch. Abb. 68: Böhmenkirch, Backhaus, Südwestansicht im Jahr 2000. Katalog: Böhmenkirch 61 Der Hof des Schuhmachers Josef Heldele in der Ledergasse 4 Das breitgelagerte Gebäude liegt giebelseitig zur Vorderen Gasse und traufseitig zur Ledergasse.58 Es ist ein eingeschossiges quergeteiltes Einhaus mit Satteldach und Kniestock. Die Wände von Wohnhaus und Stall sind massiv gemauert und verputzt; Obergeschosse, Kniestock und Scheune bestehen aus größtenteils verputztem Fachwerk. Der Wohnbereich zur Vorderen Gasse hin erschließt sich über eine einläufige Treppe mit Geländer. Ein Kellerraum ist unter den Stuben angelegt. Die Dunglege befindet sich straßenseitig vor dem Stall, d.h. direkt neben dem Hauseingang. Von den im Plan angegebenen Fenstern des Wohnbereichs sind nicht alle ausgeführt worden. Während das Wohnhaus Heldeles bis in die Gegenwart weitgehend erhalten ist – sogar die Fensterläden sind noch vorhanden –, hat der Ökonomietrakt über die Jahre größere Veränderungen und Erweiterungen hinnehmen müssen. Abb. 69: Böhmenkirch, Hof Heldele. Oben: Westansicht, unten: Südansicht. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. 58 Bei acht Familienmitgliedern kostet der Bau mit 84 Quadratmetern Haus, 155 Quadratmetern Scheuer und 239 Quadratmetern Zufahrt 10.700 M, die Brandentschädigungssumme beträgt 5.500 M. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 5, unnumeriert. Katalog: Böhmenkirch 62 Abb. 70: Böhmenkirch, Hof Heldele. Oben: Grundriß des Erdgeschosses, unten: Grundriß des Dachgeschosses. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. Abb. 71: Böhmenkirch, Hof Heldele, Südwestansicht im Jahr 2000. Katalog: Böhmenkirch 63 3.2. Die Bauten des Architekten Theodor Hiller aus Göppingen Die Bauten Hillers fallen im Vergleich zu allen anderen Neubauten besonders durch ihre steilen Dächer und die schmuckvollen Giebelverbretterungen auf. Die Hillersche Bebauung ist auch deswegen besonders bemerkenswert, weil er die westliche Brommgasse und die direkt anschließende Südseite der Vorderen Gasse geschlossen bebaut hat. So ist wahrscheinlich nicht nur die Gestaltung der Einzelbauten, sondern auch die städtebauliche Gesamtsituation ausschlaggebend für die hohe Publizität der Hillerschen Bebauung. Nur von diesem Teil der Bebauung existiert eine gezeichnete Vogelperspektive und diverse andere Abbildungen von Straßenausschnitten.59 Abb. 72: Böhmenkirch, Vogelperspektive des neuen Ortsteils zwischen Vorderer und Brommgasse, Nordwestansicht. Aus: Baer 1912, S. 434. 59 Erstmals 1912 bespricht der Herausgeber C.H. Baer in seinen „Modernen Bauformen“ in einem kurzen Text mit vielen Zeichnungen den Hillerschen Ortsteil sehr positiv. Als der Text im Jahre 1919 nochmals aufgelegt wird in dem Buch „Kleinbauten und Siedelungen“, zusammengestellt wiederum von Baer, darf die Hillersche Bebauung Böhmenkirchs neben so renommierten Projekten wie der Arbeitersiedlung Gmindersdorf bei Reutlingen, Kruppschen Arbeitersiedlungen und der Gartenvorstadt Hüttenau bei Blankenstein an der Ruhr stehen. Vgl. Moderne Bauformen, 11/1912, S. 434-443 und: Kleinbauten und Siedelungen 1919, S. 179-186. Die Planungen der anderen Architekten werden dagegen nicht mit einem Wort erwähnt. Vgl. Moderne Bauformen, 11/1912, S. 434-443 und: Kleinbauten und Siedelungen 1919, S. 179-186. Katalog: Böhmenkirch 64 Der Hof des Bauern Isidor Grupp in der Brommgasse 12 Das quergeteilte Einhaus des Bauern Grupp ist wie die Gehöfte seiner Nachbarn giebelständig zur Straße angeordnet und ähnlich gestaltet.60 Es ist eingeschossig und von einem hohen dreigeschossigen Dach überfangen, das mit Ziegelpfannen gedeckt ist. Der hohe Giebel ist verbrettert und bemalt. Man betritt das Haus traufseitig über zwei Stufen und gelangt in einen nach außen offenen und segmentbogenartig ausgeschnittenen Vorraum. Das Haus ist mit zwei Räumen unter der Küche und dem Schlafraum unterkellert. Die Dunglege befindet sich im Hofraum und ist an die Abortgrube angeschlossen. Der Bau ist einer der besser erhaltenen in Böhmenkirch, denn zumindest das Wohnhaus ist fast unverändert erhalten. Selbst der Erkervorbau und die Gauben existieren noch. Die Scheune wurde hofseitig erweitert. Abb. 73: Böhmenkirch, Hof Grupp. Oben: Ostansicht, unten: Nordansicht. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. 60 Bei fünf Familienmitgliedern betragen die Baukosten bei 86 Quadratmetern Haus, 172 Quadratmetern Scheuer und 258 Quadratmetern Zufahrt 12.300 M, die Brandentschädigungssumme beträgt 5.500 M. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 5, unnumeriert. 65 Katalog: Böhmenkirch Abb.74: Böhmenkirch, Hof Grupp. Oben: Grundriß des Erdgeschosses, unten: Grundriß des Dachgeschosses. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. Katalog: Böhmenkirch Abb.75: Böhmenkirch, Hof Grupp, Nordostansicht. Aus: Baer 1912, S. 435. Abb. 76: Böhmenkirch, Hof Grupp, Nordostansicht im Jahr 2000. 66 67 Katalog: Böhmenkirch Der Hof der Theresia Fuchs, Witwe des Bauers Johannes Fuchs in der Brommgasse 16 Auch dieses Haus ist mit einigen Abwandlungen ein quergeteiltes Einhaus.61 Das Wohnhaus ist zweigeschossig, Stall und Scheuer sind mit Kniestock angelegt. Das Haus ist traufständig zur Straße angeordnet, der Hofraum befindet sich hinter dem Haus. Auch hier ist das Dach mit Ziegelpfannen belegt, die Giebelseiten sind verbrettert und die Stirnbretter bemalt. Im zweiten Geschoß des Hauses ist eine Verbretterung ausgeführt, die im Plan nicht auftaucht. Dagegen zeigt sich im Plan eine Heiligennische, die aber zugunsten eines weiteren Fensters entfallen mußte. Im zweiten Stock des Hauses ist eine zweite komplette Wohnung mit Abort eingerichtet. Ein Kellerraum und ein kleiner Vorkeller sorgen für kühle Lagermöglichkeiten. Dunglege und -grube liegen hinter dem Haus zwischen Abort und Stall. Das Gebäude ist weitgehend in seinem Originalzustand erhalten. Selbst die Giebelverbretterung und die Fenster sind noch vorhanden. Abb.77: Böhmenkirch, Hof Fuchs. Oben: Nordansicht, unten: Westansicht. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. 61 Fünf Familienmitglieder wohnen in dem Neubau, dessen Haus 91 Quadratmeter, die Scheuer 117 Quadratmeter und die Zufahrt 208 Quadratmeter Raum enthält. 3.100 M Entschädigung hat sie erhalten, der Preis des Neubaus ist nicht angegeben. Vgl. ebd. Katalog: Böhmenkirch 68 Abb. 78: Böhmenkirch, Hof Fuchs. Oben: Grundriß des Erdgeschosses, unten: Grundriß des Obergeschosses. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. Abb. 79: Böhmenkirch, Hof Fuchs. Nordwestansicht im Jahr 2000. Katalog: Böhmenkirch 69 Das Haus des Kaufmanns Johannes Blessing in der Vorderen Gasse 102 Eine von den typischen Einhäusern abweichende Bauaufgabe für Theodor Hiller ist der Bau des Kaufmannshauses Blessing am zentralen Eckpunkt zwischen Bromm- und Vorderer Gasse.62 Es ist ein zweigeschossiges, traufseitig zur Vorderen Gasse stehendes Haus ohne Ökonomiegebäude. Das Dach ist mit Ziegelpfannen gedeckt. Der Eingang für die Bewohner befindet sich an der östlichen Giebelseite. Ein schmaler Öhrn, diesmal nicht quer- sondern längsgerichtet, erschließt einen kleinen Abortraum links und ein Treppenhaus, im hinteren Hausbereich einen Kistenraum und das Kontor. Im vorderen Hausteil ist ein Magazinraum und der große Ladenraum angelegt. Drei große Schaufenster mit Markisen an Trauf- und Giebelseite präsentieren die Auslage des Geschäfts. Im Obergeschoß befindet sich die Wohnung der Familie. Die Wohnung wird über eine große Satteldachgaube vorn und eine kleinere Schleppgaube über die hintere Dachseite belichtet. Der Keller besteht aus zwei Räumen im straßenseitigen Bereich des Hauses. Im Bauplan wird der straßenseitige Giebel von Hiller „Ansicht nach dem Marktplatz“ genannt. Das Haus ist in seiner Kubatur samt Gauben erhalten. Fenster, Türen und Dachhaut sind jedoch erneuert, auch die Fassade hat durch zweiseitig umlaufende neue Glasschaufenster sowie vertikal aufgeblendete Holzbalken ihre ursprüngliche Struktur verloren. Abb. 80: Böhmenkirch, Haus Blessing. Links: Nordansicht, rechts: Westansicht. M= 1:200. Aus: GA Böhmenkirch. 62 Der Neubau kostet bei 121 Quadratmetern Haus und 121 Quadratmetern Zufahrt 11.100 M. Eine Scheuer ist nicht vorhanden, die Brandentschädigung beträgt 2.700 M. Vgl. ebd. Katalog: Böhmenkirch 70 Abb. 81: Böhmenkirch, Haus Blessing. Links: Grundriß des Erdgeschosses, rechts: Grundriß des Obergeschosses. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. Abb. 82: Böhmenkirch, Haus Blessing, Nordostansicht. Aus: Baer 1912, S. 439. Katalog: Böhmenkirch 71 3.3. Die Bauten der Architekten Schenk & Dangelmaier aus Schwäbisch Gmünd Der Hof des Ochsenbauers Leonhard Heinzmann in der Brommgasse 20 Auch das Büro Schenk & Dangelmaier variiert die Form des Einhauses für die ihnen zugewiesenen Neubauten. Für das große Gehöft Heinzmann wählen sie eine zweiflügelige Anlage, deren Wohnbereich giebelseitig zur Straße steht und deren Scheune quer dazu einen Hofraum ausbildet.63 Das Wohnhaus ist eineinhalbgeschossig. Es existiert nur ein Kellerraum. Im Obergeschoß befindet sich eine weitere Wohnung mit Küche und Abtritt sowie drei Zimmern. Dieser Bereich wird traufseitig durch zwei lange Schleppgauben belichtet. Der Wohnbereich ist heute durch einen Neubau ersetzt, während der Ökonomiebereich erhalten geblieben ist. Abb.83: Böhmenkirch, Hof Heinzmann. Oben: Nordansicht, unten: Westansicht. M= 1:200. Aus: GA Böhmenkirch. 63 Der Neubau ist bestimmt für acht Familienmitglieder und kostet bei 92 Quadratmetern Haus, 257 Quadratmetern Scheuer und 349 Quadratmetern Zufahrt 13.800 M - bei einer Brandentschädigungssumme von 7.000 M. Vgl. ebd. Katalog: Böhmenkirch 72 Abb. 84: Böhmenkirch, Hof Heinzmann. Oben: Grundriß des Erdgeschosses, unten: Grundriß des Dachgeschosses. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. Katalog: Böhmenkirch 73 Das Haus des Gipsers Theodor Klotzbücher in der Brommgasse 18 Das fast quadratische Handwerkerhaus ist eingeschossig und steht giebelseitig zur Straße.64 Die Giebelspitze ist durch rautenförmiges Sichtfachwerk geziert, das Dach mit Falzziegeln gedeckt und durch eine Schleppgaube belichtet. Der Hauseingang liegt mittig an der Ostseite des Hauses, im Erdgeschoß ist neben der Wohnung ein kleiner Laden eingerichtet. Das Gebäude erhält einen Kellerraum. Das Haus ist heute durch einen größeren Neubau ersetzt. Abb. 85: Böhmenkirch, Haus Klotzbücher. Links: Nordansicht, rechts: Ostansicht. M= 1:200. Aus: GA Böhmenkirch. Abb. 86: Böhmenkirch, Haus Klotzbücher. Links: Grundriß des Erdgeschosses, rechts: Grundriß des Dachgeschosses. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. 64 Der Neubau ist mit 5.300 M einer der günstigsten. Er nimmt vier Familienmitglieder auf bei 85 Quadratmetern Hausfläche und 85 Quadratmetern Zufahrt. Die Brandentschädigung beläuft sich auf 2.100 M Vgl. ebd. Katalog: Böhmenkirch 74 Der Hof des Wagners Josef Grieser in der Brommgasse 15 Am Ende der Brommgasse ist das quergeteilte Einhaus des Josef Grieser errichtet. Es ist zweigeschossig und steht traufständig zur Straße.65 Das Dach ist mit Falzziegeln gedeckt. Ein straßenseitiges Zwerchhaus vergrößert den Wohnraum im Dachgeschoß. Das Gebäude ist nur im Plan teilverbrettert dargestellt, im Foto jedoch als unverbrettert belassen erkennbar. Im Erdgeschoß der Giebelseite sind drei Segmentbogenfenster angebracht, die ebensowenig wie die Verbretterung ausgeführt wurden. Eine Abwandlung von der typischen Einhausstruktur ist, daß im Erdgeschoß statt der Wohnräume eine große Werkstatt für den Wagner eingerichtet ist. Im Obergeschoß ist die Wohnung des Wagners zu finden. Der Keller besteht wiederum nur aus einem Raum, der etwa die Hälfte der Werkstattgröße einnimmt. Der Wohnhaustrakt ist heute mit Ausnahme neuer Fenster und einer anderen Farbgebung weitgehend erhalten. Der Ökonomietrakt ist zum Wohnhaus umgebaut worden. Abb. 87: Böhmenkirch, Hof Josef Grieser. Links: Südansicht, rechts: Ostansicht. M= 1:200. Aus: GA Böhmenkirch. 65 Mit acht Familienmitgliedern kostet der Neubau 8.900 M. An Hausfläche besitzt er 73 Quadratmeter, an Scheuer 85 Quadratmeter und an Zufahrt 158 Quadratmeter Land. An Brandentschädigung erhält die Familie 2.700 M. Vgl. ebd. 75 Katalog: Böhmenkirch Abb. 88: Böhmenkirch, Hof Josef Grieser. Oben: Grundriß des Erdgeschosses, unten: Grundriß des Obergeschosses. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. Abb. 89: Böhmenkirch, Hof Josef Grieser. Südostansicht nach 1910. Aus: Lang/Oßwald, Bd. 2, S. 148. Katalog: Böhmenkirch 76 3.4. Die Bauten des Architekten Karl Philipp aus Geislingen Das Doppelhaus der Witwe Theresia Schielein und des Drehers Johannes Ziegler in der Friedhofstraße 2/4 Eines der drei Doppelhäuser, die im Jahre 1910 gebaut worden sind, ist das von Theresia Schielein und ihrem Mieter Johannes Ziegler.66 Es ist eines der wenigen Neubauten, die komplett in Massivbauweise errichtet werden. Ihr Ansinnen war es ursprünglich, den Platz des ehemaligen Backhauses dazuzukaufen, um ihr Haus zu vergrößern. Das wird ihr jedoch nicht gewährt. Das Haus wird als das einziges der vielen Neubauten als städtisch aussehend bezeichnet.67 Es ist mit Falzziegeln gedeckt und zeigt eine interessante Abwandlung des quergeteilten Einhauses, indem die Tenne mit dahinter liegender Futterkammer und dem hinter dem Gebäude angesetzten kleinen Stall mittig zwischen den zwei Wohneinheiten liegt. Schieleins Wohnbereich ist von einem Schopfwalmdach, Zieglers Teil durch ein etwas niedrigeres Satteldach überfangen. Das Haus liegt traufseitig zur Friedhofstraße und ist eingeschossig, wobei Schieleins Dachgeschoß beidseitig durch Zwerchhäuser – das eine mit Sattel- und das zweite mit Walmdach versehen – vergrößert wird. Die Verbretterung des straßenseitigen Giebeldreiecks, wie im Plan zu sehen, scheint nicht ausgeführt, ebensowenig wie die verzierten Eckpilaster und das Gesimsband an der Südseite. Durch eine lange Schleppgaube wird auch Zieglers Dachgeschoß von der Straße aus belichtet. Außer den üblichen Kreuzstockfenstern sind alle kleinen Fenster als Ovale ausgebildet, die jedoch, soweit im Foto zu erkennen, am ausgeführten Bau nicht mehr auftauchen. Als Keller dienen zwei Räume, von denen der eine als Waschküche und der andere als Lagerraum genutzt wird. Zieglers Wohnungsgrundriß ist ähnlich geschnitten, wenn auch auf kleinerem Grundriß angelegt. Ein Kellerraum steht zur Verfügung. Direkt an Zieglers Hausrückseite ist die Dunglege angebaut. Das Haus ist heute so stark umgebaut und erweitert, daß das alte Haus kaum noch zu erkennen ist. 66 67 Theresia Schielein bewohnt ihre Haushälfte allein. Zusammen mit dem Hausteil Zieglers, der zusammen mit sieben Familienmitgliedern dort wohnt, kostet das Haus 9300 M. Es ist 90 Quadratmeter groß, die Scheuer 230 Quadratmeter und die Zufahrt 113 Quadratmeter groß. Eine Brandentschädigung hat sie nicht erhalten. Vgl. ebd. Vgl. StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492, Nr. 135. 77 Katalog: Böhmenkirch Abb. 90: Böhmenkirch, Hof Schielein/Ziegler. Oben: Westansicht, unten: Südansicht. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. Katalog: Böhmenkirch 78 Abb. 91: Böhmenkirch, Hof Schielein/Ziegler. Oben: Grundriß des Erdgeschosses, unten: Grundriß des Dachgeschosses. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. Katalog: Böhmenkirch 79 Abb. 92: Böhmenkirch, Hof Schielein/Ziegler. Südwestansicht im Jahre 1910. Aus: StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492. Der Hof des Schmalzbauern Jakob Grieser in der Friedhofstraße 5 Auch das Haus Grieser steht als klassisch quergeteiltes Einhaus giebelständig zur Straße und ist mit Falzziegeln gedeckt.68 Es ist eineinhalb Geschosse hoch und zeigt an der Stirnseite einen Sichtfachwerkgiebel. An der südlichen Traufseite ist die Haustür angebracht. Als Keller wird ein tonnengewölbter Raum unterhalb der Stube genutzt. Das Haus ist zwar mit Ausnahme eines weiteren Scheunenanbaus kaum umgebaut worden. Durch den Einbau von neuen Fenstern, die Aufgabe des Sichtfachwerk-Giebels und das Giebelbild verändert sich die ursprüngliche Erscheinung jedoch gravierend. 68 Acht Familienmitglieder wohnen in dem Neubau, der 10.200 M gekostet hat. Das Haus ist 91 Quadratmeter groß, die Scheune hat 165 Quadratmeter und die Zufahrt 256 Quadratmeter Fläche. Die Brandentschädigung beträgt 4.900 M. Vgl. KA Göppingen, 714.4, Bund 5, unnumeriert. Katalog: Böhmenkirch 80 Abb. 93: Böhmenkirch, Hof Jakob Grieser. Oben: Südansicht, unten: Ostansicht. M= 1:200. Aus: GA Böhmenkirch. Abb. 94: Böhmenkirch, Hof Jakob Grieser. Oben: Grundriß des Erdgeschosses, unten: Grundriß des Dachgeschosses. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. Katalog: Böhmenkirch 81 Der Hof des Pflanzenhändlers Johannes Hillenbrand in der Brommgasse 7 Das kleine quergeteilte Einhaus steht traufseitig zur Straße und ist eineinhalb Geschosse hoch.69 Da das Haus nicht direkt an Bebauungslinie stößt, ist Platz für einen Vorgarten, der zur Haustür hin überleitet. Diese wird über eine schmale Vortreppe erreicht. Das Giebeldreieck des ostseitigen Giebels ist auch hier durch Sichtfachwerk ausgezeichnet. Ein von vor dem Brand erhaltener tonnengewölbter Kellerraum wird nach dem Wiederaufbau wieder genutzt, obwohl er nicht in einer Flucht mit dem Gebäude liegt. Das Haus ist heute um einen Stock erhöht und die Ökonomiegebäude sind zum Wohnbereich umgebaut, sodaß der ursprüngliche Bau nicht mehr erkennbar ist. Abb. 95: Böhmenkirch, Hof Hillenbrand. Links: Südansicht, rechts: Ostansicht. M= 1:200. Aus: GA Böhmenkirch. 69 Er lebt mit zehn Familienmitgliedern in dem Haus, das 7.000 M gekostet hat bei 77 Quadratmetern Haus, 72 Quadratmetern Scheuer und 149 Quadratmetern Zufahrt. Die Brandentschädigung beträgt 2.200 M. Vgl. ebd. Katalog: Böhmenkirch 82 Abb. 96: Böhmenkirch, Hof Hillenbrand. Links: Grundriß des Erdgeschosses, rechts: Grundriß des Dachgeschosses. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. 3.5. Die Bauten des Architekten Georg Wachter aus Geislingen Der Hof des Söldners und Steinhauers Anton Vetter in der Ledergasse 12 und der Hof des Mühleisenbauers Bernhard Biegert in der Ledergasse 10 Die Besonderheit der beiden quergeteilten Einhäuser ist, daß sie giebelseitig an der Scheune aneinandergebaut sind. Sie liegen traufständig zur Straße und leicht von der Bebauungslinie zurückgesetzt.70 Das Doppelhaus ist eineinhalbgeschossig und von einem Satteldach mit Falzziegeln überfangen. Während Biegerts Giebelseite einfach gestaltet und verputzt ist, ist Vetters Giebel mit einem vertieften Schopfwalm ausgestattet, über dem sich im Giebeldreieck ein rautenförmiges Sichtfachwerk bildet. Die Kniestöcke beider Wohnungen sind durch Zwerchhäuser belichtet. Vetters Zwerchhaus ist als Satteldachgaube mit Fußwalm, Biegerts dagegen als Schopfwalm ausgebildet. Die runden oder ovalen Fenster, die im Plan im Zwerchhaus und neben der Haustür Vetters eingezeichnet sind, werden in der Ausführung durch normale Rechteckfenster ersetzt. Durch die leichte Neigung des Geländes betritt man die Wohnung Vetters nur über eine Stufe, die Biegerts über eine einläufige Treppe. Beide Wohnungsgrundrisse sind, wenn auch spiegelverkehrt, fast völlig gleich gestaltet. Heute sind mit Ausnahme des Ökonomietraktes von Vetter alle Gebäude Neubauten. 70 Fünf Familienmitglieder leben in dem Neubau, der 9.400 M gekostet hat. Das Haus hat eine Grundfläche von 83 Quadratmetern, die Scheuer von 142 Quadratmetern und die Zufahrt von 225 Quadratmetern. Die Brandentschädigung ist 4.600 M hoch. Die Familie Biegert hat mit acht Köpfen einen Neubau für 10.000 M gebaut. Das Haus ist 84 Quadratmeter groß, die Scheuer hat eine Grundfläche von 153 Quadratmetern und die Zufahrt von 237 Quadratmetern. Als Brandentschädigung werden 3.500 M ausgezahlt. Vgl. ebd. 83 Katalog: Böhmenkirch Abb. 97: Böhmenkirch, Hof Biegert/Vetter. Links: Südansicht, rechts oben: Ostansicht, rechts unten: Westansicht. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. Katalog: Böhmenkirch 84 Abb. 98: Böhmenkirch, Hof Biegert/Vetter. Links: Grundriß des Erdgeschosses, rechts oben und unten: Grundriß-Ausschnitte der Obergeschosse. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. 85 Katalog: Böhmenkirch Abb. 99: Böhmenkirch, Hof Biegert/Vetter. Südwestansicht im Jahre 1910. Aus: StA Stuttgart, E 151/07, Bü. 492. Der Hof der Witwe Katharina Biegert, Schuhmacher-Witwe in der Friedhofstraße 10 Auch ihr wird ein quergeteiltes Einhaus errichtet.71 Es ist ebenfalls eineinhalbgeschossig und steht traufständig an der Straße. Das südseitige Giebeldreieck ist mit Sichtfachwerk ausgestaltet. Dieser Bauplan ist einer der wenigen, die farblich angelegt sind. Während der giebelseitige Verputz hellgelb, die Gefache ebenfalls in einem gelblichen Ton gehalten sind, sind das Fachwerk rostrot und die Fensterläden grün gefaßt. Der Eingang führt über zwei Stufen zum Öhrn. Als Keller dient ein Raum unterhalb der Stube. Auch bei diesem Haus ist der Ökonomietrakt unverändert, die Wohnung jedoch ein zweigeschossiger Neubau. 71 Sie lebt mit vier Familienmitgliedern in einem 9.300 M teuren Neubau mit 88 Quadratmetern Hausfläche, 128 Quadratmetern Scheuer und 216 Quadratmetern Zufahrt. Die Brandentschädigung beträgt 2.700 M. Katalog: Böhmenkirch 86 Abb. 100: Böhmenkirch, Hof Katharina Biegert. Oben: Westansicht, unten: Südansicht. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. Abb. 101: Böhmenkirch, Hof Katharina Biegert. Links: Grundriß des Erdgeschosses, rechts: Grundriß-Ausschnitt des Dachgeschosses. M=1:200. Aus: GA Böhmenkirch. 87 III. Die waldeckischen Dörfer Neu-Berich, Neu-Bringhausen und Neu-Asel 1. Zu Geschichte und Untergang der Dörfer Als zu Anfang dieses Jahrhunderts die Preußische Regierung in Erwägung zieht, durch einen Binnenschiffahrtsweg den Westen mit dem Osten des Landes zu verbinden, ist das kleine Fürstentum Waldeck ein von der Industrialisierung des Deutschen Reiches weitgehend vergessener Landstrich. Waldeck, heute im Landkreis Waldeck-Frankenberg (Nordhessen) verschmolzen, liegt mit einem Flächeninhalt von 1055 Quadratkilometern am Osthang des hier schnell abfallenden rheinischen Schiefergebirges, im Osten und Süden begrenzt von der preußischen Provinz Hessen-Nassau, im Norden und Westen von Westfalen. Kassel liegt etwa 30 Kilometer östlich der waldeckischen Residenzstadt Arolsen. Das Deutsche Reich, aufgestiegen zur potentesten Wirtschaftsmacht auf dem Kontinent, hört spätestens um 1900 auf, ein „geschlossener Handelsstaat“ zu sein.1 Es tritt in Konkurrenz zu überseeischen Industrien (v.a. Großbritannien, USA und Kanada) und muß darum besorgt sein, infrastrukturelle Voraussetzungen, Zulieferindustrien und die Versorgung mit Elektrizität langfristig zu sichern. Besonders den inländischen Wasserstraßen wird in der konjunkturellen Hochphase vor dem Ersten Weltkrieg große Bedeutung beigemessen, einen kostengünstigen Massengüter- und Personentransport zu gewährleisten.2 Bereits Ende des 19. Jahrhunderts werden Bestrebungen laut, zwischen den Flüssen Rhein, Ems, Weser und Elbe eine Wasserstraßenquerverbindung, den sogenannten Mittellandkanal in West-Ost-Richtung zwischen dem westdeutschen Industriegebiet an Rhein und Ruhr und den Agrargebieten im Osten Deutschlands zu schaffen und so ein leistungsfähiges Binnenwasserstraßennetz zu entwikkeln.3 Im Jahre 1904 wird die dritte Kanalbauvorlage, die als Endpunkt des Kanals vorläufig die Stadt Hannover vorsieht, vom Preußischen Abgeordnetenhaus angenommen und führt zum Wasserstraßengesetz vom 1. April 1905. Die für den Kanal entnommene Wassermenge aus der Weser soll danach in den trockenen Sommermonaten ersetzt werden durch Wasser aus deren Quellflüssen, damit die Flußschiffahrt nicht unterbrochen werden muß.4 Recht schnell wird darauf hingewiesen, daß sich die Flüsse Eder und Diemel sehr gut für eine Wasserstauung zur Speisung der Weser eignen.5 Nun rückt auch die industrielle Passivregion Waldeck in den Blickpunkt preußischer Verwalter.6 1 2 3 4 5 Bergmann 1970, S. 19. Vgl. Völker 1913, S. 3f. Vgl. Edertalsperre 1994, S. 13. Vgl. ebd. Vgl. Soldan und Heßler 1914, S. 15. Ausschlaggebend für den Bau ist aber auch der Hochwasserschutz. Besonders die Eder hat durch Überschwemmungen furchtbare Verwüstungen in der Umgebung angerich- Katalog: Die waldeckischen Dörfer 88 Das im südlichen Waldeck gelegene, 25 Kilometer lange, tief ausgewaschene Tal der Eder zwischen Herzhausen und Hemfurth wird als durch seine geologischen Eigenschaften geeignet gefunden, den See aufzunehmen. Überdies schafft ein enger Talausgang bei Hemfurth die günstigsten Voraussetzungen, um dort die Talsperre zu plazieren.7 Am 1. April 1905 nimmt der Preußische Landtag ein sorgfältig vorbereitetes Gesetz über den Ausbau von Wasserstraßen an, in dem zugunsten der Binnenschiffahrt auf Weser und Mittellandkanal u.a. eine Talsperre im Fürstentum Waldeck gebaut wird.8 So können die Abgeordneten des Waldecker Landtages im Juli 1906 ein eigens wegen des Talsperrenbaus an der Eder eingebrachtes Grundenteignungsgesetz genehmigen. Nach gründlichen Vorbereitungsmaßnahmen vergibt die Preußische Wasserbauverwaltung im Jahre 1909 den Auftrag, und im Frühjahr des nächsten Jahres wird mit der Arbeit begonnen.9 Drei Jahre später im Winter 1913/14 kann der Anstau des Tales vorgenommen werden durch eine Talsperre, die mit 48 Metern Höhe über den tiefsten Teilen der Fundamentsohle und 400 Metern Länge in der Krone die in Europa umfangreichste ist.10 Seitdem breitet sich hinter der Mauer ein See aus, der, ganz gefüllt, bei einer größten Tiefe von 42 Metern und einer Oberfläche von 12 Quadratkilometern 202 Millionen Kubikmeter Wasser faßt.11 27 Kilometer lang ist der überflutete Flußlauf, von dem 2/3 auf waldeckischem, 1/3 auf preußischem Boden liegen. Die feierliche Einweihung der Edertalsperre sollte am 25. 8. 1914 mit großem feierlichen Gepränge, „Segenswünschen und Hymnen an das Vaterland, mit Jubelreden und patriotischen Ehrbezeugungen“12 unter Anwesenheit des Deutschen Kaisers stattfinden. Der Plan scheitert am Beginn des Ersten Weltkriegs. 6 7 8 9 10 11 12 tet. Auch eine - wenn auch zweitrangige - Nutzung des Edersees als Elektrizitätserzeuger wird angestrebt. Vgl. ebd., S. 16. Bisher hatte es sich nur durch rege Abwanderung seiner Bevölkerung ins Rheinland ausgezeichnet. Zwar durch das Eisenbahnnetz prinzipiell in den Aufschwung eingebunden, fehlt dieser industriellen „backward area“ jede Infrastruktur zum Aufbau potenter Wirtschaften. Vgl. Bohle 1991, S. 121. Vgl. Müller 1970, S. 8. Zu den Voraussetzungen und den baulichen Einzelheiten der Edertalsperre vgl. sehr umfassend auch: Die Waldecker Talsperre bei Hemfurth (Waldeck). Im Auftrage des Herrn Preussischen Ministers der öffentlichen Arbeiten, ohne Ort (Berlin?), ohne Jahr (nach 1921). Einzusehen ist ein Exemplar im Wasser- und Schiffahrtsamt Hann.Münden. Vgl. ebd., S. 10. Das ist deswegen möglich, weil das hoch verschuldete Waldeck bereits im Jahre 1868 einen Akzessionsvertrag mit Preußen schließen mußte, wodurch die gesamte Staatsverwaltung des Landes an den König von Preußen fiel. Waldeck war zum Satellitenstaat Preußens herabgesunken. Einzig das waldeckische Konsistorium blieb bestehen sowie für den Fürsten ein beschränktes Gnadenrecht und das Recht der Zustimmung zu Verfassungsänderungen und Gesetzen. Zum Akzessionsvertrag, seinen Hintergründen und Konsequenzen vgl. Menk 1995, S. 73-80. Mit dem Akzessionsvertrag wird an der Spitze der Waldeckischen Verwaltung ein vom preußischen König zu benennender Landesdirektor eingesetzt, der seinen Sitz in Arolsen nimmt. Vgl. ebd., S. 78. Vgl. Müller 1970, S. 10. Vgl. Soldan und Heßler 1914, S. 28. Vgl. Schultze 1929, S. 84. Neumann 1995, S. 55. Der Artikel, dem dieses Zitat entnommen wurde, ist fast identisch in der Zeitschrift „Denkmalpflege in Hessen“, Jg. 1/1994, S. 30-37 schon einmal abgedruckt worden. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 89 So groß der wirtschaftliche Nutzen des Ederstausees einerseits, so umwälzend ist andererseits die Überflutung des Tales für die Lebensumstände seiner Bewohner. Etwa 900 Menschen, fast 150 Familien, müssen ihre Gehöfte im Edertal aufgeben. Die waldeckischen Dörfer Bringhausen und Berich sowie das preußische Dorf Asel fallen dem See vollständig zum Opfer, während das waldeckische Dorf Niederwerbe 16 Gehöfte und das preußische Dorf Herzhausen 23 Gehöfte verliert.13 Wie groß das Bedauern der vertriebenen Menschen über die Entscheidung ist, das fruchtbare Edertal zu überfluten, läßt sich an den zahlreichen Zeitungsberichten, Ortschroniken wie dem Ortssippenbuch über Berich von Heinrich Schreff aus dem Jahre 1959, Heimatgedichten und -geschichten nachvollziehen.14 Alle drei Dörfer lagen von Wäldern umschlossen im fruchtbaren Tal des Ederflusses, der die Feldmark teilte. Alle drei waren Haufendörfer, deren Häuser sich, am Hang, in einem Seitental oder am Ufer der Eder, eng zusammenschmiegten. Berich lag am Ufer des in weiten Windungen ins Tal fließenden Flusses Eder und zu Füßen des weit darüber sich erhebenden Schlosses Waldeck, etwa drei Kilometer flußaufwärts. Die „Waldeckische Landeskunde“ rühmt es noch 1909 als „Perle des Edertales“, in der sich „über Klippen und Mauerwerk die einfachen Häuser mit ihren roten Dächern und weißgrauen Fachwerkswänden, eines immer höher als das andere, die alte schlichte und doch schöne Klosterkirche in der Mitte, bis hinauf in das lichtere Grün der waldigen Gehänge“ erheben.15 Berich war ursprünglich ein Augustiner-Nonnenkloster, das im Jahre 1196 erstmals schriftlich Erwähnung findet. Um das Jahr 1300 entstand die einschiffige, mit einem Dachreiter versehene gotische Klosterkirche.16 Im Jahre 1905 wohnten 20 Familien im Dorf Berich, das nach einer Volkszählung 134 Einwohner zählte – die meisten von ihnen Landwirte und Handwerker, aber auch zwei Gastwirte, Gemeindediener, Hirte und Lehrer.17 Berich verfügte über eine Gemarkung von 582 ha Land, das Dorf selbst lag an einem schmalen Berghang, geschützt und in Südlage direkt am Ufer der Eder. Die Klosterkirche diente als Dorfkirche, eine Schule war direkt daran angebaut. Wie Bringhausen erhielt Berich erst im Jahre 1898 eine Brücke über die Eder, Asel hatte sie bereits 1890 erhalten.18 13 14 15 16 17 18 Vgl. Reinhard 1921, S. 462. Vgl. Neumann 1995, S. 58. Schultze 1909, S. 72. Vgl. zum Entstehungsdatum der Kirche: Neu-Berich 1938, S. 193 und Kregelius 1987, S. 2. Vgl. Festschrift: Fünfundsiebzig Jahre Neu-Berich (ohne Seitenangabe). Vgl. Wenzel 1989, S. 110. Die Aseler Brücke ist die einzige, die nicht gesprengt wurde. Sie taucht heute bei niedrigem Wasserstand des Sees wieder aus den Fluten auf. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 90 Bringhausen ist das mit 70 Gehöften und fast 400 Bewohnern größte der drei versunkenen Dörfer.19 Es lag in einem Talkessel unmittelbar an der Eder – etwa fünf Kilometer oberhalb des Dorfes Berich, von Wald umschlossen und mit einer Gesamtgemarkung von über 1.500 ha.20 Eine Burgruine erhob sich auf einem Hügel am Eingang des Dorfes von Hemfurth her, der auch heute noch bei niedrigem Wasserstand als kleine Insel aus dem See herausragt. Die Burg wird 1189 zum ersten Mal erwähnt. Von dieser Burg waren noch 1925 Mauerreste und ein Keller vorhanden. Bringhausen zählt im Jahre 1895 431 Einwohner, d.h. etwa 66 Familien und besitzt eine Schule, eine Schmiede und eine Gaststätte. Die Bevölkerung besteht vornehmlich aus Kleinbauern, Handwerkern und Waldarbeitern. Asel war ebenfalls ein von Wald umgebendes Dorf, das vor der Zerstörung 30 Gehöfte und 170 Bewohner zählte.21 Es lag in dem engen, bewaldeten Seitental der Eder, dem Aselbach, etwa sechs Kilometer oberhalb des Dorfes Bringhausen in Preußen. Es wird im Jahre 1317 erstmals erwähnt und als „Ezele“ bzw. „Esele“ bezeichnet. Bereits um 1200 soll es eine Kapelle an Stelle der späteren Aseler Kirche gegeben haben, die bis 1718 kontinuierlich umgebaut wurde und von da an ihr bis vor der Überflutung typisches Erscheinungsbild hatte.22 Das Dorf setzte sich aus Bauern, vor allem Kleinbauern sowie kleinen Handwerkern zusammen. Gleichzeitig existierten in Alt-Asel zwei Dorfschänken, eine Schule, die erst im Jahre 1885 neu gebaut worden war und vor der Überflutung als Schule in Ober-Werbe wiederaufgebaut wurde. 2. Zum Wiederaufbau der Dörfer Das 1906 vom Waldeckischen Landtag verabschiedete Grundenteignungsgesetz schafft eine Handhabe, um die Räumung des Tales zu bewirken und das Land aufzukaufen, dient aber auch dazu, eine Entschädigung der Grundbesitzer zu gewährleisten.23 Selbst die sozial 19 20 21 22 23 Vgl. Die Waldecker Talsperre bei Hemfurth (Waldeck) o.J., S. 7. Vgl. Münch 1987, S. 76. Vgl. Die Waldecker Talsperre bei Hemfurth (Waldeck) o.J., S. 7. Fünfundsiebzig Jahre Edersee 1989, S. 3 und 12. Kurz darauf soll Asel in einem siebenjährigen Krieg zwischen dem Erzbischof von Mainz und den Grafen im Edergebiet zerstört und um 1250 wiederaufgebaut worden sein. Die Kirche wird vor der Überflutung abgebaut und das Holz an die Gemeinde Lehnhaus verkauft, die darauf eine Schule baut. Vgl. „Blick nach Asel und Asel-Süd“, in Waldeckische Landeszeitung, Nr. 287, 10.12.1997. Vgl. Völker 1913, S. 7. Zur genauen Vorgehensweise beim Grunderwerb für das Waldecker Sammelbekken vgl. Reinhard 1921, S. 461-465 und S. 476-478. Das Maß der Entschädigung beruht auf einer Abschätzung der Grundstücke, Gehöfte, Viehbestände und dem Wirtschaftsinventar. Kleingewerbetreibenden, Handwerkern, Tagelöhnern etc. ohne großen Grundbesitz wurde eine besondere finanzielle Berücksichtigung zuteil, um ihnen eine neue Lebens- und Arbeitsgrundlage zu schaffen. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 91 schlechter gestellten Bewohner werden so in die Lage versetzt, sich an anderen Orten einen neuen Besitz zu erwerben. Man gibt ihnen insgesamt drei Jahre Zeit, sich eine neue Wohnstatt zu suchen und die Menschen siedeln sich – die ersten bereits im Sommer 1908 – in Waldeck oder in anderen Landesteilen wieder an.24 Die Weserstrombauverwaltung in Hannover, die das ganze Ansiedlungswerk leitet, will jedoch über eine bloße Entschädigung hinaus Fürsorge tragen, daß die Bewohner des Sammelbeckengebietes „für ein gedeihliches Fortkommen der Bevölkerung“ wieder in geordnete Verhältnisse überführt werden.25 Die vom Hochbauamt der Weserstrombauverwaltung über den Bedarf hinaus angekauften Flächen um den zukünftigen See herum sollen so für eine Wiederansiedlung eines Teils der Bevölkerung dienen. Dafür erstellt die Weserstrombauverwaltung wie in Neu-Berich die erforderlichen Straßen und Wege und baut die Wasserleitungen. Zur Ausarbeitung der Besiedlungspläne der drei neu entstehenden Dörfer, zur Verteilung der Grundstücke auf dem Gelände und zur Durchführung der Umsiedlung ernennt der Preußische Staat die Grunderwerbskommissare Regierungsrat Dr. Renner aus Arolsen und Regierungsrat Reinhard aus Bad Wildungen.26 Dieser sammelt bei einer Reise in das Ansiedlungsgebiet in Posen viele Erfahrungen im Dorfbau27 und beschreibt die Wiederansiedlung wie folgt: „Zunächst wurden unter Zuziehung der Ansiedler und im Einvernehmen mit den zuständigen Behörden die geeigneten Ortslagen ausgewählt [...]. Alsdann wurden Straßen und Wege angelegt, Bebauungspläne aufgestellt und Wasserleitungen gebaut. Gleichzeitig wurden durch den Grunderwerbskommissar unter Berücksichtigung der Wünsche und Bedürfnisse der Beteiligten Besiedlungspläne aufgestellt. Jeder Ansiedler erhielt eine Baustelle mit hinreichendem Gartenland, einen Gemüseplan in der Nähe des Gehöftes und den übrigen Besitz unter möglichster Berücksichtigung der Bodenarten, der Lage und der Entfernung vom künftigen Ort.“28 175 ha Land am Ederufer oberhalb von Bringhausen und 75 ha oberhalb von Asel sollen für eine Neugründung der zwei Dörfer dienen.29 Die Verhandlungen ziehen sich jedoch über Monate hin. Da es von vorneherein feststeht, daß die besagten Restflächen am Ufer des neuen Sees nicht für eine Wiederansiedlung sämtlicher Sperrebewohner ausreichen, werden gleichzeitig weitere Ansiedlungsmöglichkeiten in Erwägung gezogen. Die Fürstliche Domänen- 24 25 26 27 28 29 Vgl. Völker 1913, S. 18. Dieser schnelle Wegzug vieler Familien wurde, so Koch, bedingt durch zähe und zeitraubende Verhandlungen über An- und Verkauf der Gehöfte und Ländereien und durch ein starkes Angebot von „Güterhändlern“. Andernfalls hätte eine zusammenhängendere Umsiedlung der Dorfbewohner geschehen können. Vgl. Koch 1914, S. 136. Die Waldecker Talsperre bei Hemfurth (Waldeck) o.J., S. 23. Vgl. StA Marburg, Best. 607, Nr. 272, Bl. 19d. Diese unterstehen dem Landesdirektor, in diesem Fall Landesdirektor Präsident von Glasenapp in Arolsen. Vgl. Die Waldecker Talsperre bei Hemfurth (Waldeck) o.J., S. 33. Die zunächst ins Auge gefaßte Bildung von Rentengütern wird jedoch aufgegeben, aus Mangel an einem entsprechenden waldeckischen Gesetzes und dem Wunsch der Ansiedler, Eigentum zu erwerben. Reinhard 1921, S. 476. Vgl. ebd. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 92 kammer von Waldeck schlägt den noch nicht ansässig gewordenen größeren Landwirten in Berich den Ankauf und die Übersiedlung auf eine Waldeckische Domäne vor.30 2.1. Neu-Berich Im Sommer 1909 entscheiden sich die acht Bericher Familien nach eingehender Prüfung für die 187 Hektar große Domäne Büllinghausen im Kreis der Twiste zwischen Arolsen und Volkmarsen. Da aber acht Hofstellen nicht ausreichen, um auch Kirche und Schule in das neue Dorf zu übertragen, bemüht man sich um weitere noch nicht ansässig gewordene Menschen und findet sie in neun Bringhäuser Familien, die sich ebenfalls für eine Neuansiedlung auf der Domäne Büllinghausen entscheiden, sodaß letztlich 17 Familien nach Neu-Berich ziehen.31 Während nach Neu-Bringhausen und Neu-Asel im allgemeinen weniger wohlhabende Landwirte umgesiedelt sind, versammeln sich hier fünf vergleichsweise wohlhabende Groß- und fünf Mittel- und Kleinbauern. Dazu gesellen sich fünf Handwerker, ein Gastwirt und ein Tagelöhner, die sich alle landwirtschaftlich selbst versorgen.32 Der neu entstehende Ort soll in politischer und kirchlicher Hinsicht als Rechtsnachfolger Berichs behandelt werden, erhält also wieder eine selbständige Schule und Kirche und untersteht weiterhin den waldeckischen Behörden.33 Als in der Presse am 22. März 1910 offiziell bekanntgegeben wird, daß zwischen den Städten Arolsen und Volkmarsen ein neues Dorf entstehen soll, bewerben sich einige waldeckische Architekten um diesen lukrativen und einmaligen Auftrag. Einer davon ist der Architekt Wilhelm Opfermann aus Mengeringhausen bei Korbach, ein fortschrittlicher und für die Region bedeutsamer Architekt, dessen Werk von der biedermeierlichen Moderne bis hin zum Expressionismus der 20er Jahre reicht und der der Heimatschutzbewegung nahe steht.34 Bald wird jedoch den Berichern von der Weserstrombauverwaltung in Hannover vorgeschlagen, die zur Besiedelung der Domäne erforderlichen Zeichnungen durch einen ihrer Hochbautechniker, Dr. Ing. Karl Meyer,35 anfertigen zu lassen, 30 31 32 33 34 35 Vgl. Völker 1913, S. 18f. Das Gut Büllinghausen war seit 100 Jahren an die Familie Dreves verpachtet. Oberamtmann Karl Dreves wird nun von den Ansiedlern mit 48000 M für seine Verluste entschädigt und verläßt die Domäne, deren Kaufpreis sich auf 297000 M beläuft. Vgl. StA Marburg, Best. 607, Nr. 272, Bl. 2. Vgl. Meyer 1923, S. 33. Zu den 17 Ansiedlern ziehen ebenfalls der Gemeindediener (Polizeidiener und Hirte) Christian Rettberg und Frau sowie der Lehrer Adolf Voigt und dessen Frau aus Berich in das neue Dorf. Der Pfarrer des Nachbarortes Külte übernimmt die dörfliche Seelsorge; einen eigenen Geistlichen besitzt das neue Dorf nicht. Vgl. StA Marburg, Best. 122, Nr. 2075, Bl. 104. Vgl. Neumann 1996, S. 97. Der Architekt ist in allen Aktengängen der Archive und der Sekundärliteratur ohne Vornamen verzeichnet. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 93 der erstens in der Aufstellung und Ausfertigung von Entwürfen große Erfahrung habe und zusätzlich für die Bewohner kostenfrei arbeite.36 Die Entscheidung fällt letztendlich auf den Architekten und Regierungsbaumeister Meyer – trotz des anfänglichen Bedenkens der Bewohner, ob der Hannoveraner Architekt durch die große Entfernung von der Baustelle in der Lage sein würde, die Hofstellen nach den Wünschen jedes einzelnen Interessenten einzurichten, den Bau selbst zu überwachen und den Verkehr mit den Unternehmern sowie die Bauabnahme zu bewirken. Mit dem Sommer 1910 beginnen die Vorbereitungsarbeiten für den im Laufe des Jahres 1911 geplanten Dorfbau.37 Meyer besucht die Ansiedler in ihren Gehöften persönlich, nimmt Einblick in die verschiedenen wirtschaftlichen Verhältnisse, bespricht mit ihnen die gelieferten Entwürfe und stellt „an Ort und Stelle ‘den Zollstock in der Hand und Geduld im Herzen’ alle Aenderungen fest, die der Ansiedler und nicht zuletzt seine Frau an dem Entwurf wünsch[t]en.“38 Das günstigste Angebot zum Bau der Dorfanlage bietet die Baufirma Finke in Hannover.39 Die Wirtschaftsgebäude der Domäne werden in den Jahren 1912 und 1913 nach und nach abgerissen, während in dem massiven zweigeschossigen Wohnhaus bis zum Bau einer Dorfschule die Kinder unterrichtet werden.40 Am 13. Juli 1912 wird das neue Dorf festlich eingeweiht. In Anwesenheit des Fürsten Friedrich von Waldeck und Pyrmont mit seiner Gattin Bathildis wird an diesem Tag der Grundstein für die Kirche gelegt.41 Das als erstes gebaute Dorf und die vom Anspruch für den Architekten „umfangreichste und schwierigste“42 Aufgabe ist Neu-Berich, denn hier siedeln sich die zehn größten Bauern wieder an, zusätzlich zu fünf Handwerkern, einem Arbeiter und einem Gastwirt. Der Gemeindebesitz von 105 Morgen Wiesen ebenso wie der dazu gehörige Wald- und Holzbestand wird genossenschaftlich bewirtschaftet.43 Die Wiederverwendung 36 37 38 39 40 41 42 43 Vgl. StA Marburg, Best. 607, Nr. 272, Bl. 58. Die Empörung des Architekten Opfermann macht sich in vielen Anschreiben an die Behörden Luft, in denen er eine eigenhändige Vergabe bzw. die Beeinflussung der Ansiedler unterstellt. Vgl. ebd., Bl. 34f, 104 und 112. Für die bauliche Durchführung des Siedlungswerks wird eine eigene „Bauverwaltung für den Neubau der Ansiedlung Neu-Berich in Waldeck“ gebildet, deren Sitz in Hannover bei dem Hochbauamt der Wasserbauverwaltung liegt und die in Büllinghausen ein örtliches Baubüro unterhält. Nach Kriegsbeginn übernimmt Regierungsbaumeister Lessing dessen Leitung. Vgl. Meyer 1923, S. 33. Vgl. ebd. Vgl. Meyer 1923, S. 36. Mit der Fertigstellung der Schule im Jahre 1913 wird das Haus durch den Verband evangelischer Jungfrauenvereine als Erholungsheim für erwerbstätige Mädchen eingerichtet, bevor es vom Bathildisheim zu Arolsen erworben wurde und bis heute als Heilerziehungs- und Pflegeheim dient. Vgl. Fünfundsiebzig Jahre Neu-Berich 1987 (ohne Seitenangabe) und StA Marburg, Best. 607, Nr. 21, Bl. 13. Vgl. Fünfundsiebzig Jahre Neu-Berich 1987 (ohne Seitenangabe). Vgl. Meyer 1923, S. 33. Vgl. Völker 1913, S. 17. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 94 alter Gebäude kommt hier nicht in Frage wegen der Entfernung zum alten Dorf sowie dem Willen der Ansiedler, „neue, den Anforderungen der Neuzeit genügende Gehöfte“ zu erbauen.44 Die Straßen der drei neuen Dörfer werden jeweils chaussiert und geschottert, jedoch nicht gepflastert. Gepflastert werden nur die Kandeln und Hofeinfahrten.45 Ein Jahr nach der Einweihung des Dorfes wird der Architekt Meyer für die Neuansiedlung geehrt: Auf der Internationalen Baufach-Ausstellung in Leipzig 1913 erhält er für seine Planungen die Goldene Medaille.46 Abb. 102: Neu-Berich, Südansicht. Zeichnung von Architekt Karl Meyer. Aus: Soldan/ Heßler 1914, S. 99. Abb. 103: Neu-Berich, Modell, Südostansicht. Aus: Neumann 1996, S. 100. 44 45 46 Vgl. Meyer 1923, S. 33. Vgl. StA Marburg, Best. 607, Nr. 433 (nicht numeriert); Nr. 353, S. 2; Nr. 147, S. 1f; Nr. 252, S. 1 und Nr. 19, Bl. 6. Vgl. ebd., Best. 122, Nr. 2075, Bl. 304. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 95 Abb. 104: Neu-Berich, Grundriß nach dem Urkataster von 1911. M=1:2000. Aus: Katasteramt Arolsen. Legende: Rot = Wohnhäuser/ Wohnbereiche Gelb = Ställe Grau = Scheunen Katalog: Die waldeckischen Dörfer 96 2.2. Neu-Bringhausen Nach langen Verhandlungen erklären sich schließlich im Sommer 1912 15 Familien bereit, die Ansiedlung Neu-Bringhausen oberhalb des alten Dorfes zu gründen. Nur etwa ein Viertel der Bringhäuser Familien beteiligt sich daran, die anderen suchen sich in der Umgebung ein neues Zuhause.47 Die Errichtung des neuen Dorfes Bringhausen, das rechtlich als Gemeinde bestehen bleibt,48 kostet die Bauverwaltung rund 80.000 M. Im Frühjahr 1913 ist Baubeginn, im Herbst 1913 sind die meisten Gebäude im Rohbau fertig.49 Zu einer festlichen Einweihung des Dorfes kommt es jedoch durch den Beginn des Ersten Weltkrieges nicht. Im Februar 1914 wird die Bringhäuser Brücke gesprengt.50 Durch die schlechte Bodenbeschaffenheit – die Fläche wurde vorher nur als Schafweide benutzt51 – siedeln sich dort vornehmlich Kleinbauern mit nur wenig Landbesitz und in der Regel nur Kleinvieh an. Es sind aber auch Handwerker, vor allem aber Waldarbeiter dabei, denn das neue Dorf sollte eine Waldarbeitersiedlung mit landwirtschaftlichem Nebenerwerb sein, um dem drohenden Arbeitermangel der Forstverwaltung durch den Wegzug vieler Talbewohner vorzubeugen.52 Die Neu-Bringhäuser versuchen jedoch, ihre Lebensverhältnisse durch weitere Landankäufe zu verbessern. Zur Belebung der Landwirtschaft entsteht auch ein ca. 35 ha großes Gut im Staatseigentum, das aus den nach der Landverteilung übriggebliebenen Restflächen gebildet wird.53 Die Neubauten in Neu-Asel und Neu-Bringhausen ebenso wie die neu zu errichtenden Gebäude in Herzhausen und Niederwerbe werden unentgeltlich von Architekt Karl Meyer entwickelt, der mittlerweile zum Königlichen Neubauamt für Hochbauten der Weserstrombauverwaltung nach Kassel gewechselt ist. Während jedoch NeuBerich ganz neu aufgebaut wird, nutzt man in Neu-Bringhausen aus Kostengründen das alte Dorf als Baustofflieferant. Fenster, Türen, Ziegel, Steine, Balken und Bretter werden Stück für Stück abgetragen und wiederverwendet. Die zwei Baugeschäfte Fr. Bangert aus Korbach und Fr. Fincke jun. aus Hannover sind am Aufbau beteiligt. 47 48 49 50 51 52 53 Vgl. Münch 1987, S. 11. Ein Beobachter beschreibt den neuen Ort: „Seine erhabene Lage und der den Ort umgebende prächtige Hochwald wird auf Einheimische und Fremde große Anziehungskraft ausüben.“ Vgl. Völker 1913, S. 20. Vgl. Die Waldecker Talsperre bei Hemfurth (Waldeck) o.J., S. 33 und 36. Vgl. Wenzel 1989, S. 144. Vgl. Münch 1987, S. 79. Vgl. Aktennotiz des Bringhäuser Bürgermeisteramts vom 18.11.1969 (eine Kopie befindet sich im Besitz von Klaus-Peter Wenzel), ebenso in 800 Jahre Bringhausen, o.S. und Best. 607, 353, Bl. 6. Vgl. Wenzel 1989, S. 129. Vgl. Münch 1987, S. 78 und Meyer 1923, S. 30. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 97 Abb. 105: Neu-Bringhausen, Grundriß nach dem Urkataster. M=1:2000. Aus: Katasteramt Korbach. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 98 Abb. 106: Neu-Bringhausen, Nordostansicht. Aus: Soldan/ Heßler 1914, Anhang. 2.3. Neu-Asel Fünf Familien aus Asel und eine Familie aus Bringhausen – ebenfalls vor allem Kleinbauern, Handwerker und Waldarbeiter – beziehen das neu entstehende Dorf Neu-Asel „Auf dem Hagebuch“ und leben auch hier vornehmlich von der Land- und Forstwirtschaft. Trotz der bescheidenen Verhältnisse seiner Bewohner wird fast jedes Haus, wenn auch in kleinem Umfang, neu errichtet. 32.000 M betragen die Kosten, die von der Bauverwaltung für die Ansiedlung aufgebracht werden.54 Auch in Asel wird zur Verwertung der übrigen Restflächen ein staatliches Gut in Form eines Dreiseithofes errichtet und verpachtet.55 Hier entsteht jedoch kein neues Kirchengebäude. Das Baumaterial der alten Kirche wird stattdessen verkauft. NeuAsel entsteht mit selbständiger Gemeindeverwaltung und eigenem Bürgermeisteramt, das jedoch noch bis 1923 von dem Bürgermeister aus Vöhl geführt wird.56 Abb. 107: Neu-Asel, Nordostansicht. Aus: Soldan/ Heßler 1914, Anhang. 54 55 56 Die Waldecker Talsperre bei Hemfurth (Waldeck) o.J., S. 33. In StA Marburg, Best. 607, Nr. 359 ist jedoch von 25.500 M die Rede. Die Pächterfamilie heißt Wilke. Vgl. Fünfundsiebzig Jahre Edersee 1989, S. 41. Vgl. ebd., S. 13 und 42. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 99 Abb. 108: Neu-Asel, Grundriß nach dem Urkataster. M=1:2000. Aus: Katasteramt Frankenberg/Eder. 3. Die Dorfanlagen 3.1. Neu-Berich Das Dorf Neu-Berich wird im Nordwesten Waldecks südlich der Landstraße Arolsen-Volkmarsen angelegt auf einer weiten, luftigen Feldterrasse in leichter Hanglage inmitten des Domänengeländes.57 Die Gutsgebäude der ehemaligen Domäne Büllinghausen befinden sich 300 Meter entfernt südwestlich der neuen Siedlung am Waldrand. Alle Beteiligten sind sich schnell einig, daß die geeignetste Stelle für die Ortslage in etwa die Mitte der Domäne auf dem Kreuzungspunkt zweier bereits bestehender Wege ist: Einem geraden Feldweg von der Vizinalstraße ins Zentrum der Domäne und dem Weg, der in gerader Linie auf die Domänen57 Der Gemeindebezirk Neu-Berich wird festgelegt: Im Süden durch den von der Kampagnemühle nach Lütersheim führenden Weg; im Westen durch die Mitte des Twisteflusses; im Osten durch die (preußische) Landesgrenze und die Feldmark Lütersheim; im Norden durch die Staatsstraße Arolsen-Volkmarsen. Vgl. StA Marburg, Best. 180, Nr. 2790 (Nicht numerierte Akte: Beilage zum Fürstlich Waldeckischen Regierungsblatt Nr. 38, 10. September 1912.) Katalog: Die waldeckischen Dörfer 100 gebäude zuführt. So kann man diese zumindest teilweise in den Ortsplan übernehmen.58 Die Ortslage Neu-Berich liegt sehr günstig zur Landstraße und muß durch den bereits bestehenden Weg nur noch durch ein Straßenteilstück mit dieser verbunden werden, sodaß die Straßenbaukosten niedrig gehalten werden können. Von entscheidender Bedeutung für den Ortsplan ist, daß die Ansiedler in Anlehnung an ihre alten Dörfer Berich und Bringhausen daran festhalten, wieder in einer geschlossenen Ortslage angesiedelt zu werden.59 Am 5. Oktober 1910 treffen sie sich mit dem Architekten Meyer und dem Regierungsrat Renner, um die Ortslage und die Verteilung der Hofstellen zu besprechen. Entscheidend für die Lage des Ortes ist auch eine Quelle in der Nähe des Bauplatzes, von der eine Wasserleitung die Trinkwasserversorgung des Dorfes regeln soll.60 Eine Skizze, in der die Anlage der wiederaufzubauenden gotischen Klosterkirche Berichs in der Mitte des Ortes geplant ist und die dem endgültigen Entwurf der Dorflage fast entspricht, stößt bei allen Beteiligten auf Einverständnis. Abb. 109: Neu-Berich, Skizze der Ortslage von November 1910. Die dunklen Straßenzüge bezeichnen die bereits vorhandenen Wege. Ohne Maßstab. Aus: StA Marburg, Best. 607, Nr. 272, Bl. 100. 58 59 60 Vgl. ebd., Best. 607, Nr. 272, Bl. 45f. Vgl. ebd., Bl. 45. Vgl. ebd., Bl. 45f. Durch diese kann dem Dorf das Wasser mit natürlichem Gefälle zugeleitet werden. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 101 Abb. 110: Neu-Berich, Nordansicht um 1990. Von Familie Bangert, Neu-Berich. Erst nach Festlegung der Dorfeinteilung soll mit dem Entwurf der Hofstellen begonnen werden.61 Am 31. Oktober 1910 hat der Architekt Meyer die grundsätzlichen Entwürfe für alle Gehöftanlagen fertiggestellt und beschäftigt sich mit dem Dorfplan, „bei dem sehr Vieles zu bedenken ist, damit die Anlage malerisch wird.“62 Von der Landstraße Arolsen-Volkmarsen gelangt man in das Dorf Neu-Berich auf der orthogonal dazu liegenden Vizinalstraße, die geradlinig auf das Dorf zuläuft und dies langsam hinter der Hangkuppe erscheinen läßt . Die Straße (später „Bericher Straße“ genannt) führt direkt auf die im Zentrum des Dorfes liegende Kirche zu und gabelt sich dann vor dem Kirchplatz in zwei Hauptwege, die um diesen herum führen und im leichten Bogen weiterverlaufen. Die Straße, die zum Gutshof führt, wird später „Mühlenfelder Straße“ genannt. Am Dorfeingang und entlang der Bericher Straße gruppieren sich die großen Dreiseithöfe, wobei sich die ersten sich achsensymmetrisch gegenüber liegen. 61 62 Als Wünsche wurden geäußert, daß der Schmied Franke mit möglichst großer Baufront in die Mitte des Dorfes angesiedelt wird und daß das Gemeindehaus (Spritzenhaus, Badehaus und Backhaus) einen Platz am Kirchhof bekommt. Für die Schule soll ein 1 ½ bis 2 Morgen großes Eckgrundstück an der Kirche reserviert werden einschließlich Spielplatz und Garten für den Lehrer. Vgl. StA Marburg, Best. 607, Nr. 272, Bl. 72 und 114. Vgl. ebd., Bl. 95. 102 Katalog: Die waldeckischen Dörfer Abb. 111: Neu-Berich, Ortseinfahrt, Nordwestansicht im Jahr 1996. Abb. 112: Neu-Berich, Bericher Straße Südostansicht im Jahr 1996. Im hinteren Bereich des Ortes sind dagegen die Gehöfte der kleineren Bauern sowie die der Handwerker und des Tagelöhners angesiedelt. Die öffentlichen Gebäude wie Schule, Schmiede und Gaststätte sind mit Ausnahme des Gemeindehauses, das hinter der Gaststätte zu liegen kommt, zentral am Dorfplatz angeordnet. An der Nordwestecke der Kirchhofmauer und in direkter Ecklage am Abzweig der Mühlenfelder von der Bericher Straße ist ein Laufbrunnen angelegt. Bei der Einfahrt ins Dorf ist er schon von weitem sichtbar. Über einem niedrigen, halbrunden Becken lehnt sich ein säulenartiger Brunnenstock aus Resten eines übriggebliebenen Wandpfeilers und eines Kapitells der alten Kirche an die Kirchmauer. Aus dieser Säule strömt durch ein schmales Rohr ständig Wasser in das Becken. Der Brunnen ist bis heute erhalten geblieben. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 103 Abb. 113: Neu-Berich, Laufbrunnen an der Nordostseite der Kirchmauer. Aus: Kregelius 1987, 56. 3.2. Neu-Bringhausen Neu-Bringhausen liegt von Wald umgeben direkt oberhalb des alten Dorfes Bringhausen, auf einer Anhöhe genannt Daudenberg.63 Diese Fläche bietet sich deshalb an, weil sie Teil der ehemaligen Gemarkungsfläche von Alt-Bringhausen ist: „Die Zuteilung des erforderlichen Ackerlandes (1-15 ha) machte keine Schwierigkeiten, da der Hauptteil des Bringhäuser Landbesitzes auf der Höhe lag [...] und weil einige der größeren Besitzer sich der Ansiedlung Neuberich angeschlossen hatten und ihre Ländereien dadurch frei wurden."64 Schon in den Verhandlungen um die neue Ortslage kommt Kritik an der Abgeschlossenheit und schlechten Bodenbeschaffenheit des neuen Dorfes auf. Bereits das alte Dorf war vor dem Bau der Ederbrücke gerade im Winter durch das Anschwellen des Flusses oft von der Außenwelt abgeschnitten. Der neue Ort liegt ebenfalls sehr abgeschieden von den Nachbarortschaften, da im Norden der See, im Süden der waldeckische Hochwald liegt und die neue Straße, die herführen soll, vom Ort Hemfurth immer noch vier Kilometer entfernt ist. 65 63 64 65 Das Dorf ist 93 ha groß (davon sind 15 ha Acker und 3 ha Wald). Vgl. Waldeckische Landes-Zeitung, 19.6.1937. Vgl. Meyer 1923, S. 30. Die Interessenten für Bringhausen erklären sich erst zu weiteren Verhandlungen bereit, als ihnen eine Bootsverbindung über das Wasser zugesagt wird, um einen Arzt und eine Apotheke in Vöhl bzw. Sachsenhausen erreichen zu können und man in Zukunft für eine solche auch in Bergheim und Hemfurth sorgen will. Vgl. Brandt 1925, S. 54 und Wenzel 1989, S. 130. Den Ansiedlern wird zusätzlich eine allgemeine Fährverbindung in Richtung Nordwesten zugesichert und nach dem Umzug auch eingerichtet, denn Bring- Katalog: Die waldeckischen Dörfer 104 Der Bauplatz des neuen Ortes fällt sanft zum See hin ab und von oberhalb des Dorfes kann man eine imposante Seenlandschaft, den sogenannten Fünfseenblick, genießen. Hier liegt auch die ungefaßte Quelle zur „Finsteren Höhle“, die das Dorf in den ersten Jahren über eine Leitung mit Wasser versorgt.66 Die Flur liegt um das neue Dorf herum verteilt. Wie in NeuBerich kann man einige bereits vorhandene Wege in den neuen Ortsplan miteinbeziehen, sodaß die Straßenbaukosten gering gehalten werden. Abb. 114: Neu-Bringhausen, Skizze der Ortslage von 1912. M=1:4000. Aus: StA Marburg, Best. 607, Nr. 252. 66 hausen war bisher in wirtschaftlicher Hinsicht immer nach Vöhl und Sachsenhausen ausgerichtet. Vgl. Wenzel 1989, S. 202. Vgl. ebd., S. 157. Zur kostenfreien Anlage einer Wasserleitung hatte sich der Preußische Staat verpflichtet. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 105 Abb. 115: Neu-Bringhausen, "Fünfseenblick" von Südwesten vor 1931. Aus dem Gemeindehaus Bringhausen. Der gesamte Ortsbauplan ist sowohl mit dem Grunderwerbskommissar als auch mit dem zuständigen Kreisamtmann und dem Regierungsbaumeister Meyer genauestens besprochen worden. Die leicht geschwungene Straße F von Gellershausen wird in die Dorflage integriert, wobei die Wege B, C und F vorerst als Wirtschaftswege genutzt werden, um einer späteren Bebauung offen zu stehen. Man gelangt über die gerade geführte Straße von Hemfurth in das Zentrum des Dorfes, in dem die Straße sanft in einem Bogen um 90° nach links geführt wird, gerade weiterverläuft, um in einer leichten Rechtskurve das Dorf wieder zu verlassen. An dieser Straße A (später „Daudenbergstraße“), ebenso wie an der darein mündenden, ebenfalls linear verlaufenden Straße D (später „Fünfseenblickstraße“) sind mit Ausnahme des Gemeindehauses alle Dorfgebäude angelegt. Die Kirche liegt am äußeren Rand der 90°-Kurve. Sie belegt damit den zentralen Platz des Ortes und ist bewußt so positioniert, daß sie aus allen Richtungen einzusehen ist. Abb. 116: Neu-Bringhausen, Dorfplatz mit Linde, Südansicht vor 1931. Aus dem Gemeindehaus Bringhausen. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 106 Abb. 117: Neu-Bringhausen, Postkarte von Schule und Kirche, Westansicht. Aus dem Gemeindehaus Bringhausen. Vor ihr verbreitert sich die Ortsstraße zudem so, daß eine platzartige Situation entsteht, die durch die Pflanzung einer Dorflinde als Dorfzentrum betont wird. Direkt am Platze ist auch das Gasthaus Fuchs als öffentlicher Dorftreffpunkt angesiedelt, gegenüber davon die Schule mit Lehrerwohnung. Ein Abzugsgraben parallel zur Fünfseenblickstraße und der tiefsten Geländemulde folgend, soll „das vom Walde und den oberhalb des Dorfes liegenden Äckern kommende Niederschlagswasser“ von der Dorfstraße abhalten.67 Parallel zum Graben verläuft der Weg C, später Gemeindeweg genannt, an dem das Gemeindehaus mit Viehwaage, Feuerspritze und Armenwohnung im oberen Geschoß zu stehen kommt. Am Kreuzungspunkt von Graben und Daudenbergstraße ist das Backhaus eingerichtet.68 Die Verteilung der Grundstücke und Ländereien richtet sich ebenso nach den Wünschen der Bewohner, wie nach der zweckmäßigsten Geländeaufteilung oder der bequemsten Zugänglichkeit zu den Ländereien.69 3.3. Neu-Asel Neu-Asel, gleichzeitig mit Neu-Bringhausen entstanden und die kleinste der drei Siedlungen, ist ebenfalls direkt oberhalb der alten Ortslage errichtet. Neu-Asel liegt in direkter Nachbarschaft einen Kilometer von Vöhl entfernt und hat dadurch nicht wie Neu-Bringhausen die Probleme der Abgeschlossenheit des Ortes zu befürchten. Auch hier sind Ländereien reichlich 67 68 69 Vgl. StA Marburg, Best. 607, Nr. 252, Bl. 3. Neben diesem wurde 1956 ein Trafohäuschen gebaut, was nach seiner Übereignung an die VEW den Abriß des Backhauses zur Folge hatte. Vgl. Wenzel 1989, S. 156. Vgl. Meyer 1923, S. 30. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 107 vorhanden, sodaß aus den Restflächen ein staatliches Gutsgehöft Neu-Asel (Nord) im Ort selbst und ein anderes, Neu-Asel (Süd), in der Nähe des Ufers direkt auf der anderen Seite des Sees, errichtet werden kann.70 Die Straße von Vöhl kommend wird zu diesem Zwecke neu angelegt und mündet direkt in die Ortsstraße, an der die Gehöfte und das Gut zu liegen kommen und die als Wirtschaftsweg bereits vorhanden war. 15 Bauplätze sind maximal an der Straße A (später „Lindenplatz“ genannt) vorgesehen, von denen sieben ausgeführt werden.71 Die Idee, das Dorf an einer Wegekreuzung anzulegen, führt zur Schaffung einer weiteren Straße B, die die erstere fast im rechten Winkel schneidet. Die Kreuzung ist zum Dorfplatz erweitert, in dessen Mitte eine weiträumig umzäunte Linde mit Birken und Büschen rundherum als Dorfmittelpunkt gestaltet ist.72 Abb. 118: Neu-Asel, Skizze der Ortslage von 1912. M=1:4000. Aus: StA Marburg, Best. 607, Nr. 147. 70 71 72 Vgl. ebd., S. 32. Vgl. StA Marburg, Best. 607, Nr. 147, Bl. 1. Die Linde stammt aus dem alten Dorf Berich. Heute ist um die Linde herum eine Bank gebaut. Nach mündlichen Informationen von Herrn Wilhelm Hille aus Asel im Jahr 1998. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 108 Abb. 119: Neu-Asel, Südansicht. Aus: Fünfundsiebzig Jahre Edersee 1989, S. 44. Abb. 120: Neu-Asel, Dorfplatz mit Linde, Ostansicht im Jahr 1998. Oberhalb des neuen Weges (später „Zum Homberger Born“ genannt) ist hinter dem Grundstück des Adolf Hille noch ein Backhaus projektiert, das aber nie gebaut wird. Oberhalb davon wird auf der anderen Seite der Straße das Gemeindehaus errichtet, in das die Feuerspritze, die Viehwaage, ein Dreschschuppen und ein Backofen integriert werden.73 Weiter oberhalb des Weges steht eine Quelle zur Verfügung, die die Wasserversorgung über eine Wasserleitung regelt.74 4. Die Dorfgebäude Die Bauten der drei Dörfer Neu-Berich, Neu-Bringhausen und Neu-Asel weisen – mit einigen Ausnahmen alle von Regierungsbaumeister Karl Meyer gebaut – eine einheitliche Grundstruktur und einen einheitlichen Aufbau auf. Meyer beruft sich grundsätzlich auf das in Wal73 74 Vgl. Blick nach Asel und Asel-Süd, Waldeckische Landeszeitung, Nr. 287, 10.12.1997. Vgl. StA Marburg, Best. 607, Nr. 147, Bl. 1. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 109 deck übliche Schema des quergeteilten Einhauses, das Wohnbereich, Stall und Scheune unter einem First zusammenfaßt. Alle Funktionsbereiche sind hier quer nebeneinander gelagert und durchziehen so in der Regel die ganze Gebäudebreite. Dieser Haustyp prägt fast ausschließlich die Dörfer mit vielen Kleinbauern, Holzfällern und Handwerkern, nämlich Neu-Bringhausen und Neu-Asel, ist aber auch in Neu-Berich zu finden. In Neu-Bringhausen sind die Einhäuser der Bauern fast durchgängig aus Häusern des alten Dorfes wiederaufgebaut, in Neu-Asel und Neu-Berich dagegen sind sie neu errichtet. Das Einhaus ist der kostengünstigste Gehöfttyp. Daneben findet man vor allem im Dorf Neu-Berich, das die wohlhabenderen Bauern aufnimmt, eine reiche Varianz an Bautypen, die als Erweiterungen des Einhauses eine größere Wirtschaftsfläche erhalten. Es sind Zweiseitoder Dreiseithöfe, deren Gebäude, die einzeln stehen oder aneinandergebaut sind, einen Hof umschließen. Beide Gehöfttypen bilden einen Hofraum aus, der als Verkehrsraum und Arbeitsstätte dient. Im Gegensatz dazu stehen die Einhäuser fast durchweg traufständig zur Straße. Die Baukosten der Gebäude reichen von 5.000 M für das kleine Einfirsthaus eines Tagelöhners bis zu 37.670 M für das offene Dreiseitgehöft eines Großbauern.75 Die Anzahl der Stockwerke in den Wohnhäusern und Wohnbereichen variiert je nach Größe des Hofes zwischen einem und zwei Stockwerken bzw. einem Stockwerk mit Kniestock. In Neu-Bringhausen und Neu-Asel besteht der Sockel aus außen verfugtem Bruchstein, in Neu-Berich aus behauenem, in der Nähe des Dorfes gewonnenem Bruchsandstein. Die Erdgeschosse der Wohnbereiche und die Ställe sind immer massiv aus Ziegelstein errichtet und verputzt, wobei in Neu-Asel für die Erdgeschosse Marienhagener Kalkstein benutzt wird. Die Kniestöcke76 und Dachgeschosse der Ställe sind immer fachwerkgezimmert. Die Scheunen in Neu-Berich, ob als eigenständige Gebäude oder Gebäudeteile errichtet, bestehen über einem Bruchsteinsockel vollständig aus Fachwerk. Die Gebäude sind ohne Ausnahme mit roten Ziegelpfannen belegt, die Giebeldreiecke ebenfalls mit Pfannen oder auch mit Biberschwänzen verkleidet. Besonders die Innenraumaufteilung der Wohnräume ist charakteristisch und immer dieselbe. Man betritt das Haus in der Regel über eine Treppe, um die Höhe des halben Kellergeschosses zu überwinden. Der Eingang ist grundsätzlich in der Mitte des Hauses angelegt und öffnet sich in einen dahinterliegenden halben Flur. Er enthält das Treppenhaus und erschließt die anderen Räume. Vollständig unterkellert sind nur die großen Gehöfte, die kleineren besitzen meist nur einen oder zwei Kellerräume. Geradeaus gelangt man meist direkt in die Küche 75 76 Eine Tabelle zu den Baukosten der Gehöfte Neu-Berichs siehe ebd., Nr. 19, Bl. 56f. Von Meyer in den Baubeschreibungen als Drempelwände bezeichnet. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 110 bzw. Speisekammer, daneben sind beidseitig weitere Kammern, in eingeschossigen Häusern auch oft die Schlafkammern angelegt. Rechts und links vom Flur befinden sich ein oder zwei Stuben bzw. eine Kammer. Das Obergeschoß ist ähnlich strukturiert und enthält weitere Kammern oder Schlafkammern. 5. Die öffentlichen Gebäude77 Die Kirche in Neu-Berich Die Dorfkirche Neu-Berichs ist unter besonderen Umständen entstanden, denn sie wird der alten Bericher Klosterkirche unter Verwendung ihrer wertvollen architektonischen Teile nachgebildet.78 Die mittelgroße einschiffige gotische Hallenkirche mit Dachreiter wird etwa im Jahre 1300 als Teil eines Augustiner-Nonnenklosters gebaut und der Heiligen Katharina geweiht.79 Klausurgebäude und Kreuzgang sind zwar schriftlich belegt, aber nicht mehr erhalten. Sie werden vermutlich im späten 17. Jahrhundert abgerissen. Die Kirche wird im Jahre 1699 wiederhergestellt.80 Seit 1754 ist sie Dorfkirche. Sie besitzt vier Schiffsjoche und ein Chorjoch mit 5/8-Schluß und ist aus steinsichtig verputztem Bruchsteinmauerwerk unter Verwendung festen Quadersandsteins für die Architekturgliederung errichtet.81 Die zwei westlichen Joche der Kirche sind durch eine Bretterwand abgetrennt und werden als Lagerraum benutzt, weil den Bewohnern die Kirche zu groß ist. Durch persönliche Kontakte hat wiederum Regierungsbaumeister Meyer die Versetzung der Bericher Klosterkirche als privaten Nebenauftrag erhalten.82 An der Genauigkeit und Ausführlichkeit, in der er über die Geschichte der Kirche, ihren Abbruch, ihre Bauaufnahme und ihren Wiederaufbau schreibt, ist zu erkennen, welche Bedeutung er dem Projekt beimißt.83 Die Kirche wird in Anwesenheit des Waldecker Fürstenpaares am 7. Juni 1914 eingeweiht.84 77 78 79 80 81 82 83 84 Da fast alle Häuser in den drei Dörfern von Regierungsbaumeister Karl Meyer geplant sind, können die verschiedenen Haustypen im folgenden einzeln besprochen werden, ohne sie nochmals nach den jeweiligen Ortschaften aufzugliedern. Die langwierige und schwierige Diskussion um Wiederaufbau und Umbau der Klosterkirche bzw. Neubau einer kleineren Kirche und die diversen Gutachten dazu können in den umfangreichen Aktengängen im Staatsarchiv Marburg eingesehen werden. Siehe ebd., Nr. 58 und Best. 122, Nr. 2074. Zum Erbauungsdatum vgl. Neu-Berich 1938, S. 193. Kregelius 1987, S. 1 behauptet, das Kloster sei bis etwa 1463 ein Benediktinerinnen-Kloster gewesen, daß durch nachlassende Zucht und Mißwirtschaft in ein Augustinerinnen-Kloster umgewandelt worden sei. Vgl. Neu-Berich 1938, S. 193 und Meyer 1923, S. 37. Vgl. StA Marburg, Best. 122, Nr. 2074, Bl. 14. Eine detaillierte Beschreibung des Kirchenbaus und seiner Innenausstattung ist nachzulesen in: Neu-Berich 1938, S. 193-196. Zur Geschichte der Kirche vgl. z.B. Meyer 1923, S. 37f und Kregelius 1987. Die Kirche hat eine Gesamtlänge von 33 Meter, eine lichte Schiffsbreite von 8,50 Meter und eine lichte Höhe bis zum Gewölbescheitel von 12 Meter. Vgl. Neumann 1995, S. 99. Vgl. Meyer 1923, S. 38. Vgl. Kregelius 1987, S. 37. Die Baukosten für den Wiederaufbau betragen rund 25.000 M. Meyer 1923, S. 38. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 111 Die Kirchenwände sind aus Grauwacke wiederaufgebaut, die in der Nähe des neuen Dorfes gebrochen wird. Nur die Eckquader, die Fenstergewände und Maßwerke, die Gesimse und der Sockel, die Grate und Rippen einschließlich der Kapitelle und Schlußsteine werden aus der alten Kirche abgebrochen und, sofern sie in gutem Zustand sind, in die neue Kirche übernommen. Diese wird, um sie den Bedürfnissen der kleinen Gemeinde anzupassen, um zwei Joche verkürzt und, um die Kirche zu der geringeren Längenabmessung in bessere Harmonie zu bringen, um einen Meter erniedrigt.85 Die umlaufenden Strebepfeiler sind doppelt abgetreppt, das neue Dach pfannengedeckt und im Osten abgewalmt. Ein moderner verschieferter Dachreiter sitzt auf dem Dachfirst. Im Westen schließt sich an die jetzt zweijochige Hallenkirche eine Vorhalle mit kleiner Kapelle im Norden und Treppenaufgang im Süden an. Die spitzbogigen Fenster von Langhaus und Chor sind bis auf das mittlere dreigeteilte Ostfenster zweiteilig und mit Maßwerk aus Dreiund Vierpässen geschmückt. Die Maßwerke sind zum großen Teil erneuert. In Höhe der Fenstersohlbänke läuft ein Kaffgesims um, das über dem Spitzbogenportal an der Westwand rechtwinklig verkröpft ist. Darüber befindet sich ein weiteres zweiteiliges Maßwerkfenster. Das Innere des Raumes ist weiß gefaßt, die Werksteinteile wie Dienste, Gewölberippen und Fenstergewände hellgrau bemalt und die Werksteinfugen davon weiß abgesetzt. Kapitelle und Schlußsteine sind farbig gefaßt. Auch die meisten Teile der gotischen und barocken Ausstattung wie Orgelprospekt und Gestühl werden abgelaugt und neu gefaßt und erhalten laut Meyer eine „frische, ländliche Ausdrucksweise“.86 Der Boden ist mit Sandsteinplatten belegt, der Altarbereich um eine Stufe erhöht. Übernommen werden aus der alten Kirche auch die Reste frühgotischer Glasmalerei, um sie zu einem mittleren Chorfenster zu vervollständigen.87 Die Kirche in Neu-Berich ist von einem Kirchhof umgeben, der an seiner nordwestlichen Seite als Festplatz gedacht war und auch heute noch als solcher genutzt wird. Er ist von einer etwa ein Meter hohen Kirchhofmauer aus Werksteinen umfriedet, die nur an der Südostseite der Kirche durch einen Staketenzaun ersetzt wird. Ein mit Biberschwänzen gedecktes Tor mit rundbogiger Öffnung, bezeichnet mit der Jahreszahl 1914, erschließt den Kirchhof und den westseitigen Kircheneingang. In dessen Scheitel ist als Schlußstein falsch herum ein ehe- 85 86 87 Vgl. ebd. Der neue Dachstuhl ist in Anlehnung an die Dächer des Dorfes neu mit roten Pfannen eingedeckt worden. Die Kirche war in Berich halb mit Schiefer, halb mit Ziegeln gedeckt. Vgl. StA Marburg, Best. 122, Nr. 2074, Bl. 15. Vgl. Meyer 1923, S. 38. Vgl. Neu-Berich 1938, S. 196. Rechts und links davon sind, von privaten Stiftern finanziert, neue Fenster mit den Motiven „Der heilige Samariter“ und „Jesus und die Fischer“ eingebaut. Daneben bestehen die Hauptstücke der Ausstattung aus einem spätgotischen Schnitzaltar, Holzkanzel, Taufständer, Empore und Gestühl aus dem 17. Jahrhundert und der Holzfigur eines gekreuzigten Christus aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 112 maliger Gewölbeschlußstein mit weiblichem Kopf eingemauert.88 Die Kirche ist unverändert erhalten. Abb. 121: Neu-Berich, Kirche im Bau, Nordostansicht. Aus Fünfundsiebzig Jahre NeuBerich 1912-1987 (ohne Seitenangabe). 88 Vgl. ebd., S. 193. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 113 Abb. 122: Neu-Berich, Kirche, Südwestansicht im Jahr 1996. Abb. 123: Neu-Berich, Kirche, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Bestandszeichnung von Architekt Rössing/ Arolsen im Jahr 1986. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 114 Abb. 124: Neu-Berich, westseitiges Tor zum Kirchplatz von 1996. Die Kirche in Neu-Bringhausen Die Weserstrombauverwaltung erklärt sich bereit, den Bringhäusern eine den Bedürfnissen der neuen Gemeinde entsprechende Kirche schlüsselfertig zu bauen. Die Kirche des alten Dorfes wird im Jahr 1726 wegen Baufälligkeit des Vorgängerbaus neu errichtet. Architekt ist der Baudirektor Major Julius Ludwig Rothweil, unter dessen Leitung auch das Arolser und das Weilburger Residenzschloß errichtet worden sind.89 Die Kirche ist ein barocker rechteckiger Saalbau, der in Neu-Bringhausen in verkleinerter Form wiederaufgebaut wird unter Verwendung des alten Sandsteinquader-Materials mit breiten Fugen an der Schauseite und den Ecken. Die Kosten dafür betragen 12.000 M. Die seitlichen Umfassungsmauern sind aus Bruchstein gefertigt, der in der Nähe des Dorfes gewonnen wird.90 Auf Wunsch der Gläubigen, denen der alte Kirchenraum zu groß war, 89 90 Vgl. Wenzel o.J., S. 180. Der Bau hat die lichten Maße von 18 X 6,86 Metern. Vgl. Meyer 1923, S. 31. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 115 wird das neue Schiff jedoch um 3,50 Meter verkürzt. „Dann ergibt sich das sehr viel angenehmere Verhältnis von etwa 1:2, das auch für die äußere Erscheinung wohltuender sein wird, als die übermäßige Länge.“91 Dafür wird die alte Dachkonstruktion um ein Binderfeld gekürzt.92 Ein einfaches Satteldach mit Westwalm und roten Ziegelpfannen deckt den schlichten Bau. Darüber thront über dem Ostgiebel ein vierseitiger und zweifach gestufter Dachreiter mit welscher Haube und Schirmspitze. Bis etwa 1931 ist die Zierfachwerkkonstruktion aus Andreaskreuzen zu sehen – danach wird der Turm verschiefert. Die Kirche besitzt zwei Fensterachsen und ein Fenster im gerade geschlossenen Chor – alle rundbogig und mit breiten Kämpfer- und Schlußsteinen versehen. Das Portal in der östlichen Schmalseite zum Platz hin ist rundbogig und von einer rundbogigen Vorlage begleitet, mit einer rechteckigen Tür und einer Inschrifttafel im Tympanon versehen. Auf ihr steht in Kapitale, mit Voluten und Blattornamenten, einer Krone und dem Waldecker Stern geschmückt, geschrieben: „Anno 1726 ist diese Kirche gebaut sub Pastore Johan Philipp Waldeck.“93 Über dem Portal ist ein liegendes Ovalfenster eingelassen, der Giebel ist durch ein Gesims vom Rest der Wand getrennt. Darüber sind zwei kleine Rechteckfenster und in der Giebelspitze das Bogenmaßwerk eines gotischen Fensters eingesetzt. Auch die seitlichen Emporen des alten Raumes werden weggenommen, weil sie in „häßlicher Weise“94 die Mitte der Fenster bedecken und überdies für Sitzplätze nicht gebraucht werden. Die Orgelbühne wird so zurückversetzt, daß sie die erste Fensterachse nicht verdeckt. Ansonsten wird die innere Ausstattung nach Aussage des Konsistoriums unverändert übernommen.95 Der Innenraum ist weiß gestrichen, Einzelteile sind in Gold abgesetzt, der Fußboden besteht aus Sandsteinplatten. Eine gekehlte Stuckdecke mit drei barock gerahmten Spiegeln schließt den Raum nach oben ab. Während der Altar selbst von 1914 stammt, ist der bedeutende Kanzelaufbau darüber noch von 1726. Es ist ein rechteckiges Podest, von vier Palmsäulen getragen, das Kanzelkorb und einen Schalldeckel trägt. Beides ist von einem mit Akanthusornamenten reich verzierten pyramidenförmigen Rahmen begleitet und von einem Kreuz bekrönt. Der Aufbau besteht aus Eichenholz, ist braun gebeizt und teilweise vergoldet.96 Die Kirche ist mit Ausnahme des später verschieferten Dachreiters unverändert erhalten. 91 92 93 94 95 96 Vgl. Kirchenarchiv Hemfurth II 3.1.1.4., nicht numeriert. Es ist ein liegender Kehlbalkendachstuhl mit liegenden Strebenkreuzen als weiteres Sparrenauflager und mit Hängewerken für den Mittelüberzug der Hauptbalkenlage. Vgl. Bringhausen 1960, S. 177. Vgl. ebd., S. 176. Vgl. Kirchenarchiv Hemfurth II 3.1.1.4., nicht numeriert. Vgl. ebd. Vgl. Bringhausen 1960, S. 177. 116 Katalog: Die waldeckischen Dörfer Abb. 125: Neu-Bringhausen, Kirche, Südostansicht im Jahr 1998. Abb. 226: Neu-Bringhausen, Kirche, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Bestandszeichnung von Architekt Rössing/ Arolsen im Jahr 1986. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 117 Die Schule in Neu-Berich In Neu-Berich wird im Jahre 1913 auf dem Eckgrundstück in Nachbarschaft zur Kirche zwischen den Gehöften Schreff und Franke das einklassige Schulgebäude nebst Wirtschaftsgebäude fertiggestellt. Bis dato wurden die Kinder des Dorfes im ehemaligen Wohnhaus des Domänengebäudes unterrichtet.97 Das Schulhaus besteht aus einem giebelständig zur Straße stehenden Wohngebäude für den Lehrer Adolf Voigt und seine Frau sowie ein im rechten Winkel daran angehängtes niedrigeres Klassenzimmer.98 Dazu kommt ein Wirtschaftsgebäude für den Lehrer mit eingebauten Aborten hinter dem Haus. Das Wohnhaus ist eingeschossig mit Kniestock errichtet. Seine Innenraumstruktur ist durch den Mittelflur angelegt wie bei den Gehöften, nur das Küche und Speisekammer vom Mittelflur aus nicht wie üblich geradeaus, sondern linker Hand angelegt sind. Der Klassenzimmeranbau erstreckt sich an der Nordseite des Hauses und schließt fluchtend mit der Westseite desselben ab. Er ist massiv errichtet, wobei nur die Giebeldreiecke in Fachwerk gezimmert ist. Über zwei Vorflure zwischen Wohnhaus und Klassenzimmer läßt sich dieser Gebäudeteil von der Straße aus begehen. Durch den zweiten Vorflur kann man das Klassenzimmer betreten, durch eine rückwärtige Tür die Rückseite des Hauses, um z.B. zum Abort zu gelangen, der im Wirtschaftsgebäude hinter der Schule liegt. Das Klassenzimmer wird, ostseitig durch drei große Fenster beleuchtet, sodaß der Raum morgens von Sonnenlicht durchflutet ist. An der südseitigen Wand des Raumes stehen das leicht erhöhte Lehrerpult und eine Tafel. Davor sind, in fünf Reihen à sechs Plätzen, die Schülerbänke aufgebaut. In Neu-Berich ist die Schule mit einem Holzstaket umzäunt und der Schulhof mit Bäumen bepflanzt. Ein Spielplatz am Haus ist vorgesehen.99 Das Gebäude ist durch einen Umbau zum Gemeindehaus vor allem im Bereich des ehemaligen Klassenzimmers stark verändert. 97 98 99 Ein erstes Schulprojekt des Architekten Meyer wird von den Dorfbewohnern abgelehnt, da von der Abfindung für das alte Schulgebäude nur 16.000 M zur Verfügung stehen, das neue Gebäude jedoch auf 25.000 M veranschlagt wird. Der Vorschlag, die Lehrerwohnung, die sieben bewohnbare und große Räume enthalte, zu verkleinern, um den Preis zu senken, wird am 4. Januar 1912 vom Architekten Meyer beherzt. Er stellt einen neuen Entwurf auf, dessen Kosten 18000 RM betragen und der letztendlich ausgeführt wird. Vgl. StA Marburg, Best. 607, Nr. 58, Bl. 15 und 23. Heute ist das Schulhaus zu einem Gemeindehaus mit Gaststätte vergrößert, sodaß der kleine Klassenzimmeranbau abgerissen wurde. Vgl. ebd., Nr. 272, Bl. 72. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 118 Abb. 127: Neu-Berich, Schule, Ostansicht. M=1:200. Aus: Meyer 1923, S. 34. Abb. 128: Neu-Berich, Schule, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Meyer 1923, S. 34. Die Schule in Neu-Bringhausen „Die neue Schule [in Neu-Bringhausen; d.Verf.] wurde unweit des Dorfplatzes neben der Kirche erbaut und in ihren Raumabmessungen den Bestimmungen der Waldeckischen Schulverwaltung angepaßt. Die Zeiten gestatteten es damals noch, im Untergeschoß ein Brausebad für die Schulkinder einzurichten.“100 Die Schule in Berich dient der in Bringhausen als direktes Vorbild. Letztere ist zwar der jeweiligen Ortssituation individuell angepaßt, Meyer greift jedoch auf ein bewährtes Gebäudemuster zurück. Denn auch in Neu-Bringhausen haben wir es mit einem queraufgeschlossenen 100 Vgl. Meyer 1923, S. 31. Sie wird für rund 25.000M auf Kosten der Weserstrombauverwaltung errichtet. Vgl. zum Neubau der Schule auch den detaillierten Erläuterungsbericht zum Kostenvoranschlag von Meyer, einzusehen im StA Marburg, Best. 607, Nr. 311. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 119 Haus zu tun, das giebelseitig zur Straße liegt und an das, in diesem Fall in nordöstlicher Richtung, ein massives Klassenzimmer angebaut wird. Hinter der Schule ist ein Wirtschaftsgebäude für den Lehrer und daran ein Abortgebäude mit drei Sitzen und einem Pissoirraum angelegt.101 Die Lehrerwohnung ist wiederum eineinhalbgeschossig, der Klassenzimmeranbau eingeschossig. Wohnhaus und Klassenraum sind auch in Neu-Bringhausen durch einen Flur getrennt. Durch einen Umbau der Schule in ein „Haus des Gastes“ kann man die ursprüngliche Struktur des ehemaligen Klassenzimmers nicht mehr nachvollziehen. Abb. 129: Neu-Bringhausen, Schule, Südwestansicht im Jahr 1998. Abb. 130: Neu-Bringhausen, Schule, Klassenzimmer, Ostansicht. Aus: Gemeindehaus Bringhausen. 101 Vgl. StA Marburg, Best. 607, Nr. 311, Bl. 2. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 120 Das Gemeindehaus in Neu-Berich Das niedrige Gemeindehaus in Neu-Berich sollte ursprünglich wie die anderen öffentlichen Gebäude am Kirchplatz errichtet werden. Hier hätte es an Stelle des heutigen Grundstücks Schlüter neben der Gastwirtschaft Lösekamm seinen Platz gefunden. Alle Gemeindebauten wären damit um die Kirche herum gruppiert gewesen.102 Stattdessen ist das Gemeindehaus heute zwischen den Gehöften Lösekamm und Rabe auf einer schmalen Parzelle traufseitig am Straßenrand der Bericher Straße errichtet. Es ist ein eingeschossiges Gebäude mit Kniestock und besteht im Erdgeschoß aus drei quer zur Traufe liegenden Funktionszonen, die für die Dorfgemeinschaft bestimmt sind: Dorfspritze, Bad und Backstube. Im Obergeschoß wird dem Gemeindediener Christian Rettberg und dessen Frau eine kleine Wohnung eingerichtet. An der Südseite des Hauses kann man diese über eine äußere Holztreppe erreichen. Ein kleiner geschoßhoher Abortanbau aus Fachwerk befindet sich an der westlichen Traufseite, hinter dem Spritzenraum.103 Das Gemeindehaus ist äußerlich unverändert erhalten geblieben. Abb. 131: Neu-Berich, Gemeindehaus. Links: Südansicht, Mitte: Grundriß des Erdgeschosses, rechts: Grundriß des Obergeschosses. M=1:200. Aus: Meyer 1923, S. 35. 102 103 Dies beweist die Vorzeichnung der Ortslage Neu-Berich. Es war geplant, dem Gemeindehaus sowie der Gastwirtschaft zwei gleich große schmale Grundstücke parallel zum Verbindungsweg zwischen Mühlenfelder und Bericher Straße zuzuteilen. Die anderen Höfe sollten auf ebenso schmalen Grundstücksstreifen dahinter entstehen: Zuerst das Gehöft Schlüter, dann der Hof Wilke und außen der Hof Rabe. Wahrscheinlich sah man schnell ein, daß auf solch schmalen Parzellen die Gehöfte nicht nach modernen Grundsätzen und in vielfältigen Formen hätten gebaut werden können. Später wurde der Abortanbau unter einer Dachabschleppung erweitert und zu einem Schweinestall für den Gemeindediener umfunktioniert. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 121 Abb. 132: Neu-Berich, Gemeindehaus, Südostansicht im Jahr 1996. Das Gemeindehaus in Neu-Bringhausen Das Gemeindehaus in Neu-Bringhausen, das zu Anfang der Besiedlung als einziges Gebäude am neu entstandenen Gemeindeweg errichtet wird, steht giebelständig zur Straße, ist zweigeschossig und mit einem Kniestock versehen. Das Erdgeschoß ist aus Bruchstein hergestellt, wobei für Gebäudeecken und Tür- und Fensterlaibungen Sandsteinquader verwendet werden. Der Rest des Gebäudes ist aus Fachwerk hergestellt, das vermutlich (aufgrund der starken Holzbalken zu urteilen) aus dem alten Dorf übernommen wurde. Das Erdgeschoß ist dreifach unterteilt und beherbergt einen Stall, eine Viehwaage und einen Raum für die Feuerspritze, der über ein doppelflügeliges Tor zu erreichen ist. In den oberen Geschossen wird eine Armenwohnung eingerichtet.104 Das Gemeindehaus ist äußerlich unverändert erhalten geblieben. 104 Die Informationen zum Gemeindehaus stammen von der Ortsvorsteherin Frau Magdalene Wenzel aus Bringhausen (24.03.1999). Katalog: Die waldeckischen Dörfer 122 Abb. 133: Neu-Bringhausen, Gemeindehaus, Südostansicht im Jahr 1998. Das Gemeindehaus in Neu-Asel Das Gemeindehaus von Neu-Asel wird oberhalb des Dorfes traufseitig an die Straße „Zum Homberger Born“ plaziert. Der Bau ist eingeschossig, wobei sein Sockel aus Bruchstein gefertigt und das Erdgeschoß massiv aufgemauert ist. Ein Unterstand auf der östlichen Giebelseite entsteht dadurch, daß man die Hälfte der Außenwand etwa um 1,5 Meter hinter die Traufe hat zurückspringen lassen. Der Bau läßt sich von hier aus über zwei Türen erschließen. Die andere Wandhälfte ist ebenso wie die Giebel aus Fachwerk gefertigt. Über dem östlichen Giebel kragt ein über zwei hölzerne Konsolen fixierter Dachreiter hervor, der ebenfalls aus Fachwerk besteht und als Glockenturm die alte Aseler Glocke beherbergt. Im Erdgeschoß befinden sich, ähnlich wie bei den anderen beiden Gemeindehäusern ein genossenschaftlicher Backofen, eine Viehwaage, die Feuerspritze und ein Dresch- und Maschinenschuppen. Das Obergeschoß wird wie im Gemeindehaus in Neu-Bringhausen als Wohnung für Ortsarme gedacht.105 Das Gemeindehaus ist äußerlich unverändert erhalten. 105 Vgl. Meyer 1923, S. 32 und: Fünfundsiebzig Jahre Edersee 1989, S. 42. In späteren Jahren wird die Armenwohnung in einen kleinen Betraum für die Gemeinde verwandelt. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 123 Abb. 134: Neu-Asel, Gemeindehaus, Nordostansicht im Jahr 1998. Die Gaststätte in Neu-Berich Die Gastwirtschaft „Zum Dorfkrug“ ist zentral im Ort in nächster Nachbarschaft zur Kirche errichtet. Da die Familie Lösekamm nicht nur die Gastwirtschaft, sondern auch eine eigene Landwirtschaft betreibt, besteht ihr Hausbesitz aus zwei Gebäuden: der Gastwirtschaft mit Saalanbau und Wohnräumen sowie einem davon getrennten und im rechten Winkel dazu stehenden eigenen Scheunen-Stallkomplex. Das Haupthaus und der niedrige, an der Ostseite angebaute Saalbau stehen traufseitig zur Kreuzung Bericher Straße und dem Verbindungsweg zur Mühlenfeldstraße und fallen so dem auf der Bericher Straße Passierenden direkt ins Auge. Die Haustür wird mittig über eine doppelläufige Treppe und eine einfache Haustür erreicht. Links neben dem Eingangsflur liegt die Gaststätte. Das Untergeschoß des Wohnhauses ist komplett unterkellert. Der dem Haupthaus östlich angehängte rechteckige Saal ist ein Fachwerkanbau, der mit einem Satteldach mit Vollwalm versehen ist. Man kann ihn über die Gaststube oder einen straßenseitigen Eingang erreichen. Letzterer wird über eine Treppe er- 124 Katalog: Die waldeckischen Dörfer schlossen, über die man auch auf eine mit Holzgeländer versehene offene Veranda gelangt. Sie lädt bei warmem Wetter zum Sitzen im Freien ein, ist aber auch bei Regen durch ein Pultdach geschützt. Eine Tür an der Südseite des Saals sollte ursprünglich zu dem am anderen Ende des Lösekammschen Grundstücks gelegenen freistehenden Aborthaus führen. Gedacht als Fachwerkbau sollte er je einen Abortraum für Männer und Frauen enthalten. Letztendlich entscheidet aus Gründen der Bequemlichkeit für ein Aborthaus direkt an der Rückseite des Saals. Die Gaststätte gibt sich durch ein an der Haustür befestigtes traditionelles eisernes Türschild mit dem Symbol des Weinglases, ebenso wie durch die besondere Verzierung der Fensterläden zu erkennen. Das Hauptgebäude ist aufgestockt und dadurch stark verändert worden. Abb. 135: Neu-Berich, Gaststätte. Oben: Nordansicht, unten: Ostansicht. M=1:200. Oben aus: Familienbesitz, unten aus: Meyer 1923, S. 34. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 125 Abb. 136: Neu-Berich, Gaststätte, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Meyer 1923, S. 34. Die Gaststätte in Neu-Bringhausen Auch die Gaststätte Fuchs in Neu-Bringhausen liegt in direkter Nachbarschaft zur Kirche und damit im Zentrum des Dorfes auf dem Eckgrundstück zwischen Daudenberg- und Fünfseenblickstraße. Das Anwesen Fuchs besteht aus dem traufseitig zur Daudenbergstraße angelegten, zweigeschossigen Wohnhaus, einem dahinterliegenden Stallgebäude und einer Scheune. Das Material beider Wirtschaftsgebäude stammt aus dem alten Dorf, das Wohnhaus hingegen ist von Meyer geplant. Obwohl seitens des Kirchenvorstandes Bedenken wegen der Nähe des Wirtshauses zur Kirche laut werden, verwirft das Fürstlich Waldeckische Konsistorium diesen Einspruch, da die Zeit dränge und auch „in anderen Gegenden vielfach Wirtshäuser in der Nähe von Kirchen liegen, ohne, dass sich erheblichere Uebelstände daraus ergeben“.106 Die Plazierung des Hauses an der Ecke wird raffiniert dadurch betont, daß in Sockel und Erdgeschoß die Hausecke abgefast wird, um sie im Obergeschoß wieder hervorkragen zu lassen. Im Erdgeschoß ist die dadurch entstehende schmale Wand mit einem Fenster versehen. Zwei Holzbalken stützen den Vorsprung konsolenartig ab. Das Haus ist über eine kurze Treppe traufseitig von der Straße her zu betreten. Fast die ganze Fläche des Erdgeschosses wird für den Betrieb der Gastwirtschaft verwendet. Links vom Flur schließt sich ein großer Saal an und dahinter liegen die Aborte, die teilweise in einem kurzen Anbau untergebracht sind. Im Obergeschoß (in den Plänen fälschlicherweise als Dachgeschoß bezeichnet) führt ein längsseitig das Haus durchziehender Flur zu den umliegenden Räumen. Dazu gehören fünf Frem- 106 Vgl. Brief vom 6.6.1913 im Kirchenarchiv Hemfurth, IV 5.1.1.1., nicht numeriert. 126 Katalog: Die waldeckischen Dörfer denzimmer, eine weitere Stube und eine Kammer, die vermutlich von den Hausbewohnern als Wohn- und Schlafraum genutzt werden. Das Untergeschoß ist mit fünf Räumen fast vollständig unterkellert. Die Gaststätte ist in späteren Jahren durch eine Mansarde und niedrige Anbauten erweitert worden. Abb. 137: Neu-Bringhausen, Gaststätte. Links: Nordostansicht, rechts: Nordwestansicht. M=1:200. Aus: Familienbesitz. Abb. 138: Neu-Bringhausen, Gaststätte. Links: Grundriß des Erdgeschosses, rechts: Grundriß des Obergeschosses. M=1:200. Aus: Familienbesitz. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 127 Die Schmiede in Neu-Berich Die Schmiede des Dorfes Neu-Berich kann nur bedingt als öffentliches Gebäude bezeichnet werden, da sie sich im Privatbesitz des Schmieds Franke und auf dessen Grundstück befindet. Trotzdem wird sie in diesem Kapitel behandelt: Meyer nennt die Schmiede im Zusammenhang mit den öffentlichen Gebäuden und plaziert sie mit ihnen in der Dorfmitte.107 So brauchen die Dorfbewohner ihre Tiere, Gerätschaften und Wagen nicht weit zur Schmiede zu transportieren, um sie beschlagen, bzw. reparieren zu lassen. Die Schmiede ist wegen der Feuergefahr massiv und in einigem Abstand zum Gehöft Franke errichtet. Sie liegt traufseitig an der Mühlenfeldstraße. Das Satteldach wird um die Hälfte der Gebäudelänge zur Straße hin vorgezogen, sodaß ein mit Holzständern gestütztes Vordach entsteht, unter dem der Schmied, vor Regen geschützt, Tiere beschlagen und große Geräte reparieren kann. Der Hauptraum der Schmiede mit Esse und Amboß ist durch ein rundbogiges, doppelflügeliges Holztor erschlossen. Die Schmiede ist weitgehend unverändert geblieben. Abb. 139: Neu-Berich, Schmiede, Ostansicht. Aus: Meyer 1923, S. 34. 107 Vgl. Meyer 1923, S. 33. 128 Katalog: Die waldeckischen Dörfer 6. Die Gehöfte Zwei Gründe führen dazu, daß die im folgenden besprochenen Gehöfttypen fast alle aus dem Dorf Neu-Berich stammen. Zum ersten sind aus Neu-Asel und Neu-Bringhausen vergleichsweise wenige Bauakten der neu geplanten Gehöfte erhältlich gewesen. Außerdem ist in NeuBerich im Gegensatz zu den anderen beiden Dörfern eine große Varianz an Gehöfttypen entstanden, die in dieser Breite auch Teil der Besprechung werden sollen. Der Hof Seibel in Bringhausen Im Zentrum des Ortes, in südlicher Nachbarschaft der Kirche, ist das Gehöft von Konrad Seibel errichtet. Dieses wird exemplarisch für alle anderen wiederaufgebauten Einhäuser betrachtet, die in gleicher oder sehr ähnlicher Weise strukturiert sind. Es ist eines der aus dem alten Dorf übernommenen quergeteilten Einhäuser, deren Bauplanung auch in den Händen Karl Meyers ruhte. Hier bekommt der Betrachter vor Augen geführt, wie die Häuser im Edertal ehemals aufgebaut waren. Wir haben es nämlich mit einem gestelzten Einhaus zu tun, dessen Erdgeschoß, komplett aus Bruchstein errichtet, als Kellergeschoß bezeichnet wird. Die Obergeschosse und Giebel bestehen aus Fachwerk. Im westlichen Teil des Hauses liegen also obererdig die drei Kellerräume. Rechts daneben sind Schweine- und Kuhstall, am östlichen Ende die Tenne mit großem Tor eingerichtet. Alle Funktionsbereiche sind traufseitig über einzelne Türen betretbar. In Fachwerk und unter einem Pultdach ist an die Rückseite der Tenne ein Aborthäuschen angebaut. Über eine einläufige Treppe erreicht man die Haustür im Obergeschoß, hinter der ein halber Flur mit Treppenhaus angelegt ist. Das Gebäude ist bis auf den Anbau eines Eingangsvorbaus und den Abriß des Zwerchhauses strukturell erhalten geblieben. Abb. 140: Neu-Bringhausen, Hof Seibel. Links: Südansicht, rechts: Westansicht. M= 1:200. Aus: Familienbesitz. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 129 Abb. 141: Neu-Bringhausen, Hof Seibel. Oben: Grundriß des Erd-/Kellergeschosses, unten: Grundriß des ersten Obergeschosses. M=1:200. Aus: Familienbesitz. Hof Peuster in Neu-Berich Das kleinste Gehöft, das von Meyer geplant wurde, ist das quergeteilte Einhaus des Tagelöhners Peuster. Es ist das letzte Gebäude am südlichen Ortseingang und traufseitig zur Straße angeordnet. In einem frühen Grundriß von 1910 legt Meyer den Wohnteil noch nordseitig, die Scheune dagegen südseitig an. In späteren Plänen werden die Funktionsbereiche getauscht, damit der Wohnbereich in der Sonne, die Scheune dagegen auf der kühlen Nordseite zu liegen kommt. Außerdem wird der Grundriß des Gebäudes verkleinert. Über einen schmalen Vorgarten erreicht man einen kurzen Treppenaufgang mit Sitzplatz. Es existiert nur ein Kellerraum für die Vorratslagerung mit einer Kartoffelschütte von außen. Ob ein Abort im oder am Haus vorhanden war, ist heute anhand der Pläne nicht mehr festzustellen. Vermutlich ist er jedoch, wenn es ihn gegeben hat, im oder am Stall angelegt gewesen. Das Gebäude ist durch eine Aufstockung stark verändert worden. 130 Katalog: Die waldeckischen Dörfer Abb. 142: Neu-Berich, Hof Peuster. Links: Westansicht, rechts: Südansicht (Februar 1911). M=1:200. Aus: Familienbesitz. Abb. 143: Neu-Berich, Hof Peuster, Grundriß des Erdgeschosses (Oktober 1910). M= 1:200. Aus: Familienbesitz. Abb. 144: Neu-Berich, Hof Peuster (rechts vorn), dahinter Hof Siebel und links vorn Hof Rabe, Südansicht. Aus: Meyer 1923, S. 36. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 131 Hof Schlüter in Neu-Berich Der Hof der Familie ist ebenfalls als quergeteilter Einfirsthof südlich der Kirche und traufseitig zur Mühlenfelder Straße errichtet. Es ist ein Haus mit Kniestock, dessen südseitige Giebelspitze durch eine Pfannenverkleidung zusätzlich geschützt ist. Diesmal ist jedoch die Küche nicht direkt hinter dem Flur angelegt, sondern links von ihm. Hinter Flur und Küche liegen an der Rückseite des Hauses Kuh- und Schweinestall, die von der Küche aus über einen Futtergang zu erschließen ist. Die Räume im Obergeschoß sind über eine schmale Schleppgaube erhellt, im Keller sind drei Vorratsräume eingerichtet. Auch hier ist in den Plänen kein Abort eigens eingezeichnet. Wie beim Hof Peuster steht jedoch zu vermuten, daß dieser im oder am Stall eingerichtet gewesen. Der Hof ist in späteren Jahren verändert und erweitert worden. Abb. 145: Neu-Berich, Hof Schlüter. Links: Westansicht, rechts: Südansicht. M=1:200. Links aus: Familienbesitz, rechts aus: Meyer 1923, S. 35. 132 Katalog: Die waldeckischen Dörfer Abb. 146: Neu-Berich, Hof Schlüter. Oben: Grundriß des Erdgeschosses, oben: Grundriß des Dachgeschosses. M=1:200. Oben aus: Meyer 1923, S. 35, unten aus: Familienbesitz. Hof Hille in Neu-Asel Direkt am Lindenplatz in Neu-Asel liegt das Gehöft des Adolf Hille. Es ist mit Ausnahme des Gutsgehöfts, das als offener Dreiseithof angelegt wurde, der einzige Winkelhof im Ort. Diese Form des kleinen Winkelhofes ist auch in Neu-Berich dreifach vertreten. Der eingeschossige Wohnbereich ist durch einen Kniestock erhöht, eine Schleppgaube sorgt an der Hofseite für Licht im Dachgeschoß. Der Wohnbereich des Hauses, der nach Süden hin ausgerichtet ist, ist hofseitig über eine kleine Vortreppe mit Sitzplatz zu erreichen. Die Wohnung ist fast vollständig mit vier Räumen unterkellert, das Dachgeschoß enthält nochmals zusätzlich zwei Kammern und einen langen Bodenraum, der als Schüttborden benutzt wird. An den Schweinestall ist ein kleiner Abortanbau angeschlossen, der nur über eine Tür von außen erreichbar ist. Traufseitig zur Lindenplatzstraße läßt sich Bauer Hille zusätzlich einen Schuppen bauen, der als Unterstand für Wagen genutzt wird sowie Raum für Feuerholz bietet. Sein wetterseitiger Giebel ist verbrettert. Der Hof ist im wesentlichen unverändert geblieben. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 133 Abb. 147: Neu-Asel, Hof Hille. Oben: Südansicht, unten: Ostansicht. M=1:200. Aus: Familienbesitz. Abb. 148: Neu-Asel, Hof Hille, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Familienbesitz. 134 Katalog: Die waldeckischen Dörfer Abb. 149: Neu-Asel, Hof Hille, Südostansicht im Jahr 1998. Der Hof Lötzerich in Neu-Berich An der Bericher Straße steht ein weiterer Winkelhof, der auf eine viel größere Landwirtschaft hin angelegt ist und dementsprechend mit großen Stall- und Scheunenanbauten versehen ist. Giebelseitig zur Straße ist das zweigeschossige Wohnhaus plaziert. Daran angebaut ist in einer Flucht ein langgestreckter Stall, an den im rechten Winkel die Scheune stößt. An der Rückseite des Hauses ist, wie bei den großen Gehöften in Neu-Berich üblich, ein Abort angebaut. Vier Kellerräume bieten Aufbewahrungsmöglichkeiten. Das Dachgeschoß wird über eine schmale hofseitige Schleppgaube belichtet, das Giebeldreieck der Westseite ist mit Pfannen vor dem Wetter geschützt. Das Wohnhaus ist von den Stallräumen durch eine hohe Durchfahrt mit zwei Toren getrennt. Die Ställe sind mit Kniestock errichtet und traufseitig über rundbogige Stalltüren erschlossen. Zwischen Stall und Scheune befindet sich eine kurze Remise mit Ein- und Ausfahrtstor. Der Hof ist im wesentlichen unverändert erhalten geblieben. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 135 Abb. 150: Neu-Berich, Hof Lötzerich. Links: Südansicht, rechts: Westansicht. M=1:200. Aus: Familienbesitz. 136 Katalog: Die waldeckischen Dörfer Abb. 151: Neu-Berich, Hof Lötzerich, Grundriß des Erdgeschosses. Ohne Maßstab. Aus: Familienbesitz. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 137 Abb. 152: Neu-Berich, Hof Lötzerich, Wohnhaus, Südansicht im Jahr 1996. Hof Münch in Neu-Berich Am südlichen Ende des Dorfes an der Mühlenfeldstraße ist der Hof Münch als Dreiseithof errichtet. Auch bei ihm sind alle Funktionsbereiche im rechten Winkel aneinandergebaut. Das Wohnhaus steht wieder giebelseitig zur Straße, daran schließt sich unter dem gleichen First der Stall an. Im rechten Winkel dazu ist die Scheune und daran wiederum im rechten Winkel ein Schuppen angebaut. Dadurch schließt sich der Hofraum von drei Seiten. Das Wohnhaus ist, wie bei allen großen Höfen, zweigeschossig, die Giebelspitze verbrettert. Eine doppelläufige Treppe führt zum Hauseingang hinauf. Die Familie kann direkt von der Küche in den Stall gelangen. Das Obergeschoß des Wohngebäudes ist u.a. mit einer Mädchenstube und einer kleinen Fleischkammer versehen. Durch zwei Schleppgauben auf jeder Seite wird das Dach belichtet. Das Untergeschoß ist mit fünf Räumen komplett unterkellert. Das Stallgebäude ist wiederum kniestockartig erhöht und durch mehrere Türen traufseitig erschlossen. Auf der Dachrückseite ermöglicht eine Schleppgaube mit Fenstern und einer Luke die Belichtung des Daches und das Herauftransportieren schwerer Lasten. Im Anschluß an den Stall ist eine hohe Durchfahrt mit großen Holztoren angelegt. Die Hofseite der Scheune besteht aus einer 138 Katalog: Die waldeckischen Dörfer Folge von hohen Einfahrtstoren. Der darauf folgende, zum Hof hin offene Schuppen reicht gerade an die Traufe der Scheune heran. Er besteht aus Fachwerk und durch zwei mittige Holzsäulen abgestützt. Er ist für die Lagerung von Holz, Geräten oder Wagen vorgesehen. Der Hof Münch ist im wesentlichen erhalten geblieben. Abb. 153: Neu-Berich, Hof Münch. Links: Südansicht, rechts: Ostansicht. M=1:200. Zeichnung nach dem Originalplan aus: Hessisches Landesamt für Denkmalpflege, Außenstelle Marburg. Originalplan im Familienbesitz. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 139 Abb. 154: Neu-Berich, Hof Münch, Grundriß des Erdgeschosses. Ohne Maßstab. Aus: Meyer 1923, S. 35. 140 Katalog: Die waldeckischen Dörfer Abb. 155: Neu-Berich, Hof Münch, Südostansicht im Jahr 1996. Hof Zimmermann I in Neu-Berich Der Hof Zimmermann I ist einer von fünf am Ortseingang plazierten Dreiseithöfen, deren einzelne Funktionsbereiche Wohnhaus – Stall – Scheune einen Hofraum umschließen, ohne aneinandergebaut zu sein. Die fünf Höfe sind in Aufbau und Struktur gleich. Das Wohnhaus des Hofes Zimmermann I ist giebelseitig zur Straße ausgerichtet und zweigeschossig. Es trägt, wie auch noch weitere Gebäude im Dorf, ein Schopfwalmdach, wobei zwei Schleppgauben das Dachgeschoß belichten. Wetterseitig ist das Giebeldreieck des Hauses mit Dachpfannen belegt. Hofseitig führt eine doppelläufige Treppe zur Haustür hinauf. Eine rückwärtige Tür führt auf ein offenes Podest und von dort aus zu einem Abortanbau. Das Untergeschoß ist, wie bei den großen Höfen üblich, durch fünf Räume unterkellert. An der Westseite des Hauses überfängt ein niedriger Fachwerkanbau eine Treppe in den Keller. Der Stall ist parallel vom Wohnhaus giebelseitig zur Straße hin angelegt. Auch hier sind, wie beim Hof Lötzerich und weiteren Gehöften, die Türen rundbogig geschlossen. Ein abgeschlepptes Dachhaus belichtet den Dachboden, über eine Luke können Vorräte nach oben transportiert werden. Im rechten Winkel zum Wohnhaus ist die Fachwerkscheune angelegt. Auch sie ist hofseitig erschließbar und enthält je zwei Bansen und Tennen. Zum Haus hin ist sie mit einem niedrigen Anbau mit Pultdach versehen. Dessen unterer Teil ist offene Durchfahrt bzw. Unterstand. Darüber ist der Fruchtspeicher über eine Holztreppe zu erreichen. Der Hof Zimmermann I ist im wesentlichen erhalten geblieben. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 141 Abb. 156: Neu-Berich, Hof Zimmermann I. Links: Südansicht, rechts: Westansicht. M=1:200. Aus: Familienbesitz. Abb. 157: Neu-Berich, Hof Zimmermann I. Oben: Grundriß des Erdgeschosses, unten: Grundriß des Obergeschosses. M=1:200. Aus: Familienbesitz. 142 Katalog: Die waldeckischen Dörfer Abb. 158: Neu-Berich, Hof Zimmermann I, Eingangsbereich von Südwesten im Jahr 1996. Die Brüstungsfelder unter den Fenstern wurden nicht, wie im Plan vorgesehen, mit Rauten, sondern mit Andreaskreuzen gefüllt. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 143 Abb. 159: Neu-Berich, Hof Zimmermann I, Stall. Oben: Nordansicht, unten: Ostansicht. M=1:200. Aus: Familienbesitz. Abb. 160: Neu-Berich, Hof Zimmermann I, Stall, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Familienbesitz. 144 Katalog: Die waldeckischen Dörfer Abb. 161: Neu-Berich, Hof Zimmermann I, Scheune. Oben: Ostansicht, unten: Nordansicht. M=1:200. Aus: Familienbesitz. Abb. 162: Neu-Berich, Hof Zimmermann I, Scheune, Grundriß des Dachgeschosses. M=1:200. Aus: Familienbesitz. Katalog: Die waldeckischen Dörfer 145 Abb. 163: Neu-Berich, Hof Zimmermann II, Wohnhaus, Südansicht im Jahr 1996. Abb. 164: Neu-Berich, Hof Zimmermann II, Nordostansicht mit Abortanbau. Aus: Meyer 1923, S. 36. 146 Katalog: Die waldeckischen Dörfer Abb. 165: Neu-Berich, Hof Heckmann, Eingangsbereich von Südosten im Jahr 1996. 147 IV. Die Ausstellungsdörfer 1. Zur Geschichte der Ausstellungsdörfer Eine Zivilisationsmüdigkeit in hochadeligen Kreisen, nicht zuletzt bedingt durch die Schriften Jean-Jacques Rousseaus, führte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer Aufwertung des scheinbar natürlichen und idyllischen Landlebens. Die Idealisierung des unverderbten Bauerntums spiegelte sich u.a. in den sogenannten Schäferspielen und anderen Maskeraden der oberen Gesellschaftsschichten und mündete in die Mode, rustikale ländliche Gebäude wie Schäfereien, Bauernhäuser oder sogar ganze Dörfer in den Schloßgärten entstehen zu lassen. Dazu gehört z.B. das rustikale Dörfchen im Park von Chantilly nördlich von Paris, das als Vorbild für das Modell-Bauerndörfchen Hameau von Marie Antoinette beim Schloß Petit Trianon bei Versailles diente.1 Während es sich hierbei noch um eine modische Laune handelte, ist rund 100 Jahre später eine andere Form des Umgangs mit Dörfern und Bauernhäusern im Ausstellungskontext zu verzeichnen. Auf der Weltausstellung 1867 in Paris wird der sogenannte „Parc étranger“ errichtet, der alle teilnehmenden Länder einlädt, ein landestypisches Haus aufzubauen.2 Mit der Weltausstellung in Wien 1873 wird eine Serie von „Ethnographischen Dörfern“ eingeleitet, die sich im Prater als eine, zum Teil original nachgebaute, Gruppe von Bauernhäusern aus verschiedenen europäischen Regionen darstellt, so z.B. aus dem Elsaß, aus Siebenbürgern oder aus Rußland.3 Hier steht das Wissen um die ländliche Architektur im Vordergrund: Es geht darum, Häuser aus verschiedenen Regionen in einem zusammenhängenden Ensemble vergleichend betrachten zu können. Auf den folgenden Ausstellungen erhalten solche ethnographischen Ensembles eine immer größere Bedeutung und werden zum Motor für den Publikumserfolg.4 Auf der Pariser Weltausstellung fünf Jahre später wird z.B. im Innenhof des Industriepalastes eine Reihe his- 1 2 3 4 Vgl. dazu Zippelius 1974, S. 26 und Schuberth 1976, S. 96. Hameau heißt Weiler oder Dörfchen. Marie Antoinettes kleines Dorf gruppiert sich um einen Dorfteich und beinhaltet neben verschiedenen, außen rustikal und innen sehr luxuriös gestalteten Häusern auch eine Mühle, einen Taubenschlag und einen Bauernhof. Dieser wurde von einer Bauersfamilie betrieben, die der Königin Eier, Butter, Sahne und Käse lieferten. Vgl. http://www.chateauversailles.fr/fr/123.asp. Vgl. Wörner 2001, S. 78. Die Bauernhäuser sind während der Ausstellung von „eingebornen Insassen“ bewohnt, die ihre angestammte Lebensweise vorführen. Vgl. ebd., S. 78f. Dazu wird eine Sammlung von Baurissen der verschiedenen ländlichen Bautypen der Monarchie ausgestellt, die später als Musterpläne ausgearbeitet werden. Damit kann sich jeder Bauer für einen geplanten Neubau Vorbilder aus seiner Region heraussuchen. Vgl. Meyer 1910, S. 341. Vgl. Wörner 2001, S. 79. Katalog: Ausstellungsdörfer 148 torischer Fassaden aus allen teilnehmenden Staaten errichtet.5 Auf der Kolonialausstellung 1883 in Amsterdam oder auf der Jubiläumsausstellung 1894 in Lemberg wird die Reihe „Ethnographischer Dörfer“ fortgeführt, wobei in erster Linie Kopien in natürlicher Größe nach existierenden Vorbildern, aber auch translozierte Gebäude zur Anschauung kommen.6 Es habe „in den letzten Jahren kaum irgendwo in Deutschland oder im Auslande eine Ausstellung stattgefunden [..], bei der nicht ein mehr oder weniger gut gelungenes Dorf gezeigt wurde“, heißt es in der Publikation zum Neuen Niederrheinischen Dorf auf der Deutschen Werkbund-Ausstellung in Köln 1914.7 Daß solche historischen Dörfer seit 1878 auf fast keiner Ausstellung im Deutschen Reich fehlen und oft mit den Vergnügungsbauten zusammengebracht werden, notiert auch Hans-Gerd Evers.8 Auf großen Jubiläums-, Landes- und sogar Weltausstellungen werden im folgenden meist kleine Dörfer (oder Dorfplätze) präsentiert, um mahnend auf gefährdete bäuerliche Kulturgüter hinzuweisen. Die Architekturen sind dabei in natürlicher Größe gebaut und eingerichtet oder werden als Ausstellungsräume genutzt. Bedeutsam ist der nationalromantische Wille, das eigene Land durch Kultur und Volkskunst, Brauchtum und Küche vorzustellen. Hier soll jedoch ein idyllisch-verklärendes Bild vom Landleben gezeichnet werden und eben kein realer Ausschnitt bäuerlichen Lebens. Die Dörfer sind dadurch, wie Wörner beschreibt, die materialisierte Form des Fortschrittspessimismus und eine Kompensation des fortschreitenden Wandels in der Gesellschaft.9 Der starke Gegenwarts- und Zukunftsbezug auf den Ausstellungen wird so durch einen malerisch-naiven Blick in eine interpretierte Vergangenheit – einem „Erholungsort mit Lerneffekt“ – kontrastiert. Die häufige Verbindung der Dörfer mit den Vergnügungsorten der Ausstellungen verdeutlicht den Willen, neben dem wissenschaftlichen Anspruch der Anlagen den Besuchern auch Exotik, Zerstreuung und Konsum anzubieten. Als Beispiel dafür sei das „Deutsche Dorf“ auf der Columbischen Weltausstellung in Chicago im Jahre 1893 genannt. Es wird von der Deutsch-Ethnographischen Gesellschaft in Berlin aufgebaut und bildet mit anderen Dörfern aus den verschiedensten Ländern einen Teil der sogenannten „Midway Plaisance“, dem Erholungs- und Unterhaltungsareal der Ausstel- 5 6 7 8 9 Vgl. Cramer/Gutschow 1984, S. 11. Vgl. Zippelius 1974, S. 25. Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 4. Vgl. Evers 1967, S. 37. Vgl. zu den ethnographischen Dörfern auf Welt- und Landesausstellungen Wörner 1999, S. 49-144. Schon auf der Weltausstellung in Paris 1867 werden, wenn auch unsystematisch, Gebäude mit national geprägten Architekturelementen gezeigt. In Wien 1873 stellen zwei Ausstellungsgruppen Bürger- und Bauernhäuser im internationalen Vergleich dar. Ebd., S. 57. Vgl. Wörner 1999, S. 118. Katalog: Ausstellungsdörfer 149 lung.10 Das Dorf besteht aus einer Wasserburg mit Wassergraben in „malerischem Gepräge“11 und einem hessischen Rathaus aus Fachwerk „im bürgerlichen Renaissancestyl“12. Dazu kommen ein Spreewaldhaus, ein niedersächsisches Haus, ein Schwarzwald- und ein oberbayerisches Haus. Alle Gebäude mit Ausnahme des Untergeschosses der Wasserburg (aus massivem Mauerwerk) sind aus Holz gefertigt, wobei die Bauernhäuser „sämmtlich bis in die kleinsten Details dem Stilcharakter der Originalbauwerke angepaßt“ sind.13 Ein Konzert- und Biergarten mit Blasmusik sorgen dabei für den großen Publikumserfolg des Dorfes. Um die Jahrhundertwende wandelt sich diese Ausstellungspraxis historischer Dorfanlagen, denn die wachsende Kritik an der gründerzeitlichen Architektur und die Suche nach neuen Bautypen für Klein- und Arbeiterhäuser fordert die Schau von dezidiert modernen Bauten auf Ausstellungen geradezu heraus. Damit entsteht auch eine neuartige Form der Präsentation: Die Architekturen werden nicht mehr nur als ephemere Kulissen behandelt, sondern in massiver Bauart und mit vollständiger Einrichtung aufgebaut. Ihre bloße Abbildfunktion wird dadurch aufgehoben – Gebautes und Ausgestelltes wird eins. Bereits im Jahre 1900 wird auf der Deutschen Bauausstellung in Dresden von dem Landbau-Architekten Ernst Kühn aus Dresden ein Mustergehöft errichtet, vollständig eingerichtet und landwirtschaftlich betrieben.14 Ein Jahr später präsentiert die Ausstellung „Ein Dokument Deutscher Kunst“ auf der Mathildenhöhe in Darmstadt erstmals eine ganze Kolonie in Originalgröße, die sich demonstrativ der Architektur eines modernen Zeitalters verschreibt. Wie neu diese Idee kurz nach der Jahrhundertwende noch ist, veranschaulicht ein enthusiastischer Vorbericht: „Es handelt sich hier um eine Ausstellung fertiger Häuser, nicht gemalt oder in diminutiv, nicht fragmentarisch, nein, um komplete Häuser in Gottes freier Natur, richtige Häuser, fix und fertig eingerichtet vom Keller bis zum Speicher mit allem Zubehör, alles modern, kein Quadratcentimeter unbenutzt, bis auf das Kleinste, bis zum Stuhl und dem Geschirr, auf dem es serviert wird, alles künstlerisch durchdacht, neuzeitlich durchgeführt.“ 10 11 12 13 14 Vgl. zum Deutschen Dorf Witt 1893, S. 238 und Wermuth 1894, Bd. 1, S. 224-231. Wermuth 1894, Bd. 1, S. 226 und 230. Die Wasserburg soll sich an Vorbilder der Lahn-, Rhein- und Moselgegend aus der Zeit des 15. bis 17. Jahrhunderts anlehnen. Die Kombination eines Dorfes mit einer Wasserburg verdeutlicht, daß den v.a. amerikanischen Besuchern ein wildromantisches Bild aus deutschen Ritterszeiten präsentiert werden sollte. Witt 1893, S. 238. Im Rathaus finden Ausstellungen zur Entwicklung der deutschen "Prähistorie" sowie zur deutschen Volkskunde statt. Wermuth 1894, Bd. 1, S. 231. Das Mustergehöft geht als Siegerentwurf aus einem Wettbewerb hervor, der bereits im Jahre 1897 vom Sächsischen Innenministerium ausgelobt wurde. Vgl. dazu Sohnrey 1905, S. 166 sowie auch mit Abbildungen Kühn, Bd. 2, 1915, S. 19-27. An dieser Stelle wird auch das Mustergut auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden 1911, ebenfalls von Ernst Kühn, präsentiert. Die Publikation: Das landwirtschaftliche Mustergehöft auf der Deutschen Bau-Ausstellung Dresden 1900, Dresden 1900 weist in vielen Abbildungen auf den Siegerentwurf sowie die anderen Entwürfe hin. Katalog: Ausstellungsdörfer 150 Aber dabei bleibt es nicht, wie der Autor erkennt: „Es wird eine ganze kleine moderne Stadt entstehen mit harmonisch verbindenden Saiten und dem Arbeitsheim, dem Ernst-LudwigsHause, als Mittelpunkt.“15 Die Häuser werden demnach nicht nur als Solitäre nebeneinander gestellt, sondern in räumliche Beziehung zueinander gesetzt. Joseph Maria Olbrich entwickelt den Gesamtplan der Künstlerkolonie, die v.a. aus den Wohnhäusern der Künstler besteht – streng achsensymmetrisch auf das Ateliergebäude ausgerichtet. Das Ensemble drückt damit die Idee „Künstlerkolonie“ in vollkommener Weise aus. Erstmals werden hier Architektur, Städtebau und Umgebung zum Zwecke einer übergreifenden Idee miteinander verbunden.16 Die Deutsche Kunstgewerbe-Ausstellung in Dresden 1906 stellt unter der Rubrik „Gebäude für Arbeiterwohlfahrt“ verschiedene Arbeiterwohnhaustypen (u.a. von Max Taut) vor und gruppiert diese ebenfalls im Ensemble. Sie werden rund um einen im Plan so genannten Dorfplatz mit Dorfbrunnen angelegt. Eine Dorfschule von Ernst Kühn aus Dresden und ein „Vierländer-Haus“ vervollständigen das Ensemble. Obwohl also dezidiert moderne Bautypen gezeigt werden, rekurrieren die Ausstellungsmacher in der Zueinanderstellung der Gebäude bewußt auf dörfliche Siedlungsmuster und verdeutlichen damit, daß auch traditionelle dörfliche Strukturen Vorbilder für moderne Siedlungen sein können.17 Es ist nicht verwunderlich, daß auch die Innere Kolonisation ihre Erfolge in einem Ausstellungsdorf präsentiert. Auf der Ostdeutschen Ausstellung für Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft im Jahre 1911 in Posen wird ein Kleinsiedelungsdorf für Arbeiter gezeigt, das von den Kleinsiedlungsgenossenschaften und Vereinen initiiert wird, die neben der staatlichen Ansiedlungskommission für die Innere Kolonisation tätig sind.18 Der Architekt des Dorfes ist der renommierte Landbau-Architekt Paul Fischer aus Posen, der sich mit Planungen für die 15 16 17 18 Bericht: Ein Dokument deutscher Kunst: Die Ausstellung der Künstlerkolonie Darmstadt 1901. Anregung, Vorarbeiten, Finanzierung. Darmstadt 1901, ohne Seitenangaben. Sieben Jahre später wird in Darmstadt auf der Hessischen Landesausstellung für Freie und Angewandte Kunst durch in Originalgröße aufgeführte Bauten ein Schwerpunkt auf die sogenannte „Kleinwohnungskunst“ gelegt. Dieser Ausstellungsbereich wird sogar als „Kleinwohnungskolonie“ bezeichnet, die sich „in schöner Gruppierung“, von Gartenanlagen umgeben, präsentiere. „Der malerische Effekt wird erhöht durch einen im Mittelpunkte der Kolonie [...] errichteten Dorfbrunnen.“ Hier also macht sich die Tendenz bemerkbar, die gezeigten Einzelhäuser zu einem quasi-dörflichen Ensemble zu vereinigen. Vgl. zur Ausstellung den Illustrierten Katalog der Hessischen Landesausstellung für Freie und Angewandte Kunst Darmstadt 1908, Darmstadt 1908 und zur Bezeichnung „Kleinwohnungskolonie“ Streele, Max: Durch die Hessische Landes-Ausstellung Darmstadt 1908. Kritische Betrachtungen und Erläuterungen. Darmstadt 1908, S. 182. Vgl. Das Deutsche Kunstgewerbe 1906. III. Deutsche Kunstgewerbe-Ausstellung Dresden 1906. Mit Beiträgen von Fritz Schumacher, Hans Pölzig, Cornelius Gurlitt u.a. Hg. vom Direktorium der Ausstellung. München 1906. Diese entstanden nach dem Erlaß der preußischen Rentengutsgesetze vom Jahre 1890 und 1891, um die Innere Kolonisation weiter fortzutreiben Hier sei z.B. auf die Deutsche Ansiedlungsgesellschaft seit 1898 und die Pommersche Ansiedlungsgesellschaft seit 1903 hingewiesen. Vgl. dazu: Zehn Jahre Siedlungstätigkeit der Landgesellschaft Eigene Scholle (1.7.1910-30.6.1920). Frankfurt/O. 1920, S. 2. Katalog: Ausstellungsdörfer 151 Innere Kolonisation und v.a. mit dem Bau des Musterdorfes Golenhofen einen Namen gemacht hat. Inmitten des Ausstellungsareals liegt das Dorf und präsentiert in seinen Gebäuden Ausstellungen verschiedener Arbeiterwohnungsvereine und Genossenschaften. Die Gebäude selbst sollen Vorbilder für die zweckmäßige Bauart von Kleinsiedlungsstätten und gegen den „öden Schematismus“ vieler Arbeiterkolonien der Provinz Posen bilden.19 Um einen rechteckigen Dorfplatz gruppieren sich eine kleine Kirche, ein Schulhaus, ein Reformkrug (Gaststätte ohne Alkoholausschank), eine offene Halle und acht Arbeiterwohnhäuser. Um als „Musterkarte“ abwechselnder Bauart zu dienen, werden die Häuser aus unterschiedlichen Materialien (z.B. in Ziegelrohbau, Putzbau oder Fachwerk mit Lehmdrahtmassivbau) errichtet. Die Giebel bestehen aus Fachwerk oder sind mit Brettern oder Dachziegeln bekleidet. Ziel ist, zu zeigen, daß die größte gestalterische Einfachheit der Bauten „mit Schönheit identisch ist“.20 Nicht jedoch der einzelne Bau, sondern erst der Bebauungsplan verleihe der Kolonie ihren künstlerischen Charakter. Das Kleinsiedelungsdorf solle zeigen, daß es nicht darauf ankommen könne, eine Zahl von Arbeiterhäusern schematisch aneinander zu reihen oder über die Feldmark zu verstreuen, sondern diese in die Nähe der für das Gemeindeleben wichtigen Bauten zu stellen und die Anlage als künstlerisches und einheitliches Ganzes aufzufassen.21 Ein anschauliches Beispiel für die Kontinuität und ideengeschichtliche Entwicklung von Dörfern auf prominenten Ausstellungen liefert die Schweiz – denn auf jeder Landesausstellung bis 1939 wird ein sogenanntes „Dörfli“ gezeigt.22 Das „Dörfli“ auf der Genfer Landesausstellung von 1896 steht noch ganz in der Tradition der Festspielarchitektur des 19. Jahrhunderts, denn es hat noch nicht den Anspruch, materialgerecht gebaut zu sein. Stattdessen besteht es aus einer illusionistischen Sperrholz- und Pappmachée-Konstruktion. Berge, Fassaden und sogar ein Dorfbach sind aus künstlichen Materialien hergestellt, während Schweizer Bauten aus den verschiedensten Regionen des Landes zumindest detailgetreu rekonstruiert werden, um u.a. als Kulisse für in originaler Kostümierung 19 20 21 22 Vgl. Die Ostdeutsche Ausstellung für Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft Posen 1911, Posen 1913, Anhang, S. 130. Vgl. zum Kleinsiedelungsdorf mit vier Abbildungen ebd., S. 129-131. Ein Plan der Ausstellung findet sich im Offiziellen Katalog der Ostdeutschen Ausstellung für Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft Posen 1911. Posen 1911. Die Ostdeutsche Ausstellung für Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft Posen 1911, Posen 1913, Anhang, S. 131. Vgl. ebd., S. 129 und 131. Vgl. Meili 1982, S. 205. Wie in Deutschland liegen auch hier die Wurzeln schon im 18. Jahrhundert. Gerade das sogenannte „Schweizerhaus“ war z.B. als Staffage spätbarocker Parks beliebt und schmückte seit 1776 u.a. den Park von Hohenheim von Herzog Karl Eugen. Als „Dörfle“ wurde diese Baugruppe schon damals bezeichnet. Sie stellte eine kleine Version des Versailler „hameau“ dar. Katalog: Ausstellungsdörfer 152 gefeierte Feste zu dienen.23 Der durchschlagende Erfolg des „Dörflis“ wird 1914 bereits ganz anders beurteilt. Arist Rollier, einer der Begründer des Schweizerischen Heimatschutzes,24 beschimpft es als „kulissenhafte Zusammenstoppelung von ländlichen Haustypen aus allen möglichen Kantonen der Schweiz, [...] von Stadthäusern im halben Massstab, des Wirtshauses [...] an einem Froschteich, zahmer Bergbäche und eines Gebirges aus Pappe mit zeitlich regulierbarem Wasserfall“.25 Auf der Berner Landesausstellung im gleichen Jahre wird dagegen ein Dorf präsentiert, das dieser „reizenden Theaterwelt“26 ein ausdrücklich neuzeitliches Dorf entgegensetzt – massiv gebaut und aus modernen Architekturformen gebildet. Der Heimatschutzarchitekt Karl InderMühle konzipiert die Anlage mit den Worten, sie solle „ernsten Zielen dienen und ein Stück angewandter Ausstellung sein“, nicht ohne jedoch „in freundlichem, heiterem Bilde zur Schau gebracht“ zu werden.27 Proportionen und Formensprache der Gebäude erinnern laut Meili an bernische Bauernhäuser, während ihre Details Jugendstilelemente zeigen.28 Das Dorf besteht aus einem Gehöft, in dem landwirtschaftliche Einrichtungen und eine Viehausstellung zu betrachten sind. Vorbei an einem Reiseandenkenbazar und den Werkstätten für Heimkunst erreicht man hinter einen Bogengang den eigentlichen Dorfplatz. Dieser wird von dem Wirtshaus „Zum Röseligarten“, einem Pavillon für die Ausstellung des Kirchenwesens und der Kirche selbst begrenzt. Der Kirche ist ein Kreuzgang vorgelegt, von dem aus man den benachbarten Friedhof erreicht. Etwa zur gleichen Zeit wird für Berlin eine Ausstellung namens „Das deutsche Dorf. Eine Ausstellung für Land- und Vorstadtsiedelung“ vorbereitet, die – bedingt durch den Beginn des Ersten Weltkrieges – nie ausgeführt worden ist. Johannes Altenrath von der Zentralstelle für Volkswohlfahrt, begründet die Bedeutsamkeit einer solchen Ausstellung mit den Worten: „Durch ganz Deutschland geht heute eine immer mächtiger anschwellende Bewegung, die darauf gerichtet ist, in einer natürlicheren Siedlungsweise, die die Einheit und Abgeschlossenheit der Familie, den Zusammenhang mit der Natur, eine gesunde Bevölkerungsverteilung zwischen Stadt und Land zur Geltung bringt, die Grundlagen wiederzufinden, die für ein geistig und körperlich gesundes, sittlich hochstrebendes Geschlecht unumgängliche Bedingung sind.“29 23 24 25 26 27 28 29 Vgl. Meili 1982, S. 210. Vgl. Meili 1982, S. 210f. Zum Heimatschutz in der Schweiz vgl. Le Dinh, Diana: Le Heimatschutz, une ligue pour la beauté. Esthétique et conscience culturelle au début du siècle en Suisse. Lausanne 1992. Rollier, Arist: Das Dörfli an der Landesausstellung. Heimatschutz (Schweiz) 9.1914, H. 9, S. 141. Vgl. ebd., S. 143. Ebd., S. 144f. Hier sind von S. 141-155 viele Vorstudien, Zeichnungen und Fotos zu sehen. Ein guter Gesamtplan der Ausstellung findet sich bei Castellani Zahir 1997, S. 235. Vgl. Meili 1982, S. 211. Altenrath, Johannes: Das deutsche Dorf. Eine Ausstellung für Land- und Vorstadtsiedelung. In: Die Bauberatung, Beilage zur Bauwelt Nr. 5, 15.05.1913, S. 26. Die ursprüngliche Anregung zu der Ausstellung geht von Landrat von Reumont in Erkelenz aus, der im Rheinischen Verein für Denkmalpflege und Heimatschutz wirkt. Der Verfasser arbeitet zusammen mit dem Geheimrat Theodor Goecke und dem Architekten Wagner die vorliegende Darstellung aus, auf Grund derer die Idee für die Ausstellung vom Haupt- Katalog: Ausstellungsdörfer 153 Die Ausstellung soll ein Gegenstück zu den Städtebauausstellungen (z.B. der Berliner Städtebauausstellung von 1910) bilden und das dabei vernachlässigte Kleinsiedlungswesen als geschlossenes Problem systematisch – d.h. in wirtschaftlicher, hygienischer, rechtlicher, technischer und ästhetischer Hinsicht – zur Darstellung bringen. Dazu wird das Bodenproblem, die Innere Kolonisation, die Ansiedlung von Land- und Industriearbeitern und die Dezentralisation der Industrie gezählt. Weiterhin sind Heimatschutz und Denkmalpflege, die Gartenstadtbewegung, die gemeinnützige Bautätigkeit, Bauordnungs- und Bauplanwesen und Kreditwesen, „kurz alles, was mit diesen Dingen in einem wesentlichen Zusammenhang steht“ berücksichtigt.30 Ziel der Entwicklung ist „die Erhaltung der Schönheit und die zweckmäßige Weiterbildung des deutschen Dorfes sowie die Herbeiführung eines weiträumigen Wohn- und Siedlungswesens für einen möglichst großen Teil auch der gewerblichen Bevölkerung“.31 Die Vielfalt der Themen soll durch Pläne und graphische Darstellungen, aber auch Fotographien und Modelle präsentiert werden. Interessanterweise strebt auch diese Ausstellung „sowohl um des äußeren Eindruckes als auch um der Anschaulichkeit willen“ an, eine Anzahl von Haustypen in Originalgröße aufzubauen – „selbstverständlich in kleineren geschlossenen und künstlerisch aufgebauten Siedlungen“ und zum Teil mit Inneneinrichtung versehen. Eine Ausstellung mit dem Anspruch, in umfassender Weise und mit vielfältigen Herangehensweisen die „Land- und Vorstadtsiedlung“ zu bearbeiten, macht nicht nur allzu deutlich, wie präsent das Thema vor dem Ersten Weltkrieg ist, sondern auch, für wie brisant es für die sozialpolitische Weiterentwicklung Deutschlands gesehen wird. 2. Bauausstellungen im frühen 20. Jahrhundert Im frühen 20. Jahrhundert werden große internationale Überblicks- oder Weltausstellungen, wie sie noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblich sind, zusehends abgeschafft, da sie nicht mehr in der Lage sind, das Universalwissen der Zeit in adäquatem Umfang zu präsentieren. Zudem drohen sie in pure nationale Repräsentation auszuarten, statt die Völker durch ihre wirtschaftlichen Interessen zu verbinden, da nach 1900 der Welthandel eine selbstverständliche Errungenschaft geworden war.32 Stattdessen werden vermehrt Fach- und Spezialausstellungen konzipiert, die sich einen begrenzten Bereich des Wirtschaftslebens heraus- 30 31 ausschuß für Bauberatung in der Zentralstelle positiv aufgenommen wird. Vgl. ebd., S. 26. Der Verfasser geht davon aus, daß die Werkbund-Ausstellung in Köln „die Zugkraft des Gedankens erkannt“ und sich ihn im Neuen Niederrheinischen Dorf „in beschränkten Umfange“ zu eigen gemacht habe. Ebd., S. 26f. Ebd., S. 25f. Ebd., S. 27. Katalog: Ausstellungsdörfer 154 greifen, um ihn in größtmöglicher Vollständigkeit zu behandeln.33 Bauausstellungen sind solche Spezialschauen, die einen Querschnitt durch das aktuelle Baugeschehen liefern und damit wichtige Punkte der Architekturgeschichte markieren.34 Mit der Ausstellung „Ein Dokument Deutscher Kunst“ auf der Mathildenhöhe in Darmstadt wird 1901 erstmals eine dezidiert moderne Architektur vorgeführt, die sich bewußt und demonstrativ gegen die eklektizistische Architektur des späten 19. Jahrhunderts wendet. Damit schafft sich eine neue Architekturform ein adäquates Ausdrucksmittel: die Bauausstellung.35 Diese zeigt nicht nur Bauteile und pläne, sondern vor allem Bauten, die in natürlicher Größe errichtet und entsprechend ihrer Funktion eingerichtet sind.36 Sie haben den Anspruch, mustergültig und für die Besucher zugänglich zu sein. Der Schwerpunkt liegt auf der zusammenfassenden Präsentation der Leistungen auf dem Gebiet des gegenwärtigen Baugeschehens mit Ausblicken auf zukünftige Entwicklungen. Die Auseinandersetzung mit historischen Bauten oder Städten findet jedoch durch Pläne, Modelle, „Nachbauten“ (siehe z.B. die Anlage von „Alt-Leipzig“ auf der Internationalen Baufachausstellung in Leipzig 1913) statt, was eine Hinwendung zu denkmalpflegerischen Belangen verdeutlicht. 3. Die Dorfanlage auf der Internationalen Baufach-Ausstellung in Leipzig 1913 3.1. Zur Geschichte des Dorfes Ein „umfassendes Bild des gesamten Bau- und Wohnwesens sowohl in seiner wissenschaftlich-technischen und künstlerischen, wie auch sozialen und wirtschaftlichen Bedeutung den weitesten Volkskreisen vorzuführen“37 ist das Ziel der Internationalen Baufach-Ausstellung in Leipzig, die vom 3. Mai bis 31. Oktober 191338 (zur gleichen Zeit wie die Einweihung des Völkerschlachtdenkmals und der Fertigstellung der ersten Hälfte des Leipziger Hauptbahnhofs) ihre Pforten öffnet. Das oben zitierte Ziel läßt ahnen, welch umfangreiches Programm der Leipziger Baufachausstellung trotz ihrer fachlichen Begrenzung zugrunde liegt. In acht 32 33 34 35 36 37 Vgl. Beutler 1973, S. X. Die letzte richtige Weltausstellung findet laut Beutler im Jahre 1900 in Paris statt. Vgl. Pfeiffer 1913, S. 3-4 und Hellmuth 1997, S. 8. Hellmuth bezeichnet besonders die Internationale Hygiene-Ausstellung in Dresden 1911, die Internationale Baufach-Ausstellung (im folgenden nur noch IBA genannt) in Leipzig 1913 und die Werkbundausstellung in Köln 1914 als neue Typen der speziellen Fachausstellung, die trotz großem repräsentativem Anspruch besonderen Wert auf Inhalte und deren didaktische Vermittlung legen. Vgl. Cramer/Gutschow 1984, S. 7. Vgl. ebd. Der Schwerpunkt der Ausstellungen gilt jetzt Arbeiterwohnung und Kleinhaus, deren Bau als drängendes Problem der Zeit begriffen wird. Ebd., S. 39. Im gleichen Jahr wie die Darmstädter Ausstellung wird das erste historische Freilichtmuseum in Lyngby bei Kopenhagen eröffnet. Nach dem Beispiel des Vorläufers Skansen bei Stockholm von 1891 wird hier die ländliche Bauweise und Kultur durch und in translozierten Bauernhäusern präsentiert. Das erste deutsche Freilichtmuseum entsteht im Jahre 1909 in der Nähe von Königsberg. Vgl. ebd., S. 10f. Vgl. Herzog 1917, S. 5. Katalog: Ausstellungsdörfer 155 Abteilungen mit zahlreichen Untergruppen und Sonderausstellungen werden Baukunst, Bauliteratur, Baustoffe, Maschinen und Werkzeuge, Grundstücksverkehr und Versicherungswesen, Bauhygiene, Turn-, Spiel- und Sportwesen sowie Baustoff-Prüfung und fachliche Vorführungen untergebracht, wobei sicherlich jede einzelne Gruppe in ihrer Vielgestaltigkeit eine eigene Ausstellung zu füllen vermocht hätte. Dieser ganzheitliche Anspruch der Ausstellung, die als Leistungsschau konzipiert ist und als solche auch auf die drängenden Probleme der Zeit antworten will, wird durch die wissenschaftliche Verklammerung aller Ausstellungsbereiche – eine Grundforderung der Organisatoren – realisiert: Die didaktische Vermittlung des Programms sowohl an die Fachbesucher wie auch besonders an ein breites Laienpublikum soll damit sichergestellt werden.39 Beteiligt an den ausgeführten Ausstellungsbauten sind u.a. die Architekten Wilhelm Kreis, Bruno Taut, Franz Hoffmann, Max Taut, Friedrich Seesselberg. Als Ausstellungsgelände wird ein 400.000 Quadratmeter großes unbebautes Areal südöstlich der Leipziger Altstadt gewählt. Im Jahre 1911 wird ein Ideenwettbewerb zur Ausgestaltung des Ausstellungsgeländes und zur Lage der Hauptgebäude ausgerufen. Gewinner des ersten Preises sind die Königlichen Bauräte Georg Weidenbach und Richard Tschammer.40 Nordwestlich der das Gelände kreuzenden Leipzig-Hofer Verbindungsbahn sind die großen Ausstellungsgebäude, südöstlich davon der Vergnügungsteil sowie die Landwirtschaftliche Sonderausstellung angeordnet. Im rechten Winkel zur Bahn teilt die Straße des 18. Oktober das Gelände, an deren nördlichem Ende der Haupteingang, an deren südlichem Ende, schon außerhalb des Areals, das Völkerschlachtdenkmal plaziert ist. Die Ausstellung mißt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den „ländlichen Siedlungen“ große Bedeutung bei: „Die Ansiedlungen in der Nähe der Großstädte und auf dem Lande, Gartenvorstädte und Gartenstädte, Rentengutsanlagen, interessante Kleinstadt- und Dorfanlagen, sowie die erfolgreiche Tätigkeit der Heimatschutz- und Volkskunstvereine in Deutschland [...], werden in der Ausstellung auch ihren Platz beanspruchen.“41 38 39 40 41 Vgl. ebd., S. 21 und 35. Allein in der Abteilung I: Baukunst sind Städtebau und Siedlungswesen, Tiefbau, Hochbau, Raumkunst, Kunstgewerbe, Wohnungswesen, Architektur, Malerei, Bildnerei, Garten- und Parkanlagen, Friedhöfe und Friedhofskunst, Denkmalbau, Denkmalpflege und Heimatschutz enthalten. Vgl. zum vollständigen Ausstellungsprogramm Herzog 1917, S. 46. Zur Aufgabenstellung und Zielsetzung der IBA vgl. die Dissertation Anette Hellmuths sowie die in diesem Kapitel genannte Quellenliteratur. Vgl. Herzog 1917, S. 9. Vgl. Pfeiffer 1913, S. 7. 156 Katalog: Ausstellungsdörfer Abb. 166: IBA, Ausstellungsareal, Vorentwurf von 1912. Rechts oben die Gartenstadt Leipzig-Marienbrunn, das IBA-Dorf (hellrot) zeigt noch nicht den endgültigen Grundriß. Ohne Maßstab. Aus: Pfeiffer 1913, S. 10f. Einen Teil dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung bildet die Sonderausstellung „Siedlungsgeschichte“, die sich mit der Entwicklung des ländlichen und städtischen Siedlungswesens der Kulturvölker Europas von vorgeschichtlicher Zeit bis zur Gegenwart beschäftigt.42 In der Gruppe „Städtebau, Siedelungswesen und Wohnwesen“ wird unter der Leitung von Re 42 Ebd., S. 107f. Die Abteilung wird unter der Leitung von Professor Dr. R. Kötzschke, Direktor des Seminars für Landesgeschichte und Siedelungskunde an der Universität Leipzig konzipiert. Katalog: Ausstellungsdörfer 157 gierungsbaumeister Gustav Langen nochmals ein Schwerpunkt auf ländliches Siedlungswesen gelegt, denn neben dem Städtebau soll immer stärker auch eine „planmäßige Behandlung der ländlichen Gebiete nach gesundheitlicher und künstlerischer Hinsicht“43 erfolgen. Im Zentrum steht wiederum das „deutsche Dorf“ mit einer Untersuchung seiner verschiedenen landschaftlichen Umgebungen und seiner regionaltypischen Grundrisse. Der anschaulichste Teil dieses wissenschaftlichen Schwerpunkts ist aber in der offiziell so genannten „Dorfanlage mit Beispielgehöft“44 zu suchen, die von dem Leipziger Architekten Raymund Brachmann als Teil der landwirtschaftlichen Sonderausstellung und des Vergnügungsbereichs errichtet und nach dem Ende der Ausstellung wieder entfernt wird.45 3.2. Die Dorfanlage „Überall repräsentieren die Dörfer, mehr wie ihre großen Schwestern die Städte, Stammeseigenart, Charakter, Herkommen und Sitte. Die Stadt, in der alles Mögliche zusammengeworfen wird, nivelliert und verwischt, das sprödere Land erhält. All dieses in seiner Eigenart zu zeigen hat die Internationale Baufach-Ausstellung veranlaßt, eine vollkommene Dorfanlage auszustellen, die das ganze ländliche Treiben den Besuchern vor Augen führen, ja sie sogar an diesem teilnehmen lassen soll“46: Der Architekt Raymund Brachmann selbst sowie viele andere Autoren nennen die offiziell so genannte „Dorfanlage“ verniedlichend das „Dörfchen“47, während diese in der Presse immer wieder mit den Zusätzen „Sächsisches Dorf“, „Thüringisches Dorf“48 oder einer Verbindung von beidem belegt wird. Bereits im Jahre 1897 wird auf der Sächsisch-Thüringischen Gewerbeausstellung in Leipzig ein ‘Thüringer Dörfchen’ gezeigt.49 Obgleich Dorfgrundriß und Gebäudeanordnung denen der Ausstellung von 1913 sehr ähneln, verfolgt man mit dieser Anlage andere Interessen: Aus nachgebauten sowie translozierten Gebäuden (Bauernhäusern, Kirche, Schmiede, Gutshof etc.) des Thüringer Landes soll ein „gemütlicher, anheimelnder Winkel“ geschaffen werden, in dem die Interpretation eines historischen thüringischen Dorfes entsteht.50 Der „Officielle Führer“ beschreibt das Dorf bezeichnenderweise als „liebliche Idylle“ und „ge- 43 44 45 46 47 48 49 50 Ebd., S. 117. Herzog 1917, S. 266. StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 77, Bl. 221. Leipziger Neue Nachrichten Nr. 112 vom 24.2.1913. In: StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 50. Vgl. StdA Leipzig, Bauakte 6334: IBA, „Dörfchen“, Bl. 122. Vgl. z.B.: Die Bauten der IBA Leipzig 1913, S. 135; Deutsche Kunstausstellungen 1913. Hg. von Hans W. Loose. Leipzig 1913, S. 14 oder: Leipziger Neue Nachrichten Nr. 338 v. 5. 12. 1912 und Nr. 344 vom 11. 12. 1912. In: StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 23f. Vgl. Officieller Führer 1897, S. 81-88. Vgl. ebd., S. 82. Katalog: Ausstellungsdörfer 158 mütlichen, anheimelnden Winkel“ und spricht von seiner „natürlichen Frische und Einfachheit“.51 Die Dorfanlage der IBA von 1913 dagegen ist, so der Architekt Raymund Brachmann52, gedacht als neuzeitliche Dorferweiterung im Anschluß an ein vorhandenes sächsisch-thüringisches Dorf, um „beizutragen, daß das Land, ‘unsere Mutter’, neu verjüngt und verschönt werde... .“53 Die Dorfbauten sollen auch die Architekten anregen, sich mehr mit der baukünstlerischen Seite des landwirtschaftlichen Bauwesens zu befassen. Auf Zweckmäßigkeit und Billigkeit wird daher besonders geachtet: „Der neuzeitliche landwirtschaftliche Betrieb aber, der den mannigfachsten Veränderungen unterworfen ist, bedingt eine billigere Bauweise, die sich den jeweiligen Verhältnissen leichter anzupassen und die in den Gebäuden angelegten Werte in kurzer Zeit zu tilgen vermag.“54 Für seinen Entwurf des „Dörfchens“ auf der IBA Leipzig erhält er den Sächsischen Staatspreis der Baufachausstellung 1913.55 Die Bauten führt die Firma Alfred Klingler aus Leipzig aus. Das Dorf wird im östlichen Teil des Ausstellungsgeländes im Dreieck zwischen der Leipzig-Hofer Verbindungsbahn im Norden, der Straße des 18. Oktober im Westen und der Friedhofsallee im Südosten gebaut. Zu betreten ist es nur von der Straße des 18. Oktober, alle anderen Wege enden am Ausstellungszaun. Getrennt von den anderen Gebäuden der Ausstellung ist es in gärtnerische Anlagen eingebettet. Das Dorf fügt sich geschickt in sein dreieckiges Areal ein, indem der Anger in dessen Zentrum liegt und das vierseitige Mustergehöft in die südliche, der Friedhof in die nördliche Spitze des Dreiecks eingepaßt sind. 51 52 53 54 Vgl. ebd., S. 81-88. Das Dorf als Teil des Vergnügungsbereiches der Ausstellung ist auch hier beabsichtigt: Neben einem Tanzpodium gibt es Thüringer Rostbratwürste sowie verschiedene Wein- und Biersorten in den Dorfschänken zu erwerben. Geboren wird der Architekt Raymund Brachmann am 07.06.1872 in Leipzig und ist dort zeit seines Lebens tätig. Er studiert an der Technischen Hochschule in Dresden, reist zu Studienzwecken durch Amerika und Europa und ist Mitglied im Deutschen Werkbund. Vgl. Denkmaltopographie der Bundesrepublik Deutschland. Denkmale in Sachsen. Stadt Leipzig. Bd. 1: Südliche Stadterweiterung. Bearb. von Christoph Kühn und Brunhilde Rothbauer. Hg.: Landesamt für Denkmalpflege Sachsen. Berlin 1998, S. 399. Als Hauptaufgabe widmet er sich der Errichtung von Wohnungsbauten - von Kleinwohnungen bis zu villenartigen Einfamilienhäusern. 1914 gibt er eine Entwurfssammlung „Das ländliche Arbeiterwohnhaus“ von 1913 heraus und wird durch den Bau des sogenannten „Märchenhauses“ in der Thomasiusstraße 28 in Leipzig bekannt. Vgl. Thieme-Becker Bd. 4, Leipzig 1910, S. 502. Brachmann 1913, S. V. Herzog 1917, S. 266. Vgl. auch Leipziger Neue Nachrichten Nr. 344 v. 11.12.12. In: StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 24. Katalog: Ausstellungsdörfer Abb. 167: IBA-Dorf, Westansicht. Aus: Herzog 1917, S. 266. Abb. 168: IBA-Dorf, Nordwestansicht. Aus: Bauen und Wohnen 1913, Nr. 3/4, S. 57. 55 Vgl. Deutsches Biographisches Archiv, N.F. 162, Bl. 429f. 159 160 Katalog: Ausstellungsdörfer Abb. 169: IBA-Dorf, Grundrißplan vom 15.07.1912. M=1:1000. Aus: StdA Leipzig, Bauakten 6334, Bl. 3. Katalog: Ausstellungsdörfer 161 Abb. 170: IBA-Dorf, Grundrißplan vom 20.12.1912. Ohne Maßstab. Aus: StdA Leipzig, Bauakten 6334, Bl. 122. Alle Dorfgebäude sind um einen länglichen, begrünten Dorfanger gruppiert, der von einem breiten Dorfweg umgeben ist. Im Dorfgrundriß vom 15. Juli 1912 gruppiert sich das Dorfensemble noch um einen länglich-schmalen Dorfanger. Noch ist direkt am Schulgebäude eine Kegelbahn eingezeichnet, die dem Vergnügen der Ausstellungsbesucher dienen sollte, aber aus unbekannten Gründen unausgeführt geblieben ist. Ihr Fehlen bewirkt, daß sich das Dorf zum Ausstellungsgelände hin öffnet, da kein Gebäude an dieser Stelle den Blick im Dorf hält. Gleichzeitig wirkt das Dorf noch nicht so rund und geschlossen ineinandergefügt wie in der endgültigen Fassung, was besonders an der größeren Entfernung von Gasthof und Gosenschänke56 ablesbar ist. In einem Plan vom 20. Dezember 1912 hat der Dorfanger dagegen 56 Die Gose ist ein obergäriges Weißbier aus nicht gedarrtem Gersten-, Weizen- und Hafermalz mit Zusatz von Kochsalz und Gewürzkräutern, wenig Hopfen, aber reichlich Hefe und Milchsäure. Sie hat ihren Na- Katalog: Ausstellungsdörfer 162 seine längliche zugunsten einer dreieckig abgerundeten Form verloren, sodaß sich das Dorf insgesamt enger um den Anger schließen kann. Auch Gosenschänke und Gasthof liegen sehr viel näher beieinander und bilden somit eine torartig geschlossene Eingangssituation ins Dorf, durch die die Besucher deutlich in einen eigenen Bereich der Ausstellung eintreten. Umgeben von Schmiede, Kirche und Schule zweigt östlich des Angers der Kirchweihplatz ab, in dessen Mitte ein Schulbrunnen plaziert ist. Abb. 171: IBA-Dorf, Kirchweihplatz, Südwestansicht. Aus: Die Bauten der Internationalen Baufach-Ausstellung Leipzig 1913, S. 143. Dadurch werden besonders Kirche und Schule als geistige Zentren im Ort von den übrigen Gebäuden getrennt und ausgezeichnet. Eine schmale, bedachte Arkadenhalle betont die enge Verbindung zwischen Kirche und Schule. Betritt man das Dorf, stößt man linker Hand auf die große Gaststätte und rechter Hand auf die Gosenschänke. Nach dem breit dahingelagerten vierflügeligen Musterhof folgt das Wirtschaftsgebäude, in dem eine Fleischerei, eine Obstweinschänke, Kaffeestube, Kümmelapotheke und Schmiede zu finden sind. Die Schmiede dreht sich jedoch aus der Rundung des Gebäudes zur Seite hin in Richtung Kirchweihplatz, um den Kirchweihplatz nordseitig abzuschließen. Hinter der Kirche breitet sich der Dorffriedhof aus. Folgt man dem Dorfweg weiter am Anger vorbei, so passiert man Schul- und Gasthofgarten, um daraufhin wieder zum Gasthof am Anfang des Rundgangs zurückzukehren. men vom Flüßchen Gose, das Goslar, den ursprünglichen Herstellungsort, durchfließt. Vgl. dtv-Lexikon in 20 Bänden, Bd. 7, München und Mannheim 1995, S. 102. Katalog: Ausstellungsdörfer 163 Abb. 172: IBA-Dorf, Dorfstraße, Nordwestansicht mit Blick auf das Gehöft. Aus: Herzog 1917, S. 268. 3.3. Die Dorfgebäude57 „Die dörflichen Bauwerke bestehen, wie fast alle Ausstellungsgebäude, aus Holz. Die Außenflächen sind mit Mörtel verputzt.“58 Aus einem Artikel in der Zeitschrift „Der Städtebau“, der sich mit dem Neuen Niederrheinischen Dorf auf der Deutschen Werkbund-Ausstellung 1914 in Köln beschäftigt, ist jedoch Genaueres zu entnehmen: „Es handelt sich also [beim Neuen Niederrheinischen Dorf; d.Verf.] nicht um eine jener romantischen Ausstellungskulissen, wie sie schon so oft als ‚Alt-Leipzig’, ‚Alt-Düsseldorf’, als ‚Thüringisches Dorf’ usw. in Holz, Gips und Leinwand aufgebaut worden sind...“59 Die Häuser sind demnach nicht massiv, sondern, entsprechend ihrer Funktion als temporäre Ausstellungsgebäude, aus einer leicht wieder abzubauenden, verputzten Bretterkonstruktionen errichtet. Auf dem Grundrißplan zur Dorfschule steht jedoch die Bemerkung: „Die grauen Flächen gelten bei massiver Ausführung.“ Daraus kann man folgern, daß zur Zeit der Ent- 57 58 59 Die Pläne der Dorfbauten mit Ansichten, Schnitten und Grundrissen sind im Leipziger Stadtarchiv vollständig erhalten. Im Vergleich zu den wenigen Fotos, die es von den Ausstellungsgebäuden gibt, fällt jedoch auf, daß die Bauten abweichend von den Plänen ausgeführt worden sind. Sie sind durchgehend einfacher ausgeführt, was vermuten läßt, daß die Leitung der landwirtschaftlichen Sonderausstellung die Entwürfe Bachmanns aus finanziellen Gründen vereinfacht wissen wollte. Vgl. dazu in Leipziger Neue Nachrichten Nr. 338 v. 5.12.12 in: StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 23 : „Die Kosten für die Herstellung des Thüringer Dörfchens sind ganz beträchtliche“ und Leipziger Neue Nachrichten Nr. 87 v. 30.3.1913 in: StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 40 : „Die Bauten sollen nach dem Grundsatz ‚zweckmäßig und billig‘ errichtet sein.“ Vgl. Winter 1913c, S. 25. Vgl. Schneider 1914, S. 52. Katalog: Ausstellungsdörfer 164 wurfsarbeit am 12. Juni 1912 die Entscheidung, ob die Gebäude tatsächlich massiv oder aus Kostengründen nur in einer Holzkonstruktion angelegt werden sollten, noch nicht gefallen war. Alle Gebäude sind einheitlich weiß verputzt und ohne Sockelunterbau errichtet. Die Dächer der Dorfgebäude sind mit Biberschwänzen gedeckt. Eine Ausnahme machen da Kirche und Schule, die mit Schiefer, und den Jungvieh- und Schweineställen des Gehöfts, die mit Stroh gedeckt sind. Die Gebäude sind ein-, maximal zweigeschossig und wirken durch die abgewalmten und zum Teil tief heruntergezogenen Dachflächen (beim Geschäftsgebäude) breitgelagert und behäbig. Kein Haus ähnelt in Struktur und Aufbau dem anderen, ist also individuell geplant und nicht typisiert. Das wird besonders deutlich an den Architekturelementen wie den Fenstern, Türen oder Gauben, die selbst an einem Gebäude vielfach variiert sein können. 3.4. Die öffentlichen Gebäude Die Kirche Die evangelische Kirche ist, so der Katalogtext, „vollkommen auf kirchlicher, sächsischer Überlieferung fußend“60 gebaut und ausdrücklich wie die Schule mit silbergrauem Schiefer bedeckt, „wie er nur in Sachsen vorkommt“.61 Die kleine geostete Dorfkirche steht leicht abseits vom Dorfanger in direkter Verbindung zum Friedhof und zur Schule. Ihr Westgiebel mit rundbogigem Eingangsportal wendet sich dem Kirchweihplatz zu. Es ist ein einfacher glatt verputzter Saalbau mit westlicher Vorhalle, von dem beidseitig Emporentreppen nach oben führen.62 Hinter dem Vorraum schließt sich der Saal an, der durch drei Fensterachsen mit rundbogigen Sprossenfenstern belichtet wird. Dahinter folgt der kurze, dreiseitig geschlossene Chor mit einer an der süd-östlichen Chorseite angebauten niedrigen Sakristei. Das Dach ist über dem Chor mit Vollwalm und über der Westfassade mit Schopfwalm ausgebildet. Hinter dem Schopfwalm sitzt ein achtseitiger Dachreiter, der die Glocken trägt, die Uhrzeit anzeigt und von einer Welschen Haube mit aufsitzendem Kreuz abgeschlossen wird. Das Innere der Kirche ist durch eine dreiseitig umlaufende, bemalte Empore geprägt. Die Orgel ist über der westlichen Vorhalle aufgebaut. Unterhalb der Emporen sind die Fenster mit Glasmalereien eingelassen. An grau lasiertem Gestühl vorbei führt der Mittelgang auf den Kanzelaltar im Chor zu. Der Raum insgesamt ist weiß getüncht und wird durch eine kassettierte und bemalte Holzdecke nach oben hin abgeschlossen. Die bemalte Decke und die bemalten Emporen sind u.a. nach den Vorbildern der Dorfkirchen in Cosswig, Leubnitz, Tragnitz und Mürgeln gestal60 61 62 Vgl. im Offiziellen Katalog der Internationalen Baufach-Ausstellung 1913, S. 81. Vgl. Leipziger Neue Nachrichten Nr. 112 vom 24. 4. 1913 in: StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 50. Detaillierte Beschreibungen besonders zur Innenausstattung der Kirche vgl. bei Winter 1913b, S. 206-218. Katalog: Ausstellungsdörfer 165 tet.63 In der Kirche werden Sonntags Gottesdienste für das Ausstellungspersonal und Musikaufführungen veranstaltet.64 Abb. 173: IBA-Dorf, Kirche. Oben: Südostansicht, unten: Südwestansicht. M=1:200. Aus: StdA Leipzig, Bauakten 6334, Bl. 4. 63 64 Vgl. im Offiziellen Katalog der Internationalen Baufach-Ausstellung 1913, S. 81. Vgl. Herzog 1917, S. 268. Gleichzeitig werden Versuche gemacht, wenigstens die Dorfkirche zu erhalten und zu verkaufen. In Erwägung gezogen wird der Verkauf an die Gartenstadt Leipzig-Marienbrunn: „Daselbst dürfte die kirchliche Versorgung sowieso wegen der weiten Entfernung manche Schwierigkeiten haben, die sich bei dieser Gelegenheit billig aus dem Wege schaffen ließen.“ Vgl. Leipziger Tageblatt Nr. 402 v. 10.8.1913 in: StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 92. 166 Katalog: Ausstellungsdörfer Abb. 174: IBA-Dorf, Kirche, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: StdA Leipzig, Bauakten 6334, Bl. 5. Abb. 175: IBA-Dorf, Kirche, Nordansicht mit Friedhof. Aus: Die Bauten der Internationalen Baufach-Ausstellung Leipzig 1913, S. 143. Katalog: Ausstellungsdörfer 167 Die einklassige Volksschule65 Ein trogartiger, steinerner Schulbrunnen ist vor der Schule auf dem Kirchweihplatz angelegt, um den Schulkindern in den Pausen Erfrischung zu bringen. Aus seiner hinteren Wand ragt ein Sockel hervor, auf dem eine Statuette in Gestalt eines ausschreitenden Sämanns aufgebaut ist.66 Die Schule selbst ist ein eingeschossiger Bau mit mehrfach gebrochenem Grundriß und allseitig verschieden weit abgewalmtem, schiefergedecktem Dach sowie verschiedenen Fensterformaten, die dem Ganzen ein variantenreiches Äußeres verleihen. Die Platzseite des Hauses wirkt jedoch sehr zurückhaltend und schlicht gestaltet. Zur Kirche hin ist unter einer offenen Bogenhalle ein kleines Pförtnerhäuschen eingerichtet. Über die letztgültige Gestaltung der anderen drei Hausseiten läßt sich nur anhand der Grundrisse spekulieren. Hinter der Eingangstür67 folgt rechts der Eingang ins Klassenzimmer. Geradeaus betritt man die sogenannte Haushaltungsschule, ein Raum, in der die Mädchen des Dorfes in Heimarbeit, Weberei, Töpferei etc. ausgebildet werden.68 Im Obergeschoß des Hauses ist die Lehrerwohnung eingerichtet. Unter einer rückseitig gelegenen, durch ein Pultdach gedeckten Halle können die Schüler bei schlechtem Wetter die Pause verbringen oder unter ihr hindurch auf den Schulhof laufen. Im östlichen Teil des Erdgeschosses sind die Aborte zu finden. Westlich des Hauses ist ein Garten angelegt, der zur Versorgung der Lehrerfamilie dient. Abb. 176: IBA-Dorf, Schule. Links: Südostansicht, rechts: Nordostansicht. M=1:200. Aus: StdA Leipzig, Bauakten 6334, Bl. 6. 65 66 67 68 Auch die Pläne der Schule stimmen nicht miteinander überein, da die Ansichten aus anderen Planungsperioden stammen als die Grundrisse. Vgl. Winter 1913c, S. 26. Über ihre endgültige Gestaltung läßt sich keine Aussage treffen. Im Vorentwurf ist ein rundbogiger Eingang mit offenem Vorraum und einfacher Rechtecktür zu sehen. Vgl. Herzog 1917, S. 268. Diese soll den speziellen ländlichen Verhältnissen in einem Dorf Rechnung tragen und ist nach Reformideen u.a. von Schulrat Georg Kerschensteiner, Rektor Winter u.a. entwickelt: „...sie soll den Wünschen der Landwirte dienen, daß die Dorfschule mehr wie bisher den Unterricht der Arbeit und dem Leben auf dem Lande sich anpasse, Liebe zum Landleben erwecke und zur Erhaltung des Arbeiternachwuchses auf dem Lande beitrage.“ Vgl. im Offiziellen Katalog der Internationalen BaufachAusstellung 1913, S. 82. 168 Katalog: Ausstellungsdörfer Abb. 177: IBA-Dorf, Schule. Oben: Grundriß des Erdgeschosses, unten: Grundriß des Obergeschosses. M=1:200. Aus: StdA Leipzig, Bauakten 6334, Bl. 7. Abb. 178: IBA-Dorf, Schule mit Kirche, Südansicht. Aus: Neudeutsche Bauzeitung 9.1913, H. 26, S. 462. Katalog: Ausstellungsdörfer 169 Der Gasthof Der Gasthof liegt auf unregelmäßig viereckigem Grundriß breit hingelagert direkt am Ortseingang.69 Vom Dorfanger aus erhebt sich das Gebäude unter mehrfach gebrochenem Dach. Die Straßenfassade besteht aus zwei giebelständigen Seitentrakten mit polygonalem bzw. rundem Eckerker. Mittig ist der große rundbogige Hauseingang angelegt, der den Anschein erweckt, als betrete man durch ihn den Innenhof eines Gehöftes. Das große ausladende Wirtshausschild neben dem Eingang sowie ein ovales Buntglasfenster rechts neben der Tür mit dem Motiv eines mähenden Schnitters weisen den vorbeigehenden Besucher auf die Funktion des Gebäudes hin. Auch bei diesem Gebäude überwiegt die asymmetrische und variantenreiche Gestaltung der Gesamtanlage sowie der Baudetails: Jede Seite des Gebäudes bietet durch die unterschiedlichen Dachgestaltungen und Wandhöhen ein andersartiges Bild. Dazu wechseln sich wiederum verschiedene Fensterformen, Erker und Gauben sowie Außentreppen, offene Unterstände und Türen auf allen vier Seiten des Gebäudes ab. Den Unregelmäßigkeiten des Außenbaus entspricht die Einrichtung des Inneren: Auch hier ist keine einzige Wand rechtwinklig zur anderen angelegt. In der linken Hausecke ist die sogenannten Herrenstube mit einem polygonalen Eckerker und einer umlaufenden Sitzbank angelegt. Diese sei „mit einer gewissen Vornehmheit“70 ausgestattet. Vom Flur rechts ab erreicht man die Bauerngaststube mit dem großen runden Erkervorbau, die ihren Gästen entsprechend „handfester“ gestaltet und mehr den „derberen Gewohnheiten“ der Gäste angepaßt sei.71 Von hier aus kann man aus einer Tür direkt in den Wirtshausgarten gelangen. Dahinter in Richtung Norden ist der große, über zwei Geschosse laufende Tanzsaal mit Galerie angelegt, in dem man die offene Dachkonstruktion des liegenden Stuhles sehen kann. Im Obergeschoß befinden sich weitere Gesellschaftsräume. 69 70 71 Auch hier unterscheiden sich die Pläne von dem ausgeführten Bau. In der Ansicht des Gebäudes vom Dorfplatz ist beispielsweise noch ein Balkon vorgesehen, der in der Ausführung durch ein abgeschlepptes Dach ersetzt worden ist. Vgl. Winter 1913a, S. 747. Vgl. ebd. 170 Katalog: Ausstellungsdörfer Abb. 179: IBA-Dorf, Gasthof. Oben: Südwestansicht, unten: Südostansicht. M=1:200. Aus: StdA Leipzig, Bauakten 6334, Bl. 16. Katalog: Ausstellungsdörfer 171 Abb. 180: IBA-Dorf, Gasthof. Oben: Grundriß des Erdgeschosses, unten: Grundriß des Obergeschosses. M=1:200. Aus: StdA Leipzig, Bauakten 6334, Bl. 115. Abb. 181: IBA-Dorf, Gasthof, Südansicht. Aus: Herzog 1917, S. 268. Katalog: Ausstellungsdörfer 172 Die Gosenschänke Die Gosenschänke ist ein langgestreckter Bau mit niedrigem, abgewalmten Dach, der dem Dorfweg die Traufseite zuwendet. Die Hauptfassade zeigt eine doppelflügelige Eingangstür, über der Wand und Dachhaut segmentbogenartig über die Traufe erhöht sind. Links neben der Tür befinden sich acht weitere kassettierte Holztüren, in deren oberem Drittel Sprossenfenster eingelassen sind. Diese können bei schönem Wetter geöffnet werden. Zwischen Gasthaus und Wagenschuppen des Mustergehöfts umschließen offene Bogenhallen den sogenannten Offenen Gosenhof, in dem die Gäste bei schönem Wetter sitzen können. Man betritt das Gebäude durch einen großen Flur, von dem man nach links in die Gaststube tritt, über die man in die offene Dachkonstruktion sehen kann. Rustikale Tische und Bänke laden zum Verweilen ein. Ein kleiner Buffetraum schließt sich an die Gaststube an, der von einer dahinter liegenden Küche aus bestückt wird. Hinter dem Haus sind die Abortanlagen angebaut.72 Abb. 182: IBA-Dorf, Gosenschänke. Oben: Nordansicht, unten: Schnitt durch den Gosenhof. M=1:200. Aus: StdA Leipzig, Bauakten 6334, Bl. 14. 72 Zum Inneren der Gosenschänke vgl. Herzog 1917, S. 268. Katalog: Ausstellungsdörfer 173 Abb. 183: IBA-Dorf, Gosenschänke, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: StdA Leipzig, Bauakten 6334, Bl. 15. Das Geschäftsgebäude Das langgestreckte, eingeschossige Gebäude schwingt konkav aus und lehnt sich damit an die Rundung des Dorfangers an. Der Gebäudeteil, der Kaffeestube, Obstweinschänke und Fleischer aufnimmt, wird vom Dorfweg erschlossen. Der Ostgiebel des Satteldaches ist als Schopfwalm ausgebildet. Schmiede und Kümmelapotheke sind zwar an die Kaffeestube angebaut, liegen aber leicht zurückgesetzt unter einem mehrfach gebrochenen Dach. Der Eingang zur Schmiede ist nicht vom Dorfweg, sondern vom Kirchweihplatz aus zu erreichen. Auf der Rückseite des Gebäudekomplexes ist das Dach so tief abgeschleppt, daß sich eine über Säulen abgestützte überdachte Veranda herausbildet und zum Sitzen im Freien einlädt. Dahinter ist ein Garten angelegt. Hinter der Kümmelapotheke, auch Kümmelschenke genannt,73 sind die öffentlichen Toiletten angebaut. Obstweinschänke und Kaffeestube werden, wie die Gosenschänke, an der Rückseite durch kassettierte Türen erschlossen, die bei warmem Wetter ganz geöffnet werden können. Zum Dorfweg hin sind (wie im Foto zu sehen) hölzerne Erkerfenster eingebaut, die dem Straßenverkauf von Wurstwaren, Obst und Kuchen dienen. Die Fleischerei ist außen durch ein weitausladendes Innungsschild sowie einen steinernen Rindskopf an der Hausecke gekennzeichnet. Die Schmiede kann von der Nordseite über eine rundbogige, zweiflügelige Eingangstür erreicht werden, die unter einem abgewalmten Vorbau auf zwei runden Stützen ruht. Unter dieser Schmiedelaube kann der Schmied unabhängig vom Wetter seiner Arbeit nachgehen. 73 Vgl. Offizieller Führer der Internationalen Baufach-Ausstellung 1913, S. 82. Vermutlich ist der Ausschank von Kümmelschnaps gemeint. 174 Katalog: Ausstellungsdörfer Abb. 184: IBA-Dorf, Geschäftsgebäude. Links: Westansicht, rechts: Ostansicht. M=1:200. Aus: StdA Leipzig, Bauakten 6334, Bl. 8. Katalog: Ausstellungsdörfer 175 Abb. 185: IBA-Dorf, Geschäftsgebäude, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: StdA Leipzig, Bauakten 6334, Bl. 9. Katalog: Ausstellungsdörfer 176 Abb. 186: IBA-Dorf, Geschäftsgebäude, Westansicht. Aus: Winter 1913c, S. 25. 3.5. Das Beispielgehöft Das wichtigste Ausstellungsobjekt im Dorf ist das sogenannte „Beispielgehöft“74, das als vollständig im Betrieb befindliches, mit vollem Viehbestand besetztes Bauerngehöft konzipiert ist. Es ist nicht in einheitlicher Bauweise ausgeführt, sondern präsentiert dem Landwirt verschiedene moderne und kostengünstige Bautechniken sowie Anlagen und Maschinen.75 Das Beispielgehöft ist als vierseitige, fast vollständig geschlossene Hofanlage ausgebildet, die mit Ausnahme des strohgedeckten Jungvieh- und Schweinestalles ziegelgedeckt ist. Ein umzäuntes Vorgärtchen trennt das traufständige Wohnhaus von der Straße. Daneben führt eine hohe Einfahrtstenne in den Hof, in der auch die Eingangstür ins Wohnhaus zu finden ist. Das zweigeschossige Wohnhaus ist nicht, wie in den Zeichnungen geplant, mit einem mehrfach gebrochenen Walmdach, sondern einem Schopfwalmdach mit Fledermausgauben ausgeführt. An 74 75 Die Bezeichnung „Mustergehöft“ wird abgelehnt, weil sie eine einheitliche Bauweise suggeriere. Vgl. Führer durch die landwirtschaftliche Sonderausstellung 1913, S. 46. Das Gehöft ist für einen bäuerlichen Besitz von 50 Hektar ausgelegt. Vgl. Leipziger Tageblatt Nr. 229 v. 8.5.1913 in: StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 153. Vgl. Führer durch die landwirtschaftliche Sonderausstellung 1913, S. 46. Vgl. zu den verschiedenen Bauweisen und Einrichtungen auch ebd., S. 45-72. Planzeichnungen und ausgeführter Bau differieren stark, was an der Straßenfront des Gehöfts, im Foto dokumentiert, besonders deutlich wird. Katalog: Ausstellungsdörfer 177 seiner nordöstlichen Giebelseite sind zwei niedrige Anbauten angelehnt. Die mittlere Fensterachse des Hauses wird durch ein breiteres Erdgeschoßfenster und den segmentbogenartigen Abschluß des oberen Fensters, dessen Bogenform die Dachtraufe nachvollzieht, besonders betont. 76 An die Einfahrtstenne ist ein Wagenschuppen mit verbrettertem Kniestock angebaut. In der Mitte des Hofes ist eine viereckige, von kleinen Bäumen oder Büschen und einem Zaun umrahmte Pferdekoppel angelegt. Vom Erdgeschoßflur des Wohnhauses hat man direkten Zugang zu dem dahinterliegenden, langen Stallgebäude. An dessen äußerer Langseite sind Auslaufgehege für das Vieh vorhanden und an der Schmalseite sorgt eine Düngerstätte für die Lagerung der Exkremente. Daran lehnen sich zwei kleine Aborträume für das Gesinde an. An den Stall und eine Futtertenne schließt sich – nur halb so hoch wie sein Nachbar – der Jungviehstall an. Die dritte Seite des Hofes wird von Schweine- und Pferdestall begrenzt, der als einziges Gebäude frei steht. Der Schweinestall ist in der gleichen Weise gebaut, verbrettert und gedeckt wie der Jungviehstall und steht ebenfalls traufständig zum Hofraum.77 Der Pferdestall ist um einiges höher als der Schweinestall und steht als Satteldachbau mit einem verbretterten Giebel zum Hof. Im rechten Winkel zum Schweine- und Pferdestall begrenzt die Scheune die vierte Seite der Hofanlage und ist an den Wagenschuppen angelehnt.78 Abb. 187: IBA-Dorf, Beispielgehöft, Westansicht. Aus: Krämer 1913, S. 558. 76 77 78 Leider ist der Erdgeschoßgrundriß handschriftlich stark verändert worden, sodaß kaum noch ersichtlich ist, wie er strukturiert war. Vgl. Leipziger Zeitung Nr. 148 vom 29.6.1913 StdA Leipzig Akte 75A, Nr. 71, S. 92. In den Plänen ist die Scheune nicht eigens untergliedert: Ihre Einrichtung wurde einer Spezialfirma übergeben. 178 Katalog: Ausstellungsdörfer Abb. 188: IBA-Dorf, Beispielgehöft. Links: Nordwestansicht, rechts: Südostansicht. M=1:200. Aus: StdA Leipzig, Bauakten 6334, Bl. 10. Katalog: Ausstellungsdörfer 179 Abb. 189: IBA-Dorf, Beispielgehöft, Südwestansicht. Ohne Maßstab. Aus: StdA Leipzig, Bauakten 6334, Bl. 10. 180 Katalog: Ausstellungsdörfer Abb. 190: IBA-Dorf, Beispielgehöft, Grundriß des Erdgeschosses. Ohne Maßstab. Aus: StdA Leipzig, Bauakten 6334, Bl. 12. Katalog: Ausstellungsdörfer 181 Abb. 191: IBA-Dorf, Beispielgehöft, Wohnhaus, Grundriß des Obergeschosses. M=1:200. Aus: StdA Leipzig, Bauakten 6334, Bl. 13. Abb. 192: IBA-Dorf, Beispielgehöft. Links: Schweine- und Pferdestall, Nordwestansicht,. Rechts: Pferdestall, Südwestansicht. M=1:200. Aus: StdA Leipzig, Bauakten 6334, Bl. 11. 182 4. Das Neue Niederrheinische Dorf auf der Deutschen Werkbund-Ausstellung in Köln 1914 4.1. Zur Geschichte des Dorfes – der Deutsche Werkbund und seine Ausstellung Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirft die prosperierende Industrie in Massen- und in Billigproduktion Waren auf den Markt, die ohne jeden Bezug zu ihrer Funktion mit den unterschiedlichsten gründerzeittypischen Stilformen belegt sind. Eine qualitätvollere Verarbeitung und ein bequemerer Gebrauch wird durch die Jagd nach hohen Verkaufszahlen und schnellem Absatz weitgehend verhindert.1 Auch in der Architektur geht die Entwicklung hin zu einer Flut von Formen und Ornamenten, die die Häuser unabhängig vom Bautypus oder ihrer Funktion erhalten. Der Deutsche Werkbund – gegründet 1907 in München als Vereinigung von Künstlern, Architekten, Handwerkern, Publizisten, Industriellen und Kaufleuten – reagiert auf diese Misere, indem er ihr ein reformiertes Architektur- und Warenkonzept entgegensetzt, dessen einmütiges Ziel eine bessere Formgebung ist. Stichwort ist das der „Qualität“ 2 der (kunst)gewerblichen deutschen Produktion. Durch sie allein könne das Deutsche Reich auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben. Im Gegensatz zur englischen Arts-and-Crafts-Bewegung glauben die Werkbündler, daß nur in Zusammenarbeit mit der Industrie deren schädliche Einflüsse durch material- und werkgerechte Arbeit, durch „künstlerische Kraft, industrielles Können und kaufmännisches Denken“3 bekämpft werden könne. Einer der ersten Vorsitzenden des Deutschen Werkbundes ist Theodor Heuss, zu seinen Gründern gehören u.a. die Architekten Hermann Muthesius, Henry van de Velde, Theodor Fischer, Fritz Schumacher und Richard Riemerschmid. Diese Aufzählung verdeutlicht beispielhaft, wie viele verschiedene architektonische Richtungen der Deutsche Werkbund in sich vereinigte, die der modernen Architektur des frühen 20. Jahrhunderts ihren Stempel aufgedrückt haben. Julius Posener formuliert dies sehr treffend: „Die Geschichte des Deutschen Werkbundes ist die große Straße, auf der die neue Architektur vorgerückt ist.“4 1 2 3 4 Vgl. Herzogenrath 1984, S. 67f. An dieser Stelle kann kein umfangreicher Abriß der Geschichte und der Ziele des Deutschen Werkbundes erfolgen. Vgl. dazu jedoch die genannte Literatur oder z.B.: 50 Jahre Deutscher Werkbund. Im Auftrage des Deutschen Werkbundes hg. von der Landesgruppe Hessen, bearb. von Hans Eckstein. Frankfurt/M. und Berlin 1958; Kurt Junghanns: Der Deutsche Werkbund. Sein erstes Jahrzehnt. Berlin 1982; Joan Campbell: Der deutsche Werkbund 1907-1934. Stuttgart 1981; Otto Hoffmann (Hg.): Der deutsche Werkbund – 1907, 1947, 1987. Berlin 1987. Vgl. Muthesius 1914, S. 969. Der Qualitätsbegriff ist so mehrdeutig und vielfältig wie die Gesamtheit der Diskussionen im Werkbund. Vgl. z.B. Herzogenrath 1984, S. 15. Die Eröffnung der Werkbund-Ausstellung, o.A., in: Kölner Tageblatt 51.1914, Nr. 362, 16.5., Abend-Ausgabe. Zit. nach: Kallen 1984, S. 60. Herzogenrath 1984, S. 15. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 183 Vom 16. Mai bis 6. August 1914 findet in Köln als Höhepunkt der ersten sieben Jahre des Werkbundschaffens die Deutsche Werkbund-Ausstellung am Deutzer Rheinufer statt. Sie zieht insgesamt eine Millionen Besucher an, muß aber tragischerweise durch den Beginn des Ersten Weltkriegs beendet werden und endet dadurch in einem finanziellen Fiasko.5 Der Organisator der Ausstellung ist Carl Rehorst, Beigeordneter der Stadt Köln und Landesbaurat a. D. Auf einem Areal von 350.000 Quadratmetern wird bereits seit 1911 eine Ausstellung geplant, die in ihrer thematischen Bandbreite alle Bereiche des Werkbundschaffens abdecken soll: Eine „erste große, repräsentative Selbstdarstellung des Bundes, gedacht als öffentliche Manifestation seines siebenjährigen Wirkens, das sich bisher im Verborgenen, in zerstreuten Aktivitäten und Einzelinitiativen, vor allem aber in den individuellen Leistungen seiner Mitglieder realisiert hatte.“6 Dazu gehören natürlich Architektur und Kunstgewerbe (also das Haus, seine Ausstattung und seine Gerätschaften), aber auch Sport und Frauenbewegung, kirchliche Kunst und koloniales Anliegen, der Arbeiterwohnungsbau, Fabrik und Büro, Kabarett, Kino und Theater, das Verkehrswesen, Gartengestaltung und Grabmalskunst.7 Es wird also eine endlose und scheinbar unüberschaubare Fülle an Themen präsentiert. An beteiligten Architekten sind als die bedeutendsten Peter Behrens, Josef Hoffmann, Hermann Muthesius, Bruno Paul, Walter Gropius, Bruno Taut und Paul Schultze-Naumburg zu nennen. So verschieden die Architekten sind, so verschieden sind auch ihre Entwürfe bzw. die Stile, die in den Ausstellungsbauten zu Tage treten. Von utopisch-idealen Konzepten eines Bruno Taut über verschiedene Klassizismen (z.B. die Vorläufer des „Internationalen Stils“ in Entwürfen von Gropius), ausklingender Jugendstil im Werk Henry van de Veldes, Biedermeier- sowie reduzierte Barock- oder Renaissanceformen bis zu dem von Herzogenrath/Teuber so genannten „gereinigten Regionalstil im Rheinischen Dorf“8: Noch sind alle Stile nachbarschaftlich und gleichberechtigt in einer Ausstellung nebeneinander versammelt. In einer sanften Kurve zieht sich das Areal der Werkbundausstellung von Süden nach Norden am Rheinufer entlang − auf der Fläche, die damals eigens für die Ausstellung erschlossen worden ist und auf der die Kölner Messe noch heute ihren Sitz hat. Im südlichen Teil, unweit vom Deutzer Bahnhof, ist der Haupteingang zu finden. Auf dem Platz östlich davon liegt der große Vergnügungspark und dahinter in nördlicher Richtung das Stadion. Der Schwerpunkt der Schau liegt mit den großen Ausstellungshäusern und der Haupthalle auf einer sich hinter 5 6 7 8 Vgl. ebd., S. 76. In der Zeit von 1900 bis 1914 gingen kulturelle Anstöße nicht nur von der Hauptstadt Berlin aus, sondern durchaus auch vom Rheinland und den Industriegebieten an der Ruhr. Vgl. Kallen 1984, S. 15. Herzogenrath 1984, S. 66. Ebd. Herzogenrath 1984, S. 14. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 184 Vergnügungspark und Stadion ausbreitenden Fläche. Erst dahinter, im nördlichsten Bereich der Ausstellung, zeigt sich dem Besucher das Neue Niederrheinische Dorf. Abb. 193: Werkbund-Ausstellung, Ausstellungsgelände. Unten in hellrot der Standort des Neuen Niederrheinischen Dorfes. Ohne Maßstab. Aus: Herzogenrath 1984, S. 62f. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 185 4.2. Die Dorfanlage Der Deutsche Werkbund nimmt sich auch der Landwirtschaft und dem ländlichen Bauwesen an, wie in folgendem Zitat deutlich wird: „...da er [der Deutsche Werkbund; d.Verf.] offenbar von dem ernsten Willen geleitet wird, das Leben aller Schichten der Bevölkerung künstlerisch zu beeinflussen, so durfte er an der Landwirtschaft und an den Bewohnern des platten Landes, mögen sie nun in der Landwirtschaft oder in der Industrie tätig sein, nicht achtlos vorübergehen, sondern er mußte auch sie für seine Bestrebungen zu gewinnen suchen. [...] Und so sollte denn in der Herstellung einer kleinen, aber einheitlichen Dorfanlage ein Beispiel und Vorbild künstlerischen Verschönerns einer ländlichen Siedelung von außen und von innen gegeben werden.“9 Der Bau des Neuen Niederrheinischen Dorfes wird von Landrat von Reumont aus Erkelenz, dem Vorsitzenden des „Arbeitsausschusses für das Niederrheinische Dorf“10 angeregt. Auffällig ist bereits der Name des Dorfes, der in zwei Worten das zentrale Anliegen des Ausstellungsensembles – den neuzeitlichen Charakter des Dorfes wie auch seinen Bezug zur niederrheinischen Region – zu transportieren versteht: Der leitende Baugedanke für die Gesamtanlage wird von Landrat Dr. von Reumont so zusammengefaßt, „daß wir den Landwirten und der ganzen ländlichen Bevölkerung zeigen wollen, wie die bodenständige Bauweise am Niederrhein in zeitgemäßer Weise fortentwickelt werden kann“.11 Gerade im Gebiet des Niederrheins und des Ruhrgebiets sind durch die wachsende Industrialisierung die Fragen des Kleinwohnungswesens für Industriearbeiter besonders drängend. Gleichzeitig wird das Verschwinden von mehr und mehr Bauerndörfern beklagt: „Schon deshalb, weil mit Rücksicht auf die Gesundheit des Volkes nicht der ganze Niederrhein sich in ein rauchendes Schornsteinmeer mit unendlichen Rangierbahnhöfen verwandeln darf.“12 Eine neuzeitliche landschaftsplanerische Entwicklung hin zu mehr Grünflächen, einer Beibehaltung der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung und der entsprechenden Dörfer wird daher gefordert. Die Industrialisierung des Landes soll jedoch nicht gestoppt werden: Auch für gemischte Dörfer oder reine Industriedörfer müssen daher architektonische Lösungen gefunden werden, die dem modernen Leben des Arbeiters bzw. Landmanns entsprechen.13 Es wird ge- 9 10 11 12 13 Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 4. Vgl. Klapheck 1928, S. 98. Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 8f. Das Gebiet des Niederrheins umfaßt etwa den Teil der Rheinprovinz, der nördlich der Linie Aachen-Köln gelegen ist. Vgl. ebd., S. 7. Vgl. Hecker 1914, S. 393. Vgl. Von der deutschen Werkbund-Ausstellung 1913, S. 678. Hecker beschreibt verschiedene Mischformen von Dörfern, z.B. die noch landwirtschaftlich geprägten Dörfer, die sich aber oft schon in der Bausubstanz erneuert hätten. Daneben führt er Mischformen an, in denen durch die mangelnde Arbeit in der Landwirtschaft viele Familienmitglieder des Dorfes in der Hausindustrie oder der Fabrik tätig werden. Eine weitere neue Form von Dörfern sind die Industriedörfer, die sich hauptsächlich aus Industriearbeitern zusammensetzen und die in Kleinhäusern mit höchstens einem Stall für die Kleinviehzucht leben. Vgl. Hecker 1914, S. 393f. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 186 radezu als eine „Mission“ verstanden, die scheinbar widerstrebenden Elemente eines solchen Mischdorfes in künstlerischer Weise zu vereinigen.14 Der Architekt Georg Metzendorf, führender Architekt von Siedlungen im Rhein-Ruhr-Gebiet und bekannt geworden durch den Entwurf der Kruppschen Arbeitersiedlung „Margarethenhöhe“ in Essen (begonnen 1909) und der Siedlung „Hüttenau“ bei Hattingen (begonnen 1910) bekommt den Auftrag, das Dorf und seine Bauten zu entwerfen.15 Im Mai 1913 hat Georg Metzendorf bereits einen Dorfplan für das Neue Niederrheinische Dorf erstellt, der jedoch nicht zur Ausführung kommt.16 In diesem ersten Entwurf – mit dem Anspruch, ein ländlich-industrielles Mischdorf zu schaffen – entwirft er eine geschlossene, fast achsensymmetrische und in rechten Winkeln angeordnete Anlage, deren Strenge gewollt ist, „um anzudeuten, daß es sich nicht um ein reines Bauerndorf handelt“.17 Die Dorfgebäude mit dahinterliegenden Gärten sind um zwei rechteckige Plätze angeordnet, die durch einen kurzen Weg miteinander verbunden werden. Dieser wird durch die im Zentrum des Dorfes eng aneinandergebauten Gebäude der Jugendhalle und der Kirche gebildet, die den gesellschaftlichen und geistigen Mittelpunkt des Dorfes bilden. Auf den kleineren der beiden Plätze mündet der einzige Zugang zum Dorf zwischen zwei torartig angelegten Kleinhäusern. Um ihn herum sind Einzel-, Doppel- und Reihenhäuser für Fabrikarbeiter angelegt. Um den großen rechteckigen Marktplatz mit dem baumumstandenen Brunnen/Denkmal in der Mitte gruppieren sich zwei große Vierseithöfe, die Gaststätte als Kopfbau am oberen Ende des Platzes und mehrere Einzelhäuser für Landarbeiter und Kleinbauern. Obwohl als Mischdorf deklariert, erhalten Bauern und Industriearbeiter eigene, voneinander getrennte Bereiche im Ort. 14 15 16 17 Vgl. Das niederrheinische Dorf auf der Deutschen Werkbund-Ausstellung 1914a, S. 5f. Zur Biographie Metzendorfs vgl. Metzendorf 1994, S. 408-415. Der Grund dafür ist in dem Protest einer vor allem Kölner Architektenschaft zu suchen, die ihren Teil zu dem „rheinischen“ Projekt beitragen wollen. (Abb. Ortsplan aus dem DWB-Archiv). So bleiben ihm letzten Endes nur die Planung des Gesamtentwurfs und wenige Einzelbauten. Vgl. Thiekötter 1980, S. 65. Von der deutschen Werkbund-Ausstellung Köln 1913, S. 678. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 187 Abb. 194: Neues Niederrheinisches Dorf, Vorentwurf, Südansicht. Aus: Von der deutschen Werkbund-Ausstellung Köln 1914, 1913, S. 678. In dem ausgeführten Entwurf, ebenfalls von Georg Metzendorf geplant, ändern sich nicht nur das Gesamtkonzept und die Gebäudeanordnung, sondern auch die Anzahl der Gebäude und die Bautypen. Im Vergleich zum völlig geschlossenen Vorentwurf mit nur einem Dorfeingang und zwei Plätzen kann der Besucher das gebaute Dorf nun über zwei gerade geführte Dorfwege betreten, die keilförmig auf den großen rechteckigen Marktplatz zuführen. Dadurch öffnet sich das Dorf merklich dem gesamten Gelände und gewährt dem Besucher schneller einen Einblick in das Ensemble. Metzendorf plant die Anlage in Konzession an das Dorf als Ausstellungsobjekt so, daß es – wie das IBA-Dorf auch – in einer Runde durchlaufen werden kann. Die östliche Straße führt direkt auf den Ausgang und die Giebelfront des Fabrikgebäudes von Walter Gropius zu, während die westliche Straße leicht abknickt, um sich der Flucht des Ausstellungsweges anzugleichen. Obwohl die Anlage nicht so streng strukturiert wie der Vorentwurf (was sicherlich auch in den individuellen Planungen der einzelnen Architekten begründet liegt) zeigt das Dorf eine geometrisch-strenge Gesamterscheinung. Die Trennung in ländliche und industrielle Häuser ist gänzlich aufgehoben: Zwei Gehöfte und ein Tagelöhnerhaus werden mit vier Arbeiterhäusern gemischt präsentiert. Zu dem einzelnen Gasthaus des Vorentwurfs kommen noch zwei weitere hinzu, in denen die Besucher sich erholen und stärken können. Die Dorfbauten sind einschließlich denen von Georg Met- Katalog: Die Ausstellungsdörfer 188 zendorf von 13 vornehmlich aus dem Rheinlande stammenden Architekten gebaut, die bei den Beschreibungen der Einzelbauten jeweils genannt werden. Abb. 195: Neues Niederrheinisches Dorf, ausgeführter Dorfplan. M=1:1000. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 12. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 189 Die gärtnerischen Anlagen des Dorfes sind geplant von Gartendirektor Fritz Encke aus Köln. Das Dorf ist im Vergleich zum IBA-Dorf durch seine beengte Lage auf dem Ausstellungsareal nicht von gärtnerischen Anlagen umfangen und mit Ausnahme einiger Bäume nur mit wenig Grün bepflanzt. Gartendirektor Fritz Encke aus Köln gestaltet wenige Hausgärten, zwei Gasthofgärten und den Friedhof im Dorf. In den Straßen pflanzt er einige schattenspendende Bäume in Anlehnung an den Bestand von Pappeln und Weiden am Rheinufer. Regelmäßige Baumreihen sind seiner Auffassung nach in den Dorfstraßen zu vermeiden.18 Der übrige Pflanzenschmuck ist auf die jeweiligen Grundstücke begrenzt, in denen sich einige Bäume über die Zäune in die Straßen lehnen. Grundsatz für jeglichen ländlichen Garten ist laut Encke seine Einfachheit und seine Zweckentsprechung je nach Vorlieben des Besitzers. Im Zusammenhang damit wird die Abgeschlossenheit des Gartens nach außen hin als grundlegend bezeichnet. Gelangt der Besucher über den Ausstellungsweg ins Dorf, so läuft er an dem südlich aus dem Ensemble herausfallenden kleinen Gehöft vorbei. Dahinter empfangen ihn der Weingasthof und auf der anderen Seite des Weges ein alkoholfreies Café: Beide Gaststätten sind offensichtlich als den Eingang ins Dorf markierende, einladende Kopfbauten gedacht, ebenso wie die zwei kleinen Arbeiterhäuser am anderen Dorfeingang. Abb. 196: Neues Niederreinisches Dorf, Dorfstraße mit Gasthäusern, Südansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 14. Folgt man dem Weg weiter, erreicht man das zur Linken stehende Essener Arbeiterwohnhaus und trifft dahinter auf die Jugendhalle, die die westliche Seite des Marktplatzes begrenzt. 18 Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 40. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 190 Abb. 197: Neues Niederrheinisches Dorf, Dorfstraße mit Arbeiterhäusern, Südansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 16. Der große Brunnen auf dem Marktplatz ist als Nutzbrunnen für eine ländliche Dorfgemeinde gedacht.19 Er ist ebenfalls von Georg Metzendorf entworfen und aus fränkischem Muschelkalk gefertigt. Eine große runde Brunnenschale mit rustizierten Blendquadern speichert das Wasser, das an der Einfassung durch gehauene Fratzenmäuler in vier Becken läuft, die sich aus einem um die Schale gelegten Wulst herauswölben. In die Schale fließt das Wasser aus vier filigran verzierten Eisenrohren, die aus einem gedrungenen runden Brunnenstock herausragen. Dieser wird durch eine Halbkugel abgeschlossen, auf der ein kleiner Bacchant mit Traube in der Hand als Brunnenfigur steht. Diese stammt von dem Bildhauer Paul Seiler aus Frankfurt am Main. Abb. 198: Neues Niederrheinisches Dorf, Marktplatz, Südwestansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 12. 19 Ebd., S. 104. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 191 Abb. 199: Neues Niederrheinisches Dorf, Marktbrunnen, dahinter das Arbeiter-Gruppenwohnhaus, Westansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 109. Die ganze nördliche Breitseite des Platzes und damit der Kopf des Dorfes, auf den alle Wege zulaufen, wird von dem Gasthaus am Marktplatz mit dem Namen „Zum Tanzdrickes“ vereinnahmt. An der dritten Platzseite liegt ein Arbeiter-Gruppenwohnhaus dicht an dem sogenannten „Großen Gehöft“, einem Dreiseithof, der den Marktplatz in südöstlicher Richtung abschließt und durch ein doppelflügeliges Tor vom Weg aus erschlossen werden kann. In repräsentativer Lage am Marktplatz und auf dem keilförmigen Platz zwischen den zwei darauf mündenden Wegen kommt die Kirche zu stehen, dahinter breitet sich der kleine Dorffriedhof aus. Folgt man dem Weg weiter Richtung Dorfausgang, so trifft man hinter dem Friedhof auf eine Schmiede und anschließend auf drei Arbeiterhäuser, die sich direkt gegenüberstehen. Ein kleiner Transformatorenturm und eine dahinter liegende Feldscheune komplettieren das Ensemble des Neue Niederrheinischen Dorfes. Der Bau einer Dorfschule und eines Gemeindehauses mußte aus Kostengründen entfallen.20 Die Gebäude des Dorfes bleiben nach der Ausstellung bis auf die Jugendhalle erhalten. Während des Krieges werden sie für militärische Zwecke genutzt, 1920 zur ErwerbslosenSiedlung umgeplant und ab 1921 für die städtische Gartenverwaltung umfunktioniert. Im Jahre 1928 wird das Ensemble zum Anlaß der Presse-Ausstellung „Pressa“ in ein Weindorf, die 20 Von der deutschen Werkbund-Ausstellung Köln 1913, S. 678. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 192 Kirche in einen Ratskeller umgewandelt.21 Zur Gartenbauausstellung im Jahre 1957 wird das Neue Niederrheinische Dorf abgerissen.22 4.3. Die Dorfgebäude Obwohl von zwölf verschiedenen Architekten geplant, wirken die verschiedenen Dorfgebäude verblüffend einheitlich in Aufbau und Materialverwendung. Von Seiten des Planungsausschusses wird gerade darauf besonders großen Wert gelegt. Alle Architekten werden dazu angehalten, im am Niederrhein bodenständigen Feldbrandziegelstein zu bauen, der je nach Material und Brennverfahren mal rötlich, mal blau-grau ausfällt. Die Farbgebung beruht bei allen Gebäuden auf dem Kontrast dieser Ziegel zusammen mit einem weißen Fugenstrich, weißen Fenstern und Gesimsen, dunkelgrünen Schlagläden und Dachrinnen sowie grau-braunen Hohlpfannen auf den Dächern.23 Bauschmuck wird außer pointiert gebrauchten Ziegelmusterungen sowie Blumenbänken ausdrücklich nicht gewünscht – zur Zierde des Ortes gehören nur gärtnerische Anlagen und Fahnen. „Jedwedes Bauwerk trägt seine Eigenart zur Schau, aber alle stehen im Zeichen des Fortschritts und des Bestrebens, die Baukunst auf neue Wege zu geleiten, schönheitsvollen Zielen entgegenzuführen“.24 So sollen die Architekten im Vergleich zur strengen Material-Typisierung den Einzelbauten jeweils ein individuelles Gepräge geben, um deutlich zu machen, daß „selbst bei einer so großen Vereinheitlichung der Baustoffe, wie sie hier durchgeführt ist, für tüchtige Architekten immer noch ein genügender Spielraum verbleibt, um ihre Bauten im einzelnen reizvoll und in ihrer Gesamtheit abwechselungsreich und interessant zu gestalten“.25 Dafür sorgt zu der kräftigen Farbgebung im Äußeren und Inneren der Häuser eine festliche und dekorative Ausstattung vor allem der Gasthäuser. Mit Ausnahme des Essener Arbeiterwohnhauses und des Wohnhauses des Großen Gehöftes sind alle Dorfgebäude eingeschossig, d.h. vergleichsweise niedrig angelegt. Einzig die Kirche im Ort überragt alle anderen Dorfgebäude. 21 22 23 24 25 Vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln (im folgenden als HistA Köln abgekürzt), Best. 34, Nr. 1755. Dem ausdrücklichen Wunsch des Landrats Dr. von Reumont aus Erkelenz, das Dorf als Künstlerkolonie weiter zu benutzen, konnte jedoch nicht entsprochen werden. Die Weiternutzung des Dorfes bis 1928 und weiter verdeutlicht, daß die bauliche Qualität sowie die Formensprache der Architektur auch Jahrzehnte später noch zufriedenstellend war. Vgl. Metzendorf 1994, S. 160 oder Herzogenrath 1984, S. 342f. 1920 wird im Zuge der Planungen eines Parks auf dem ehemaligen Ausstellungsgelände beschlossen, daß die Gebäude erhalten bleiben sollen, um als Dienstwohnungen für Aufseher und Arbeiter bzw. als Aufbewahrungsräume der Gartenverwaltung Verwendung zu finden. Vgl. HistA Köln, Best. 34, Nr. 1703, Bl. 39f. Vgl. Behr 1914b, S. 1391. Heimann 1914, S. 537. Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 8. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 193 4.4. Die öffentlichen Gebäude Die Kirche Im Zentrum des Dorfes ist die katholische Dorfkirche von den Kölner Sakralbauarchitekten Heinrich Renard (Erzdiözesanbaumeister) und Stephan Mattar errichtet.26 Die Kirche ist aus einfach geschichtetem Backstein erstellt und zeigt nur an ausgezeichneteren Stellen wie an Fenstern, Türen, Dachansatz und Giebeln Backsteinmusterungen. Die Kirche ist ein zweischiffiger Saalbau mit drei Fensterachsen. Ihr Chor ist nach Süden ausgerichtet und von einem Glockenturm überfangen, der eine Uhr im Giebel und einen Wetterhahn auf dem Satteldach trägt. An den Chor ist eine dreiseitig abgeschlossene Apsis mit ovalen Fenstern angebaut. Westlich vom Chor betritt man einen Raum mit Turmtreppenhaus, an den sich eine niedrige, walmdachgedeckte Sakristei angliedert. Der breite und von zwei Pfeilern gerahmte Eingang zur Kirche ist zum Marktplatz hin angelegt und von einem liegenden Ovalfenster überfangen. Ein offener Vorraum leitet über zum Hauptraum der Kirche. Östlich davon liegt ein kleiner Raum mit Taufbecken, westlich davon das Treppenhaus zur Westempore, auf der die Orgel zu liegen kommt. Das tonnenüberwölbte Hauptschiff faßt die Besucherbänke, während im schmalen, kreuzgratüberwölbten und dreijochigen Seitenschiff ein Seitenaltar untergebracht ist. Beide Schiffe sind durch eine Arkadenreihe mit zwei freistehenden Säulen voneinander getrennt. Chor und Apsis sind wie das Seitenschiff kreuzgratgewölbt. Die Wände sind weiß gehalten, wobei die bauplastischen Teile (Gurte, Grate und Gewölbe) ornamental farbig gefaßt sind. 26 Sie gehören der Vereinigung Ars sacra, dem Verein zur Förderung religiöser Kunst e.V., in Köln an. Diese Vereinigung übernimmt die Ausstattung der Kirche. Diese kann, mit Ausmalung und Plattenbelag, für 25.000-30.000 M hergestellt werden kann. Vgl. ebd., S. 21 und 23. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 194 Abb. 200: Neues Niederrheinische Dorf, Kirche. Oben: Westansicht, unten: Südansicht. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 18f. 195 Katalog: Die Ausstellungsdörfer Abb. 201: Neues Niederrheinisches Dorf, Kirche, Grundriß des Erdgeschosses. M= 1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 19. Abb. 202: Neues Niederrheinisches Dorf, Kirche, Nordansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 24. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 196 Abb. 203: Neues Niederrheinisches Dorf, Kirche und Friedhof, Südansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 25. Die Jugendhalle Die Jugendhalle, ebenfalls in repräsentativer Stelle am Marktplatz gebaut, bezeichnet einen gesellschaftlichen Mittelpunkt im Dorfensemble und trägt der immer höher bewerteten Jugendpflege Rechnung.27 Sie wird von den Architekten Schreiterer & Below aus Köln als transportabler, heller und gut durchlüftbarer Holzbau errichtet und ist als Mehrzweckhalle nutzbar, indem sie eine Turnhalle und eine Bühne sowie Garderoben, Toiletten und andere Nebenräume für deren Unterhalt beherbergt. Die Kölner Barackenbaugesellschaft, die solche leicht translozierbaren Holzbauten herstellt, hat die Ausstellungsleitung explizit um Aufstel- 27 Vgl. Das Niederrheinische Dorf in der Cölner Werkbund-Ausstellung 1914, S. 1391. Das deckt sich mit der aufkommenden Schul- und Jugendbewegung, die Teil der Reformbewegungen um die Jahrhundertwende sind. Sie will der Jugend im Gegensatz zur wilhelminischen Strenge eine reformierte Erziehung auf der Grundlage von Natur, Kunst, Musik, Sport etc. bieten. 197 Katalog: Die Ausstellungsdörfer lung der Halle gebeten.28 Die Holzbauten eignen sich besonders für Saalbauten, „da sie in schnell anwachsenden Dorfgemeinden, wie sie im Industriegebiet vielfach vorkommen, wohl öfters ihren Platz ändern müssen, wenn das Anwachsen der Ortschaft dies erfordert“.29 Die Flexibilität der Jugendhalle reagiert dadurch auf die moderne Industriegesellschaft. Sie wird wegen des nur beschränkten Platzes auf dem Ausstellungsareal und in Rücksicht auf ihren späteren Standort in einem Dorf des Industriegebietes in der Nähe von Essen in nur kleinen Ausmaßen errichtet. Der längsrechteckige Bau wird von einem niedrigen Walmdach, das auf beiden Seiten von einer langen sprossierten Fensterreihe erhellt wird, überfangen. Dem Bau sind an den Schmalseiten jeweils zwei niedrigere walmdachgedeckte Anbauten angehängt, die die Bühne auf der einen und Eingang sowie Garderobenräume auf der anderen Seite aufnehmen. Zwei weitere Eingänge befinden sich jeweils in der Mitte der Längsseiten. Durch die axiale Ausrichtung des Gebäudes, seine massiven Grundproportionen, sein kleinteiliges architektonisches Raster, den Gebrauch von Holzpfeilern an den Eingängen, Geländern und Sprossenfenstern wird dem Gebäude eine strenge geometrisch-klassizistische Wirkung verliehen. Das technisch Außergewöhnliche ist neben der leichten Zerlegbarkeit der Halle jedoch die weitgespannte Überwölbung des Innenraums durch hölzerne Bogenbindersysteme. Vermutlich haben wir es hier mit dem 1907 neu entwickelten sogenannten Hetzerbinder zu tun, dessen Name von seinem Konstrukteur Otto Hetzer, einem Zimmermann aus Weimar, abgeleitet ist. Seine Intention ist es, durch künstlich hergestellte Balkenbinder möglichst große Innenräume ohne Zwischenstützen zu überwölben und gleichzeitig den Holzbedarf gering zu halten.30 Abb. 204: Neues Niederrheinisches Dorf, Jugendhalle, Ostansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 101. 28 29 30 Vgl. HistA Köln, Best. 34, Nr. 1731, Bl. 1. Ob die Aufstellung der Halle im niederrheinischen Dorf von Anfang an gewünscht war oder ob sie erst im Laufe der Planungen dazu gekommen ist, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 99. Das Gebäude kann in wenigen Tagen sehr kostengünstig versetzt werden, ohne daß die Verschraubungen und Verzapfungen dabei die Holzbalken beschädigen. Vgl. Otto Hetzer, Weimar. Neue Holzbauweisen. Weimar 1908. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 198 Abb. 205: Neues Niederrheinisches Dorf, Jugendhalle. Links: Ostansicht, rechts: Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 100. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 199 Wirtshaus am Marktplatz Gegenüber der Kirche steht traufseitig zum Marktplatz der langgestreckte Bau des Gasthauses, genannt „Zum Tanzdrickes“ und gebaut von Architekt Franz Brantzky aus Köln.31 Zum Platz hin ist ihm eine durch sechs Backsteinpfeiler begrenzte und über eine kurze Treppe erreichbare Terrasse vorgelagert. Die seitlichen Bauteile werden rechts durch ein Zwerchhaus mit mehrfach geschweiftem Giebel und links durch ein über der Traufe angesetztes kurzes Schmuckwalmdach gerahmt. Auch hier fällt die streng axiale Ausrichtung des Hauses ins Auge, die besonders durch die auf die Pfeiler darunter ausgerichtete kleine Dachgauben und einen mittig aufsitzenden Dachreiter betont wird. Das Gasthaus besteht aus einem die gesamte Gebäudelänge einnehmenden tonnenüberwölbten Gastsaal, aus dem man an beiden Schmalseiten nach außen treten kann: Zum Rhein hin führen drei Flügeltüren auf eine weitere Terrasse. Die Türen werden überfangen von einem Segmentbogenfenster mit Radialsprossen, das den langen Innenraum großflächig zu beleuchten in der Lage ist. Das Tonnengewölbe ist ornamental gefaßt, während der obere Wandteil von einem Spruchbandfries in niederrheinischem Platt durchzogen ist.32 Abb. 206: Neues Niederrheinisches Dorf, Wirtshaus, Südansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 47. 31 32 Vgl. Menne-Thomé, Käthe: Franz Brantzky 1871-1945. Köln 1980, S. 260-261. Ob, wie im Grundriß zu sehen, hinter dem Gasthaus tatsächlich Kegelbahn und Tanzzelt angelegt waren, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 200 Abb. 207: Neues Niederrheinisches Dorf, Wirtshaus. Links: Südansicht, rechts: Westansicht. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 46. 201 Katalog: Die Ausstellungsdörfer Abb. 208: Neues Niederrheinisches Dorf, Wirtshaus, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 46. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 202 Niederrheinische Weinschenke Die Weinschenke Jakob Keller ist ein traufseitig zur Straße stehender eingeschossiger, breit gelagerter Bau von Regierungsbaumeister Max Stirn aus Köln.33 Sie wird von einem flachen Walmdach gedeckt. An ihrer Süd- und Ostseite ist eine mit Backsteinen gepflasterte Terrasse vorgelegt. Der Dachüberstand wird gestützt durch weiß gefaßte, hölzerne Säulen. An der Südostecke des Hauses ist ein kleiner, weiß verputzter Erker eingelassen, in dem eine Sitzecke eingerichtet ist. Darüber prangt auf der Traufe ein geschweifter Dachaufbau mit dem Wirtshausschild „Jakob Keller“. Ein niedriger Anbau an der Rückseite des Hauses nimmt die Toiletten auf. Im Inneren sind Dreiviertel des Gebäudes durch das Weinrestaurant ausgefüllt, in dem anderen Viertel ist die Küche zu finden. Das Restaurant ist durch figürlich geschnittene und bemalte Unterzüge geschmückt, während die Wände mit farbig gefaßtem Holz vertäfelt sind. Zum Rhein hin sorgt eine weitere offene Gartenterrasse für einen schönen Ausblick. Abb. 209: Neues Niederrheinisches Dorf, Weinschenke. Oben: Ostansicht, unten: Südansicht. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 52. 33 Die gesamten Herstellungskosten belaufen sich samt der Gartenanlagen auf 20.000 M. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 203 Abb. 210: Neues Niederrheinisches Dorf, Weinschenke. Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 52. Abb. 211: Neues Niederrheinisches Dorf, Weinschenke, Südostansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 50. Die alkoholfreie Wirtschaft Die alkoholfreie Wirtschaft, geplant von Architekt Otto Müller-Jena aus Köln für den Kölner Frauenverein, „soll eine Musteranlage für ein neues Wirtshaus abgeben und zugleich Propaganda für die Antialkoholbewegung machen“.34 So werden nur antialkoholische Getränke, Milchprodukte und kräftige Hausmannskost verabreicht – ein Tribut an die Lebensreformbewegung. Auch in Konstruktion und Ausstattung soll das Gasthaus einen Mustertyp schaffen. Es steht wie die Weinschenke traufseitig zur Straße und erhält dieselben Proportionen. Auch wird es von einem niedrigen Walmdach gedeckt.35 An der südlichen Schmalseite des Daches ist ein an niederrheinische Zopfarchitekturen anklingender Aufbau mit der Firmenaufschrift 34 35 Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 53. Vgl. ebd., S. 3. Hier sind nur an beiden Seiten kleine Dachgauben angebracht, die den Dachraum erhellen und belüften. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 204 angebracht. Eine an zwei Hausseiten vorgelegte Veranda ist fast spiegelbildlich zum Nachbarhaus plaziert – statt von Säulen hier von Ziegelpfeilern gestützt. Die Fenster und Türen sind „nach alter niederrheinischer und holländischer Manier von außen eingesetzt“.36 Die Innenaufteilung sieht über die Hälfte des Platzes für den Gastraum, den anderen Teil für Küchen, Büro und Vorratsraum vor. Auch hier lädt im Hof eine Sonnenterrasse zum Sitzen ein, die durch drei mit Korbbögen abgeschlossene Flügeltüren an der Rückwand des Hauses betreten werden kann. Abb. 212: Neues Niederrheinisches Dorf, Alkoholfreie Wirtschaft. Oben: Westansicht, unten: Südansicht. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 56. Abb. 213: Neues Niederrheinisches Dorf, Alkoholfreie Wirtschaft, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 56. 36 Ebd., S. 53. 205 Katalog: Die Ausstellungsdörfer Abb. 214: Neues Niederrheinisches Dorf, Alkoholfreie Wirtschaft, Südwestansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 54. Die Dorf-Lehrschmiede Die Schmiede im Dorf ist ebenfalls ein Werk Georg Metzendorfs. Sie steht traufseitig zur Straße und birgt unter ihrem steilen Satteldach einen Schmiederaum und einen von drei ionisierenden Säulen mit kräftigen Basen und Kapitellen gestützten Vorraum, unter dem der Schmied auch bei Regen an größeren Objekten arbeiten kann. Diese offene Laube ist über die Bauflucht hinaus in den Straßenraum vorgezogen. Der Giebel der Schauseite ist mit Ziegeln verkleidet und von einem Volutenband gerahmt. An der auskragenden Firstpfette kündet, gestützt von einer verzierten Konsole, ein mächtiges Eisenschild mit dem Emblem des Hufschmiedes – Pferd und Hufeisen – dem Besucher die Funktion des Gebäudes an. Das Innere ist mit der Schmiedeesse an der rückwärtigen Wand und diversen Maschinen und Gerätschaften ausgestattet. Abb. 215: Neues Niederrheinisches Dorf, Schmiede, Südostansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 15. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 206 Das Transformatorenhaus Das Transformatorenhaus ist nach einem Entwurf von Georg Metzendorf entstanden. Auf quadratischem Grundriß erhebt es sich zwei Geschosse hoch, das Satteldach verbirgt sich hinter zwei auffälligen Stufengiebeln. Kleine Sprossenfenster erhellen jeweils die Stockwerke, der Eingang ist rundbogig gestaltet. Abb. 216: Neues Niederrheinisches Dorf, Transformatorenhaus, Nordwestansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 107. 4.5. Die Gehöfte Wohnhaus für einen ländlichen Tagelöhner Das Haus ist von dem Kölner Architekten Camillo Friedrich entworfen.37 Es steht traufseitig zur Straße, erhebt sich auf einem fast quadratischen Grundriß und ist eineinhalbgeschossig. Ein niedriger Anbau am Haus, der durch zwei Außentüren betretbar ist, enthält einen kleinen 37 Die Baukosten des Hauses auf dem Ausstellungsgelände betragen 4.500 M. Mit Keller und in gebrauchsfertigem Zustand auf dem Lande müßte man 1.000 M mehr einkalkulieren. Vgl. ebd., S. 97. 207 Katalog: Die Ausstellungsdörfer Stall und den Abort, im Obergeschoß einen niedrigen Heuboden. Die Giebel am Haus sind mit abgerundetem First und Traufen schmuckvoll ausgestaltet, die größeren Fenster des Hauses mit Fensterläden versehen. Man betritt das Haus über die südliche Traufseite. Abb. 117: Neues Niederrheinisches Dorf, Tagelöhnerhaus. Links: Westansicht, rechts, Südansicht. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 97. Abb. 218: Neues Niederrheinisches Dorf, Tagelöhnerhaus. Links: Grundriß des Erdgeschosses, rechts: Grundriß des Dachgeschosses. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 97. Abb. 219: Neues Niederrheinisches Dorf, Tagelöhnerhaus, Südwestansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 98. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 208 Das kleine Gehöft Das Gehöft steht etwas abseits vom Dorf und wird durch eine Reihe von Bäumen, die die Straßenflucht nachvollziehen, als Teil des Dorfes erkennbar. Architekt Biebricher aus Krefeld hat das kleine Gehöft so angelegt, daß Wohn- und Wirtschaftsräume unter einem Dach vereint sind, „um die bei kleineren Gehöften oft zerrissene und aneinandergeschachtelte Wirkung der einzelnen Bauteile zu vermeiden“38 Das Gehöft ist für einen Kleinbauern vorgesehen, der eine Fläche von etwa 20-30 Morgen zu bewirtschaften hat. Das Haus steht traufständig zur Straße, ist eingeschossig und von einem Walmdach gedeckt. Seine Ziegelwände sind durch horizontale Bänder gegliedert. Das Haupthaus wird durch eine mittige Durchfahrt zweigeteilt: Auf der Nordseite des Hauses befindet sich im Erdgeschoß der Wohnbereich mit Wohnküche, Milchküche und Stube. Auf der Südseite sind Kuh- und Schweinestall sowie Futterküche eingerichtet. Die rundbogige Durchfahrt im Haupthaus ist auf der Frontseite mit einem Dreiecksgiebel, auf der Rückseite mit einem Stufengiebel geschmückt. Kleine Gauben erhellen das Dach auf der Vor- und Rückseite. Die Fenster des Erdgeschosses sind zur Straße hin wiederum mit Fensterläden versehen. An die südliche Giebelseite ist, leicht zurückversetzt, ein weiterer eingeschossiger Baukörper angesetzt, der Tenne, Bansen und Remise enthält. Die Tenne ist von der Vorderseite aus über ein großes Hoftor zu befahren. 38 Ebd., S. 67. Für die Dauer der Ausstellung wird im Gehöft eine Hühnerbrutanlage vorgeführt. Das Gehöft kostet auf der Ausstellung durch das Fehlen des Dachgeschoßausbaus 12.000 M. Normalerweise müßte man mit dem Betrag von 20-25.000 M rechnen. Vgl. ebd., S. 66. 209 Katalog: Die Ausstellungsdörfer Abb. 220: Neues Niederrheinisches Dorf, Kleines Gehöft. Oben: Westansicht, unten: Ostansicht. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 66f. Abb. 221: Neues Niederrheinisches Dorf, Kleines Gehöft, Grundriß des Erdgeschosses. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 66. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 210 Abb. 222: Neues Niederrheinisches Dorf, Kleines Gehöft. Oben: Ostansicht, unten: Westansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 69f. Das große Gehöft Das große Gehöft, entworfen von Regierungsbaumeister Speckmann aus Köln, dem Direktor des Rheinischen Bauernvereins39, ist als „geschlossenes sogenanntes fränkisches Gehöft“40 am Marktplatz angelegt und für eine Wirtschaft von etwa 100 Morgen bestimmt.41 Der Hof ist vierseitig geschlossen, die Einzelbauten gruppieren sich rings um einen Innenhof. Das gesamte Gehöft ist durch Walmdächer gedeckt. Zur Dorfstraße hin ist das Gehöft durch eine Ziegelmauer getrennt, die ein schmuckvoll gestaltetes Einfahrtstor und eine Tür für Fußgänger enthält. Der große Hof des Gehöfts bleibt leer und ist als Verkehrs- und Arbeitsfläche vorgesehen. An der repräsentativen Ecke zwischen Straße und Marktplatz ist das Wohnhaus angelegt. 39 40 41 Das Niederrheinische Dorf in der Cölner Werkbund-Ausstellung 1914, S. 1390. Zu der Einrichtung und den landwirtschaftlichen Anlagen im Gehöft vgl. ebd., S. 1391. Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 57. Vgl. Schneider 1914, S. 52. Die Baukosten der gesamten Anlage betragen zusammen 30.000 M. Vgl. Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 59. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 211 Sein Hauseingang ist mit einem Korbbogen abgeschlossen, während die eigentliche Eingangstür mit seitlichen schmalen Fenstern leicht dahinter zurückversetzt ist. Ein schmaler, vierseitiger Erker, der auf den Marktsplatz hin ausgerichtet ist, zeichnet das dahinter liegende Eckzimmer aus. Fledermausgauben erhellen das Dachgeschoß des Walmdachs. Die Kreuzstock-Sprossenfenster sind mit grünen Fensterläden geziert.42 Hinter dem Wohnhaus folgen in einer Flucht eine Futtertenne und anschließend Kuh- und Schweinestall. Alle landwirtschaftlichen Einfahrten in die Wirtschaftsgebäude des Gehöfts sind mit Rund- oder Korbbögen abgeschlossen. Die Ställe können zur Tenne hin durch eine Schiebetür verschlossen werden, sodaß die Stalldünste nicht ins Wohnhaus ziehen. Vor dem Stall ist eine Außentreppe angebracht, über die man den Dachboden, bzw. der Knecht seine Kammer unter dem Dach erreichen kann. Ein Abort mit offenem Vorraum ist unterhalb der Treppe eingerichtet und von der Tenne aus zu erreichen. Der rechtwinklig am Stall angebaute Flügel besteht aus einer überdachten Düngerstätte und dem Pferdestall. Die Düngerstätte befindet sich wegsparend direkt zwischen den verschiedenen Ställen. Die Scheune schließt sich mit drei Bansen und zwei nebeneinanderliegenden Tennen quergelagert daran an. In einem Teil der Scheune ist eine in Betrieb befindliche Molkerei ausgestellt. Dadurch muß der ursprünglich geplante, an die Straßenmauer stoßende Geräte- und Karrenschuppen wegfallen.43 Abb. 223: Neues Niederrheinisches Dorf, Großes Gehöft, Nordwestansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 63. 42 43 Vgl. ebd., S. 61: Die Zimmereinrichtungen für das Wohnhaus werden von Schreinern hergestellt, die durch ein Preisausschreiben der Handwerkskammer in Düsseldorf eingeladen wurden. Sie sollen mit ihren Entwürfen beweisen, daß eine qualitätvolle und geschmackvolle Wohnungsausstattung nicht teuer sein muß. Vgl. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 61: In einem Teil der Scheune und des Hofes werden bewährte landwirtschaftliche Maschinen und Geräte vorgestellt. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 212 Abb. 224: Neues Niederrheinisches Dorf, Großes Gehöft. Links: Westansicht, rechts: Nordansicht. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 58. 213 Katalog: Die Ausstellungsdörfer Abb. 225: Neues Niederrheinisches Dorf, Großes Gehöft. Oben: Grundriß des Erdgeschosses, unten: Obergeschoß-Grundriß des Wohnhauses. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 60. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 214 Abb. 226: Neues Niederrheinisches Dorf, Großes Gehöft, Hofansichten. Oben: Südansicht, unten: Westansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 64f. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 215 4.6. Die Arbeiterhäuser Das Arbeiter-Gruppenwohnhaus oder „Das Haus der Bauberatung, des Heimatschutzes und der Denkmalpflege“ Direkt am Marktplatz zwischen Gasthaus und großem Gehöft wird von Regierungsbaumeister E. Stahl ein Haus für drei Arbeiterfamilien errichtet.44 In den Räumlichkeiten wird während der Werkbund-Ausstellung eine Ausstellung für Bauberatung, Heimatschutz und Denkmalpflege gezeigt. Das erklärt wahrscheinlich auch den exponierten Platz des Arbeiterhauses am Marktplatz. Das langgestreckte Haus steht traufseitig am Marktplatz, hat ein Schopfwalmdach und zur Platzseite hin zwei auskragende Zwerchhäuser mit Walm, die im Obergeschoß mit Pfannen verkleidet sind. Wie bei den anderen am Platze stehenden Häusern ist auch dieses Gebäude achsensymmetrisch ausgerichtet. Jede Wohnung hat einen eigenen Eingang. Die beiden äußeren Wohnungen werden durch seitliche Eingänge mit überdachten Vorhallen erschlossen, während die mittlere Wohnung laut Zeichnung über einen Eingang in der Mittelachse des Hauses betreten wird, der jedoch am gebauten Haus nicht ausgeführt ist.45 Abb. 227: Neues Niederrheinisches Dorf, Arbeiter-Gruppenwohnhaus, Südwestansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 45. 44 45 Das Haus kostet auf der Ausstellung ohne Unterkellerung 12.000 M. Bei einer Unterkellerung muß man mit 15.000 M rechnen. Die Eingänge sollen auf drei verschiedenen Seiten des Gebäudes angelegt sein, um einerseits jeden kasernenmäßigen Eindruck zu vermeiden und andererseits zu gewährleisten, daß sich die Bewohner nicht stören. Vgl. Das Niederrheinische Dorf auf der Deutschen Werkbund-Ausstellung Köln 1914a, S. 5. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 216 Abb. 228: Neues Niederrheinisches Dorf, Arbeiter-Gruppenwohnhaus. Oben: Grundriß des Erdgeschosses, unten: Grundriß des Obergeschosses. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 45. Das Essener Kleinwohnungshaus Das Haus ist von Georg Metzendorf geplant und bezeichnet einen Haustyp, wie er auch als Prototyp eines Beamten- und Industriearbeiterhauses seit 1912 von der Margarethe-KruppStiftung in Essen gebaut und eingerichtet wird.46 Das zweigeschossige Haus für drei Mietparteien ist in sachlich-klaren Proportionen gehalten und zeigt eine betont achsensymmetrische Fassadenaufteilung. Es steht traufständig zur Straße, besitzt als einziges Gebäude im Ort einen Bruchsteinsockel und ist mit einem ausladenden Walmdach gedeckt. Über zwei mittig unter einem von drei Pfeilern gestützten Vordach angelegte Eingänge betritt man jeweils eine Haushälfte. In der linken Haushälfte ist eine zweigeschossige Fünfraumwohnung angelegt. In der rechten Haushälfte befinden sich im Erd- und Obergeschoß je zwei kleine Wohnungen mit gleichem Grundriß. Das Dachgeschoß bleibt unausgebaut, wird aber von je drei kleinen Gauben an Vor- und Rückseite erhellt. Die Sprossenfenster werden mit Fensterläden versehen. Das Haus enthält die für Metzendorf obligate Spülküche und eine kombinierbare Kachel- 46 Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 71 und Metzendorf 1994, S. 162. Die Kosten des Fünffamilientyps betragen einschließlich der Heizung und der Sanitäranlagen 6.800 bis 7.500 M, der Haustyp mit Zweizimmerwohnungen beträgt insgesamt 3.600 bis 4.000 M. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 217 ofen-Herd-Zentralheizung.47 Über zwei Ausgänge an der Hausrückseite kann man direkt in den Garten gelangen. Abb. 229: Neues Niederrheinisches Dorf, Essener Kleinwohnungshaus. Oben: Ostansicht, unten: Westansicht. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 72f. 47 Vgl. Metzendorf 1994, S. 162 und Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 71-74. Für die Bereitung des warmen Wassers für Heizung und Gebrauch sind in den Spülküchen Boileranlagen eingerichtet. So sind Spülsteine und Badewannen mit Kalt- und Warmwasser ausgestattet. Außerdem befinden sich in den Spülküchen Waschkessel mit sogenanntem Brietensauger, der die Absaugung aller übelriechenden Dünste beim Kochen der Wäsche vorsieht. Es handelt sich daher um zu dieser Zeit modernste Heiz- und Sanitärtechnik. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 218 Abb. 230: Neues Niederrheinisches Dorf, Essener Kleinwohnungshaus. Links: Grundriß des Erdgeschosses, rechts: Grundriß des Obergeschosses. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 72f. Abb. 231: Neues Niederrheinisches Dorf, Essener Kleinwohnungshaus. Oben: Südostansicht, unten: Südwestansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 75, 77. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 219 Arbeiterwohnhaus „Das Haus hält sich in seinen äußeren Grundrißlinien scharf an dem Baukörper, wie sich dieser aus den innern Zimmergestaltungen ergibt und verzichtet vor allem auf jede Überkonstruktion.“48 Das kleine Arbeiterwohnhaus, das Otto Müller-Jena aus Köln entwickelt hat, steht traufseitig zur Straße, ist eingeschossig und trägt ein Mansarddach mit konkav geschweifter Mansarde.49 Der Eingang ins Haus ist traufseitig angelegt und über wenige Stufen mit Geländer zu erreichen. Zur Straße hin ist an der Giebelseite ein schmaler Risalit angebracht, durch den die dahinter liegenden Räume etwas vergrößert und zusätzlich belichtet werden. Die Sprossenfenster – wie die Türen von außen eingesetzt – sind mit Fensterläden versehen. Das Haus ist für eine Arbeiterfamilie konzipiert. Dach Dachgeschoß wird durch Gauben in der Mansarde belichtet. Über ein zentral im Erdgeschoß angelegtes Ofensystem wird das Haus geheizt. Müller-Jena betont die neuartige Konstruktion des Hauses, die bis zu 30% Materialersparnis bringt und die einen Rückgang der Konstruktionsdimensionen bewirkt. Die Außenmauern sind hierbei in zwei halben Steinstärken gemauert und Dach und Balkenwerk aus sechs cm starkem Holz nach „englischer Weise“ konstruiert.50 Abb. 232: Neues Niederrheinisches Dorf, Arbeiterwohnhaus. Links: Südansicht, rechts: Westansicht. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 86. 48 49 50 Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 84. Ohne Unterkellerung beträgt der Preis des Arbeiterhauses auf der Ausstellung 5.500 M. Mit Keller, Zentralofenheizung, Küchenherd und Warmwasseranlage für die Spülküche kostet es dagegen 6.000 M. Vgl. Das Neue Niederrheinische Dorf 1914, S. 84f. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 220 Abb. 233: Neues Niederrheinisches Dorf, Arbeiterwohnhaus. Links: Grundriß des Erdgeschosses, rechts: Grundriß des Obergeschosses. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 86. Abb. 234: Neues Niederrheinisches Dorf, Arbeiterwohnhaus, Südwestansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 87. Wohnhaus für den Industriearbeiter auf dem Lande Das von Regierungsbaumeister Friedrich Becker aus Düsseldorf geplante Haus ist auf fast quadratischem Grundriß eingeschossig gebaut und durch ein Satteldach gedeckt. Es steht traufständig zur Straße. Becker schreibt dazu: Katalog: Die Ausstellungsdörfer 221 „Da die Werkbund-Ausstellung, die vor allem die moderne Technik in ihren Nutzanwendungen zeigen will, schien es jedoch angebracht den zentralen Hausgrundriß auf annähernd quadratischer Grundform zu projektieren, der es ermöglicht (...) von einer Feuerung aus sämtliche Räume des Hauses zu beheizen.“51 Das Satteldach ist durch konkav geschwungene Giebel mit Dreiecksspitzen als Firstabschluß elegant proportioniert, Satteldachgauben erhellen auf jeder Seite das ausgebaute Dachgeschoß. Becker erinnert damit an die „hübschen Gassen, die durch Aneinanderreihung der schmalgiebeligen niedrigen Häuschen entstanden sind...“52 Ein niedriger Anbau an der rückwärtigen Giebelseite enthält einen Waschplatz, den Abort und einen kleinen Stall. Das Innere des Hauses ist über einen breiten, als Segmentbogen gestalteten Eingang mit vorgelegter Freitreppe zu erreichen. Die Wohnungstür ist durch verglaste Rauten und Kreuze aufwendig gestaltet. Nur zwei größere Fenster im Erdgeschoß sind mit Fensterläden versehen, die anderen Fenster sehr viel kleiner und haben rautenförmige Sprossen. Abb. 235: Neues Niederrheinisches Dorf, Industriearbeiter-Wohnhaus. Links: Nordansicht, rechts: Südansicht. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 92. Abb. 236: Neues Niederrheinisches Dorf, Industriearbeiter-Wohnhaus. Links: Grundriß des Erdgeschosses, rechts: Grundriß des Dachgeschosses. M=1:200. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 92. 51 52 Ebd., S. 90. Ebd. Katalog: Die Ausstellungsdörfer 222 Abb. 237: Neues Niederrheinisches Dorf, Industriearbeiter-Wohnhaus, Nordostansicht. Aus: Das neue niederrheinische Dorf 1914, S. 93.